Zügig hastete ein Reh durch das Unterholz. Die muskulösen, dünnen Beine glitten über den Boden.
Getrieben von der Angst liefen sie zur Höchstleistung auf. Eines der vier Beine war verletzt. Es klaffte eine tiefe, offene Wunde an dem Oberschenkel der linken Vorderläufe.
Jeder Satz nach Vorne verursachte dem Tier somit einen stechenden Schmerz. Es sprang und kam immer wieder fast gleichzeitig mit den Vorder- und Hinterbeinen auf den Untergrund auf.
Dünnes Eis hatte sich über den Boden gelegt, der zudem stellenweise mit Neuschnee überzogen war. Weiße Flocken kamen aus dem Himmel empor, um sich tänzelnd und beinahe lautlos auch auf Baum und Tier niederzulassen.
Dem bereits leicht vom Schnee bedeckten Reh blies ein kalter Wind um die Ohren.
Doch trotz der Kälte schwitzte es vor Anstrengung und Panik, da sich ein gieriger Jäger mit seinen hechelnden Hunden, die vorweg liefen, dicht hinter dem unschuldigen Tieres befanden.
Nur noch wenige Meter trennten die Jagdhunde und das flüchtende Reh. Es bewegte sich mit unglaublicher Geschwindigkeit vorwärts, obwohl es bereits angeschossen wurde.
Der Wald schien unendlich groß und das überlebenswillige Geschöpf hoffte auf ein Ende der stämmigen Bäume und das Antreffen eines Flusses oder einer Straße.
Es vertraute auf seine Schwimmkünste und vermutete so die Möglichkeit zu besitzen, seine Verfolger abzuhängen. Eine Straße konnte ebenso eine Rettung darstellen, denn das Reh wusste, dass eine Straße immer sehr überfüllt war und wenn es den richtigen Moment erwischte, dann bestand die Gelegenheit, die unbarmherzigen Gestalten zurück zu lassen.
Der scheinbare Ausweg aus dieser kritischen Situation bat sich schon nach zehn weiteren, anstrengenden Sprüngen.
Ein reißender Fluss tat sich vor dem Sichtfeld des Rehs auf, das seine hohe Geschwindigkeit die ganze Zeit über gehalten hatte.
Das Tier bremste abrupt ab und musste sich innerhalb von Sekunden entscheiden, ob es in den Fluss sprang und womöglich unterging oder ob es stehen blieb, und von den Hunden ergriffen wurde.
Es entschied sich für die erste Variante, da es so noch eine Aussicht zu Überleben gab. Vorsichtig setzte es zu einem Sprung an. Die Läufe hoben synchron ab und die Körperspannung hätte dabei besser nicht sein können. Schönheit und Kraft wurden miteinander vereint.
„Ich lebe“, dachte das mutige Reh, als es nach dem perfekten Flug in dem Fluss landete und von der Strömung hinunter gerissen wurde. Verzweifelt zappelte es mit letzter Kraft um sein Leben. Das erschöpfte Tier gelang mehrmals an die Oberfläche, nur um darauf wieder Wasser zu schlucken und unfreiwillig abzutauchen, bis es schließlich nach einem jämmerlichen Kampf endgültig unter den Fluten begraben wurde.
Die leblose Hülle des Rehs trieb Minuten später auf dem tosenden Fluss. Sie wurde mit der Strömung mitgerissen und blieb wenige Meter weiter an einem Baumstamm in der Nähe des Ufers hängen.
Der Jäger, der den gescheiterten Überlebenskampf amüsiert beobachtet hatte, hob es mühelos aus dem Wasser und freute sich auf die anstehende, köstliche Mahlzeit.
„Jetzt gehörst du mir, du Biest“, murmelte er, strich sich genüsslich über seinen runden Bauch und sah dem toten Tier mit einem verächtlichen Grinsen in die Augen.
Die Seele aber entsprang ungesehen aus dem Körper. Über dem schadenfrohen Jäger und seinen sabbernden Hunden schwebend, führte sie einen kraftvollen Tanz, ehe sie sich auf den Weg in den Himmel machte.
Sie lebte, die reine, unantastbare Seele.
Texte: Lisa Marie Szymanek
Bildmaterialien: Lisa Marie Szymanek
Tag der Veröffentlichung: 15.07.2012
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