Vor fünf Jahren verschwand Dad. Drei Stunden später bestellten Mom und ich Essen beim Chinesen und aßen bis spät in die Nacht hinein Milch und Kekse, während wir haufenweise DVDs guckten. Sie hatte traurig ausgesehen und Dads Abwesenheit hatte mir verraten, dass etwas falsch war.
Zwölf Stunden später erfuhr ich, dass er für immer abgehauen war. Weg von hier, weg von uns, weg aus Australien. Einfach weg. Unwiderruflich weg.
Sie hatten gestritten und er war gegangen. Aus meinem Leben gefallen.
Damals hatte ich das nicht verstanden. Aber ehrlich gesagt tat ich das heute immer noch nicht. Wer war schon so feige, seine Familie im Stich zu lassen.
Familie sollte einem alles bedeuten. Ohne die Familie steht man alleine da.
Ich weiß noch wie Dad und ich am Morgen davor zusammen am Frühstückstisch Rice Crispies gegessen hatten. Wir hatten geschwiegen und nur das Knirschen der Cornflakes zwischen unseren Zähnen hatte die Luft erfüllt. Es war ein unangenehmes Schweigen gewesen. Sehr unangenehm.
Vielleicht war es einfach Zeit gewesen. Vielleicht hatten wir nicht zueinander gepasst. Vielleicht waren Mom und ich alleine glücklicher.
Seit diesem Abend vor fünf Jahren, an dem ich Dads dunkelgrünem Wrangler durch mein Zimmerfenster hinterher gesehen hatte, waren Mom und ich immer füreinander da gewesen. Immer. Wir hatten über alles geredet und uns immer bei Problemen geholfen.
Aber ich wusste wie tief der Schmerz noch in ihr steckte.
Vielleicht auch wegen mir.
Sie dachte immer noch, es würde mir wehtun, dass Dad sich nicht von mir verabschiedet hatte. Keine Karte, keine tröstenden, hohlen Worte, nicht einmal ein Lächeln.
Aber das war okay.
Ehrlich.
Er war für mich gestorben.
Und dann kam Jack.
Und mit Jack kam Moms Lächeln zurück.
Und mit Moms Lächeln ihr Glück.
Jack brachte wieder Sonne in ihr Leben und ich war ihm sehr dankbar dafür. Sehr, sehr dankbar.
Jetzt war ich fünfzehn, dachte schon über mein College nach und jobbte in einem Buchladen in unserem Dorf.
Der Buchladen war okay. Klein und gemütlich mit einem netten, kauzigen Besitzer, der übertrieben viel Lohn zahlte. Letzteres war ziemlich gut – für mich jedenfalls.
An Tagen wie heute, an denen es ununterbrochen regnete und niemand das Haus verließ, saß ich hinter dem Verkaufstresen und las hier und da ein wenig.
Heute hatte ich mir irgendeinen Misteryroman geangelt, der zwischen Mansfield Park und dem Herr der Ringe – die zwei Türme gestanden hatte.
Plötzlich stellte jemand einen Stapel Bücher lauter als nötig auf den Tresen. Ich sah auf und blickte in das Gesicht eines mittelalten Mannes. Ich runzelte die Stirn. Irgendetwas an ihm erinnerte mich an jemanden.
Er suchte in seinem Portemonnaie nach etwas und ich konnte seine Augen nicht sehen. Aber der Mund uns die Nase … er kam mir so bekannt vor.
Nachdenklich zwirbelte ich eine Strähne meines dunkelbraunen Haars.
Ich wandte mich den Büchern zu, die er kaufen wollte und verzog das Gesicht.
„Stehen sie auf schlechte Literatur?“, fragte ich direkt wie immer.
„Bitte?“, fragte er. Das war kein anklagendes „Bitte“ gewesen. Er hatte einfach nicht zugehört. Das ist ja mal wieder typisch.
„Gar nichts.“
Ich scannte die weiteren Bücher ein, die auch nicht viel besser waren, und holte das Wechselgeld aus der uralten Kasse.
Als ich ihm die Tüte mit seinen Büchern reichte, sah er mich an. Er hatte tiefblaue Augen. So wie ich. Eine schmerzhafte Erinnerung an Milch und Kekse durchzuckte mich.
„Ist noch etwas?“, fragte er und hob fragend eine Augenbraue.
Mein Körper wollte unbedingt weg hier. Weg von diesem Mann, hinaus in den Regen.
Aber mein Mund sagte etwas anderes. Etwas, dass mich schaudern und zittern ließ.
„Ich bin ihre Tochter.“
Erst verzog er den Mund als wollte er über einen schlechten Witz lachen, aber dann erstarrte sein Gesicht. Einige Sekunden lang starrten wir uns an.
„Lena?“, fragte er schließlich mit schwacher Stimme.
Ich verzog keine Miene.
„Lange her, was?“, bemerkte ich eisig.
Er lächelte – fast schon entschuldigend.
„Du bist – ich meine – hier und – du bist – wir – das ist-“, stammelte er. Ich knetete meine Finger hinter dem Rücken.
„Komm, lass uns einen Kaffee trinken gehen. Du trinkst doch Kaffee, oder? Ich meine, du bist so groß geworden! Da ist ein nettes Café um die Ecke wo wir hingehen könnte.“, fing er an. Er redete weiter über das Café, wie schöne es dort war. Kein einziges Wort über die Vergangenheit.
„Lass das!“, hörte ich mich plötzlich aufgebracht sagen.
Er hielt inne und sah mich fragend an.
„Du hast Mom im Stich gelassen als sie dich so dringend brauchte!“, schmetterte ich ihm entgegen. Ich spürte eine Träne, die sich aus meinem Auge gestohlen hatte.
„Lena! Ich-“ Er rang die Hände.
„Lass dich hier nie wieder blicken.“ Ich sah ihn kein weiteres mal an, rannte nur hinaus aus dem Laden, hinein in den Regen, der mich sofort durchnässte.
Ich rannte hinunter zum Strand und warf mich in den Sand. Meine Kleidung klebte an mir.
Und dann lachte ich schallend. Mit leichtem Herzen drehte ich mich auf den Rücken und sah in den Himmel.
Wenigstens hatte ich niemanden verscheucht, der einen allzu guten Buchgeschmack hatte.
Tag der Veröffentlichung: 14.01.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für Han und Swu, weil sie immer für mich da sind.