Maggie
Kennt ihr dieses ganz spezielle Gefühl von Aufregung, wenn man in sein Zimmer stürzt und weiß, dass man gleich seinen besten Freund sehen wird? Wenn man sich so sehr darauf freut, dass gleich alle Sorgen verschwinden werden, weil man den Menschen trifft, der einem Mut macht und dem man alles erzählen kann?
Genau dieses Gefühl verfolgte Maggie, als sie hastig die Treppe hinaufeilte, ihre Schultasche in eine Ecke ihres Zimmers warf und das Fenster aufriss.
Die Sommerluft duftete nach wilden Blumen und frisch gemähtem Gras. Maggie atmete tief durch. Sie liebte den Sommer.
Sie stieg auf ihr Fensterbrett und von dort aus auf die Brücke aus Brettern, die am Fenster des Nachbarhauses endeten.
Auf der anderen Seite stieg Alec aus seinem Fenster. Seine dunklen Haare waren noch feucht vom Schwimmunterricht und sahen ziemlich wild aus.
„Olá!“, rief Maggie fröhlich.
„Buenos dias!“, erwiderte Alec grinsend.
Sie setzten sich nebeneinander in die Mitte der kleinen Brücke und ließen die Beine in der Luft baumeln. Rechts die blauen Fensterläden von Maggie, links die grünen von Alec.
Schweigend ließen sie ihre Blicke durch die Gegend schweifen. Mrs. Trenton lief mit ihrem hässlichen Kaiserpudel Sir George über die Straße und verlor dabei ein paar Kartoffel, die aus ihrem Einkaufskorb fielen.
Mr. Dippet von nebenan, die Reinkarnation eines Pechvogels, versuchte den Rasen zu sprängen, aber der Wasserstrahl traf immer nur ihn selbst. Maggie und Alec lachten leise in sich hinein.
Maggie lächelte. Nur Alecs Anwesenheit ließ ihr Herz schon leichter werden. Er brachte mehr Sonne in ihr Leben, und sie hatte ihn dafür unglaublich lieb.
Sie saßen lange so da und genossen einfach nur die Ruhe, lachten über irgendwelche Dinge und spürten die Wärme der Sonne auf ihren Gesichtern.
Schließlich stand Alec auf.
„Ich muss rein.“, sagte er etwas wehmütig. Maggie nickte.
„Adeus!“, sagte sie mit einem Lächeln.
„Adiós.“ Alec lächelte zurück. Dann machte er kehrt und sprang zurück in sein Zimmer.
Maggie stand auf und blickte in die untergehende Sonne. Sie breitete die Arme aus und genoss den leichten Wind auf ihrer Haut, der ihre Haare verwehte und ihr weißes Sommerkleid flattern ließ.
„Es ist Sommer.“, flüsterte sie und strahlte. Dann kletterte sie zurück in ihr Zimmer.
Alec
Es war nie so gewesen, dass Alecs Dad viel Zeit für ihn gehabt hatte. Er war ständig in seiner Kanzlei gewesen, um an seinen „dicken Fällen“ zu arbeiten, wie er sich immer ausdrückte. Jedes Mal hatte er versprochen, mit Alec aufs Meer raus zufahren, und jedes Mal war wieder einer dieser „dicken Fälle“ dazwischen gekommen.
„Meine Mandanten brauchen mich.“, war stets Dads Antwort gewesen. „Das musst du verstehen, Alec.“
Alec hatte es nicht verstanden. Er brauchte ihn auch. Er gehörte zu seiner Familie. Sollte er ihm nicht wichtiger sein als seine Mandanten?
Seit einiger Zeit hatte Alec deswegen Vertröstungsgeschenke bekommen. Erst den iPod, dann das eigene Telefon, später den iMac und das teure Skateboard. Gestern ein Surfbrett.
Obwohl er sie toll fand, wollte Alec die ganzen Geschenke nicht. Er würde viel lieber mit seinem Vater zusammen sein, als nur Geschenke von ihm zu bekommen, die nichts als leere Versprechen waren. Aber das verstand sein Vater nicht.
Deshalb wunderte es Alec auch so, als sein Vater diesen Abend am Küchentisch saß und sich von Mom Pommes auftun ließ. Sonst kam er immer erst spät nach Hause.
Beide hatten ein merkwürdiges Lächeln aufgesetzt. Sie hielten gepflegten Abstand voneinander, saßen an den Kopfenden und wichen meinen Blicken aus.
Die Pommes passten nicht in das Bild der vornehmen Küche. Pommes gab es sonst nie. Mom fand es zu ungesund.
„Currywurst mit Pommes?“, fragte Alec skeptisch.
„Das magst du doch so gerne.“, meinte seine Mutter. Sie sah blass aus.
Alec setzte sich und fing an zu essen. Niemand sagte etwas und man hörte nur das Klappern des Geschirrs.
„Wie war die Schule?“, fragte sein Vater. Er interessierte sich sonst nie für die Schule.
„Gut.“ Alec hatte keine Lust auf ausführliche Antworten. Sein Vater hatte auch nie ausführlich mit ihm geredet.
„Alec.“ Seine Mutter legte ihre Gabel beiseite. „Wir müssen mit dir reden.“
Alec spürte die Denkfalte auf seiner Stirn.
„Du magst doch Rehoboth, oder?“, fragte sein Vater.
„Rehoboth Beach? In Maryland?“
„Genau.“
„Keine Ahnung, ich war erst einmal dort.“
Sein Vater räusperte sich.
„Ich werde da jetzt hinziehen. In ein schönes Haus am Strand. Es wird dir gefallen.“ Dad verhaspelte sich zwei Mal und sah dabei auf seinen Teller.
Alec runzelte die Stirn. Warum das denn? Warum wollte Dad umziehen?
Dann verstand er und erstarrte zu einer Eisskulptur.
Er sah die Antwort förmlich vor sich, in die Lache aus Ketchup auf seinem Teller geschrieben.
„Klar.“, sagte er bitter und trocken. „Ihr lasst euch scheiden.“
„Ähm.“ Seine Mutter zögerte und sah ihm dann direkt in die Augen. „Ja.“
Jetzt war es geschehen. Dass, was Alec im Innersten schon immer gewusst hatte aber nie wahrhaben wollte. Jetzt war es so weit. Sie hatten sich entschieden.
„Ich hab keinen Hunger mehr.“, sagte er und stand auf.
Maggie
„Die sind gut geworden.“, murmelte Maggies Vater. „Wow.“
Maggie blinzelte und sah von ihren Mathehausaufgaben auf.
„Mags, sieh dir diese Tomaten an!“, rief er begeistert. „Knallrot!“
Er stellte den Topf mit der Tomatenpflanze zurück auf den Balkon. Danach warf er sich ein Handtuch über die Schulter, hantierte mit einigen Töpfen und Pfannen herum und sang dabei irgendetwas von „My big red magical tomatoes“ vor sich hin.
Maggie sah ihm lächelnd zu. Ihr Vater war ein durch und durch gutherziger, fröhlicher Mensch. Das hatte sie anscheinend von ihm geerbt.
Maggies kleiner Bruder Davey trommelte begeistert im Takt zu Dads Gesang, der mittlerweile mehr Spanisch und Portugiesisch als irgendetwas anderes war, mit einem Kochlöffel auf dem Tisch herum.
Maggie fing an dazu zu Summen. Sie liebte solche Nachmittage, an denen Dad für sie Mittagessen kochte. Er kochte zwar sehr gut, aber währenddessen ließ er sich so oft ablenken, dass das Essen zwei Stunden später fertig wurde als gewollt.
Manchmal saß Alec noch bei ihnen. Aber heute war er nicht da.
Als sie ihn gefragt hatte, ob er kommen wolle, hatte er ganz abwesend reagiert.
Maggies Gedanken wurden durch ein Platschen abgelenkt. Dad hatte während einer rasanten Drehung den Inhalt seines Wasserglases auf dem Küchenfußboden verteilt.
Er lachte und griff nach einem Handtuch.
In diesem Moment kam Maggies Mutter strahlend in die Küche, in einem leichten, weißen Sommerrock und einer hellblauen Bluse.
„Vergiss den Trommelkurs heute Abend nicht!“, warnte sie ihren Mann.
„Ja, genau, der – ehm – Trommelkurs!“, sagte Dad hastig. Er hatte es mit Sicherheit vergessen. Manchmal war er eben ein bisschen schusselig.
Maggies Eltern gingen einmal die Woche zu einem Trommelkurs, um leidenschaftlich herumzutrommeln. Das machten sie schon seit Ewigkeiten und es machte ihnen immer noch Spaß.
Maggie stützte nachdenklich ihr Kinn auf ihrer Hand ab.
Später wollte sie auch einmal so fröhlich sein wie ihre Eltern. Sie wollte mit ihren Kindern in der Küche singen und so etwas Verrücktes wie Trommeln machen. Mal ehrlich – kennt einer von euch auch nur eine Hand voll Erwachsener die trommeln? Ich glaube kaum.
Alec
„Triffst du dich mit Jean?“, fragte Caleb grinsend und boxte Dean auf die Schulter.
„Na klar.“, meinte Dean. „Wir wollen ins Medaillon, dem superteuren Restaurant am Strand.“
„Ein echtes Date?“ Caleb knuffte ihn in die Seite. „Na ja, wäre ja nicht das erste.“
Er lachte alleine.
„Und, wie weit seid ihr schon?“, hakte Caleb neugierig nach.
„Das geht dich nichts an!“, lachte Dean.
Alec hatte keine Lust, den beiden weiter zuzuhören.
„Ich muss nach Hause, Leute.“, sagte er.
„Bis morgen, Alec.“, sagte Caleb und Dean grinste. Caleb gluckste immer noch vor sich hin.
Alec verließ den Schulhof und stieg in seinen Bus ein. Eigentlich wartete er imemr auf Maggie und nahm dann den etwas späteren Bus, aber heute hatte er keine Lust zu warten.
Dann würde er nur wieder zum Nachdenken kommen, und er wollte nicht nachdenken.
Der Bus fuhr viel zu langsam.
Es blieb zu viel Zeit zum Nachdenken.
Hastig kramte Alec seinen iPod heraus und drehte die Musik so laut, dass es wehtat.
Er hätte beinahe seine Bushaltestelle verpasst und rannte fast durch den Bus, um noch aussteigen zu können. Draußen lief er gleich weiter, an der Promenade entlang, einfach weiter, egal wohin.
Seine gleichmäßigen Schritte beruhigten ihn ein wenig.
Er war wütend. Wütend auf seine Eltern und wütend auf sich selbst. Warum war er so naiv gewesen und hatte geglaubt, dass sich das noch regeln könnte?
Er war doch sonst nicht so naiv.
Irgendwann merkte er, dass er nach vielen Umwegen doch nach Hause gelaufen war. Er rannte in sein Zimmer und kletterte wieder einmal aus dem Fenster.
Auf ihrer kleinen, selbst gemachten Brücke saß Maggie schon und sah einem kleinen, blauen Schmetterling zu, wie er vor ihr herumflatterte.
„Olá!“, sagte sie lächelnd.
„Buenos dias.“ Er wusste selber, wie lustlos und tot er klang.
Sie runzelte die Stirn.
„Ist irgendetwas?“, fragte sie. Maggie merkte immer sofort, wenn etwas nicht stimmte.
„Nein.“, sagte Alec schlicht.
„Irgendwas ist doch.“ Ihre Stimme klang sanft und vorsichtig.
„Nein, verdammt, es ist nichts.“, sagte er scharf. Sie zuckte leicht zurück. Dann nahm sie eine ihrer blonden Locken und spielte damit herum.
„Manchmal ist das Leben … eben einfach blöd.“, murmelte sie. Ohne zu wissen was los war hatte sie genau ins Schwarze getroffen.
Alec ballte eine Hand zu einer Faust. Aus irgendeinem Grund war er irre wütend auf Maggie.
„Was weißt du schon vom Leben?“, sagte er laut.
„Alec.“ Sie sah ihn etwas ängstlich an.
„Du hast doch überhaupt keine Ahnung!“, rief er. „Du weißt du gar nichts! Du lebst doch nur in deiner glücklichen Welt!“
Er stand auf, ging und knallte das Fenster fest hinter sich zu, sodass die Scheiben wackelten.
Maggie
In dieser Nacht konnte Maggie nicht schlafen. Alecs Worte hallten immer wieder in ihrem Kopf herum und ließen sie erschaudern. Was war bloß los mit ihm?
Irgendetwas Schlimmes musste passiert sein. Irgendwas enthielt er ihr vor. Veilleicht irgendein Geheimnis?
Alec war sonst nie so launisch und jähzornig.
Er war immer verständnisvoll und mutig gewesen, hatte sich allem gestellt und über alles geredet. Er hatte sie noch nie angebrüllt.
Eine Woche lang redeten sie nicht miteinander, gingen sich aus dem Weg und betraten ihre kleine Brücke nicht mehr.
Maggie hatte ihn ein paar Mal angerufen, aber er hatte nie abgenommen. Dann hatte sie es bleiben lassen. Vielleicht brauchte er Abstand oder so etwas Ähnliches. Vielleicht brauchte er Ruhe. Oder – sie traute sich kaum diesen Gedanken auch nur zu denken – er hatte einfach keine Lust mehr auf sie.
Ihre Eltern machten sich Sorgen um sie. Sie merkten, dass sie nicht mehr in der Küche mitsang, nicht mehr viel aß und nicht mehr lachte.
„Was ist los, Kleines?“, hatte ihr Vater sie eines Abends zögernd gefragt und ihr eine seiner Tomaten rüber geschoben. „Irgendwas schlägt dir doch auf den Magen.“
„Dad?“
„Hm?“
„Hattest du einmal einen Freund, der sich auf einmal ganz komisch benimmt? Und du weißt nicht warum?“ Maggie sah ihn hoffnungsvoll an.
„Nein, wieso?“
Sie ignorierte seine Frage.
„Und wenn es so wäre? Nehmen wir mal an er hieße John. Was würdest du tun?“, hakte sie weiter nach.
„Ah, es geht um Alec. Wie benimmt er sich denn?“
„Dad!“ Maggie verdrehte die Augen. „Wir reden hier von John
!“
„Achso.“ Er verstand. Nachdenklich schob er sich eine Scheibe Tomate in den Mund und überlegte. „Ich denke ich würde mit John reden und ihn fragen was los ist.“
„Und wenn er dich nicht näher an sich ranlässt?“
„Dann würde ich ihm Zeit lassen.“
Alec
Alec bereute es, dass er Maggie so angebrüllt hatte, aber andererseits wollte er immer noch mit niemandem reden.
In der Schule schaltete er auf den Durchzugmodus. Seine Freunde redeten ununterbrochen und er saß still daneben.
Caleb laberte ihm täglich den Anrufbeantworter voll, weil er nicht mehr zur Half Pipe kam und anscheinend viel verpasste.
Dean laberte ihm täglich den Anrufbeantworter voll, weil er mit Jean bei ihrem ersten Kuss angekommen war und nun ständig irgendetwas bei ihm loswerden wollte.
Alec reif nie zurück.
Er saß einfach nur auf seinem Sofa und hörte Musik.
Nach drei weiteren tagen des Nichtstuns standen auf einmal Caleb und Dean persönlich in seinem Zimmer.
Entschlossen zerrten sie ihn hinaus und auf die Straße.
„Was soll das? Jungs!“, protestierte er.
„Du machst nichts mehr“, sagte Dean bloß. „Du bist ’ne Leiche geworden.“
„Eine besonders schweigsame Leiche.“, fügte Caleb hinzu.
Alec sah weg. Durch Zufall fiel sein Blick auf Maggies Haustür. Maggie saß auf den Treppenstufen davor und starrte bewegungslos auf den Boden. Sie sah so blass aus.
In diesem Moment wurde Alec klar, dass er sich verdammt blöd benommen hatte.
Maggie
Davey schlug schon wieder ununterbrochen mit seinem Kochlöffel auf irgendwelche Töpfe ein.
Maggie taten die Ohren weh.
Sie verschwand notgedrungen in ihr Zimmer und schloss die Tür ab.
Das Fenster stand offen. Ihre Mutter musste es geöffnet haben.
Maggie trat an den Fensterrahmen um frische Luft zu schnappen.
Da sah sie Alec auf ihrer Brücke sitzen.
Eine Weile sahen sie sich nur an.
Dann stieg Maggie zögernd hinaus und setzte sich neben ihn.
„Meine Eltern lassen sich scheiden.“, sagte er schließlich.
Maggie drückte seine Hand.
„Das hättest du mir doch erzählen können.“, sagte sie leise.
Er seufzte.
„Das weiß ich jetzt auch.“ Er lächelte leicht. „Tut mir leid.“
„Kein Problem.“
Sie lächelten sich an und wussten genau, dass in diesem Moment alles wieder in Ordnung war.
Zum Glück.
-Ende-
Tag der Veröffentlichung: 18.01.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Ich habe lange überlegt, wem ich diese Geschichte widmen soll.
Natürlich meinen Freunden - das ist klar. Aber meine Freunde wissen auch so, dass jedes Buch was ich schreibe, für sie ist.
Also habe ich beschlossen, dieses Buch einfach nur all den JEANS dieser Welt zu widmen, weil sie meine Lieblingshosen sind und so wunderbar gemütlich, wie keine andere Hose.