Cover

Prolog



Man will grundsätzlich immer das, was man nicht hat.
Man will nach Hause, wenn man im Urlaub ist, man will in den Urlaub, wenn man zu Hause ist.
Man will braune Haare haben, wenn man blonde hat, und blonde, wenn man braune hat.
Das ist so, und ich weiß ehrlich gesagt nicht warum, obwohl ich genauso bin.
Aber manchmal stimmt dieser Satz auch nicht.
Zum Beispiel in Sachen Freundschaft.
Ich mag und möchte meine Freunde, egal wann. Ich würde sie niemals wegwünschen, auch wenn wir uns noch so streiten. Ich würde nie keine Freunde haben wollen, wenn ich welche habe. Ohne Freunde wäre es so, wie es die Sportfreunde Stiller in „lass mich nie mehr los“ singen. Eben wie England ohne Tee, als ob beim Alphabet ein Buchstabe fehlt.


Laber-Mila



„Und weißt du was das Beste ist? Er kommt hier in die Stadt! Schulexkursion!“ Mila legte ihre Hand aufs Herz. „Ist das nicht wunderbar? Romeo hier, direkt bei mir, hier in New York! Weißt du, ich muss mir das gelbe Kleid von dir leihen, und die große Sonnenbrille! Ich kann es immer noch kaum glauben!“
Ich besaß nur

große Sonnebrillen. Die schmalen mochte ich gar nicht.
„Oh, Lola!“, seufzte sie. „Das ist so romantisch! Er und ich …“
Ich hörte ihr gar nicht weiter zu. Wenn Mila redete, konnte man sie unmöglich aufhalten. Wenn sie redete, redete sie ohne Punkt und Komma und brauchte gar keine Reaktion des Gesprächspartners. Sie redete einfach und das reichte ihr.
Heute redete sie über den charmanten Franzosen, den sie in den Osterferien kennengelernt hatte. Passenderweise hieß er Romeo. Jetzt wünschte sie sich, dass ihre Eltern sie Julia genannt hätten.
„Hab ich dir schon erzählt, dass Romeo Gitarre spielen kann?“
„Nein.“, sagte ich monoton. Sie bemerkte meinen genervten Tonfall nicht.
„Kann er aber! Und er kann dazu auf Französisch singen! Ein echter Held!“
Weil er auf eine Gitarre rumdudelt ist er ein Held?
„Ich hab angefangen Shakespeares Romeo und Julia

zu lesen und – oh mein Gott – Mr. Brandy hatte so recht! Das ist so wundervoll!“
Wenn Mila Shakespeare las, war es Zeit, die Stadt zu evakuieren.
„Wenn das doch unsere Geschichte werden könnte!“, seufzte sie.
Ich stutzte.
„Du willst sterben?“
„Die beiden sterben?“, fragte sie mit gerunzelter Stirn. War ja klar. Mila hatte null Ahnung von Literatur, und ich war mir sicher, dass sie von Romeo und Julia

kaum fünf Seiten gelesen hatte.
„Klar tun sie das.“, erwiderte ich.
„Dann meine ich eben die große Liebe zwischen den beiden!“, sagte sie mit einer wegwerfenden Handbewegung.
„Klar doch.“, murmelte ich.
„Und sein Lächeln!“
Ich schaltete auf Durchzug und ließ sie labern. Der Weg zu meinem Schließfach kam mir auf einmal unglaublich lang vor.
So gern ich Mila auch hatte – ich vermisste Vicky. Warum war sie heute beim Theatertreffen und ließ mich hier mit Laber-Mila alleine? Das war so unfair! Warum hatte ich heute kein Schülerzeitungstreffen?
Ich seufzte und spielte gelangweilt mit einem meiner geflochtenen Zöpfe, die mir locker über die Schultern fielen. Heute trug ich dunkelblaue Shorts und zwei Tops, ein gelbes und ein rotes, übereinander.
Die Hitze und das Gelaber von Mila zusammen machten es fast unmöglich, nicht schreiend im Kreis zu rennen.
„Nächste Woche kommt er! Nächste Woche schon! Ich glaub ich tick aus!“, erzählte Mila weiter und strahlte über das ganze Gesicht. Ihre blauen Augen leuchteten wie Laternen.
Endlich waren wir bei unseren Schließfächern angekommen.
Ich gab schnell meine Kombination ein, nahm ein paar Bücher aus meiner Schultasche und schlug die Tür wieder zu.
Das Einrasten des Schlosses war der Startschuss meiner Befreiung.
„Muss los, Mila! Tut mir leid!“, rief ich hastig und lief rückwärts aus der Schule hinaus.
Die ganze Busfahrt über musste ich an ihren Romeo denken, wie er auf seiner Gitarre rumklimperte und dabei schrecklich säuselig und schief auf Französisch sang.
Da sieht man mal wieder, wie Milas Gelaber meine Gedanken beherrschte.


Wie im Film



„Verdammt.“, zischte ich leise, als mein Blick auf die große Uhr in der Aula fiel. Dass Mila mich nach der letzten Stunde schonwieder - wie jeden Tag dieser Woche - so zugelabert hatte, war echt nicht fair. Und dass mich Miss Habbot so lange festgehalten hatte, auch nicht. Aber unsere Sekretärin hielt die Schüler gerne auf. Sie hatte eine Schülerallergie und nutzte jede Gelegenheit, ihnen eins auszuwischen. Heute war ich mal wieder dran und musste ihr zehn Mal unsere neue Telefonnummer diktieren.
Mom hat unsere Telefonnummer nur geändert, weil sie meinte, es wäre Zeit für ein bisschen Veränderung. Andere Mütter gehen zum Friseur, wenn sie Veränderung wollen – meine wechselt die Telefonnummer.
Jetzt verpasste ich höchstwahrscheinlich meinen Bus.
Keine Menschenseele war mehr auf dem Schulhof.
Jeden Tag war es dasselbe Phänomen. Es klingelt und in weniger als fünf Minuten waren alle verschwunden. Wie weggeblasen.
Ich ging eilig weiter.
In dem Moment stolperte ich über irgendetwas, fiel hin und hörte, wie sich der Inhalt meiner Tasche auf dem Boden verteilte.
„Mist, mist, mist!“, schimpfte ich und stand auf. So etwas konnte auch nur mir passieren.
Aber als ich anfing meine Sachen wieder einzuräumen und nach meiner hellblauen XXL Sonnebrille greifen wollte, kam mir jemand zuvor.
„Warte, ich helfe dir.“
Ich sah auf und mir blieb die Luft weg.
Wow. Doppel-wow.
Es war wie im Film. Ein Mädchen kippte seine Tasche aus und ein verdammt gut aussehender Junge half ihr urplötzlich, alles wieder einzuräumen. Wie ein Retter.
Mein Retter sah auch gut aus. Besser als die Typen im Film, fand ich.
Er hatte wilde, dunkle Haare und wunderschöne, blaue Augen. Seine Züge ähnelten ein bisschen denen von Chad Michael Murray.
Er lächelte mich an. Ich hatte ihn noch nie hier gesehen – oder einfach nie auf ihn geachtet. Mir fiel beim besten Willen nicht ein, wie er hieß.
Mein Herz pochte und ich hatte Schmetterlinge im Bauch.
Er hielt die hellblaue Sonnenbrille fragend hoch.
Erst fragte ich mich, ob er wohl etwas gestört war. Schließlich war es extrem, heiß und sonnig, also war eine Sonnenbrille lebensnotwendig. Aber dann bemerkte ich, dass sich direkt vor seiner Nase ein beträchtlich großer Teil meiner Sonnenbrillensammlung ausgebreitet hatte, die ich jeden Tag mit mir rumschleppte.
Ups.
„Ähm … Sonnenbrillensucht.“, stammelte ich. Einer meiner Macken. Ich liebte Sonnebrillen und besaß mindestens dreißig davon.
Er legte sie gemeinsam mit den sieben, die ich heute dabei hatte, in meine Tasche zurück.
Ich stopfte den Rest dazu und schloss sie hastig.
„Was machst du überhaupt noch hier?“, fragte ich.
„Das könnte ich die auch fragen.“, erwiderte er und grinste. Seine Zähne waren makellos weiß.
Ich grinste zurück.
Mir fiel wieder ein, warum ich mich so beeilt hatte.
„Mist, ich muss los!“, murmelte ich und schulterte meine Tasche. „Bis … dann.“
„Verrätst du mir wenigstens noch deinen Namen?“, fragte er.
Ich blieb zögernd stehen.
„Lola.“
Er lächelte und wollte in die andere Richtung davon gehen.
„Und dein Name?“, rief ich ihm hinterher.
„Den sag ich dir später.“
„Das ist unfair!“ Er lachte nur. Es war ein schönes Lachen, leicht und locker. Frei.
„Dann haben wir einen Grund uns wieder zu sehen!“, rief er noch. Dann war er um die Ecke verschwunden.
Er wollte mich wieder sehen.
Ich lächelte.
Er wollte mich ernsthaft wieder sehen.
Ich schlenderte zu meiner Bushaltestelle. Der Bus war schon lange weg, aber ich war früh genug für den nächsten da. Und mit Kaugummi mit Melonengeschmack geht die Zeit ganz schnell vorbei.

Zu Hause saßen meine Mom und meine Schwester Lucy in der Küche und aßen Nudeln. Meine Portion war schon längst kalt.
Sonst hätte mich das aufgeregt, aber jetzt musste ich immer an den unbekannten Jungen denken. Wie er wohl hieß? Vielleicht Chris? Oder Nick? Oder vielleicht Tom?
„Alles okay, Schätzchen?“, fragte meine Mutter mit zusammengezogenen Augenbrauen. Ich wandte den Blick von der Mikrowelle ab.
Ich strahlte sie an.
„Klar doch! Wieso?“
„Nur so.“
Jetzt sah auch Lucy ein bisschen skeptisch aus.
Lucy war ein Jahr jünger als ich. Manchmal eine richtige Landsplage, aber manchmal auch ganz okay.
„Ich geh heute noch in meinen Malkurs.“, erzählte Mom.
„Malkurs?“, fragte ich.
„Mein Malkurs! Acrylmalerei!“
„Wieso?“, fragte Lucy.
„Weil es Spaß macht.“, sagte Mom tadelnd.
Ich war mir ziemlich sicher, dass Mom nicht mal Kohle und Bleistift auseinander halten konnte. Sie war völlig untalentiert zum Malen.
Außerdem entdeckte sie jede Woche ein neues Hobby, dass sie dann kurz danach wieder aufgab.
„Gut, ich geh übrigens auch noch weg.“ verkündete ich bei der Gelegenheit.
„Wohin denn?“ Sie klang ziemlich alarmiert. Das war typisch für Mom. Sie war total paranoid was Jungs anging, weil sie Angst hatte, ich würde ihr nichts davon erzählen, wenn ich einen Freund hätte.
„Mit Vicky und Mila irgendwo hin.“ Ich schob mir eine Gabel mit Taglietelle in den Mund und kaute. „Wir wissen noch nicht wohin.“

Nach dem Essen machte ich Hausaufgaben und zog mir schnell etwas anderes an. Durch die vielen Stunden heute und Miss Habbots Gelaber war ich viel zu spät dran.
Als ich bei Vicky klingelte, war Mila schon längst da.
Vicky war Brasilianerin. Sie lebte hier, seit sie ein Jahr alt war.
Jetzt war sie leidenschaftliche Tänzerin und machte bei allen Tanzangeboten unsere High School mit.
Ihre Familie lebte in einem kleinen, gemütlichen Haus am Stadtrand. Ich liebte dieses Haus. Es war so südländisch eingerichtet. Na ja, sie waren ja auch Südländer.
Heute trug Vicky ihre wundervollen Haare offen und hatte gelbe Shorts und ein rotes Top herausgekramt. Sie liebte grelle Farben.
Mila hatte ihre blonden Haare zu einem Zopf zusammengebunden und trug ein leichtes Sommerkleid. Sie sah wie immer aus wie ein Engel.
„Wozu habt ihr Lust?“, fragte Vicky. Sie saß im Schneidersitz auf ihrem Sofa und sah erwartungsvoll in die Runde.
„Wie wär’s mit Kino?“, schlug Mila vor.
„Find ich gut.“, sagte ich. Vicky grinste.
Wir gingen zu Fuß zum Kino. Es war nur ein paar Straßen weiter. Darum beneidete ich Vicky total.
Wir kauften unsere Karten und stellten uns am Popcornstand an.
Ich vergrub die Hände in den Taschen meiner Shorts und ließ den Blick durch die Gegend schweifen. Auf einmal fiel mein Blick auf zwei Personen neben einem lebensgroßen Pappaufsteller von Brad Pitt.
Ich hielt die Luft an und duckte mich.


Pappaufsteller-Comedy



Hastig kramte ich mein Handy aus meiner Tasche und wählte Lucys Nummer.
Zum Glück ging sie sofort dran.
„Lucy!“, zischte ich.
„Was denn?“, fragte sie verwirrt.
„Mom ist hier!“
„Bei Vicky?“
„Nein! Im Kino!“
„Du bist im Kino?“
„Ist doch jetzt egal! Mom ist hier!“
„Ich dachte sie ist Malen!“
„Das dachte ich auch!“
„Na und? Dann ist sie eben im Kino.“
„Sie ist hier mit einem Mann, Lucy!“
„Oh.“
Endlich eine Reaktion.
„Was machen wir jetzt?“, fragte sie leise.
„Keine Ahnung. Komm her, ich warte neben Angelina Jolie.“
„Angelina Jolie ist in unserem Kino?“
„Neben dem Pappaufsteller, du Hong! Bis gleich!“
Gegen Lucy war ich fast schon Sherlock Holmes.
Ich besann mich wieder auf das eigentliche Problem.
Von wegen Malkurs!
Ich starrte meine Mutter und ihren Begleiter unauffällig an. Der Typ hatte dunkle Haare und sah ziemlich normal aus. Ich fand nichts Südländisches an ihm - im Gegensatz zu meiner Mutter, die ja Mexikanerin war. Von ihr hatte ich auch meinen leicht olivefarbenen Teint und die dunklen Haare.
Er hatte einen Dreitagebart, den meine Mutter wahrscheinlich unglaublich sexy fand. Er trug ein weißes Hemd – unschuldig und zwanglos. Na klasse.
Die Wut kochte weiterhin in mir hoch, zusammen mit der Enttäuschung. Warum hatte sie uns nicht von Mister-sexy-drei-Tage-Bart erzählt? Warum gab sie vor, in einem Malkurs zu sein, wenn sie eigentlich ins Kino ging? Und warum zum Teufel fand sie diesen Deppen gut?
Gerade reichte er ihr die Familienpackung Popcorn, die er gekauft hatte. Sie lächelte ihn charmant an und nahm sich etwas.
„Lola?“ Ich schnellte erschrocken herum. Lucy war neben mir aufgetaucht und sah über Angelinas Schulter. Sie hatte noch ihre Jogginghose und ein verwaschenes, altes T-Shirt an.
„Da!“, wisperte ich und deutete auf die zwei. Lucys Augen wurden zu schalen Schlitzen.
„So viel zum Thema Malkurs.“, zischte sie. Ich seufzte leise.
Sie konnte manchmal echt nervig sein, aber in solchen Sachen waren wir meistens gleicher Ansicht.
Das nächste was ich bemerkte, waren zwei Köpfe die sich zwischen meinem und Lucys durchquetschten.
„Was ist denn da?“, fragte Vicky neugierig und reichte mir eine Tüte Popcorn.
Ich legte den Zeigefinger auf die Lippen und kam mir gleichzeitig echt bescheuert vor, wie wir uns hier zu viert hinter einem Pappaufsteller von Angelina Jolie versteckten.
Vicky und Mila sahen genauer hin.
„Oh!“, seufzte Mila nur heraus. „Wir romantisch!“
Vicky strafte sie mit einem warnenden Blick.
„Romantisch?“, fauchte ich.
„Freust du dich nicht für sie?“ Mila machte Kuhaugen.
„Keine Ahnung! Sie hat uns ja nix von dem Deppen da erzählt! Nur von ihrem erfundenen Malkurs!“
„Hm.“, machte Mila.
Na, sie war ja eine ganz prima Hilfe.
„Sollten wir nicht ins Kino rein?“, fragte Mila schließlich.
„Und die da alleine lassen?“, fragte ich und deutete auf den Ich-ziehe-unschuldige-und-zwanglose-weiße-Hemden-an-Deppen und meine Mutter.
„Ich bleib schon hier draußen.“, versprach Lucy. „Und wenn sie in ihrem Film sind, kann ich eh nicht mit rein, dann geh ich nach Hause.“
„Okay.“, murmelte ich und nickte.
Enttäuschung schnürte mir die Kehle zu, als mein Blick ein letztes Mal auf meine Mutter und den Deppen fiel.
Dann betraten wir Kino 2.

Als ich wieder nach Hause kam, ging ich sofort ins Bett. Ich hatte keine Lust, meiner Mom zu begegnen. Möglicherweise würde ich noch der Versuchung nicht widerstehen können und ihr alles vor den Kopf knallen.
Statt sie anzubrüllen lag ich hellwach in meinem Bett und träumte von Mister X, wie ich meinen namenslosen Retter vorläufig nannte.
Hoffentlich sah ich ihn bald wieder, damit ich endlich erfuhr, wie er hieß!


Milas Typ und Mister X



Ich wusste nicht, ob ich mich freuen oder ärgern sollte, dass Romeo heute kommen sollte. Einerseits würde Mila dann endlich aufhören, vor Vorfreude auf und ab zu hüpfen, aber andererseits konnte ihre Freude durch seine Ankunft auch noch viel unerträglicher und größer werden. Oder es lief schlecht und sie jammerte Tag und Nacht wegen Liebeskummer rum …
Mila war ein sehr emotionaler Mensch. Dagegen hatte ich im Grunde nichts, aber manchmal war es etwas nervig.
Wegen der ganzen Romeosache hatte ich schon die ganze Woche Albträume von französischen Schnulzen.
Jetzt standen Vicky, Mila und ich am Flughafen und warteten auf Romeo. Nein – Mila wartete auf Romeo. Vicky und ich aßen Hotdogs und lachten zusammen.
Sie hatte uns quasi gezwungen mit ihr zu warten, also machten wir jetzt das Beste daraus.
„Ich glaube da sind sie!“, kreischte Mila und stellte sich auf die Zehenspitzen.
Ich schob meine riesige, rosa Sonnebrille nach oben in meine Haare und beobachtete wie eine Gruppe Schüler in unserem Alter aus ihrem Gate trudelten.
Mila lief sofort los und suchte nach ihrem Romeo.
Wie schön für sie, dass sie heute so ein enormes Selbstbewusstsein an den Tag legte.
„Was denkst du – wie lange werden wir das ganze überleben?“, fragte Vicky matt.
„Drei Tage.“, antwortete ich trocken.
„Zwei.“, überbot Vicky.
Wir grinsten uns kurz an.
Dann sichtete ich Mila wieder, die jetzt mit einem blonden Franzosen flirtete, der einen Koffer in der Hand hielt und einen Rucksack auf dem Rücken hatte. Er sah aus wie ein echter Romantiker – genau Milas Typ.
Wie gesagt, sie hatte ihn in den Osterferien kennen gelernt – in Lyon. Dort hatten sie jeden Morgen zusammen Baguette mit Marmelade gefrühstückt und abends seiner Gitarre gelauscht.
Ich zog die Augenbrauen zusammen, als ich sah wie Mila schallend über irgendetwas lachte, dass er gesagt hatte.
Sie wusste wenigstens wie er hieß und wo er wohnte.
Ich wusste nicht mal wie mein Mister X hieß.
Grummel.
„Hey, da ist Janice!“, rief Vicky plötzlich und stellte ihre Cola ab, um ihr zu winken.
Ich wandte den Blick und entdeckte unsere Klassenkameradin neben einem Kofferband.
Sie erblickte uns und kam auf uns zu.
„Was machst du denn hier?“, fragte ich sie.
„Verwandte abholen. Mit wem redet Mila denn da?“ Sie reckte neugierig den Hals.
„Vergiss es.“, lachte ich. „Der Romeo ist schon für Mila reserviert.“
Sie zuckte mitleidig mit den Schultern.
Sie konnte manchmal ziemlich launisch und impulsiv sein, aber teilweise bewunderte ich sie richtig. Obwohl sie gewisse Differenzen mit anderen Leuten hatte, wusste sie jetzt schon, mit sechzehn, genau was sie wollte.
Sie wollte einmal Design in Providence, Rhode Island, studieren. Die Collegeformulare waren schon ausgedruckt.
Mir wurde schlagartig bewusst, dass es ja auch bald so weit sein würde. Bald musste ich mir schon darum Gedanken machen, auf welches College ich gehen wollte. Schon in ein paar Jahren.
Ich runzelte die Stirn. Nein, darum wollte ich mir jetzt noch keine Gedanken machen.
Janice trug wie immer ziemlich ausgefallene Sachen.
Während ich in kurzen, grünen Shorts und einem weißen Tanktop dastand, trug sie ein raffiniertes, trägerloses Oberteil in hellrot und einen abgeschnittenen Jeansrock, durch dessen Gürtelschlaufen sie ein weißes Tuch gezogen hatte. Um den Hals trug sie duzende bunter Ketten und an den Füßen selbst gemachte Schuhe.
Ja, selbst gemachte Schuhe. Genau wie Holly aus P.S. Ich liebe Dich

, machte sie in der Kunst AG Schuhe selbst. Darum bewunderte ich sie echt.
„Leute, tut mir Leid, ich hab noch ein Redaktionstreffen.“, sagte ich und trank den letzten Rest aus meiner Colaflasche.
„Wieder an einer heißen Story dran?“, fragte Vicky und zwinkerte mir zu.
„Ganz genau!“, sagte ich geheimnisvoll grinsend. Na ja, so heiß war meine Story über die Kunst AG diese Woche nun auch wieder nicht. Aber besser als über die neuen Parkplätze zu labern.
Wir verabschiedeten uns, ich warf einen letzten Blick auf Romeo und Mila und verschwand dann aus dem Flughafen.

Als ich in unserer Redaktion ankam, waren schon alle da. Mein Chefredakteur Terry sah mich warnend an.
„Süße, wir schimmeln schon.“, sagte er und deutete auf einen Stuhl zwischen Dean Roberts und Mandy Clare.
Ich setzte mich.
Obwohl Terry nicht schwul war, hatte er doch einen gewissen weiblichen Touch an sich. In etwa so wie Jack Sparrow.
„Ich bin ja da, Terry.“, sagte ich und lächelte in mich hinein. Ich liebte die Redaktionstreffen. Hier fühlte es sich nicht so an, als wäre man wirklich in der Schule. Nichts Krampfhaftes, nichts Superernstes. Wir spaßten und lachten als wäre es einfach nur ein Hobby. „Kann losgehen.“
Terry fing an, Dean ein paar Bemerkungen zu seinem Bericht zu erklären. Dean war meistens für den Sportteil verantwortlich.
Ich war nicht hier bei der Schülerzeitung, um gute Empfehlungen fürs College zu bekommen. Okay, das auch, aber eigentlich war ich hier, weil ich so gerne schrieb. Ich liebte es mit Worten etwas zu erzählen. Aber nicht so, wie in diesen langweiligen Großblättern. Ich wollte etwas mit Pep schreiben. Etwas Cleveres.
„Nicht schlecht.“ Ich schreckte hoch. Terry stand vor mir und hielt mir meine letzte Story hin. Ich nahm sie und entdeckte kaum rote Marker. „Verändere da im Mittelteil noch etwas und wir können es drucken.“
„Ich setz mich dran.“, versprach ich. Nachdem Terry alle Artikel verteilt hatte, schloss er die Versammlung und ich zog mich an meinen Schreibtisch zurück. Ja, ich hatte einen eigenen Schreibtisch. Cool, was? Manchmal fühlte ich mich richtig wichtig, wie Christian Amanpour.
Mein Computer war etwas altersschwach, aber immer noch bestens zu gebrauchen. Außer einen guten Internet Explorer und mein Word Programm brauchte ich eh kaum etwas.
Ich öffnete das Script zu meinem Artikel und veränderte hier und da ein paar Dinge, spielte mit den Wörtern und ordnete sie neu zusammen. Nachdem ich ein überflüssiges Zitat gestrichen hatte, bemerkte ich, dass Terry mir über die Schulter glotzte.
„Cleverös.“, sagte er mit seiner unvergleichlichen Art, seufzte und ging weiter. Ich schüttelte belustigt den Kopf. Vielleicht war er ja doch schwul?
Nachdem ich den Artikel abgeschickt hatte, schaltete ich den Computer aus und verließ die Redaktion.
Vor der Tür rannte ich sofort in einen Typen hinein und stöhnte innerlich auf.
„Sorry.“, murmelte ich und wollte weitergehen, da öffnete der Typ den Mund.
„Lola, oder?“, fragte er. Ich sah auf und blickte in die Pracht der wunderbar blauen Augen von Mister X. Ich konnte den Blick einfach nicht von ihnen wenden. Als würde ich etwas Mordswichtiges verpassen, wenn ich wegsehen würde.
„Ähm – ja.“, stammelte ich und versuchte unauffällig meine Haare zu richten. „Und du bist der Unbekannte.“
Er lachte.
„Ernsthaft – wie heißt du nun?“ Ich stemmte eine Hand in die Hüfte und sah ihn abwartend an.
„Wenn du noch mit mir ’ne Cola trinken gehst, sag ich’s dir.“, schlug er vor.
Ich lächelte.
„Schieß los.“
„Justin.“
Justin. Kurz und modern, gar nicht altmodisch oder blöd. Ich lächelte und wiederhole den Namen bestimmt tausendmal in meinen Gedanken.
Ich hatte gar nicht bemerkt, dass wir weitergegangen waren. Mittlerweile standen wir auf dem Schulhof.
„Cola?“, fragte er und lächelte mich supersüß an.
„Cola.“, gab ich zurück.
Er führte mich ein paar Straßen weiter in ein kleines Café, indem er zwei Colas bestellte und wir uns an einen kleinen Tisch in einer gemütlichen Nische setzten.
Konnte man das jetzt ein Date nennen?
Ich sah ihn von der Seite an.
Mit Sicherheit war er eine Klasse höher als ich. Er sah schon viel erwachsener aus als die Jungs aus meiner Klasse. Seine Gesichtszüge waren markanter und hatten nicht mehr so viele kindliche Rundungen.
In dem Moment vibrierte mein Handy und ich kramte es aus der Hosentasche heraus. Es war eine SMS von Mila. Sie bat mich – nein, sie befahl mir geradezu – heute mit ihr in den Central Park zu kommen, weil Romeo dort für eine Stunde war. Dabei verwendete sie einen Haufen ziemlich schmeichelnder Adjektive für seine Nase (Hallo?!). Komisch, dass sie das jetzt konnte und im Deutschunterricht nicht. Ich seufzte.
„Darf ich fragen wer das war?“, fragte er aufmerksam interessiert.
„Meine Freundin Mila.“, antwortete ich. „Sie leidet unter dem Liebes-Syndrom, was ja eigentlich nicht schlimm wäre. Sie dramatisiert es nur gerne.“
Er grinste.
„Kenne ich.“
Ich sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. Niemand – nicht einmal im Entferntesten Sinne – konnte so dramatisch werden wie Mila.
„Ehrlich.“, beteuerte er. „Kennst du meinen Freund Ritchie?“
„Also … ich denke nicht.“
„Er würde wunderbar mit Mila zusammenpassen.“
Ich musste lächeln. Es war leicht, sich mit ihm zu unterhalten.
Da sichtete ich plötzlich jemanden. Eher gesagt zwei „jemande“.
„Duck dich!“, zischte ich und schlüpfte hastig unter den Tisch.
„Was?“, fragte er verwirrt. Er hatte sich nicht bewegt und sah mich ratlos an.
„Guck nicht so nach unten! Dann sieht sie mich vielleicht!“, wisperte ich so laut ich konnte, ohne auffällig zu sein.
„Wer?“, fragte er und suchte das Café mit den Augen ab.
„Meine Mutter.“, murmelte ich.
Er entdeckte sie und trank unauffällig seine Cola weiter. Ich war ihm so dankbar, dass er nicht so ein tollpatschiger Detektiv wie mein Cousin Bob war. Der hätte sich nämlich sofort verraten.
„Und ihr heimlicher Lover.“, fügte ich grimmig hinzu.
Und dann brach alles aus mir hinaus. Wütend erzählte ich ihm vom Kino und dem weißen Hemd und all den anderen Sachen, die Mom verheimlichte.
Nach meiner langen Rede musste ich erstmal Luft holen.
„Und wie lange willst du jetzt da unten hocken?“, fragte er gut gelaunt. Oder amüsiert. Wie man’s nimmt.
„Solange es nötig ist.“, sagte ich mit schwacher Stimme und hörte selber, wie niedergeschlagen und wütend ich klang. Noch ein Punkt, warum ich Mom hassen sollte. Sie hatte heute mein schönes Treffen mit Justin zerstört.
Er lachte leise in sich hinein. Ich bedauerte es, nicht bei ihm zu sitzen und sein wundervolles Lächeln zu sehen.
„Du bist echt verrückt.“, murmelte er, aber in einem sanften, lieben Ton.
„Ich fass das jetzt einfach mal als Kompliment auf.“, grummelte ich und schob meine XXL Sonnenbrille mit dem rosa Rand in meinen Haaren zurecht.
„Solltest du.“, sagte er und lächelte die Wand vor uns an. Und wieder wollte ich vor ihm sitzen, damit er mich

anlächeln konnte, und nicht die blöde Wand.
Langsam spürte ich, wie ich rot wurde.
Ich hörte wie Mom laut lachte und von ihrem Blaubeer-Muffin schwärmte. Dann hörte ich ein tieferes, maskulines Lachen, dass für Mom wahrscheinlich mal wieder unglaublich sexy klang.
Ich ballte die Fäuste und wehrte mich dagegen, aufzuspringen und ihr den Muffin aus der Hand zu schlagen.
Sie setzten sich an einen Tisch neben der Tür, was natürlich extrem toll für mich war, weil ich ja nun noch weniger Chancen hatte, mich zu verdünnisieren.
Penntüten.


Marmeladenküsse



„Also bis dann.“ Ich sah wehmütig zwischen Justin und den Bäumen des Central Parks hin und her. Ich wäre viel lieber mit ihm weiter gezogen, als Mila und Romeo beim Flirten zuzusehen.
„Bis dann.“, sagte er. Ein letztes Mal sahen seine traumhaft blauen Augen mich an, dann drehte er sich um und ging locker und absolut geil aussehend davon.
Ich seufzte und wandte mich dem großen, weiten Park zu.
Hier und da liefen ein paar Leute hin und her, hauptsächlich Mütter mit Kinderwagen, Jogger und Rentner. Dann entdeckte ich am Ufer des großen Reservoir Sees Mila, die wild mit den Armen ruderte und mich zu sich winkte
Ich joggte zu ihr und Vicky hinüber.
„Wer war das denn?“, rief sie schon von weitem, neugierig und erwartungsvoll.
Ich wartete bis ich direkt bei ihnen stand.
„Sah echt gut aus!“, meinte Vicky und grinst schief.
Konnten die zwei etwa auf zweihundert Metern Entfernung entscheiden ob jemand gut aussah oder nicht? Himmel! Die zwei waren momentan echt auf Jungs programmiert …
„Sag schon, Lola! Wer war das?“ Mila sah mich gespannt an.
„Justin.“, antworte ich und ließ mir den Namen auf der Zunge zergehen wie Vanilleeis. „Das war Justin.“
Noch einmal süßes Vanilleeis.
„Justin?“, fragte Vicky. „Woher kennst du ihn?“
Ich druckste ein bisschen herum.
„Kleiner Unfall.“, sagte ich schließlich und fummelte mit einer Strähne meiner dunklen Haare herum, die in der Sonne glänzten.
„Hattet ihr ein Date?“ Vickys Augen leuchteten wir Laternen. Ich spürte, wie meine Wagen rosa wurden.
„Na ja, als Date kann man das jetzt nicht bezeichnet …“, murmelte ich und dachte an den Deppen und meine Mutter zurück.
Vicky und Mila hatten riesengroße Fragezeichen im Gesicht.
„Mom ist aufgetaucht. Mit dem Deppen.“, erklärte ich.
„Und – was hat sie gesagt?“, fragte Vicky vorsichtig.
„Sie hat mich nicht gesehen.“
Das Fragezeichen nahm die Größe eines Doppeldeckerbusses an.
„Hab mich versteckt.“, murmelte ich und musste gegen meinen Willen grinsen.
In dem Moment fing Mila an zu hyperventilieren und deutete aufgeregt in die andere Richtung. Ich schirmte die Augen mit den Händen vor der Sonne ab und entdeckte eine Horde Franzosen, die hinter zwei grauhaarigen Lehrern her rannten. Direkt auf uns zu.
„Das ist er.“, wisperte Mila, obwohl die französische Meute noch ewig weit weg war.
„Was wollen die hier überhaupt?“, fragte ich.
„Rumsitzen.“, meinte Vicky und wir grinsten uns an.
„Und Baguette essen.“
„Mit Baskenmützen.“
„Und Keksen in Eifelturmform.“
„Vielleicht klappen sie ja ihre Staffeleien auf.“
„Dann können sie New York malen und Da Vinci spielen.“
„Während sie Baguette essen und die Baskenmützen aufhaben.“
„Baguette mit Marmelade!“
„Mit französischen Käse!“
„Oui, oui, la culture française.”
Mila ignorierte uns und hielt aufgeregt Ausschau nach Romeo.
„Findet ihr nicht auch, dass seine Augenbrauen toll aussehen?“, schwärmte Mila.
„Ich …ähm!“ Ich tauschte einen ratlosen aber amüsierten Blick mit Vicky.
Schließlich standen die Franzosen nah genug bei uns, dass Mila mit uns im Schlepptau zu Romeo hinüber hüpfen konnte.
Er begrüßte uns ernsthaft mir Küsschen-rechts-Küsschen-links. Danach war ich erstmal so baff, dass ich gar nicht mehr darüber grinsen konnte, als er Mila einen charmanten Handkuss gab. Sie wurde knallrot und faselte sinnlos vor sich hin.
„Romeo, also das sind – Menschen - Mädchen. Meine! Meine Freundinnen meine ich. B-beste. Allerbeste. Wenn du verstehst, also im Kindergarten und…“, stammelte sie. Ich legte ihr einen Arm um die Schulter und kam ihr zu Hilfe.
„Was sie sagen will ist, dass wir beste Freundinnen sind.“, sagte ich und zog Vicky an meine andere Seite.
„Très jolie! “, lachte er. Ja klar, der charmante Bagger-König aus dem Land der Liebe höchstpersönlich.
Mittlerweile hatte sich die gesamte Franzosenhorde im Park verteilt, die Betreuer hatten langweilige Sachbücher aufgeschlagen und die Senioren sich hastig vor einem Rugbyball in Sicherheit gebracht, den die Franzosen mitgebracht hatten.
Als der Ball auf uns zuflog, fing Romeo ihn geschickt auf, lachte, nickte uns entschuldigend zu und rannte dann hinüber zu seinem schwarzhaarigen Freund, um zu spielen.
„Ist er nicht ein richtiger Gentleman?“, fragte Mila und fächerte sich Luft zu.
„Klar doch.“, murmelte ich. Vicky verkniff sich ein Lachen.
„Das gibt’s doch nicht!“, rief sie plötzlich und deutete auf eine Gruppe der französischen Mädchen, die sich auf den Rasen gesetzt hatten. Ich folgte ihrem Blick und prustete los.
Die fünf Mädchen hatten wirklich Baguette, Marmelade und Käse ausgepackt und aßen die Sachen nun genüsslich. Sie hatten auch Kekse – aber leider nicht in Eiffelturmform.
Wir ließen uns auf den Rasen fallen und beruhigten uns erst wieder, als sich Chris neben uns fallen ließ.
Chris war in Vickys Theaterkurs und ein netter Kerl, soweit ich das beurteilen konnte.
„Was macht ihr hier?“, fragte er.
„Franzosen anglotzen.“, gab ich zurück und musste lachen.
„Du stehst auf Franzosen?“
„Nee, aber Mila.“
Mila kicherte und Chris zog eine Augenbraue hoch. Er hatte dunkelblondes Haar und haselnussbraune Augen. War er eigentlich von hier? Irgendwann musste ich ihn das mal fragen.
In dem Moment vibrierte Vickys Handy und sie zog es aus der Hosentasche. Einen Moment später verwandelte sich ihre entspannte Miene in einen Gesichtsausdruck, den Menschen sonst nur nach einer Explosion aufsetzten.
„Treffen. Jetzt.“, brachte sie nur mühsam heraus und stand hastig auf.
„Theater? Tanzen?“, fragte ich.
„Tanzen.“
Und dann war sie weg und man sah nur noch den knallgrünen Fleck ihres T-Shirts, das in der Ferne immer kleiner wurde.
„Und da waren es nur noch drei.“, seufzte sich.
Keine zehn Sekunden später winkte Romeo Mila zu sich hinüber, die natürlich mit federnden Schritten zu ihm lief.
„Eher zwei.“, lachte Chris.

Als ich mich auf den Weg nach Hause machte – ohne Mila, denn die war ja noch mit Romeo beschäftigt – dämmerte es schon und die untergehende Sonne malten den Himmel rot an.
Trotzdem war es noch warm und lau. Nicht zu kühl für Shorts und Tops. Eine leichte Brise wehte um meine nackten Beine und strich mir meine Haare aus dem Gesicht.
Träumend lief ich durch die Stadt und lauschte den Geräuschen. Den rauschenden Bäumen am Straßenrand und den Vögeln, die darin zwitscherten.
Im Hintergrund tönte leise der Straßenverkehr dahin.
Ich hörte, wie alle die Gitter vor ihren Geschäften herunterließen und sich mit ihrem Nachbarn unterhielten. Der Eismann aß mit seinem Lehrling ein Eis. Der Fensterputzer für die Wolkenkratzer erzählte dem Bäcker von nebenan eine wilde Story von gestern.
Ich ging einfach nur weiter und sog die letzten Sonnenstrahlen des Tages in mir auf.
Umso überraschter war ich, als ich Justin an der nächsten Straßenbiegung entdeckte.
Als er mich sah, lächelte er und mein Herz schlug mir bis zum Hals.
„So sieht man sich wieder.“, lachte er und kam zu mir hinüber.
„Was machst du noch hier?“, fragte ich.
„Eigentlich bin ich auf dem Weg nach Hause.“
Ich riss mich von der Kraft seiner wunderbar blauen Augen weg, die mich so verzauberten. Wusste er das? Wusste er, wir er Leute mit diesem Blick betören konnte?
„Ich auch.“
Er zögerte einen Moment.
„Hast du Lust auf Kino?“, fragte er schließlich.
„Zwei Dates an einem Tag? Ist das nicht verboten?“, fragte ich scherzhaft und lächelte.
Er lachte.
„Vielleicht.“
„Vielleicht aber auch nicht.“
„Also, was denkst du?“
Ich sah ihm direkt in die Augen – und hatte prompt das Gefühl, als ob mein Herz stehen bleiben würde.
„Kino wäre wunderbar.“, brachte ich schließlich heraus.
Und so kam es, dass ich mich mit dem süßesten Jungen der Schule auf den Weg ins Kino machte.
Wir fingen an uns zu unterhalten. Über Bands und Filme, Familie und Freunde. Er erzählte von seinen geschiedenen Eltern und Basketball. Ich erzählte von meinem abgehauenen Vater und der Zeitung.
Ich wollte immer jemanden haben, mit dem ich mich unterhalten konnte. So richtig. Ohne peinliches Schweigen. Jetzt hatte ich ihn gefunden.
Auf halbem Weg spürte ich plötzlich etwas Warmes an meiner Hand.
Ich sah hinunter und merkte, dass es Justins Hand war, die sich warm und weich um meine gelegt hatte.

Als der Film fast zu Ende war, lag meine Hand immer noch in Justins. So, als ob sie dorthin gehörte.
Und als dann der Abspann anfing, die Leinwand hinunter zu laufen, küsste Justin mich zum ersten Mal.
Sanft und zärtlich, so wie es sein sollte. Sein Atem war warm und roch nach Pfefferminze.
Mein Herz pochte laut und heftig, stolperte und verlor seinen Rhythmus. Und trotzdem war ich so glücklich wie nie zuvor.
Betört und wunschlos glücklich schloss ich eine Stunde später die Haustür auf, und ärgerte mich nicht mal darüber, dass meine Mutter auf dem Sofa lag und ein weißes Hemd an ihre Brust drückte.


Romeo adé, Erdbeereis olé



Auf dass du stets hier weilst, werd ich vergessen, bedenken, wie mir deine Näh’ so lieb.


Eigentlich machte ich mir nichts aus solchen alten Schinken wie Romeo und Julia (für meine Ausgabe, die ich für Literatur lesen musste, hatte ich als Lesezeichen ein Kaugummipapier benutzt), aber so wie Vicky die Julia vortrug, musste man es einfach mögen.
Sie schien in ihrer Rolle aufzugehen wie eine wunderschöne Blume und der ganze Saal strahlte in der Pracht ihrer ausdrucksvollen Stimme. Ihre Augen leuchteten.
Schade, dass niemand sonst außer mir im Publikum saß. Die Leute hätten geklatscht wie wild.
Aber es war nur Probe. Und ich war hier, um meinen Artikel vorzubereiten.
Als Romeo anfing zu sprechen, musste ich augenblicklich an Baguette denken. Himmel! Ging das jetzt ewig so weiter?
Romeo und Julia. Warum mussten die beiden bloß sterben? Sie hatten die große Liebe gefunden – und dann waren sie gestorben. Was war das bloß für eine grausame Welt. Vielleicht hat Shakespeare ja eine Trennung nicht verkraftet und das an seinen Figuren ausgelassen. Klar.
Als Julia abging, wunderschön, wie Vicky nun mal war, bekam ich schreckliche Sehnsucht nach Justin.
Schlaf wohn’ auf deinem Aug’, Fried’ in der Brust! O wär ich Fried’ und Schlaf und ruht’ in solcher Lust! Ich will zur Zell’ des frommen Vaters gehen, mein Glück ihm sagen und um Hilf’ ihn flehen.

“, sagte Romeo noch, dann ging auch er ab und der nächste Akt wurde aufgebaut.
„Hey.“ Eine geschickte Silhouette schwang sich von hinten auf den Sitz neben mich. Justin.
„Hey.“, sagte ich und konnte gar nicht fassen, wie sehr ich mich freute, dass er hier war.
„Was machst du hier?“, fragte er.
Ich hielt meinen Notizblock hoch.
„Wegen meinem Artikel. Außerdem ist Vicky meine Freundin. Sie spielt die Julia.“, antwortete ich.
Er lachte leise.
„Der Romeo ist mein Kumpel. Das ist Ritchie.“, erzählte er. Ich lachte. Das war Ritchie? Der dramatische Romantiker? Ritchie spielte Romeo?
Während die nächsten Schauspieler auftraten, griff ich mutig nach seiner Hand. Er drückte sie und strich dann sanft über meinen Handrücken, was es für mich unmöglich machte, noch irgendetwas von dem Stück mitzubekommen.
Wer war doch gleich Shakespeare?
Keine Ahnung, ich hatte jedenfalls Schmetterlinge im Bauch.

„Das war super! Einfach klasse! Noch nie ist mir das Textlernen so einfach gefallen wie bei diesem Stück! Und Ritchie und ich kriegen das ganz gut hin, meinst du nicht?“
Vicky war aus der Umkleide gekommen, einen Haufen Kostüme im Arm, ohne mich zu sehen. Als sie jetzt über den Haufen hinwegspähte, entdeckte sie mich. Mit Justin.
Dann entdeckte sie unsere Hände, die sich immer noch festhielten.
Nach einer, wie es mir vorkam, halben Ewigkeit, breitete sich ein dickes, fettes Grinsen auf ihrem Gesicht aus.
„Hey!“, rief sie gut gelaunt. „Ich bin Vicky.“
„Justin, freut mich.“
„Mich auch. Und wie!“
Ich warf ihr einen warnenden Blick zu. Sie verdrehte kaum merklich die Augen.
„Justin, kommst du?“, rief Ritchie zu uns hinüber. Neben ihm stand ein anderer Typ. Er war muskulös, schwarzhaarig und zwei Köpfe größer als ich.
„Bis morgen.“ Justin lächelte mich noch einmal an, dann ging er zu seinen Freunden.
Sofort ließ Vicky den Kostümhaufen achtlos fallen und sprang auf mich zu.
„Wie? Wann? Wo?“, fragte sie offenbar positiv – zum Glück, sonst wäre der Freundinnenbonus dahin - überrascht.
„Seit gestern.“, sagte ich leise.
„Seid ihr zusammen?“
Ich überlegte. Waren wir das? Nicht offiziell. Inoffiziell? Ehrlich gesagt hatte ich keine Ahnung.
„Weiß nicht.“ Ich zögerte. „Na ja, wir haben uns auf jeden Fall geküsst.“
Vicky grinste noch breiter.

„Ich glaube, Romeo lädt mich heute zu einem Date ein!“, verkündete Mila.
„Meinst du?“
„Natürlich. Ich meine der Handkuss, das ganze Geflirte, die süßen Blicke ... irgendwann muss er ja mal was machen. Heute ist der perfekte Zeitpunkt.“
Ich zuckte mit den Schultern.
„Wenn du das sagst.“
Mila zwinkerte mir geheimnisvoll zu und stieß mit Schwung die Tür der Eisdiele auf. Romeo und zwei seiner Freunde saßen schon an einem Tisch in der Ecke. Die blonden Haare der drei Franzosen strahlten nur so um die Wette.
Heute bekam ich gleich von drei Typen Küsschen auf die Wange gedrückt. Na danke.
Ich bin zwar keiner, der unter Berührungsangst leidet, aber das hier macht mich noch mal wahnsinnig.
Mila pflanzte sich natürlich neben Romeo.
Ich bestellte natürlich Erdbeereis (Was sonst?). Vicky wie immer Vanille, Mila Kirsche, Romeo einen Eiskaffee und seine zwei Freunde beide ein Stück Apfelstrudel.
Gerade als der Kellner alles brachte, klingelte Romeos Handy, er nahm ab und fing an auf Französisch zu reden. Obwohl ich Französisch in der Schule hatte (und nicht gerade gut war …) verstand ich kein Wort. Er redete so schnell wie jemand, der gerade halbtot den Krankenwagen anrief.
Und irgendwie leuchteten seine Augen mehr als sonst.
Als er sich wieder auflegte, strahlte er über das ganze Gesicht.
„Könnt ihr eusch vörstellen wer das war?“ Ein Perlhuhn? Sein Hund? Seine Mutter? Er wartete die Antworten gar nicht erst ab. „Es war Florence! Meine Freundin Florence!“
Einer seiner beiden Freunde, Maxime oder Luc (ich verwechselte die beiden immer), beugte sich grinsend zu uns herüber.
„Florence ist seine… wie sagt man doch gleisch? Girlfriend? Er liebt sie wirklisch abgöttisch.“, meinte er.
Seine Freundin?
Ups. Rums. Riesige, riesige Arschbombe ins Fettnäpfchen.
Ich sah hastig zu Mila hinüber, die käsebleich geworden war.
„Seine Freundin?“, formte Vicky lautlos mit den Lippen. Ich verzog mitleidig das Gesicht.
„Sorry Jungs, wir müssen.“, sagte ich schnell. Vicky zog Mila sanft hoch und schob sie zur Tür.
„Wie? Aber – pourqoui?“ Romeo glotzte mich ungefähr so an wie ein tätowiertes Eichhörnchen.
„Verdammt, Romeo!“, fauchte ich ärgerlich, schulterte meine blau-weiß gestreifte Tasche, schob meine große, erdbeerrote Sonnebrille von meinem Haar auf meine Nase und folgte Vicky und Mila nach draußen.
Vicky hatte Mila sorgsam auf eine Bank in einem kleinen Park direkt nebenan buchsiert.
Mila sah wie traumatisiert aus. Ich setzte mich neben sie und drückte ihren Arm.
„Er hat nur mit mir gespielt.“, brachte sie mühsam heraus, dann rollte die erste Träne. Verzweifelt versuchte sie, sie wegzuwischen, aber es kamen immer neue nach.
Vicky reichte ihr ein Taschentuch.
„Ich will hier weg.“, schluchzte Mila leise. „Bringt mich hier weg!“
Eilig standen wir auf und führten sie zu mir nach Hause, versuchten sie so gut es ging vor den neugierigen Blicken der Leute zu schützen.
Und den ganzen Weg über fragte ich mich, ob Romeo wirklich nur mit ihr gespielt hatte oder einfach nur ein übercharmanter Franzose war.

„Was ist mit deiner Freundin?“ Justin blickte über meine Schulter. Ich musste seinem Blick nicht folgen. Ich wusste auch so, wo er hinsah. Zu Mila, die beinahe leblos neben Vicky saß und ihr Mensaessen nicht anrührte.
Ich seufzte und spielte mit seinen Fingern.
„Mit Mila?“, fragte ich. Natürlich Mila, was für eine dumme Frage.
„Ja.“
„Willst du’s wirklich wissen?“ Ich sah ihn zweifelnd an.
„Warum nicht?“
„Ist ’ne Menge weibliche Dramatik drin.“, sagte ich trocken.
Er sah mich abwartend an.
„Sie hat sich unsterblich in einen Franzosen verliebt, der ihr nach Monaten des Schwärmens verraten hat, dass er eine Freundin hat.“
Ich erzählte ihm grob die ganze Story von hinten bis vorne, obwohl ich keine Lust hatte, darüber zu reden.
Eine Woche seit dem Vorfall im Café war jetzt vergangen. Eine Woche – und Mila sah immer noch aus wie ein Gespenst mit durchscheinender Haut, Augenringen und leblosen Zügen. Sie sah so … tot aus. So verletzlich. Außerdem hatte sie ziemlich viel abgenommen.
Und das alles nur wegen Romeo. Dieser miese, fiese Schleimer-Franzose. Zum Glück war er schon wieder aus der Stadt.
„Ich muss zum Training.“, murmelte Justin schließlich. Ich nickte. Basketballtraining. Er spielte jetzt in der Schulmannschaft.
Er küsste mich zum Abschied und verließ die Mensa mit einem seinen Sportlerfreunden.

Am Nachmittag gingen wir zusammen im Park spazieren. Vicky kümmerte sich um Mila. Sie hatte sie mit zum Theaterkurs geschleppt, wo sie jetzt half, das Bühnenbild aufzubauen. Ablenkung, wisst ihr?
Justin hielt meine Hand und wir lachten uns über irgendwelche Sachen tot, die eigentlich gar nicht so witzig waren. Es war, als hätte ich Kichererbsen oder Glückssmarties gegessen.
Es war perfekt. Perfekt irre und perfekt fantastisch.
Bis ich dann meine Mutter erblickte und Justin hinter einen Baum zog.
Er sah in die Richtung, in die ich starrte und verstand sofort.
„Willst du nicht bald mal mit ihr darüber reden?“, fragte er vorsichtig.
„Das kann ich jetzt noch nicht.“ Ich schluckte schwer.
„Weiß sie das mit uns?“
Ich zögerte.
„Nein.“
„Wieso nicht?“
Ich warf ihm einen leicht genervten Blick zu.
„Sie sagt nix, ich sag nix. Wieso sollte ich mich anders verhalten als sie, wenn sie so ein mieses Vorbild abgibt?“, murmelte ich wütend.
„Das ist kindisch, das weißt du.“, bemerkte er.
Ich seufzte.
„Ich kann einfach nicht mehr so mit ihr reden wie früher. Es tut irgendwie … so weh.“
Er drückte sanft meine Hand und küsste mich auf die Stirn.
„Darf ich dich auf ein Eis einladen, Lola?“, fragte er.
„Erdbeereis?“, hakte ich nach. Eis ohne Erdbeere ist doch wie Strand ohne Meer.
„Was du willst.“, versprach er.

Abends saßen Lucy, Mom und ich auf dem Sofa und sahen uns einen Film im Fernsehen an. Eigentlich war es so wie immer – drei Frauen auf dem Sofa, mit Chips, Cola und Popcorn. Aber trotzdem spürte ich diese kalte Mauer zwischen meiner Mutter und mir, die mich wütend und mir gleichzeitig Angst machte.
Ich hätte mich für sie gefreut, für sie und den Drei-Tage-Bart-Typen. Wenn sie es Lucy und mir offen und ehrlich von Anfang an erzählt hätte.
Aber jetzt, wo ich wusste, dass sie mich anlog und hinterging, war ich nur noch irre wütend und verletzt. Ich schätze, ich gönnte es ihr nicht mal richtig.
Ich hätte zu ihr hinüberrutschen, mich in ihre Arme legen und mich zu Hause fühlen können.
Aber erstens saß Lucy zwischen uns beiden und starrte gebannt den Bildschirm an, und zweitens wehrte sich mein Körper strikt dagegen, auch nur einen Zentimeter von meinem Ende des Sofas wegzurutschen.
Lucy und Mom lachten sich an den passenden Stellen des Filmes sorglos schrott. Hatte Lucy alles schon wieder vergessen? Was war nur los mit meiner kleinen Schwester?
Obwohl sie manchmal so anders, so quietschrosa, naiv und nervig sein konnte, hatte sie doch immer den gleichen Gerechtigkeitssinn, den gleichen Wutpegel gehabt wie ich. Aber jetzt lachte sie zusammen mit Mom über Jennifer Aniston und tat so, als wäre nichts.


Riss im Herz



„Du, Justin?“ Ich spielte mit meinem Sandwich herum. Jetzt wollte ich es endlich wissen, schwarz auf weiß. Oder eher Wort auf Luft, oder wie man das nennt.
Er hob den Blick und sah mich an.
„Was denn?“
Ich holte tief Luft. Ich wollte mit dieser Frage nicht alles zerstören – vor allem nicht jetzt, wo alles so perfekt war. Was, wenn er das irgendwie nicht so sah wie ich? Aber nach beinahe vier Wochen …
Ich riss mich zusammen.
„Sind wir eigentlich – zusammen?“, fragte ich zögernd.
Er stützte die Ellenbogen auf den Mensatisch auf und beugte sich über den Tisch zu mir herüber.
„Na, das hoffe ich doch.“, sagte er und küsste mich. Erleichterung durchfloss mich wie warmer Honig.
Beruhigt aß ich mein Sandwich weiter.
Vicky, Chris und Mila stießen später zu uns. Zu meiner Freude bemerkte ich, dass Mila wieder etwas besser aussah. Sie bekam wieder Farbe im Gesicht und lachte wieder öfters.
Von Romeo hatten wir nichts mehr gehört.
Ich fragte mich, ob Romeos Freundin wohl wusste, dass ihr Freund andere Mädchen anmachte.
Vicky hatte bald ihre Aufführung im Theatersaal und lernte wie verrückt ihren Text. Sie hatte schon wieder ihr Textbuch neben ihr Tablett gelegt und blendete ihre Umwelt aus. Nebenbei rannte sie noch bei jeder Gelegenheit ins Tanzstudio zu ihrem Tanzkurs um fleißig zu hippen und zu hoppen. Bald tanzten sie auf dem großen Tanzfestival in Manhattan.
Für Vicky stand also ziemlich viel an.
Für mich auch. Ich hatte noch etliche Dinge vor mir. Artikel, Interviews, Recherchen … nebenbei noch Handballtraining. Mein Plan war voll.
Mila schleppten wir überall mit hin, wenn sie nicht gerade selber irgendwo mitmachte.
Eigentlich war alles ganz okay – bis auf die Sache mit meiner Mom.

Meine Interviewpartnerin hieß Cheryl Tree und leitete die Spendenaktion für arme Kinder in der dritten Welt. Etliche Eltern kamen in die Sporthalle gewandert, kauften Kuchen und spendeten ihre Pennys. Oder auch ihre Riesen, wie man manche der Reichen Daddys hier so kannte.
Ich wollte geradewegs in die Sporthalle gehen, wo irgendwelche Freiwillige schon alles aufbauen wollten. Auf dem Weg hörte ich auf einmal eine wohlbekannte Stimme.
Ich ging näher an die Hausecke heran, hinter der gesprochen wurde – und erstarrte.
Dort stand Justin und umarmte fröhlich ein anderes, wirklich hübsches Mädchen. ihre hellblonden Haare leuchteten im Sonnenlicht hell und glänzend.
Die zwei lachten und drückten sich und Justin sah sie liebevoll an.
Bums.
Ein Riss krackste in mein Herz, präzise und schmerzvoll. Ich versteinerte und fragte mich, was nur los war.
Gestern noch hatte er mir gesagt, dass er mit mir zusammen sein wollte. Und jetzt traf er sich mit einer anderen – und schien sie irgendwie … zu lieben.
Ich drückte meine Handfläche auf mein Herz. Dieses Herz war noch nie gebrochen worden. Es fühlte sich absolut unbeschreiblich schrecklich an. Schlimmer als alles andere, dass ich bisher erlebt habe.
Ich hatte genug gesehen. Taumelnd ging ich zurück, schlängelte mich über Umwege zur Sporthalle, wo Cheryl Tree schon auf mich wartete.
Sie war die Mutter von Stacey aus meiner Parallelklasse und extrem reich. Deswegen war sie auch im Spendenkomitee und ich hatte jetzt das Vergnügen ihre spießige Anwesenheit zu interviewen.
Immer noch unter Schock stehend begrüßte ich sie und kramte meinen Notizblock und mein Aufnahmegerät heraus.
„Wie viele andere Eltern haben sich an dieser Spendenaktion beteiligt?“
Mrs. Tree reckte die Brust und labert los. Ich verstand nur die Hälfte und wusste gar nicht richtig, ob ich auf meinen Block ihre Kommentare aufschrieb oder nur „America’s next Freak“. Ich wusste gar nichts mehr. Nur, dass ich mich taub fühlte, taub, ungeliebt, verletzt und schwach.
„Wie viele andere Eltern haben sich an dieser Spendenaktion beteiligt?“
Mrs. Tree räusperte sich vernehmlich.
„Lola, diese Frage hast du mir bereits gestellt.“, bemerkte sie. Ich blinzelte und starre auf meinen Block.
„Oh… äh … ach ja. Nun …“ Ich blätterte um und sie warf mir einen kritischen Blick zu.
Ich sackte in mich zusammen. Nicht wegen Mrs. Tree – mir war es egal, was sie von mir dachte – sondern weil ich mich noch nie schrecklicher gefühlt hatte als in diesem Moment.

„Was ist den los, Lolita-Schatz?“ Ich spürte Moms besorgten Blick auf mir ruhen. „Du siehst so blass aus.“
„Liegt nur an den Kopfschmerzen.“, murmelte ich. Kurz sah ich auf – und ließ den Blick sofort wieder sinken. Mom hatte den sorgenvollen Blick aufgesetzt. Ihren Mutterblick.
Sie war völlig ihren Mutterinstinkten ausgeliefert und würde wahrscheinlich total ruhig reagieren, wenn ich jetzt anfangen würde zu reden.
Ich hätte ganz in Ruhe mit ihr reden können, ohne Gebrüll und lauten Streit alá Familie Sunday. Über alles. Über Justin und den Typen mit dem Dreitagebart. Vielleicht hätte ich sogar seinen Namen erfahren.
Aber ich tat nichts dergleichen, sondern verschwand aus der Küche, ging in mein Zimmer und ließ mich auf mein Bett fallen.
Eigentlich hatte ich gedacht, ich hätte allein sein können, aber stattdessen kam Lucy in mein Zimmer gesprungen, die Wangen hochrot vor Freude.
Sie warf sich auf meinen Schreibtischstuhl und drehte Runde um Runde.
„Lola!“, rief sie aufgeregt. „Du glaubst ja gar nicht, was passiert ist!“
Ich hob die Augenbrauen. Lucys Angelegenheiten interessierten mich nicht. Ich wollte allein sein und darüber nachdenken, was zu tun war – mehr nicht.
Sie ließ mich nicht lange warten sondern kam sofort zur Sache. Ich drückte ein Kissen an meinen Bauch, der auf einmal höllisch wehtat.
„Ich habe einen Freund!“ Sie lachte. „Ich bin endlich mit jemandem zusammen!“
Auf einmal wurde ich doch etwas hellhörig.
„Lucy – mit – mit wem denn?“
„Mit Nathan!“ Sie drehte noch eine Runde und lächelte dabei verklärt vor sich hin. Sie erinnerte mich ein bisschen an Mila während der Romeo-Episode. So war sie sonst doch nie!
„Nathan Harrison?“ Ich setzte mich schlagartig auf.
Sie nickte nur.
„Lucy, der Typ ist ein Arsch!“, sagte ich fassungslos.
Nathan und ich kannten uns seit dem Kindergarten. Früher hatten wir zusammen im Sand gebuddelt und Bauklötze zu wackeligen Türmchen aufgetürmt. In der dritten Klasse hatte er mir unter der großen Linde auf dem Schulhof meinen ersten Kuss gegeben. Ich hatte ihn immer nett gefunden.
Und dann kam die High School. Dort war er zum größten Macho aller Zeiten geworden und ich hatte nie mehr was mit ihm unternommen.
Und jetzt – jetzt war er plötzlich mit meiner Schwester zusammen?
„Du kennst ihn doch gar nicht!“, meinte sie.
„Hast du eine Ahnung!“, erwiderte ich.
„Du hast doch nur die Grundschule mit ihm verbracht.“
„Und da waren wir Freunde. Jetzt nicht mehr! Er hat sich verändert – und nun ist er ein Mistkerl!“
Sie kniff wütend die Augen zusammen und schob das Kinn vor.
„Gut, dann eben nicht.“, meinte sie und wollte gehen.
„Warte.“ Ich seufzte. „Lucy – ich … tut mir leid. Ich freu mich ja für dich. Das war nicht so gemeint. Aber … ausgerechnet Nathan?“
Sie ließ sich wieder auf den Stuhl sinken.
„Ich liebe ihn.“, meinte sie.
Ich runzelte die Stirn. Aus dem Mund meiner Schwester hätte ich das nie erwartet. Ein „Ich liebe dich“ bedeutete sehr viel. Meinte sie es wirklich ernst?
„Schon lustig, oder?“ Sie lächelte. „Jetzt haben wir beide einen Freund.“
Ich schluckte.
Hatten wir das?

Am nächsten Vormittag beobachtete ich Nathan, wie er mit seiner Horde von Typen, die genauso beknackt waren wie er, an uns vorüber zog und laut johlte. Er rangelte mit einem etwas dickeren Typen um eine Tüte Chips. Ich sah eine Packung Camels in seiner Hosentasche aufblitzen.
Als ein kleiner Junge ihn mit der Jacke streifte fuhr er ihn angenervt an.
In diesem Moment empfand ich mehr Abscheu für ihn als
Mr. Darcy je für Mr. Wickham hätte empfinden können.
Er sollte Lucy nicht wehtun. Er sollte es einfach nicht!


Frauenheld und komischer Kauz



„Lola!“ Terry verzog das Gesicht. „Lola wo ist dein Instinkt hin?!“
Verärgert fuchtelte er mit meinem Artikel vor meiner Nase herum.
„Deine Reportagen hatten immer Pep! Sie waren etwas Besonderes! Aber das hier könnte von meinem Großvater sein!“
Ich schluckte. Das wusste ich doch alles selber.
„Ich schlaf ja ein wenn ich das lese.“, knurrte er. „Setz dich da dran, so kann das nicht gedruckt werden.“
Zitternd nahm ich das Blatt wieder entgegen. Ich zitterte nicht wegen Terrys Strafpredigt – nein, Terry mit seiner schwulen Haltung konnte man gar nicht richtig ernst nehmen – sondern wegen der Gesamtsituation. Wegen dieser Sache mit Justin gestern hatte ich sogar mein einziges Talent neben dem Lachen (was ich im Moment auch nicht mehr konnte), das Schreiben, nach Strich und Faden versaut.
Nie war einer meiner Artikel so schlecht gewesen. Ich hatte immer mit Freuden komplexe und lustige Wortspiele eingebaut, alles witzig gestaltet. Aber ich war nicht glücklich, und das sah man auch meinen Texten an. Sie hörten sich an wie von einem Käseblatt in Amerikas größtem Kaff.
Aber jetzt konnte ich nicht schreiben – jedenfalls nicht besser als dieses kleine Zettelchen vor meiner Nase bewies. Mir fiel einfach nichts Cleveres ein.
Wie hatte ich nur auf die Idee kommen können, Justin würde mich wirklich lieben? Das war doch absurd! So ein gut aussehender, begehrter Sportler-Champion sollte auf mich stehen? Auf mich?!
Wer’s glaubt!
Wütend über meine eigene Dummheit schnaubte ich und knüllte meinen Artikel zusammen. Er landete mit einem leisen Rascheln im Papierkorb.

Auf der Busfahrt nach Hause regnete es, passend zu meiner Stimmung. Ich schaltete meinen Ipod an und wählte ein eher trauriges Lied aus. Schwermütig, wie meine Gedanken.
Justins Gesicht brannte sich in mein inneres Auge ein und ließ mich ihn nicht vergessen.
Ich durchforstete meine Tasche, damit ich etwas zu tun hatte und nicht an ihn dachte.
Drei Sonnenbrillen glitten mir durch die Finger. Ein Labello mit Glanzeffekt. Mein Notizblock, den ich immer mit mir herumtrug seit ich Reporterin war. Drei schwarze Fineliner. Meine Lieblings CD, die ich vor ein paar Tagen Vicky geliehen hatte. Ein Packung Melonenkaugummi. Mein Handy.
Genau in diesem Augenblick begann es zu vibrieren und zeigte einen eingehenden Anruf an. Es war Justin.
Eine Sekunde lang zögerte ich, mir wurde vor Liebeskummer schlecht und ich fühlte mein Herz nicht mehr.
Dann drückte ich ihn weg.
Auf dem kurzen Weg von der Bushaltestelle zu unserer Haustür wurde ich bis auf die Haut durchnässt. Bibbernd wrang ich meine Haare aus, bevor ich über die Schwelle trat.
Drinnen ließ ich mich aufs Sofa fallen und merkte erst ein paar Sekunden später, dass noch sich noch jemand im Wohnzimmer aufhielt.
„Nathan.“, sagte ich überrascht. Meine Stimme brach etwas.
„Lola.“ Er versuchte ein
Lächeln. Seine Augen waren immer noch genauso braun wie immer und sein Haar genauso gewollt wild durcheinander. „Lange nicht mehr gesehen.“
„Sieht so aus.“, murmelte ich.
Auf einmal wurde mir unwohl zumute. Es lagen nur zwei Sofakissen zwischen uns. Zwischen mir und dem Typen, der mir meinen ersten Kuss gegeben hatte.
Ich warf ihm einen kurzen Seitenblick zu und vermutete, dass es ihm auch so ging.
„Ich warte nur auf Lucy.“, bemerkte er.
„Natürlich.“
„Wir wollen ins Kino.“
„Super“
Wir schwiegen wieder.
Aus unerfindlichen Gründen fing ich plötzlich ausgerechnet neben Nathan auf unserer Couch an, über die Liebe nachzudenken.
Klar, sie war schön, aber machte sie nicht auch alles schwieriger?
Bevor ich Justin kennen gelernt hatte war alles irgendwie einfacher gewesen. Natürlich hatte ich schon andere Typen kennen gelernt, aber keiner hatte mir so viel bedeutet. Bei niemandem hatte mein Herz so laut geklopft.
Und jetzt saß ich hier, traurig und irgendwie leblos, und fragte mich, wozu die Liebe gut war, wenn sie einem doch bloß wehtat. Wie konnte etwas, dass das schönste der Welt zu sein schien, auf der anderen Seite auch so grausam sein?
Jeder Mensch sehnte sich nach Liebe, jeder wollte sie. Aber verlieren wollte sie keiner, denn das tat mehr weh als alles andere.
„Bist du … traurig oder so?“, fragte er. Vielleicht irrte ich mich, aber es klang etwas vorsichtig. Ich war ziemlich überrascht. Nathan, der Macho und Arsch hoch zehn, der, der die Sechstklässler mobbte, und seine Kippen auf dem Klo rauchte, war sensibel?
„Möglich.“, gab ich schlicht zurück.
Unsere Blicke trafen sich und wir sahen uns einen endlosen Augenblick lang an.
„Du hasst mich, oder?“, fragte er plötzlich gerade heraus. Ich war erstmal so baff, dass ich nicht antwortete.
„Weil ich mir deiner Schwester zusammen bin, hasst du mich.“, fuhr er fort.
Ich zögerte und wusste absolut nicht, was ich denken sollte. Blackout. Leeres Hirn.
Schließlich öffnete ich doch den Mund.
„Ich mag das nicht, was du geworden bist.“, gab ich zu und sah zu dem sandfarbenen Couchstoff hinunter. „Aber ich hasse dich nicht, Nathan.“
„Tut mir leid.“, murmelte er.
Ich hob ruckartig den Kopf. Diese Worte konnten nicht von Nathan Harrison stammen. Aber er sah mich aus fast schon lieb blickenden Augen aufrichtig an.
„Was tut dir leid?“, fragte ich.
„Ich hab dich sitzen gelassen, bin zu’nem Idioten geworden. Ich hab nichts auf unsere Freundschaft gegeben, ganz der Highschool Mistkerl.“ Er lachte leise auf. „Ich fleh dich an, Lola, bitte gib mir noch’ne Chance.“
„Wobei denn, Nathan?“, fragte ich. Ich glaubte mir das zwar selbst nicht, aber ich glaube, ich war richtig gerührt.
„Bei Lucy.“, sagte er. „Bitte sei nicht gegen mich. Ich will es mal richtig machen. Ich will nicht der One Night Stand sein. Ich will der feste Freund sein.“
Ich dachte über die Sache nach, versuchte alles in ein Gesamtbild zu quetschen, aber es gelang mir nicht. Diese Situation war einfach zu absurd.
„Also…?“, fragte er.
Ich überlegte einen Moment.
„Ich … ich werd’ nicht gegen dich sein, Nate.“, brachte ich schließlich heraus. Er lächelte, als ich seinen alten Spitznamen benutzte.
„Danke.“, sagte er voller Inbrunst.
Ich konnte nicht anders als zu grinsen. Hätte nie gedacht, dass ich das in Gegenwart dieses Typen noch mal tun würde.
„Nathan Harrison tut etwas leid.“, sagte ich und boxte ihm auf die Schulter. „Dass ich das noch mal erleben durfte.“
Er lachte, und für diesen Moment waren wir fast so etwas wie Freunde.
Schließlich kam Lucy und Nathan sprang sofort auf, um sie zu küssen. Und da kam wieder sein Frauenheld-Ich zum Vorschein. Ich konnte mit gut vorstellen, dass Zungenküsse seine Spezialität waren, als ich die beiden so beobachtete.
Ich runzelte die Stirn. Na ja, macht ja nix, man kann seine Angewohnheiten ja nicht von heut auf morgen sofort ablegen.
Als die zwei das Haus verlassen hatten, wurde mir sofort wieder eisig zumute. Fröstelnd verzog ich mich in mein Zimmer und verschanzte mich mit einer Packung Ben&Jerry’s und drei Decken auf meinem Bett.
Als mein Handy klingelte, machte ich den großen Fehler nicht draufzugucken, wer der Anrufer war.
„Lola?“ Justins Stimme klang verwirrt und besorgt.
„Hey.“, sagte ich nur.
„Du gehst nie ans Telefon.“, stellte er fest. „Ist … ist irgendetwas?“
„Mir geht’s nur nicht so gut.“, sagte ich. Das war ja nicht unbedingt eine Lüge.
„Oh – okay.“, sagte er. „Gut dann, wir sehen uns. Ich liebe dich.“
Ich zog die Augenbrauen zusammen. Wie konnte er nur Ich liebe dich sagen wenn er sich doch mit einer anderen traf?
Ich legte auf, ohne noch irgendein weiteres Wort zu sagen.
Mistkacke.

„Sag mal, gehst du Justin irgendwie aus dem Weg?“, fragte Vicky skeptisch, als ich schon wieder einen Umweg einschlug, um nicht an der Sporthalle vorbeizukommen. Um diese Uhrzeit hatte Justin Training.
„Wie kommst du denn darauf?“, meinte ich unschuldig. Natürlich hatte Vicky Recht. Ich ging ihm aus dem Weg. Definitiv.
Ich zuckte zusammen. Schon wieder bemerkte ich aus den Augenwinkeln wie ein Pärchen sich romantisch küsste. Heute waren mir auf dem Weg von Bio zu Literatur schon zehn solcher Exemplare begegnet. War heute etwa der Tag der Liebe oder so? Wollte alle Welt mich noch zusätzlich quälen, indem sie mir vorhielt wie viel Liebesglück hier umherschwebte?
„Na gut.“, murmelte Vicky gedehnt. „Ich muss jetzt los. Wir haben bald Premiere und müssen noch derbe viel proben. Bis dann!“
„Bis dann.“, wiederholte ich. Sie lief hastig davon in Richtung Theatersaal.
Ich warf einen Blick auf die große Uhr mit den schweren, schwarzen Zeigern auf dem Schulhof und merkte, dass ich mich auch ziemlich beeilen musste, um noch rechtzeitig zur Redaktion zu kommen.
Als ich die schwere Eingangstür zur Schulaula aufstieß, stolperte ich fast in jemanden herein.
Als ich auf sah bemerkte ich, dass es Justin war – mit der anderen.
„Lola!“, sagte Justin und lächelte.
„Oh.“, murmelte ich und machte mich steif. Mein Magen schmerzte.
„Ich möchte dir gerne jemanden vorstellen.“, sagte er.
Ich stutzte. Was sollte das denn jetzt werden? In welchem Film war ich hier gelandet?
Er deutete auf die Blondine neben ihm, die ein Engelslächeln aufgesetzt hatte.
„Das ist meine Cousine Brooke.“, erklärte er. „Sie geht für hier zur Schule weil ihre Eltern unterwegs sind.“
Ich sah zwischen den beiden hin und her.
„Deine … Cousine?“, fragte ich ungläubig.
„Ja.“, sagte Brooke und hielt mir die Hand hin. Eine Welle von Erleichterung durchflutete mich. Wie einen Rettungsring ergriff ich ihre Hand.
„Oh, Cousine also.“ Ich grinste. „Cool. Ich bin Lola.“
„Freut mich.“ Sie erwiderte mein Grinsen. „Aber ich muss jetzt los. Mom hat gesagt, dass sie um vier anrufen will.“
Sie wandte sich zum gehen um.
„Bis nachher!“, rief Justin ihr hinterher.
Kaum war sie weg, schlang ich Justin meine Arme um den Hals und küsste ihn.
Ich hätte mein Lächeln nicht wegwischen können, selbst wenn ich es gewollt hätte.
„Ich muss auch weiter.“, murmelte ich, als wir uns wieder voneinander lösten.
„Ich will nicht, dass du gehst.“, sagte Justin leise.
Mein Herz stolperte.
„Will ich auch nicht.“, sagte ich. „Aber ich muss, Terry hyperventiliert sonst vor Wut.“
Wir grinsten.
Dann winkte ich noch einmal kokett und schlüpfte in den Raum der Redaktion.
Terry war wirklich ziemlich wütend. Ich grinste nur.
„Wir sind schon längst fertig.“, knurrte er. „Warum zum Teufel kommst du immer zu spät, Lola?!“
„Schlimme Krankheit.“, scherzte ich. „Ich bin in Behandlung aber die Ärzte können nichts dagegen tun, fürchte ich.“
„Ich krieg noch die Motten wenn du immer antanzt wann du willst!“, wütete er weiter.
„Ich glaube, du brauchst jetzt erstmal einen Kaffee.“, stellte ich fest.
„Brauche ich nicht, verdammt!“ Er holte tief Luft. „Doch, ich glaube ich brauche doch einen Kaffee.“
Ich nickte ihm aufmunternd zu und drückte auf den Knopf der rot glänzenden Kaffeemaschine neben der Tür. Mit Terry zu streiten war immer lustig.
Als ich mich an meinen Schreibtisch setzte, bemerkte ich gerade noch, wie Terry eine Packung Fisherman’s Friend aus der Hosentasche kramte und sich gleich fünf davon einwarf.
Ich verdrehte die Augen. Er war wirklich ein komischer Kauz – aber trotzdem irgendwie auf eine ganz eigene Art amüsant.
Voller neuem Tatendrang schaltete ich meinen Computer an und begann, auf die Tasten einzuhacken. Tausende neue Ideen strömten durch mein neu erwachtes Hirn. Ich kam gar nicht mehr hinterher, so viel fiel mir auf einmal an gutem Material ein.
Das hier wird ein langer Nachmittag werden, dachte ich und grinste zufrieden.


Memory



Ungeduldig klimperte ich mit meinem Kleingeld, von dem ich mir in der Schulcafeteria ein Eis kaufen wollte. Der picklige Typ hinter mir stank derb nach Käse und nieste alle dreißig Sekunden. Ich wollte so schnell wie möglich hier weg.
„Lola?“ Ich fuhr herum und traf auf Nathans Grinsen. Er stand vor mir und spielte gelangweilt mit einem zehn Dollar Schein.
„Hey.“ Ich lächelte zurück.
Absurd.
Wie komisch das Leben doch war.
Jetzt lächelte ich schon wieder Nathan Harrison an. Aber es fühlte sich nicht falsch an. Im Gegenteil. Es fühlte sich normal an.
Würden wir etwa noch Freunde werden?
Ich konnte nicht leugnen, dass ein Teil von mir das unbedingt wollte.
„Wie läuft’s mit Lucy?“
„Bestens.“ Er sah glücklich aus. „Alles bestens.“
Voll unter Perplex-Schock bemerkte ich, dass mich das tatsächlich freute.
„Hey.“ Nathan sah mich fragend an. Seine kurzen, blonden haare glitzerten im Sonnenlicht. Ich stellte ihn mit prompt als Bräutigam mit Lucy an der Hand vor. Nein, das passte nicht. Er war viel zu rebellisch und zu sehr der Sunnyboytyp um jemals zu heiraten.
„Hast du heute schon was vor?“, fuhr er fort. „Ich meine, wir könnten rumhängen, vielleicht in den Park gehen, irgendwie so was.“
„Okay.“, sagte ich ohne nachzudenken.
„Super.“ Nathan grinste. „Ich komm um vier zu dir.“
Damit griff er sich den Erdnussbutterkeks, den die Cafeteriafrau ihm hinhielt, und verschwand, eine Hand lässig in der Tasche seiner Jeans vergraben.
Und ich war wieder mit Käse-Nieser alleine. Klasse.
Hastig bezahlte ich mein Eis und ging so weit wie möglich von dem stinkenden Typen weg.

Manchmal überkommt es mit schlagartig und ich muss einfach nach Papier und Stift greifen. Manchmal bin ich so voller Wärme und Zuversicht, dass mein Körper keinen Platz mehr dafür hat, und ich es einfach nur noch zeichne. Meine Gedanken, meine Erlebnisse, meine Bilder – das was mir im Kopf herumschwirrt.
Wenn ich dann die feinen Striche ziehe, sanft schraffiere oder konzentriert auf meine Unterlippe beiße, wenn ich bei einer schwierigen Stelle angelangt bin, beruhigt mich das auf eine spezielle Art und Weise.
Wenn ich zu viele Gedanken in meinem Kopf habe, tue ich das auch. Wenn mein Kopf fast platzt vor Gedanken.
Nachdem ich mich nach der Schule auf mein Sofa geworfen hatte, hatte sich eine Mischung aus beiden Gefühlen in mir breit gemacht. Einerseits war ich voller Wärme und Zuversicht, wegen Justin und Vicky und Nathan und Mila und Lucy. Aber andererseits war mein Kopf auch zum Bersten voll mit Gedanken über all diese Leute. Besonders über Nathan.
Mein Bleistift glitt nur so über das Papier. Er war wie ein dritter Arm. Ich stellte mir vor, wie meine Nervenenden sich in der Miene befinden würden.
Plötzlich klopfte es kurz an der geöffneten Tür.
Nathan stand im Türrahmen, schelmisch grinsend und in Jeans und einem grauen T-Shirt.
„Ich konnte nie besonders gut zeichnen.“, meinte er und deutete auf das Mädchen inmitten eines Meeres aus Lotusblüten, dass ich gezeichnet hatte. „Dazu hab ich wohl ein x-Chromosom zu wenig.“ Er lachte sorglos.
„Denkst du, nur Frauen könnten zeichnen?“, fragte ich neugierig. Aus einem natürlichen Bedürfnis heraus wollte ich ihn unbedingt näher kennen lernen, seine Beweggründe und Charaktereigenschaften aufdecken, sehen, wie all das in und um ihn zusammenpasste, wie Memory.
Er schien sich verändert zu haben. Neugier war nur verständlich, hielt ich mir vor.
Er zuckte mit den Schultern. Mit einem Mal wurde er ernst. „Mom konnte das immer gut.“
Ich wurde blass. Tausend alte Erinnerungen strömten durch mein Gehirn, ließen mich erzittern.
Wie hatte ich das bloß vergessen können.
Ich kam mir idiotisch und mies vor.
Bilder ließen mich innerlich zusammenzucken.
Nathan und sein Bruder am Grab ihrer Mutter, Tränen in den Augen.
Nathans blasses Gesicht im Unterricht.
Nathans Kinderhand, die meine Kinderhand drückte.
Wie hatte ich das bloß vergessen können!
Ich sah Nathan ins Gesicht. Wir wussten beide, an wen wir dachten.
„Vielleicht bin ich deshalb so geworden.“, murmelte er, als hätte er meine Gedanken gelesen. „Vielleicht bin ich einfach nicht damit klargekommen, und deshalb so ein blöder Idiot geworden.“
Von dieser Seite hatte ich es noch nie gesehen. Ich hatte immer gedacht, dass er einfach so idiotisch geworden war, weil er … eben ein Idiot war.
„Tut mir leid.“, murmelte ich.
Er sah mich schräg an.
„Was tut dir leid?“
Ich knetete meine jetzt eiskalten Hände im Schoß.
„Ich bin dir damals auch keine gute Freundin gewesen.“, sagte ich. „Ich hab nie versucht, rauszukriegen warum du so geworden bist, wie du bist. Ich hab dich einfach … abgehakt.“
Er setzte sich neben mich auf mein Sofa und drückte kurz meinen Arm. Seine Hand war warm und zärtlich.
„Das muss dir nicht leid tun.“, meinte er mit sanfter Stimme.
Aus reiner Intuition legte ich für einen Augenblick meine Hand auf seine. So kam es, dass wir acht Jahre nach dem Unfall noch einmal in stiller Erinnerung um seine Mom trauerten.
„Komm mit.“, sagte ich schließlich und zog ihn hoch. Ein Themawechsel musste her, und zwar schnell, sonst fing ich noch an zu heulen. „Irgendwo da draußen wartet ein Milchkaffee auf uns.“
Draußen war es angenehm warm. Leichte Windböen strichen um meine Fußgelenke, kühlten mich aber nicht aus. Alles war angenehm wohlig und warm.
In Gedanken versunken gingen wir durch die Straßen, keine Ahnung welches Café wir überhaupt aufsuchen wollten.
Auf einmal fiel mir ein gelb-grünes Schild über einer breiten, hellbraunen Tür ins Auge. Grelle Farben leuchteten einem aus den Schaufenstern entgegen. Es waren Kostüme. Ich sah eine Prinzessin, einen Rockstar, einen Hippie…
„Ha!“, machte ich und griff nach Nathans Hand, um ihn zum zweiten Mal an diesem Tag mit mir zu ziehen. „Das wird klasse, komm!“
„Was-?“ verwirrt ging Nathan hinter mir her.
Als ich die Tür aufstieße, kam mir sofort klimatisierte Luft entgegen. An der Decke surrte ein Ventilator. Hinter einem Tresen stand eine Frau mit voluminösem, braunem Haar, die sich gelangweilt die Fingernägel feilte. Nebenbei schrieb sie eine SMS.
Mit nur zwei Händen. Wie bitte ging das? Ich suchte ihren Körper nach Hinweisen darauf ab, dass sie ein Alien sein könnte. Aber da war nichts.
Sie war bestimmt eine dieser Exemplare, die wirklich

multitaskingfähig waren.
Grinsend fing ich an, mich durch einen Kleiderständer zu wühlen.
„Zieh das an!“, bestimmte ich schließlich und hielt Nathan ein Piratenkostüm à la Jack Sparrow hin. „Los!“
„Was? Nein – nein, warum?“, fragte er etwas geschockt.
„Komm schon!“ Ich schob ihn in Richtung Umkleidekabine. „Das wird lustig!“
„Das ist albern, Lola.“, murrte er und bleib stehen. Er war ungefähr zehn Mal stärker als ich, also lief ich nun wie gegen eine Steinwand an. Ich verdrehte die Augen.
„Sei nicht so ein Spaßverderber.“, erwiderte ich leichthin. „Du darfst mir auch was aussuchen.“
Ich sah ihn bedeutungsvoll an. Er grinste.
„Die Chance bekomm ich wohl nie wieder.“, lachte er.
„Ganz genau.“
Lässig schritt er an den Regalen vorüber. Plötzlich blieb er stehen und zog ein freches, rotes Kleid aus den Massen hervor.
Ein Teufelskostüm.
„Neeein!“, maulte ich.
„Es war deine Idee. Pirat gegen Teufel oder gar nicht.“ Er grinste wie nur Nate grinsen konnte.
Resigniert schnappte ich mir den Kleiderbügel und stapfte in die nächste Umkleidekabine. Nathan ging in die neben mir.
„Also – du bist jetzt mit Justin zusammen.“, stellte er fest. Ich hielt verwirrt inne.
„Woher weißt du das?“, fragte ich.
„Ich bitte dich.“, sagte er schlicht. „Die ganze Schule weiß es.“
Ich riss meinen Vorhang auf.
„Was?“
„Justin ist im Basketballteam der große Star.“ Er lachte. „Alle fahren auf ihn ab.“
Ach ja

. Ich runzelte die Stirn. Und schon wieder war mein Leben wie in einem Film. Ein junges Mädchen kommt in der High School mit dem Star der Basketballmannschaft zusammen und alle beneiden sie darum. Ich hätte nie gedacht, dass mein Leben mal so sein würde wie in einer Serie.
„Weißt du eigentlich, dass sie auch alle auf dich

abfahren?“, bemerkte ich und zog den Vorhang wieder zu. Das Teufelskostüm bestand aus einem knallroten Kleid, passenden Teufelshörnchen und einem albernen Dreizack. Ich bog den Dreizack hin und her. Er erinnerte mich an die Schaumstofftiere meines kleinen Cousins Samuel.
Nathan lachte nur leise. Ich ließ es darauf beruhen.
Er war zwar nicht der Sport-Star, so wie Justin. Er war eher der begehrenswerte Rebell, der Superaufregende.
Das Kleid kratzte etwas, als ich es anzog, aber es passte perfekt und glitt problemlos über meine Hüfte. Seufzend setzte ich den Haarreifen mit den leuchtend roten Hörnern auf und trat aus der Kabine. Nathan stand in Piratengestalt vor mir und grinste sich einen ab.
„Ich fasse nicht, dass ich das tue!“, lachte er. Die Multitaskingfrau am Tresen sah uns mit hochgezogenen Augenbrauen an. Ich unterdrückte den Drang, ihr die Zunge herauszustrecken.
„Aber du siehst scharf aus.“, scherzte ich lächelnd.
„Und du erst.“, machte er mit.
Ich griff wahllos in einen Kleiderständer. Ein Elviskostüm.
Zehn Kostüme und vier Lachanfälle später saßen wir erschöpft auf einem der großen, weichen, weißen Sofas im Laden und kauten Kaugummi. Ich trug einen lilafarbenen, riesenhaften Hut, der mit weißem Seidenband geschmückt war und so weit über meinen Kopf hinausging, dass mit Sicherheit Vögel auf ihm landen könnten.
Nathan hatte sich einen fetten Cowboyhut aufgesetzt, auf dem ein Sherrifstern prangte. Auf den Nasen hatten wir altmodische Nerdbrillen.
Die Frau am Tresen sah alle zehn Sekunden verwirrt zu uns herüber, sagte aber kein Wort. Ob sie ihre Nägel wohl eckig oder rund gefeilt hatte?
„Also was mich angeht…“, sagte ich und rappelte mich auf. „Ich muss jetzt los. Hab noch ‚ne Verabredung.“
Vorsichtig stand ich auf und versuchte dabei, den Hut so gut es ging auszubalancieren. Ich seufzte und nahm ihn ab. Ob ihn wohl je jemand kaufen würde?
Wir legten alle Kostüme zurück und schlenderten aus dem Laden.
„Danke.“, sagte er auf einmal.
„Hm?“, fragte ich und sah ihn von der Seite an. Er hatte ein schönes Profil. Er war nicht nur der begehrenswerte Rebell, er war der gut aussehende, begehrenswerte Rebell.
„War’n schöner Tag.“ Er grinste frech. „Sehn’ wir uns morgen?“
„Okay.“ Ich grinste ebenfalls.
Dann gingen wir in verschiedene Richtungen davon und ich dachte mir, dass man uns jetzt als fast so etwas wie … Freunde

bezeichnen könnte.


Mutter-Tochter-Typen-Sachen



„Kinder, ich möchte euch heute jemanden vorstellen.“ Meine Mutter strahlte von einem Ohr zum anderen. Ich nicht.
Jetzt war es also mal so weit. Nach fast einem ganzen Monat ließ sie sich endlich dazu herab ihren Töchtern von ihrem neuen Lover zu erzählen. Na klasse.
Ich tauschte einen kurzen, ausdruckslosen Blick mit Lucy. Bitte

, riefich ihr in Gedanken zu. Bitte lass uns zusammenhalten

.
„Ich hab da jemanden kennen gelernt.“, erzählte Mom munter. „Er heißt Henry und wir waren ein paar Mal aus.“
Aha. Henry also.
„Wissen wir.“, sagte ich monoton und presste meine Lippen nach diesen zwei Wörtern fest zusammen, damit nicht irgendetwas Gemeines herausflutschte.
Mom machte den Fragezeichenblick.
„Warum …?“, setzte Lucy an, brach aber wieder ab. Sie entschied sich für den Weg ohne Umschweife. „Das war nicht fair, Mom.“
Ich ließ meiner Schwester einen riesigen Dank entgegenfliegen. Sie war nicht wie ein naives kleines Kind zu ihrer Mutter gehüpft und hatte einfach alles vergessen. Sie war auf meiner Seite geblieben, damit ich nicht allein war. So ähnlich jedenfalls.
Ich wollte nicht nachtragend sein oder so was. Aber über manche Dinge kann man einfach nicht hinwegsehen. Dinge wie diese, die so verdammt wehtun.
Wir haben uns doch sonst immer alles gesagt. Dieses traurige Gefühl nistete sich wieder in meinem Herzen ein.
Ich sah auf. Das glückliche Strahlen war auf Moms Gesicht verschwunden. Sie sah nur noch verwirrt aus.
„Ihr – wusstet es schon?“, fragte sie.
Lucy nickte. Ich nicht.
„Schade um die schöne Überraschung …“, murmelte Mom nur. Ich kniff wütend die Augen zusammen.
„Darum geht es hier doch gar nicht!“, fauchte ich. „Du hast uns nichts davon erzählt! Gar nichts! Wochenlang nicht! Deinen eigenen Töchtern!“
Mom setzte sich uns gegenüber auf ihren Lieblingssessel.
„Darf ich denn nicht auch Geheimnisse haben?“, fragte sie leise.
Am liebsten wäre ich aufgestanden und in mein Zimmer gegangen. Aber da klingelte es auch schon. Mom schwebte zur Tür.
Eine Bassstimme ertönte, dann wieder der Tenor meiner Mutter, dann wieder der Bass. Die Haustür fiel ins Schloss.
Henry war groß gewachsen und sah etwas aus wie Collin Firth. Seine Augen waren grau-grün und er hatte ein wirklich nettes Lächeln.
„Das sind Lola und Lucy, meine Töchter.“, sagte Mom halb stolz, halb verunsichert.
Henry hielt mir seine Hand hin. Ich ergriff sie widerwillig. Warum hatte ich sie überhaupt genommen?
Möglicherweise würde ich ihn eh nie mehr sehen, weil meine Mom ja unbedingt in geheimer Mission sein will. Vielleicht baut sie sich ja zwei Leben auf. Eins mit ihm und eins mit uns. Ganz toll.

„Los los los!“, lachte ich. „Wir sind viel zu spät!“
Kichernd rannten wir aus der erst halb geöffneten U-Bahntür und stürmten Hand in Hand weiter.
Wie immer hatte Justin es fertig gebracht, mich von Null auf Hundert wieder überglücklich zu machen. Mit ihm vergaß ich alle anderen Sorgen.
Auf dem Weg zur U-Bahnstation hatten wir zu lange getrödelt und waren jetzt viel zu spät dran. Unser Film fing in drei Minuten an.
Als wir die Rolltreppe hinauf auf den Bürgersteig rannten, merkte ich, dass es leise regnete. Es war ein schöner Regen. Sommerregen. Regen der warm auf der Haut ist und einen nur ganz leicht berührte.
Ich drehte mich glücklich im Kreis. Justin lachte.
„Lach mich nicht aus.“, rief ich, grinste jedoch weiter.
„Ich lach dich nicht aus.“, erwiderte er. „Ich finde dich nur … echt amüsant.“
„Ah, amüsant also?“, kicherte ich.
Er hielt mich fest und drückte mir einen weichen Kuss auf die Lippen.
„Amüsant und toll und smart und einfach wunderschön.“ Er küsste mich noch einmal.
„Wow, ich fühle mich wichtig.“, sagte ich lächelnd, als wir uns wieder voneinander lösten.
Dann zog ich ihn mit mir und wir rannten weiter.
Als wir durch die Eingangshalle des Kinos fegten, rannten wir fast einen Menschen in einem Hotdogkostüm um. Er ließ fast sein Tablett mit Buritos fallen.
Die Werbung lief schon, als wir den Saal betraten. Ein dicker Typ saß auf einer Stadiontribüne und erzählte irgendwas über den Sinn des Lebens. Wahrscheinlich der Trailer für irgendeinen Psychofilm.
„Sorry, tut mir leid, ’tschuldigung, kann ich mal durch?“ Unter hastigen Entschuldigungen schlängelten wir uns zu unseren Sitzen.
Während des Films legte Justin einen Arm um mich und ich legte meinen Kopf an seine Schulter. Früher hatte ich das immer total über-romantisch gefunden, aber jetzt fühlte es sich einfach nur schön an. Als der Vorhang zu ging, wollte ich gar nicht mehr aufstehen.
Aber wir mussten.
Gemächlich schlenderten wir aus dem Kino, ganz im Gegensatz zu dem tempo, in dem wir es betreten hatten. Alles war ruhig und wohlig warm.
Bis das Eiswasser kam.
In Person von zwei verliebten Leuten, direkt vor uns.
Henry hatte Mom liebevoll einen Arm um die Taille geschlungen und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Gerade als sie zurücktuscheln wollte, erblickte sie Justin und mich und hielt inne.
Ich drückte Justins Hand fester.
Mom und ich starrten uns wortlos an. Ich stellte fest, dass sie wirklich hübsch aussah. Aber ernst auch.
Mir fiel auf, dass ich ihr ja auch nichts von Justin gesagt hatte. Das kam mir irgendwie bekannt vor.
Tja, wie die Mutter so die Tochter.
Mit einem Mal verrauchte meine Wut etwas.
Vielleicht … vielleicht bin ich ja doch nicht so unschuldig

, dachte ich schleppend.
„Dann sind wir wohl quitt.“, sagte ich schlicht. Einen Augenblick sahen wir uns weiter forschend an, dann lächelten wir, wie auf ein geheimes Kommando.
„Wie die Mutter so die Tochter, hm?“, murmelte meine Mutter nachdenklich. Hatte sie etwa meine Gedanken gelesen? Manchmal war so was echt unheimlich, wie man gleichzeitig an dasselbe dachte.
„Wir sehen uns zu Hause.“, sagte sie und drückte im vorbeigehen meinen Arm.
„Genau.“, sagte ich.
Eine Weile blieben Justin und ich schweigend stehen, ich lächelnd, er verwirrt.
„Und … was war das jetzt?“, fragte er.
Ich grinste.
„Alles wieder okay.“
„Okay?“ Er schien da nicht so sicher.
„Alles super.“
Damit gingen wir wieder aus dem Saal hinaus.
Es schien wirklich alles super zu sein, musste ich glücklich feststellen.


Von Herz und Schmerz



Wenn man am Montag meint, dass alles super ist, kann das am Dienstag schon wieder ganz anders sein.
Genau dass hat mir das Schicksal am Tag nach dem Kino mit Justin bewiesen.
Das Telefon klingelte genau um 16:22 Uhr. Das wusste ich, weil ich gelangweilt meine Uhr angestarrt hatte, um zu sehen, wann meine Pizza im Ofen fertig war.
Nebenbei bemerkt habe ich diese Pizza nie gegessen.
Ich hatte keine Lust mich zu bewegen, also ging Mom ans Telefon.
Das erste was mich misstrauisch machte, war die unheimliche Stille kurz darauf.
Normalerweise redete Mom schwungvoll und fröhlich auf den Telefonhörer ein, aber jetzt war es totenstill.
Das zweite war ein kleines, herrenloses Schluchzen, das traurig durch meine Tür drang.
Ich sprang alarmiert auf und rannte ins Wohnzimmer. Mom stützte sich mit gebeugtem Rücken an die Sofalehne und presste das Telefon fest an die Brust. Tränen tropften auf eins der sonnengelben Sofakissen.
„Mama.“, wisperte ich. Meine Knie zitterten. Aus unerfindlichen Gründen wusste ich, dass ich gleich todtraurig sein würde. „Mom was ist los.“
Meine Frage kam wie ein Aussagesatz heraus. Monoton und unsicher.
„Mr. Harrison.“, schluchzte sie nur. „Norman. Norman – er ist … tot. Ein H-h-herzanfall.“
Geschockt schwankte ich auf der Stelle. Mein Gehirn überschlug sich. Tränen verschleierten meine Sicht. Alles war wackelig und erschreckend kalt.
Nathans Gesicht blitzte vor meinem inneren Auge auf. Immer und immer wieder. Sein sonst so oft spitzbübisch lächelnder Mund zu einer schmalen, bitteren Linie verbogen.
Wie konnte auf einen einzelnen Menschen nur so viel Unglück bombardiert werden. War das etwa gerecht?
Tiefe, schwere Traurigkeit setzte sich auf meine Schultern. Ich konnte mich nicht erinnern, einmal so traurig gewesen zu sein.
Es war traurig, um sich selbst zu weinen. Aber es war noch trauriger, um andere zu weinen.
Mom und ich fielen uns schluchzend in die Arme und weinten einfach nur noch.
Ich fing an mich über mich selbst zu ärgern. In den letzten Wochen hatte ich mich über meine Mutter aufgeregt, über Lucy, über Nathan, über Justin, über Brooke, über Mila. Wie unscheinbar meine Sorgen doch gegen Nathans erschienen. Während ich mich über Nichtigkeiten aufregte, verlor er ein Familienmitglied nach dem anderen.
Ich kam mir so schäbig und undankbar vor.
Nach einer Stunde versiegten meine Tränen, aber als Lucy nach Hause kam und die Nachricht erfuhr, strömten sie doch wieder aus. Immer wieder wenn ich an Nathan und seinen kleinen Bruder dachte, wie sie sich wohl fühlten, wollte ich am liebsten bei ihnen sein, sie fest umarmen und all ihre Trauer auf mich nehmen, damit sie nicht mehr leiden mussten. Sie hatten schon genug gelitten. Jetzt war jemand anderes dran.
Wir zogen Mechanisch schwarze Kleider an und stiegen in unser Auto. Selbst während der Fahrt weinten wir leise. Ich fragte mich, ob Mom so überhaupt fahren konnte, aber andererseits war es mir auch egal.
Die Totenwache fand bei den Harrisons zu Hause statt. Sobald das Auto hielt rannte ich aus dem Auto und nahm dabei kaum wahr, dass es angefangen hatte zu regnen.
Nathan stand auf der Verandatreppe und lotste die Leute ins Haus, leblos wie ein Roboter.
Ich rannte auf ihn zu und schlang ihn die Arme um den Hals. Er fühlte sich so kalt an.
Er drückte mich ganz fest. Gar nicht so, wie er sich sonst immer gab. Er war für heute nicht mehr der Rebell, sondern ein trauriger Verbliebener einer auseinander gerissenen Familie, der dringend Trost brauchte.
„Danke dass du da bist.“, flüsterte er in mein Ohr.
„Das ist doch selbstverständlich.“, sagte ich mit tränenerstickter Stimme.
Nachdem wir uns voneinander gelöst hatten, schloss Mom ihn in ihre Arme. Sie und Mr. Harrison hatten regelmäßig mit Vickys Vater und Milas Mutter Tennis gespielt.
Nach Mom kam Lucy. Sie wiegte sich und Nathan beruhigend hin und her. Ich spürte, dass er sie jetzt dringend brauchte, und brachte ein kleines trauriges Lächeln zustande.
Ich entdeckte Nathans elfjährigen Bruder Max in der Küche stehen und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. Tränen strömten über seine blassen Wangen. Früher, in einem anderen Universum, wie es mir vorkam, hatte ich mit ihm manchmal einen Football hin und her geworfen. Damals waren seine Wangen viel rosiger gewesen. Jetzt nicht.
Wie konnte etwas so grausames nur so einem kleinen Jungen passieren.
Erschrocken fiel mir auf, dass Nathan und Max jetzt Waisen waren.
Auf einmal klingelte mein Handy. Dieses schrille Geräusch passte so gar nicht in diese Szene.
Hektisch klappte ich es auf. Es war Justin.
„Wo bist du?“, fragte er, gut gelaunt wie immer. „Ich stehe vor eurem haus aber ihr seid nicht da“
„Ich … ich bin bei Nathan.“, sagte ich mit schwerer Stimme.
Er atmete hörbar ein uns aus.
„Du bist in letzter Zeit oft bei ihm.“, murmelte er. „Ich meine – ist er – bist du-?“
„Justin.“, sagte ich. „Sein Vater ist gerade gestorben.“
Stille.
„Oh.“, machte Justin. Das war noch etwas, was ich an ihm liebte. Er hatte das Herz am rechten Fleck.
Viele Leute kamen. Viele Leute hatten Mr. Harrison geliebt. Viele Leute wollten ihm die letzte Ehre erweisen.
Sechs starke Männer trugen den Sarg zum Friedhof, darunter Nathan und sein Cousin. Alle machten eiserne Gesichter.
Die ganze Versammlung ging schweigend hinter ihnen her. Ich hielt Lucys Hand.
Als wir am Friedhof ankamen, war es zehn Uhr abends. Die Sonne verschwand langsam am Horizont und warf rotes Licht über das Gras und die Bäume. Wäre all das nicht so traurig gewesen, wäre es wunderschön, trotz des Regens, der immer noch auf uns nieder tröpfelte. Das einzige was die Stille störte, waren Vögel, die ahnungslos fröhlich zwitscherten.
Ein bärtiger Pastor, der allerdings nur drei Haare auf dem Kopf hatte und eine dicke Hornbrille trug, erklärte sich spontan bereit, die Zeremonie zu leiten.
Wir alle weinten leise, als das Grab zugeschaufelt wurde.


Zeit und Wunden



Nichts in der Welt kann tiefe Wunden heilen, außer der Zeit.
Dieser Spruch kam mir plötzlich in den Sinn, als ich Nathan von der Seite ansah.
Die Zeit zwischen Verletzung und Heilung musste doch unheimlich schwer sein, oder nicht?
Wir hatten uns auf zwei quietschende Schaukeln auf einem schäbigen, kleinen Spielplatz in der Nähe gesetzt, aber wir schaukelten nicht. Wir saßen einfach nur da.
Nathan war blass und hatte dunkle Ringe unter den Augen. Er trug eine abgetragene Jogginghose und einen schwarzen, alten Pullover. Eindeutig das Traueroutfit.
Ich hatte den starken Verdacht, dass der Pulli von seinem Vater war.
Auf einmal kam mir ein Gedanke.
Ich betete nicht oft. Sehr selten sogar. Aber jetzt schien es mir auf einmal sinnvoll und absolut normal. Und wenn ich schon beten wollte, dann für Nathan.
Ganz bei mir schloss ich die Augen und schickte ein Stoßgebet zum Himmel hinauf, das alles wieder gut werden würde.
Als ich die Augen wieder öffnete, drehte Nathan sich zu mir.
„Hab ich dir je erzählt, wie Mom gestorben ist?“, fragte er. Seine Stimme klang müde, rau und matt. Gar nicht nach Nate.
Ich schüttelte tonlos den Kopf.
„Es war ein Samstag.“ Er sah in die ferne und bekam diesen merkwürdigen Tunnelblick, den man hatte wenn man sich an etwas erinnerte. „Wir wollten zu irgendwem hinfahren, ich hab vergessen zu wem, und dann waren wir … auf einer Brücke. Und dann – dann hat uns ein Truck gerammt. Wir sind über die Bande gefallen.“
Er stützte seine Stirn auf seinen Händen ab, die Ellenbogen auf den Knien.
Meine Augen waren Nass.
„In den Kanal hinein.“ Ich zuckte zusammen. Ein Schauder lief mir über die Haut. „Ich weiß noch wie kalt es war. Die Frontscheibe ist zerbrochen. Mom ist ohnmächtig geworden. Ich hab es irgendwie geschafft … mich zu befreien. Dann hab ich versucht, sie zu befreien – aber es ging nicht. Der Gurt klemmte. Sie bewegte sich nicht. Ich musste dreimal wieder auftauchen. Irgendwann hab ich es dann geschafft. Aber ich wusste schon, dass es zu spät war, als wir oben waren.“
Nun zitterte ich förmlich. Ich spürte mein Herz nicht mehr. Ich wollte das nicht hören, aber andererseits schon.
„Ich hab sie nicht retten können, verstehst du?“ Eine Träne rollte über seine Wange und er sah einfach nur noch verzweifelt aus. „Ich hab es noch nicht mal mehr fertig gebracht, meine eigene Mutter zu retten! Was bin ich nur für ein Mensch? Warum-?“
Sein Rücken bebte.
„Ein sehr mutiger.“, sagte ich leise.
Die Zeit heilt alle Wunden.
Wie sehr ich doch auf diesen Satz baute.


Und action!



Wir saßen alle in einer Reihe auf unserem Sofa. Ganz links Mila, daneben Justin, dann ich und auf meiner anderen Seite Nathan. Wir starrten wortlos auf den noch zugezogenen Theatervorhang. Jeder hing seinen eigenen Gedanken.
Ich hatte Nate praktisch gezwungen, mitzukommen. Er brauchte Ablenkung. Dringend.
„Ich geh noch mal nach Vicky sehen.“, murmelte ich und stand auf. Mila folgte mir.
„Backstage“ herrschte das reinste Chaos. Der Reißverschluss des Kleides von Julias Mutter klemmte. Mercutio fand seinen Schnurrbart nicht. Tybalts Degen produzierte Splitter.
Vicky stand ganz hibbelig in einer Ecke und kaute an ihren Nägeln. In ihrem bodenlangen Kleid sah sie einfach nur traumhaft schön aus.
„Da seid ihr ja!“, rief sie erleichtert. „Ich fall gleich um vor Aufregung!“
Ich lächelte sie ermutigend an.
„Du siehst wunderschön aus!“, versprach ich ihr. Sie errötete leicht.
Ritchie, der den Romeo spielte, kam zu uns und tätschelte Vicky beruhigend den Arm.
„Und wenn’s nicht klappt-“ Er zuckte mit den Schultern. „Dann klappt’s halt nicht.“
Das war nun nicht gerade hilfreich.
Vicky zog die Stirn kraus, aber Mila strahlte.
„Ganz genau!“; sagte sie aufgeregt. „Dann ist es doch auch egal!“
Ich runzelte die Stirn und sah zwischen den beiden hin und her. Mila und Ritchie. Ritchie und Mila. Ein Lächeln bereitete sich auf meinem Gesicht aus. Da war gerade ein Moment gewesen, ein wichtiger Moment. Es war wie eine magnetische Anziehungskraft zwischen den zweien.
„Dann kann man es auch nicht mehr ändern.“, fügte Ritchie hinzu, ganz auf Mila fixiert. Ich wollte einen bedeutungsvollen Blick mit Vicky tauschen, aber die hatte mal wieder gar nichts kapiert und nagte nur an ihrer Unterlippe herum.
Mila nickte und strahlte und strahlte und nickte. Und auf einmal war sie Julia, so wie sie es gewollt hatte, und ihr Romeo stand direkt vor ihr.
„Es geht los!“, brüllte Angela Baxter, die Theaterleiterin. Natürlich, die musste mal wieder alles zerstören.
Vicky verschwand, aber Ritchie und Mila bewegten sich nicht vom Fleck.
„Kommt schon!“, seufzte ich grinsend. „Morgen, ihr zwei, Eisdiele, um vier, alles klar?“
Das die das nicht mal selber regeln konnten … mannomann.
„Lola!“ Mila stieß mir ärgerlich einen Ellenbogen in die Rippen, aber als sie Ritchies Grinsen sah, lächelte sie nur noch ihr wunderschönes Mila-Lächeln.
„Okay.“, sagte Ritchie-Romeo.
„Okay.“, sagte Mila-Julia.
Dann zog ich Mila mit mir zurück in den Zuschauerraum und wir setzten uns.
Der Vorhang schwang lautlos auf und das Schauspiel begann.
Vicky spielte wunderbar. Sie war ganz Julia. Sie war wie in dem Drama gefangen, einfach natürlich.
Ich ließ den Blick durch den Raum schweifen. Alle Leute lächelten. Alle klatschten tosend an den richtigen Stellen. Alle waren einfach nur … begeistert.
Ich lehnte meinen Kopf an Justins Schulter, ließ meinen Blick zu meinen Freunden wandern. Zu Mila und Nathan, zu Ritchie und Vicky, zu Lucy eine Reihe vor uns.
Wärme durchfuhr meinen ganzen Körper. Zwei Wörter zischten immer wieder durch meinen Kopf wie Sternschnuppen. Freundschaft und Liebe.
War es nicht das, was wir alle wollten?
Am liebsten hätte ich laut gelacht vor lauter Glück.
Ich hatte diese zwei, und ich werde sie mein Leben lang nicht hergeben.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 02.02.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für jede Sonnenbrille dieser Welt - und für die unvergleichlichen Lip Smackers

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