Hallo, mein Name ist Minou. Kapitänin Minou. Warum ich so heiße? Das ist eine lange Geschichte. Es ist meine Geschichte. Und genau diese Geschichte möchte ich euch nun erzählen.
Es war Freitag. Freitagmorgen. Die Sonne schien durch das Fenster meines Zimmers direkt auf mein Gesicht. Seufzend schlug ich meine Augen auf und gab ein Gähnen von mir. Dabei wanderte mein Blick wie jeden Morgen durch mein Zimmer und blieb wie gewohnt zuerst an meinem Lieblingsbild, gegenüber von meinem Bett, über meinem kleinen, alten Schreibtisch, hängen. Das Bild zeigte eine große gelbe Sonne, die über einem Baum stand. >Die Sonne<, hatte mir meine Großmutter gesagt als sie noch lebte, >steht für die Kraft meine Kleine und der Baum steht für das Leben. Du musst gut auf das Leben Acht geben und es beschützen. Dabei hilft dir die Kraft. Mit der Kraft kannst du alles schaffen. Die Sonne ist stark genug um den Baum am Leben zu erhalten. Sie wird nicht zerbrechen. So wirst auch du stark sein. Nimm das Bild an dich, behüte es wie deinen Augapfel und denke immer daran, was ich dir gesagt habe. Mögest du auf dein Leben und das deiner Nächsten immer Acht geben und möge die Kraft in dir Wachsen>. Mit diesen Worten hatte sie mir das Bild überlassen, das zuvor ihrer Großmutter gehörte, und von Generation zu Generation, von der Großmutter beziehungsweise Großvater, zu dem Enkelkind weiter getragen wurde. Das Bild war, nach Aussagen meiner Großmutter, über zweihundert Jahre alt und hatte bisher den Besitzern kein Unheil gebracht. Es hatte ihnen geholfen. Zu mindestens hatten sie ein erfüllendes Leben geführt, laut meiner verstorbenen Großmutter. Sie war eine kluge Frau gewesen, die zudem eine geheimnisvolle Aura umhüllte. Immer wenn ich sie besucht hatte erzählte sie mir Geschichten. Sie behauptete, dass sich manche von ihnen tatsächlich zugetragen hätten, andere hingegen wären frei erfunden gewesen und in anderen hätte es einen es einen wahren Kern gegeben. Sie hatte mir gesagt, dass es meine Aufgabe gewesen wäre zwischen Wahrheit und Lüge zu unterscheiden, um meinen Verstand zu trainieren. Dabei teilte ich hier jedes Mal mit, wie ich die Geschichten einschätzte. Die Auflösung hatte ich nicht bekommen. Nicht ein einziges Mal. Auch dafür hatte sie eine weise Erklärung gehabt. >Um Wahrheit und Lüge zu trennen und die Wahrheit zu schöpfen, ist es an dir, die Wahrheit zu erfahren und nicht durch einen Anderen enthüllt zu werden. Der Andere kann dir die Wahrheit übermitteln, aber von ihr kosten und deinen Verstand bereichern kannst du nur, wenn du es selbst bist die, die Wahrheit entschlüsselt. So erzähle ich sie dir nicht. Benutze deinen Verstand und finde sie selbst. Mögest du die Wahrheit finden. Immerzu>, hatte sie mich gelehrt und sich dabei mit einen bestimmten, aber liebevollen Blick mir zugewandt. Ich erinnerte mich noch allzu genau an diese Mimik, die immer in ihrem Gesicht einkehrte, wenn sie eine Lehre von sich gegeben hatte. Genauso gut konnte ich mich an ihre ausgefallenen Kleider erinnern. Vor meinem inneren Auge tauchte ein Bild von ihr in eines ihrer Kleider auf. Sie lachte herzhaft und tanzte in ihrem Lieblingskleid. Es war grün und erinnerte, wie alle ihre Kleider, an ein Adelskleid aus dem Mittelalter. Sie hatte das Kleid tatsächlich nach einer Vorlage, eine Zeichnung aus dem sechs-zehnten Jahrhundert, angefertigt. Das Original hatte als Hochzeitkleid gedient, meine Großmutter trug es immerzu. Sie hatte es ebenso in ihrem Alltag, wie zu besonderen Anlässen getragen, und wurde letztendlich mit dem Kleid begraben. Es war ihr eigener Wunsch gewesen mit diesem Kleid in das Grab zu steigen.
Eine Träne lief über mein Gesicht bei dem Gedanken, dass sie gestorben war und unwillkürlich kamen mir ihre Worte wieder in den Sinn, die mich davor bewahren sollten in Tränen auszubrechen und mir Stärke verliehen.
>Weine nicht um mich, meine Kleine, wenn ich sterbe. Solange ich noch lebe, werde ich dich lehren und wenn ich von Erden gehe, ist deine Zeit gekommen um die Worte in Taten umzusetzen. Ich habe dir das Bild gegeben damit es dir helfen wird deine Stärke zu nähren. Das Bild ist von größerer Bedeutung als du glaubst. Eines Tages wirst du es erfahren und dieser Tag wird nach meinem Tode eintreffen. Bis zu meinem letzten Atemzuge wird das Bild über mich wachen, danach wird es dir ein Freund sein. So sei tapfer, wenn ich sterbe und halte dir, was ich dir gelehrt habe, immer wieder vor Augen. Wenn deine Stärke einmal zu Bröckeln droht, so streiche über die Sonne auf dem Bild, und du wirst ihre Energie und ihre Kraft spüren. Sie wird sich augenblicklich auf dich übertragen und deine Tränen werden getrocknet>, hatte sie mich eingeweiht während wir nachdenklich den Sonnenuntergang zuwandten.
Mit den Worten im Hinterkopf erhob ich mich aus dem gelb lackierten Metallbett und trat auf das Bild zu. Während ich über die Sonne strich beruhigte sich mein Gemüt und die traurigen Gedanken verschwanden, um einem viel stärkeren und schöneren Gefühl Platz zu machen. Der Liebe.
Ich hatte sie geliebt und liebte sie auch noch an diesem Tage. Der Freitag, der mein Leben verändern sollte.
Es war bereits drei Uhr nachmittags als ich nach Hause zurückkehrte. Ich schlenderte gemütlich über den Rasen, vorbei an kleinen grünen Sträuchern und vereinzelten Löwenzähnen, die ihre Saat verteilten. Der Frühling neigte sich dem Ende zu. Eine frische Brise blies Haarsträhnen aus meinem Gesicht. Sie war eine Wohltat, denn das warme Klima grenzte allmählich schon an eine unerträgliche Hitze. Nur noch wenige Wochen mussten vergehen und dann fiele eine brütende Hitze über das Land her.
Es war nicht nur warm an diesem Tage, sondern auch ein Gewitter lag in der Luft. Dunkle Wolken waren aufgezogen und hatten sich vor der Sonne platziert. Die kleinen grauen Wohnungsblöcke, die drei Stockwerke besaßen, schienen mit den Wolken zu verschmelzen, da sich die Farben kaum von einander unterschieden. Die Luft war sehr feucht und obwohl mir deshalb ein wenig schwindelig war, hatte ich ausgesprochen gute Laune. Ich dachte an den lustigen Vormittag in der Schule und begann zu pfeifen.
Der Schultag war alles andere als langweilig gewesen. Meine Mitschüler waren allesamt in bester Stimmung und freuten sich auf die freien Pfingsttage.
Sie hatten sich über lustige und verrückte Ereignisse ausgetauscht, und schmiedeten ausreichend Pläne für alles, was noch kommen sollte. Ein ganz großes Thema war natürlich der Abschlussstreich gewesen, obwohl dieser noch drei Jahre entfernt lag.
Selbst ich beteiligte mich an ihren Gesprächen. Das war ungewöhnlich, denn meistens langweilten sie mich, aber an diesem Tag hatte ich mich sehr unterhalten gefühlt, und mich sogar nach Schulschluss, auf eine kleine Tour durch die Innenstadt, eingelassen. Ich hatte mir zwar nichts kaufen können, da kein Geld in meinem Portmonee vorhanden war, aber es war dennoch ein schönes Erlebnis gewesen.
Weiterhin pfeifend stieg ich die zwei Stufen vor der Tür hoch, die ich mittlerweile erreicht hatte. Ich zog meinen Schlüssel aus der Tasche der Jeans, schob ihn in das Schloss und hörte das leise Klicken. Ich nahm die drei Treppen, die ich wie gewohnt zurücklegte, um bei der Wohnung in der ich mit meiner Familie lebte, anzukommen. Als ich im dritten Stockwerk ankam, stand ich nur wenige Schritte weiter direkt vor unserer Wohnungstür.
Gekonnt schloss ich die Tür auf und warf als allererstes meine rote Schultasche in die rechte Ecke neben dem großen Wandspiegel. Das tat ich aus Bequemlichkeit so gut wie immer und es war schon zu einer Gewohnheit geworden. Meinen drei kleinen Geschwistern kümmerte dies wenig. Lucie war noch zu klein um sich zu beklagen, Malte war alles egal außer seiner Dinosammlung und Max fand sogar Gefallen daran sich die Gewohnheit selbst zu zulegen. Dafür störte es unsere alleinerziehende Mutter umso mehr. Ihr war schon vor der Trennung, von unserem Vater, die vor zweieinhalb Jahren erfolgte, die Ordnung wichtig, doch war ihre Putzwut seit ihrer gescheiterten Ehe, noch schlimmer geworden. Da brauchten nur eine Socke oder ein paar Sandkörner auf dem Linoleum zu finden sein, und es konnte schon zu einen Wutanfall führen.
An diesem Nachmittag hatte ich keine wütende Mutter zu befürchten, denn ich war alleine in der Wohnung. Der Rest der Familie befand sich bei Oma Trude. Eigentlich hieß sie mit Vornamen Hildegard. Doch ich fand es völlig unpassend meine Großmutter mit Vornamen anzusprechen und „meine“ Oma war die, die schon vor einem Jahr gestorben war und deshalb konnte ich sie auch nicht einfach nur mit „Oma“ anreden. Schon vor vier Jahren hatte „Oma Trude“ von mir das Kürzel „Trude“ verpasst bekommen, nachdem sie ihre Truthähne und Puten gefüttert hatte und ihnen nachdenklich beim Grasen zusah. Es störte sie scheinbar nicht im Geringsten, dass sie diesen Spitznamen bekommen hatte und zudem war sie mir schon immer, auf mir nicht ganz erklärbare Weise, unsympathisch gewesen. Auf diese Art verhöhnte ich sie irgendwie und ich schämte mich nicht einmal dafür.
Grinsend lies ich mich auf mein Bett fallen und starrte an die Decke. In meinem Kopf schnatterte noch immer die Stimme von meiner klagenden Freundin. Sie nahm in meinen Augen einige Dinge viel zu ernst, so war auch das, was sie diesmal zu nörgeln gehabt hatte, keiner Rede wert gewesen. Probleme mit ihrem Aussehen standen mal wieder auf dem Programm und so beschwerte sie sich über ihre misslungene neue Frisur, die sich wenige Minuten zuvor, schneiden lassen hatte. Schuld an ihren misslungenen Schnitt war natürlich die Friseurin gewesen, die sie von da an nicht mehr an ihre heiligen Haare lassen wollte. Ich wusste zwar nicht wie es wirklich um ihre Frisur stand, doch ich ging davon aus, dass es nicht schlechter als bei letzten Mal aussah, bei dem ich ihre Beschwerde auch nicht verstanden hatte. Sie gehörte zu den Menschen, die immer und überall, etwas zu meckern hatten und ich vermutete, dass sie im Grunde genommen zufrieden mit ihrem Erscheinungsbild war. Ihr war bewusst, dass sie schön war und erhoffte sich nur die Bestätigung der anderen, die sie auch bekam. Ich war da keine Ausnahme. Obwohl ich ihre billige und vielleicht auch ungewollte Masche, schon lange durchschaut hatte, sagte ich ihr jedes Mal, dass was sie hören wollte. Vermutlich brachte ich es einfach nicht übers Herz, auch einmal etwas anderes zu erwidern. Nicht, dass ich jemals ihrer Nörgelei hatte zustimmen können, aber sie hätte es verdient gehabt, einmal nicht ihre Bestätigung zu bekommen. Andere Menschen konnten schließlich auch damit leben nicht jeden Tag ein Kompliment zu bekommen.
Ein wenig angenervt drehte ich mich auf die linke Seite. Ich spürte die Leisten des Lattenrostes auf meinem linken Arm. Die Matratze war schon völlig durchgelegen. Schon mindestens zwanzig Jahre erfüllte sie ihren Zweck als weiche Unterlage, wobei man davon nicht mehr als zu viel spürte. Die Leisten konnte ich schon an meinen Abdrücken auf den Armen ab zählen. Es war fast schon bequemer gewesen auf sie zu verzichten oder auf dem Boden zu liegen. Doch symbolisch gesehen war die Matratze vielleicht noch etwas wehrt. Schließlich machte die Vorstellung auf einer Matratze zu liegen noch ein wenig mehr Freude, als diese auf dem Boden seinen Platz zu haben.
Nach dem ich mich umgedreht hatte viel mein Blick, wieder einmal, auf das geheimnisvolle Gemälde. Doch irgendetwas hatte sich an dem Bild verändert, mir wurde nur nicht sofort bewusst was das war. Die Sonne stand wie gewohnt über dem Baum, aber etwas war anders an der Pflanze. Sie trug Früchte. Rote Früchte! Ich konnte mir partout nicht erklären, wo diese plötzlich hergekommen waren. Während ich fieberhaft überlegte wer oder was da seine Finger im Spiel hatte bemerkte ich, dass die gelbe Farbe der Sonne allmählich kräftiger wurde. Ich konnte meinen Augen nicht trauen. Ich sprang von meinem Bett und spürte daraufhin sofort einen stechenden Schmerz, da ich in der Eile nicht auf die richtige Landung geachtet hatte und somit mit meinen linken Fuß leicht umknickte. Schnurstracks trat ich dennoch auf das Bild zu. Es zog mich wie von Geisterhand geführt an. Ich konnte nicht klar denken in diesem Moment, so sehr ich auch versuchte einen vernünftigen Gedanken zu fassen, es wollte mir nicht gelingen. Mir viel auch nicht ein, ob meine verstorbene Großmutter einmal davon etwas erwähnt hatte.
Ehe ich mich versah stand ich auch schon vor dem Gemälde und berührte erst den Baum mit den Früchten und dann die kräftig, gelbe Sonne.
Der Boden schien zu schwanken, die Sonne und der Baum verschwammen und gingen in einem einzigen Farbklecks ineinander ein. Danach verschwand ich im Nichts.
Warme Sonnenstrahlen kitzelten meine Haut. Ein Rauschen betörte meine Sinne. Es klang wie das Rauschen eines Meeres. Eine warme Brise suchte ihren Weg durch meine Haare und etwas Körniges drückte sich in Arme und Beine.
Vorsichtig öffnete ich meine Augen und sah in den tiefblauen Himmel. Sekündlich wurde ich von der Sonne geblendet und schloss meine Augen, nur um sie kurz darauf wieder zu öffnen. Dieses Mal war ich schlauer und blickte nicht in den Himmel, sondern drehte meinen Kopf zur rechten Seite um meine Umgebung erkunden zu können.
Ich sah etwas großes Stämmiges. Meine Augen wanderten den kräftigen Stamm, der wohl zu einem Baum gehörte, hinauf und blieben an langen, großen Blättern bestehend aus wiederum kleineren Blättern, hängen.
Sie sahen aus wie die Blätter einer Palme. Ich erinnerte mich an Fotos von Palmen mit großen Palmwedeln, an denen sich jeweils mehrere kleinere Blätter befanden.
In meinem Gedächtnis ging ich einige Arten von Palmen durch. Ich suchte die vor mir bestehende Palme nach genauern Hinweisen ab. Zwischen den Palmwedeln fielen mir schließlich vereinzelte große, braun-gräuliche Kugeln auf. Erschreckend stellte ich fest, dass ich mich unter einer Kokosnusspalme befand und bei dem Gedanken, dass ich darunter lag und von einer Nuss getroffen werden konnte, sprang ich auf. Ich stolperte über den Strand, den ich mittlerweile als solchen erkannt hatte, und fiel wenige Meter weiter, mit dem Kopf in den Sand.
Blöderweise hatte ich dabei meinen Mund zuvor vor Schreck geöffnet, sodass mein Mund sich mit Sand füllte. Im wahrsten Sinne des Wortes richtete ich mich knirschend auf, und stellte immerhin fest, dass der Sprung in den Sand sich gelohnt hatte, denn eine Kokosnuss fiel augenblicklich von der Palme, und fand ihren Platz nur wenige Meter von mir entfernt. Erleichtert atmete ich tief ein und machte mich auf, meine Umgebung weiter zu erkunden.
Desto weiter ich ging, desto klarer wurden meine Gedanken und nachdem ich mich auf einem großen Stein, direkt vor dem türkisblauen Meer niedergelassen hatte, kam mir wieder in den Sinn, dass ich zuvor das Bild berührt hatte, das so sonderbar verändert gewesen war. Ich fragte mich, wie es dazu kommen konnte, dass ich mich auf einer scheinbar einsamen Insel befand. Es schien mir unreal, dass ich endloses türkisblaues Meer sah, meine Füße sich in den weißen Sand gruben, Palmen im Wind sanft hin und her wogen, salzige Luft durch meine Nasenhöhlen kroch und eine sanfte Brise mit meinen Haaren spielte.
Doch besonders der Sand zwischen meinen Zähnen und der knurrende Magen kamen mir realer vor als mir lieb war. Deshalb begann ich mehr und mehr zu glauben, dass das kein Traum war und ich mich wirklich auf einer Insel befand.
Die Muschel schmeckte scheußlich, stellte ich angewidert fest und verzog mein Gesicht zu einer Grimasse. Ich konnte mich gerade noch davon abhalten die schleimige Masse wieder auszuspucken. Der Hunger war zu groß, als um auf eine Delikatesse wie diese zu verzichten. Immerhin füllte sich mein Magen ein wenig. Doch gerade gesättigt fühlte ich mich von dieser einen Muschel, die ich im salzigen Meer gefunden hatte, nicht. Zudem stieg mein Bedürfnis nach salz freien Wasser. Salz machte bekanntlich noch durstiger. Deshalb beschloss ich mich auf die Suche nach Trinkwasser zu machen. Dabei ging ich am Strand entlang, da dort ein leichter milder Wind wehte, während ein für mich ungewohntes und fast schon unerträgliches Klima, ein wenig entfernt von der Küste, herrschte. Um die Hitze nicht allzu sehr zu spüren, hatte ich zuvor schon meine Hosenbeine hochgekrempelt und meinen Pullover ausgezogen. Darunter trug ich nur ein dünnes Tanktop und einer meiner ersten BHs, den ich mit meiner Mutter gekauft hatte.
Zudem kühlte ich regelmäßig den Nacken, die Stirn und die Innenseiten der Gelenke, um meinen Kreislauf aufrecht zu erhalten und trug eine improvisierte Kappe aus Blättern, die ich einer kleinen Pflanze entnommen hatte. Das Geflecht aus schmalen, langen Blättern glich mehr einem Kranz als einer Kappe, aber sie erfüllte ihren Zweck.
Gemächlich, um keine große Anstrengung zu verüben, bewegte ich mich vorwärts, und stellte mir vor welchen lächerlichen Anblick ich bat. Schnell verwarf ich den Gedanken wieder um mich auf meine Suche zu konzentrieren. Irgendwo auf dieser Insel hoffte ich ein sauberes und salzfreies Gewässer zu finden. Mir kam es so vor, als hätte der Traumstrand kein Ende. Ich spürte, wie meine Glieder mit jedem Schritt schwerer wurden und dass mein Kreislauf bald versagte, obwohl ich alle Tricks angewendet hatte, die mir einfielen. Ich war nicht bei den Pfadfindern gewesen, aber ein paar grundlegende Dinge, die zum Überleben wichtig waren und dabei halfen bei Bewusstsein zu bleiben, kannte ich trotzdem. Zu mindestes glaubte ich die wichtigsten Regeln zu kennen.
Völlig erschöpft ließ ich mich schließlich im weichen Sand nieder mit dem Vorhaben eine kleine Pause einzulegen. Während ich angestrengt nachdachte fiel mein Blick auf die Kokosnusspalmen. Ein Gedankenblitz schoss aus meinen ermüdeten Gehirnzellen. Ich begriff, dass die Kokosnüsse die Lösung waren. Mit neuer Energie richtete ich mich auf und rannte überschwänglich über den harten Boden auf die Baumgruppe zu. Mir wurde ebenfalls bewusst, dass ich mich nicht so lange am Strand hätte aufhalten dürfen und ich ärgerte mich über meine Leichtsinnigkeit. Bei der Baumgruppe, die aus Kokosnusspalmen, Farnkraut und anderen Palmen bestand, angekommen, hielt ich vorsichtshalber einen gewissen Abstand zu den Palmen mit den harten Früchten.
Ich versuchte einen Weg zu finden, an eine Kokosnuss zu gelangen, ohne von einer anderen möglicherweise getroffen zu werden. Ein Exemplar, das bereits auf dem Boden lag und mir am nahsten war, wollte ich mir nehmen. Also suchte ich nach einem langen, stabilen Stock, um an das begehrte Objekt zu gelangen.
Schneller als gedacht fand ich ein passendes Werkzeug, schob es so weit es geht unter die Palme, bekam nach mehreren Versuchen die Kokosnuss zu fassen und trug sie schließlich in meinen Händen. Ich freute mich, die erste Hürde geschafft zu haben, doch mir war ebenfalls klar, dass sie nicht mit den bloßen Händen zu öffnen war und, dass scharfe Messer oder Hammer für gewöhnlich nicht in einer verlassenen Gegend herum lagen und schon darauf warteten, dass jemand sie brauchte.
So gab es nur eine Lösung, ich musste mir ein Werkzeug selbst herstellen. Ich hatte keinen Plan, ob es mir wirklich gelingen würde, aber ich musste alles versuchen, wenn ich nicht schon am nächsten Tag Futter für wilde Tiere sein wollte. Ob es denn welche gab, wusste ich zwar nicht, aber ich hielt es für sinnvoll diese Möglichkeit nicht auszuschließen.
Mit einer enormen Lebenslust fand ich mich schon wenige Minuten später unter einer Dattelpalme wieder, die ich glücklicherweise entdeckt hatte, rieb zwei Steine aneinander und genoss nebenbei noch ein paar von den süßen, kleinen Früchten.
Ich war so sehr in meiner Arbeit vertieft, dass ich die Bewegung neben mir zunächst nicht wahrnahm.
Erst als eine Hand vor meine Augen herumwedelte und krächzende Laute zu hören waren, bemerkte ich die Anwesenheit eines Menschen. Ich erschrak und sprang unmittelbar auf.
Vor mir stand eine gekrümmte Frau, die ein zerrissenes Gewand trug. Ihre Augen waren trüb, tiefe Augenringe waren darunter eingegraben, ihre grau versetzten Haare hingen strähnig auf ihren Schultern, die Hände waren gerötet und ihre Füße waren von Verletzungen übersäht. Die Frau zuckte bei der kleinsten Bewegung zusammen und hielt sich den scheinbar schmerzenden Bauch.
„Mhh“, gab die leidende Frau mit leicht geöffneten Lippen von sich.
Wie angewurzelt verharrte ich an meinem Platz und starrte sie mit offenem Mund an.
„Sooo wirrsst“, stöhnte sie und wurde erneut von einem Krampf überschüttet, der ihren ganzen Körper zum Beben brachte, „du es nie schaffen“, vervollständigte sie ihren Satz und gab mir mit einer Handbewegung zu verstehen, dass ich ihr folgen sollte. Einen Moment zögerte ich noch, dann folgte ich ihr in gemächlichen Schritten.
Sie führte einen Tanz, die kräftige Farbengestalt. Gleichmäßig wie in einem Rhythmus flackerten die Flammen über dem Holzhaufen, bestehend aus vier großen Ästen, Kleinholz und geriebener Baumrinde. Dampfschwaden zogen über das Lagerfeuer hinweg und verbreiteten einen angenehmen Geruch. Das Feuer wärmte mich in der sternklaren, kalten Nacht.
Ich saß an einem Lagerfeuer mit der zitternden Frau, die wie nicht zu übersehen war, starke Schmerzen hatte. Sie hatte mir vor wenigen Stunden mithilfe von Zeichnungen mit Stöcken in dem Sand erklärt, dass sie eine giftige Pflanze zu sich genommen hatte, und innerhalb der nächsten 24 Stunden, das Gegengift brauchte, wenn sie noch weiter unter den Lebenden weilen wollte.
Sie war sehr froh darüber, dass ich wie aus dem Nichts gekommen war, hatte mich auf der Insel „Kuria“ willkommen geheißen und sah mich als ihre letzte Hoffnung. Als Gegenleistung dafür, dass ich am nächsten Tag mit ihrem selbstgebauten Kanu „Wellenreiter“ hinausfahren sollte, um die roten Früchte zu besorgen, wollte sie mir beibringen, wie ich in der Wildnis überleben konnte.
Leicht amüsiert war sie darüber gewesen, als sie mich dabei gesehen hatte, wie ich versuchte durch reines aneinander Reiben von zwei Steinen, ein spitzes Werkzeug herzustellen. Sie hatte mich mit Hilfe von Gesten und ihren Zeichnungen belehrt, dass dafür ein paar kräftige Schläge auf einem der Steine nötig gewesen waren und dass dies einige Stunden dauern konnte. Da diese Zeit nicht vorhanden war, hatte sie mir einen bereits gespitzten Stein überreicht und so hatte ich nur noch ein paar Male auf die Nuss zu schlagen gebraucht und anschließend das Werkzeug abzusetzen, als ein Knacken ertönte. Mit langsamen Schlucken und einigen Abständen dazwischen hatte ich schließlich, das Kokoswasser in meine Kehle fließen lassen. Es war eine Wohltat gewesen, die mir richtig gut getan hatte. Ich war sehr verwundert, dass mir das Kokoswasser so gut schmeckte, denn eigentlich mochte ich keine Kokosnüsse. Deshalb kam ich zu dem Gedanken, dass mich gar nichts mehr überraschen konnte. Doch diese Annahme sollte sich schon bald als verkehrt herausstellen.
Ein klagendes Mauzen weckte mich. Es war so unerträglich laut und herausfordert, dass es mich so sehr erschreckte, dass ich meinen Oberkörper ruckartig aufrichtete und meine Augen vor Schreck weit aufriss. Dabei dauerte es ein wenig, bis ich die Situation erfassen konnte. Zunächst wurde mir bewusst, dass ich mich immer noch auf der Insel befand, das endlose blau-türkise Meer, der feine Sand, das bereits erloschene Lagerfeuer und die mächtigen Palmen verrieten es mir.
Dies alles war mir schon nach ziemlich kurzer Zeit vertraut geworden. Ich kannte es bereits nicht mehr anders als, dass ich von dem Rauschen des Meeres, dem Rascheln der Palmen und dem warmen Klima am Tag und der klirrenden Kälte in der Nacht umgeben war. Obwohl ich nicht einmal einen ganzen Tag dort verbracht hatte, kam es mir so vor, als wäre die Insel mein zu Hause, in dem ich schon ewig wohnte.
Ich hatte mich an die gesamte Atmosphäre gewöhnt und stellte mich auf das neue Leben ein. Mich erschrak nicht der Gedanke, dass es möglicherweise gefährliche und exotische Tiere gab, von denen ich nichts wusste. Doch damit, dass ich auf der Insel auf Katzen treffen würde, hätte ich nun wirklich nicht gerechnet.
Eine getigerte Hauskatze saß direkt vor mir in dem Sand und sah mich mit bittenden und klagenden Augen an. Das Bild war so unreal, dass ich mir mehrmals über meine Augen rieb und mich so oft in den Arm zwickte, bis ein roter Fleck auf meinem Arm zu erkennen war und der Schmerz sich durch meine Nervenbahnen zog.
Dann vernahm ich ein Lachen auf meiner linken Seite und darauf einen gequälten Laut.
Es war die kranke Frau, deren Namen ich noch immer nicht in Erfahrung gebracht hatte. Ebenso wenig kannte sie meinen Namen. Das war aber auch nicht weiter von Bedeutung. Zunächst ging es erst einmal darum, dass sie gesund wurde, danach blieb sicher noch genügend Zeit für persönliche und ausführliche Gespräche, hatte ich mir gedacht.
Sie ritze in den weißen Sand, dass die Katze ihr gehörte und, dass ich sie mitnehmen sollte, wenn ich mich nach einer Stärkung, die aus ein paar Wurzeln, einer handvoll Datteln und etwa einen halben Liter Kokoswasser bestand, die sie in zwei separaten Holzschalen transportiert hatte, auf die Suche nach den roten Früchten, die auf der Nachbarsinsel „Furia“ wuchsen, machte.
Die Katze hatte ebenfalls von der giftigen Pflanze gespeist und bei ihr war das Ausmaß sogar noch schlimmer als bei der Frau. Sie konnte sich kaum noch bewegen, klagte unaufhörlich und zitterte, als würde sie jeden Moment zusammenbrechen. Eine Hauskatze besaß ein schwächeres Immunsystem als ein Mensch und eine geringere Menge konnte schneller zum Tod führen. Der Katze blieben nur noch wenige Stunden und somit, bestand nur eine Chance zu überleben, wenn sie mitkam und auf der Insel das Gegengift zu sich nahm. Die Frau hatte zuvor mit ihrer noch vorhandenen Kraft versucht, das Kanu zu betätigen, um zu der besagten Insel, die sie Monate zuvor entdeckt hatte, zu gelangen, war aber immer wieder gescheitert und hatte schließlich nach mehreren Versuchen aufgeben müssen.
Also war es nun an mir den beiden Unglücklichen zu helfen.
Ich war mir über die Knappheit der Zeit bewusst, schlang die Nahrung förmlich hinunter und trank das Kokoswasser mit einem Zuge aus.
Mit einem dankbaren Lächeln überreichte ich der Kranken die Schalen und folgte ihr zügig zu dem Kanu.
Seelenruhig sah ich Wellenreiter, einige Meter weiter, in dem klaren Meer liegen. Der Schatten spiegelte sich in dem Wasser und es bot sich ein wunderschönes Bild mit dem Sonnenaufgang im Hintergrund. Verschiedene Rot Töne überzogen den Himmel und ich glaubte nie einen schöneren Anblick gesehen zu haben.
Das Kanu war an einer Palme, die über dem Wasser hing, gebunden. Ich trat auf das hölzerne Gefährt zu, nachdem die Frau mir eine gezeichnete Karte, einen Korb und einen Kompass überreicht hatte. Vorsichtig setzte ich zuerst die Katze in das Kanu. Mit Elan sprang ich hinterher nur um gleich darauf in dem Wasser zu landen. Ich schüttelte mich, lud die Katze wieder ein, die sich nicht einmal erschrocken hatte und startete einen zweiten Versuch. Auch dieser scheiterte aufgrund einer nicht korrekten Gewichtsverlagerung. Bevor ich es ein drittes Mal versuchte, ging ich tief in mir und entwickelte eine unglaubliche Stärke, von der ich mir vorher nicht einmal bewusst gewesen war, dass ich sie besaß. Ich stellte mir die Situation bildlich vor und obwohl ich unter Zeitdruck stand und ich zuvor nie ein Kanu benutzt hatte, war ich völlig ruhig und entspannt. Vor meinen inneren Augen sah ich meine verstorbene Großmutter, in ihrem Lieblingskleid, wie sie mir weise Ratschläge gab und fest an mich glaubte. Ich hatte das Gefühl, als wäre es sie selbst gewesen, die mich an diesen Ort geschickt hatte, damit ich den Erkrankten helfen konnte.
Entschlossen alles zu geben startete ich meinen dritten Versuch. Ich glaubte, dass ich nicht sprang sondern schwebte und hinter der Katze, in dem Wellenreiter, sanft meinen Platz einnahm.
Ich betätigte die ebenfalls selbsthergestellten Paddeln, die ich zu benutzen wusste, da ich ein Schlauchboot besessen hatte und warf einen letzten Blick auf die Frau.
Die Kranke stand krümmend, und mit einer dennoch zuversichtlichen und hoffnungsvollen Mimik, an dem Strand und sah mir bei meinem Start der Reise zu. Dabei wurde sie immer kleiner, bis sie nur noch als einen kleinen Punkt auszumachen war und schließlich hinter dem Horizont verschwand.
Ich richtete meinen Blick geradeaus. Die Verfärbungen des Sonnenaufganges wurden immer kräftiger während die Temperatur und mein Kampfgeist von Minute zu Minute stiegen.
Furia bot eine reiche Vielfalt an schönen, bunten Muscheln stellte ich bewundert fest, nachdem ich das Holzkanu, an einer über dem Wasser hängende Palme, angebunden hatte. Ich trug die leidende Katze in dem Arm, während ich über dem weißen Strand ging, und Ausschau nach den roten Früchten hielt. Der Karte zufolge sollten die heilenden Früchte sich an der Westküste befinden. Mit einem Blick auf dem Kompass stellte ich fest, dass mich an der Ostküste der Insel befand, und schritt geradeaus über den weichen Boden. Der Strand erstreckte sich über einige Meter und dahinter befand sich dunkle Erde, wie bei der benachbarten Insel Kuria, die einige Kilometer entfernt lag.
Über den Zustand des dunklen Bodens, war ich ein wenig verwundert, da er ebenso locker wie der Strand war. Ich konnte mir das nicht erklären, schließlich war es sehr warm und ich hatte noch keinen Niederschlag seit meiner Ankunft erlebt. Der Boden auf Kuria war hingegen an dem Punkt, wo der Strand endete, entschieden fester. Zudem schien mir die andere Insel auch wesentlich größer zu sein.
Schneller als gedacht erreichte ich die Westküste. Ich blickte um mich und hoffte die Früchte schleunigst zu finden. Viele verschiedene Pflanzen sprangen mir ins Auge. Es war kein Leichtes, die Palme mit den roten Früchten zu finden. Ich kämpfte mich durch das dichte Gestrüpp aus Palmen, Farnkraut und rankenden Kletterpflanzen.
Schließlich entdeckte ich die gewünschten Früchte. Sie hingen an einer kleinen Palme und trugen eine kräftige, rote Farbe. Unwillkürlich erinnerten sie mich an die roten Früchte, die auf dem mystischen Bild aufgetaucht waren. Ihre Form und ihre Farbe stimmten eins zu eins überein. Nur passte der entsprechende Baum nicht. Der Baum des vererbten Bildes war ein Laubbaum und keine Palme.
Mir war die Umstände weiterhin ein Rätsel.
Zum Nachdenken blieb aber definitiv nicht genügend Zeit. Ich schob meine Gedanken beiseite und pflückte die roten Früchte, die aussahen wie kleine Äpfel.
Bevor ich den Korb füllte, gab ich der Katze eine handvoll von den Früchten, hoffte die richtige Dosis gewählt zu haben und setzte das Wollknäuel auf den Erdboden, damit es ungestört die Medizin zu sich nehmen konnte. Die getigerte Hauskatze aß die Früchte in einem zeitlupenartigen Tempo und wurde dabei immer wieder von Krämpfen überfallen. Noch konnte ich keine positive Veränderung in Form von einer Besserung feststellen, aber immerhin schienen die Früchte, das Ausmaß nicht zu verschlimmern.
Zügig füllte ich den Korb mit dem rotem Gegengift, nahm die Katze wieder auf meinem Arm, stob förmlich über die Insel, band bei der Ostküste angekommen, das Kanu los und befand mich, ehe ich mich versah, mitsamt der Katze und den Früchten in dem Transportmittel. Ich bewegte mich mithilfe der selbsthergestellten Paddel, so schnell es mir möglich war, vorwärts und hoffte rechtzeitig bei der schwer erkrankten Frau anzukommen.
Es war weit und breit niemand zu sehen stellte ich fest, nachdem ich mit der Katze wieder bei der vermeintlich größeren Insel angekommen war. Die Frau stand nicht an der Küste, wie ich vermutet hatte, um mich zu erwarten. Ich konnte mir ihre Abwesenheit nicht erklären, schließlich brauchte sie das Gegengift. Und das so schnell wie möglich.
Mit zügigen Schritten hielt ich weiter Ausschau nach der Frau, setzte die Katze ab, der es mittlerweile besser ging, und hoffte, dass sie mich zu ihrer Besitzerin führen würde. Nachdem wir Kuria schon zum zweiten Mal umkreist hatten, schrumpfte meine Hoffnung allmählich sie zu finden. Das kleine Wesen hatte scheinbar ebenso wenig Ahnung wie ich, wo sich ihre Besitzerin befinden konnte. Die Katze lief noch immer vor meiner Nase ziellos durch die Gegend, und mir fiel nichts Besseres ein, als ihr zu folgen. Wir hatten bereits die Baumgruppen mehrfach durchkämmt und ich suchte gründlich alle noch so kleinen Ecken der Insel ab. Das Einfachste wäre es natürlich gewesen, wenn wir ihren Spuren hätten folgen können. Doch hinterließ man keine Abdrücke auf der braunen, harten Erde und die Spuren am Strand, verschwanden schon mit der nächsten Welle oder wurden von dem Winde ausgelöscht.
Somit war es hoffnungslos. Doch ich wusste auch, dass sie nicht einfach in ihrem Zustand die Insel hätte verlassen können. Also glaubte ich, sie auf der paradiesischen Kuria zu finden.
Ich taumelte weiterhin über den harten Boden und ein Hauch von Müdigkeit machte sich allmählich bemerkbar. Mein Blick glitt über kleinere und größere Steine, Stöcke und einigen verblassten Muscheln.
Als ich meinen Kopf hob, der schon längere Zeit mit Blickrichtung zum Boden, gesenkt war, erblickten meine erstaunten Augen etwas, dass aus Holz bestand und flach wie ein Brett aussah. Es dauerte ein paar Millisekunden, bis mein Gehirn mir die Mitteilung sendete: Ich stand vor einer Tür.
Hoffnungsvoll drückte ich, mit zittriger Hand, die Türklinke hinunter. Mit einem Knarren sprang die Tür auf und Dunkelheit erfüllte den Raum, als die Tür, ebenso schnell wie sie sich öffnen lassen hatte, schloss.
Ich irrte mit voran gestreckten Armen durch den Raum, darauf konzentriert nirgendwo anzustoßen oder über mögliche Gegenstände zu stolpern.
Das schnelle Pochen meines Herzschlages erfüllte die unheimliche Stille. Er verlangsamte sich, als ich eine Art Fensterlade fand, und unmittelbar nach dem Öffnen der zuvor dunkle Raum mit Licht durchflutet wurde.
Meine Augen gewöhnten sich rasch an die Helligkeit und sahen etwas, dass ihre volle Aufmerksamkeit bekam.
Direkt vor meinen Augen lag ein Zettel. Er ruhte auf einem alten, braunen Schreibtisch, der genauso aussah wie mein eigener, der in meinem Zimmer weit weg von diesem Ort stand, und meiner Oma einmal gehört hatte.
Die Sammlung von Fragen wurde wieder um ein vielfaches erweitert.
Doch noch mehr als zu dem Schreibtisch, der das einzige Möbelstück in diesem vermutlich selbstgebauten kleinen Häuschen war, zog es mich zu dem vergilbten Blatt Papier hin.
Durchbrochene, aber dennoch geschwungene Schriftzüge füllten das Blatt.
Ich nahm es behutsam in meine Hände und begann zu lesen.
An die tapfere Retterin
Ich weiß nicht wer du bist und wie du lebst. Ich kenne nicht einmal deinen Namen. Aber eines weiß ich ganz bestimmt, dass du eine wahre Heldin bist.
Ich habe mein letztes Blatt Papier, dass ich für den Fall, jemanden wahrlich Großartigem zu begegnen und diesem eine Nachricht zu schreiben, für dich aufgebraucht.
Nicht, dass ich jemals geglaubt hätte, nachdem ich auf dieser Insel gestrandet war, dass ich jemanden begegnen würde, aber irgendetwas in meinen Kopf sagte mir, dass ich das Blatt noch brauchen würde. Und dieses Etwas hatte Recht gehabt.
Sehen werden wir uns in diesem Leben leider nicht mehr. Ich spüre, wie meine Kraft schneller zugrunde geht, als mir lieb ist. Dir zu Schreiben ist ein wahrer Kraftakt. Wenn du das liest, werde ich bereits nicht mehr am Leben sein. Drum mach dir nicht die Mühe nach mir zu suchen. Den Anblick könntest du wahrscheinlich nicht ertragen und helfen kannst du mir dann auch nicht mehr. Nimm bitte die Katze an dich und kümmere dich gut um sie.
Zudem solltest du möglichst schnell in deine gewohnte Umgebung zurückkehren. Dazu brauchst du dich bloß auf den alten Tisch zu setzen und dabei an deine verstorbene Großmutter denken. Sie war ein toller Mensch, genau wie du es bist. Die Ähnlichkeit habe ich gleich erkannt. Und das betrifft nicht nur das Äußere.
Sei nicht traurig tapfere Kapitänin Minou. Du hast dein Bestes getan um meiner, nun deiner Katze „Minou“, und mir zu helfen. Du hattest den Mut mit einem selbstgebauten Kanu ins endlose Meer hinauszufahren. Das hätte sich wahrlich nicht jeder zugetraut.
Im ewigen Dank
Jutta
Viel Zeit ist nun seit meinem Aufenthalt auf der Insel verstrichen.
Alles hat wieder seine gewohnte Struktur eingenommen. Alles ist normal. Zu mindestens fast alles.
Ich schlafe wieder auf meiner notdürftigen Matratze, gehe zur Schule und bin zu meinem Glück oder auch Pech, wie man es nennen möchte, meiner Familie tagtäglich ausgesetzt.
Sie hatten meine Abwesenheit bei meiner ersten Reise in ein fernes Land nicht einmal bemerkt. Nachdem ich Juttas Anweisungen gefolgt war, mich brav mitsamt der Katze auf den Tisch setzte und dabei an meine verstorbene Oma dachte, kehrte ich schnell wieder zurück in mein Zimmer der trostlosen Wohnung.
Wie überrascht ich doch gewesen war, dass während meiner Abwesenheit keine Zeit verstrichen war. Alles hatte sich, nach wie vor, an seinem Platz befunden.
Ich erinnere mich noch genau, wie ich ungläubig, das Bild anstarrte und jede Ecke meines Zimmers überprüfte.
Die Trauer um Jutta, deren Verbindung zu meiner Großmutter ich noch immer nicht kenne und wohl nie erfahren werde, hatte erst später eingesetzt. Ich vergoss minutenlang Tränen, bis ich an das Gemälde heran trat und über die Sonne strich. Sie verlieh mir auch in jener schwierigen Situation Kraft.
Das Bild weist nun regelmäßig Veränderungen auf und ich springe in ferne Länder und Städte, um als „Kapitänin Minou“ in Not geratene Menschen zu helfen. Dabei bin ich schon an den verschiedensten Orten gewesen. So rettete ich nicht nur Minou, die ich übrigens als herumstreunende Katze meiner Mutter gegenüber ausgab und behalten durfte, sondern half auch schon einem verirrten Jungen im Regenwald den Weg zu seiner Familie zurückzufinden, und rettete eine Frau in einem reißendem Fluss vor dem Ertrinken.
Nach jeder gelungenen Tat fühle ich mich stärker und verbundener mit meiner Oma. Ich beginne mehr und mehr ihr Geheimnis zu verstehen und lerne die Welt mit anderen Augen zu sehen.
>Gute Taten stärken dich und machen die Welt und das damit verbundene Leben ein Stückchen lebenswerter<.
Das habe ich begriffen und es ist nur eine Erkenntnis von vielen.
Es werden noch weitere folgen. So lange es möglich ist.
Texte: Lisa Marie Szymanek
Bildmaterialien: Lisa Marie Szymanek
Tag der Veröffentlichung: 29.05.2012
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