Cover

Das Feuerwerk

Musik dröhnt in meinem Kopf. Viele verschiedene Lieder machen es sich in meinem Gehirn bequem. Sie spielen alle durcheinander und machen es mir unmöglich einen klaren Gedanken zufassen. „Hört auf!“, brülle ich „hört auf zu spielen und mir meine Birne zu vernebeln. Gebt endlich Ruhe!“

Doch die Lieder sind ungnädig und klingen weiter mit ihren grausamen Melodien. Es sind hohe und tiefe Töne, die so unstimmig durcheinander purzeln, dass niemand es für angenehm halten könnte.

„Lasst mich endlich in Frieden. Ich will schlafen!“

Unruhig wälze ich mich in meinem Bett hin und her. Ich versuche die Melodien zu verdrängen, die ich mittlerweile nicht einmal mehr auseinander halten kann, da es so unglaublich viele verschiedene sind.

„Ich hasse Euch und kann Euch nicht mehr hören!“, schreie ich schon fast.

Der Rand der Verzweiflung rückt näher. Mein Verstand verliert an seiner Größe. Es ist eine schreckliche Situation und ich bin ganz alleine dieser Tortur ausgesetzt. Niemand könnte mir helfen und mich ein wenig beruhigen, da ich völlig alleine in meiner Wohnung bin und auch die Nachbarn alle ausgeflogen sind - denn heute ist Freitag der 31. Dezember.

Draußen hat sich eine Menschentraube auf dem großen Platz versammelt – so wie jedes Jahr. Sie feiern gemeinsam Silvester. Alles ist wie immer. Nur dass ich dieses Mal nicht dabei bin. Ich bin nicht eingeladen worden, da das Gerücht verbreitet worden ist, dass ich verrückt sei. Menschen, die als „nicht ganz bei Trost“ gelten, werden von der Gemeinschaft gemieden. Nicht einmal überprüft haben sie die Behauptung einer einzelnen Person. Es ist mein ach so toller Nachbar „Fred van Dannen“, dessen Vater Niederländer ist, gewesen, der dieses abscheuliche Gerücht in die Welt gesetzt hat und ihm glaubt man einfach alles, was er so erzählt. Wie ich diesen Kerl hasse!

Ich habe mich ärgerlicherweise vor kurzem mit Fred verkracht. Eines gibt es nämlich, was er überhaupt nicht leiden kann: Wenn man sich vor seinem Treppenputzdienst drückt. Und genau das habe ich getan. Jedoch habe ich schlicht und weg einfach keine Zeit dafür gefunden. Tag und Nacht war ich mit dem Komponieren neuer Lieder beschäftigt gewesen und nun machen sie mir auch noch schwer zu schaffen. Und wie oft ist obendrauf, in den letzten Wochen, ein Nachbar gekommen, um sich zu beschweren?

Aber ich musste einfach alle diese Stunden investieren und damit riskieren, dass ich meine Nachbarn verärgern würde, denn in genau zwei Wochen habe ich meinen ersten bedeutsamen Auftritt in der Nachbarstadt, der aufgezeichnet wird. Ewig habe ich darauf hingearbeitet, dass ich einmal diese Gelegenheit bekomme und meine Künste auch im größeren Rahmen präsentieren kann. In einer Fernsehsendung aufzutreten ist ein großes Glück und ich erhoffe mir dadurch, meinen Bekanntheitsgrad erhöhen zu können. Es ist zwar „nur“ so ein „langweiliger, recht unbekannter Kultursender“, der mich ausstrahlen wird, aber es ist dennoch eine großartige Gelegenheit, die ich mir unter keinen Umständen entgehen lassen darf. Jeder Liebhaber meiner Musik ist wichtig, selbst die öden „Spießer“, die sich Übertragungen auf solchen Sendern angucken. Immerhin kann man sich dort teilweise schöne Musik zu Gemüte führen und ich gebe zu, dass auch ich mir hin und wieder so etwas angucke. Natürlich nur, um mir ein Bild von meiner Konkurrenz zu machen. Okay, einiges gefällt mir davon schon. Wie auch immer.

Ich spiele seit meiner Kindheit Klavier. Meine Eltern schenkten mir zu meinem siebten Geburtstag ein wunderschönes, altes Prachtstück aus Kirschbaumholz, das meiner verstorbenen Großmutter gehörte. Von diesem Zeitpunkt an übe ich beinahe täglich und brachte mir das Spielen rasch selbst bei. Schon bald hatte ich meinen ersten Auftritt in der Schule und später auch in der Kirche. Ich habe mich kontinuierlich über die Jahre gesteigert und kann sogar von meinem Klavierspiel leben, jedoch sind die Wochen vor einem Auftritt manchmal sehr stressig, aber so schlimm wie jetzt ist es mir noch nie ergangen.

Immerhin verärgert das Klavierspiel meine Nachbarn nicht so sehr, wie es vielleicht das nervtötende Getröte einer Trompete täte. Das ist etwas, über das ich mich zu mindestens ein bisschen freuen kann.

Aber die Töne in meinem Kopf wollen immer noch nicht Ruhe geben und das Gerücht, welches über mich verbreitet worden ist, besteht weiterhin. Die Lage hat sich also nicht verbessert.

 

Langsam habe ich das Gefühl, dass ich mich besinnungslos im Kreis drehe. In meinem Kopf wirbelt alles herum; bei diesem ganzen Gewusel stechen meine Zweifel deutlich hervor. Was ist, wenn ich versage? Es hängt so viel von diesem Auftritt ab. Mein Beruf steht auf dem Spiel! Wenn ich nichts abliefere, will mich keiner mehr sehen. Und dann? Was habe ich denn für eine Alternative? Klavierspielen ist nahezu das Einzige, was ich kann. Eine Ausbildung oder ein Studium habe ich nicht abgeschlossen. Zum Lernen war ich immer zu faul gewesen. Ich hielt das ganze „Gelerne und Gepauke“ für Schwachsinnig und habe schon früh auf die Musik gesetzt. Es ist mein einziger Weg - einen Plan B gibt es nicht. Ich muss spielen, immer nur spielen! Mittlerweile bereue ich meine damalige Entscheidung fast schon ein wenig. Wenn ich mich doch nur ein bisschen angestrengt hätte, hätte es mindestens für einen Realschulabschluss gereicht. Ich muss leider gestehen, dass ich gerade mal einen Hauptschulabschluss vorweisen kann, was nicht sonderlich viel ist. Irgendwie schäme ich mich schon dafür, aber ich bin einfach zu stur und zu faul gewesen, um etwas für die Schule zu tun. Nun ist es definitiv zu spät. Mittlerweile befinde ich mich schon im dreißigsten Lebensjahr und fühle mich zu alt für die Abendschule. Der Scham ist viel zu groß, als dass ich noch einmal die Schulbank drücken würde. Viel schlimmer, als mein nicht zufriedenstellender Bildungsstand, finde ich aber die Tatsache, dass ich immer noch unverheiratet bin. Das frustriert mich – zugegebenermaßen - sehr. Ich finde einfach gar keine Zeit um einen netten Mann kennenzulernen. Jahrelang hat mich das gar nicht gestört. Ich war eins mit der Musik und das hat mir völlig gereicht. Doch in den letzten Jahren sehnte ich mich immer öfter und stärker nach einer eigenen Familie, was mich innerlich begonnen hat aufzufressen. Ich fühle mich immer häufiger ausgelaugt und völlig freudlos. Selbst meine letzten beiden Freundinnen haben sich von mir abgewandt, weil ich ihnen zu „griesgrämig“ bin. „Du hast ja nie Zeit und ständig diese schlechte Laune“, sind ihre Worte gewesen, die sie mir immer und immer wieder vorgehalten haben, bis sie keine Lust mehr hatten und ich ihre schöne Rückseite betrachten durfte.

 

Ich bin sehr einsam. Nicht einmal meine Nachbarn scheinen mich noch zu akzeptieren, seitdem der dämliche Halbkäse mich als „krank“ dargestellt hat. Dank ihm glauben sie alle, dass ich unter schweren Halluzinationen leide! Vielleicht bin ich etwas deprimiert und vielleicht sogar depressiv verstimmt, aber ich spreche noch lange mit keinem Männchen, das in der Steckdose leben mag. Leider ist dieser Mensch sehr glaubwürdig und hat behauptet, er habe mich des Öfteren dabei erwischt, wie ich wirres Zeug vor mich hin gebrabbelt und mit imaginären „Freunden“ gesprochen hätte. Dafür gibt es keinen Beweis, jedoch kann ich genauso wenig das Gegenteil beweisen, und um meine Glaubwürdigkeit steht es leider nicht so gut, seitdem eine nette, kleine Lüge von mir aufgeflogen ist.

Ich habe nämlich, aus lauter Verzweiflung, eine Beziehung mit einem Mann vorgegaukelt, die niemals existiert hat. Es war eigentlich eine raffinierte Idee gewesen: Mein Halbbruder, der meinen Nachbarn nicht bekannt war, hatte sich als meinen Freund ausgegeben - nein, die gehobene Variante nennt sich „Lebenspartner“ - wie auch immer, anfangs lief es wirklich gut. Mein Bruder ging in meine Wohnung ein und aus und übernachtete ein paar Mal. Es schien sich also um eine wahre Tatsache zu handeln. Ich brauchte mich nicht einmal zusammen mit ihm blicken zu lassen. Es ist schon lange allgemein bekannt, dass ich mich abschotte und kaum einen Fuß vor die Tür setze, da ich komplett in meiner eigenen Welt versinke, wenn ich spiele und alles andere vollkommen bedeutungslos für mich wird. Da fanden die Nachbarn es auch nicht abwegig, dass selbst ein Mann in meinem Leben dies nicht ändern würde.

Jedoch kam die Wahrheit ans Licht, als mein Halbbruder ahnungslos mit seiner Freundin beim Einkaufen telefonierte und sie mit „Schatz“ anredete und sich dafür entschuldigte, dass er sich in letzter Zeit kaum bei ihr hat sehen lassen. Sie hatte für sein Handeln nur begrenzt Verständnis: Das Mädchen fühlte sich generell schnell vernachlässigt und wurde eifersüchtig. Glücklicherweise überstand die Beziehung diese Situation und scheiterte aus einem ganz anderen Grund - Die Dame verliebte sich schlicht und weg in einen wohlhabenderen Mann.

Es war einfach Pech, dass meine Lüge aufgeflogen ist, wenn ich daran zurück denke. Paula Meiter, eine sehr geschwätzige Person, ist unglücklicherweise hinter meinem Bruder hergegangen. Nicht, da sie etwa einen Verdacht geschöpft hatte, sie wollte einfach nur ihren Einkauf erledigen - genau wie mein großer, lieber Bruder. Und, wie hätte es auch anders sein sollen, behielt sie die neue Kenntnis nicht für sich, sodass schon bald jeder in der Nachbarschaft davon wusste. Eigentlich kümmert mich dieses Ereignis im Nachhinein nicht mehr so sehr. Es verärgert mich lediglich, dass meine Glaubwürdigkeit enorm darunter gelitten hat. Die dummen Sprüche aber sind fast vom Tisch gewesen und es sind wieder Stunden vergangen, in der kein einziges, gehässiges Wort über mich gefallen ist, bis dem Fritzen die lustige Idee kam, mich in eine neue Schublade stecken zu müssen; und das ausgerechnet in die der geistig Unzurechnungsfähigen. Reicht es denn nicht, eine Lügnerin zu sein? Ein wenig mehr Herzenswärme habe ich schon von dem Kerl erwartet.

 

Die ersten Raketen gehen in die Luft. Es ist kurz vor zwölf, wie ich mit einem Blick auf meinen schäbigen Wecker feststelle. In ein paar Minuten würden die ganzen lauten Dinger in die Luft gejagt werden. Eigentlich mag ich Silvester und dass, obwohl ich ein absoluter Gegner der Umweltverschmutzung bin. Die verschiedenen Farben der Raketen haben etwas Feierliches - sie erinnern mich an einen schönen Regenbogen nach einem Schauer und kündigen für mich ein frohes, neues Jahr an. Sie geben mir ein Stück weit Hoffnung. Hoffnung auf ein besseres Jahr.

Als kleines Kind schon beobachtete ich gerne die Farben in dem schwarzen Himmel und sah begeistert zu, wie aus wenigen immer mehr wurden, bis der ganze Himmel brannte. Das war immer wieder ein Highlight gewesen.

Heute ist mir nicht sonderlich danach dieses Schauspiel zu beobachten. Nicht, weil es vielleicht langweilig wäre, sondern einfach, da ich mich nicht in der Lage fühle auch nur einen Finger zu krümmen.

Mein Körper ist völlig kraftlos, er fühlt sich schwer an, so als hätte ich tagelang nicht geschlafen. Das entspricht sogar fast der Wahrheit: Ich habe tatsächlich in den letzten Tagen nur wenig geschlafen. Normalerweise bin ich da jedoch gar nicht empfindlich. Mein Körper kann wunderbar mit ein paar Stunden Schlaf auskommen und es macht mir kaum einen Unterschied, ob ich nun zwei oder zehn Stunden im Paradies der Träume verbringe, wobei das längst kein Paradies mehr ist. Oftmals suchen mich Albträume heim.

Langsam wird mir immer bewusster, dass dies nicht das Leben ist, das ich mir gewünscht habe - immer nur arbeiten und hoffen, dass ich irgendwann einmal meinen Durchbruch haben werde.

Könnte ich denn nicht schon zufrieden sein, mit dem, was ich erreicht habe? Das Geld, was ich verdiene, reicht locker zum Leben aus, jedoch ist meine Tätigkeit keine sichere. Das Risiko, dass es morgen vorbei sein könnte, ist viel größer, als bei den meisten anderen Berufen. Und was bleibt mir dann? Von meinen Ersparnissen zu leben? Das wird nicht ewig funktionieren, dafür habe ich noch nicht genug verdient. Klar, Aushilfsjobs für die man nicht gerade qualifiziert sein muss, gibt es wie Sand am Meer. Familientauglich ist das Ganze aber nicht. Wer eine Familie gründen möchte, braucht ein festes Standbein, am besten zwei: Das eine wäre ein festes Einkommen meinerseits und das andere der Ehemann mit seinem relativ sicheren Posten. Ich habe weder das eine noch das andere. Wenn ich so weiter mache, werde ich wahrscheinlich noch mit achtzig alleine sein. Die Vorstellung, wie ich in einem Schaukelstuhl sitze und acht Katzen um mich herumturnen, ist so absurd, dass es fast schon wieder komisch ist.

 

Die Kirchturmuhr schlägt zwölf. Als habe sie das Kommando gegeben die Raketen abzufeuern, schießen nahezu zeitgleich Hunderte in die Luft und es folgen minutenlang, unaufhörlich weitere.

Der Lärm übertönt die schrecklichen Melodien und auch die innere, klagende Stimme kann nicht dem Gebrüll des Feuerwerks die Stirn bieten.

Endlich gelingt es mir, in den ersehnten Schlaf zu fallen.

Impressum

Texte: Lisa Marie Szymanek
Bildmaterialien: Lisa Marie Szymanek
Tag der Veröffentlichung: 09.04.2014

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /