Noch nie hat Scarlett den sonst so coolen Al so aufgebracht gesehen. Und sie kennt ihn lange. Sehr lange. Außerdem scheint seine jetzige Situation für jeden anderen Agenten weniger geeignet dafür, mit wilden Handbewegungen und einem neuen Loch in seinem heiß geliebten Morgenmantel im Büro auf und ab zu gehen. Ist er in Gefangenschaft durchgedreht? Nein. Ist er dank der Null-Liste durchgedreht? Nein. Ist er durchgedreht, als seine Lieblingspizzeria aufgrund gesundheitlicher Bedenken geschlossen werden musste? Eigentlich schon, aber das ist auch verständlich. Was ist diesmal der Grund? Die Null-Liste ist an einem sicheren Ort und Tibor hinter Gittern. Und genau hier liegt der Hund begraben…
»Was hat sich der Junge dabei gedacht? Okay er hatte eine schwierige Kindheit, aber musste er so durchdrehen? Was hat er denn in den letzten Jahren eingeworfen? « Es ist das neunte Mal, dass Al um seinen Schreibtisch herum geht, kurz am Fenster stehen bleibt und hinausschaut, nur um sich dann für einige Sekunden seinem Zauberwürfel zu widmen. »Ich weiß es nicht, Großer. Aber es sieht ja nicht danach aus als ob er es uns erzählen möchte.« Bestimmt nimmt Scarlett Al den Würfel aus der Hand, bevor er wieder an die farblichen Reihen verzweifelt und frustriert das Ding noch einmal auf den Tisch knallt.
»Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe war er noch ein fast normaler Teenager und kein super-intelligenter Superagent der uns alle umbringen möchte. Und dann auch noch Julius, Mann! Ich weiß nicht was man rauchen muss um Tibors Handeln zu verstehen, und ich bezweifle dass ich es ausprobieren will!« Scarlett versteht seine Aufregung vollkommen, obwohl sie –was ungewöhnlich ist- äußerlich weit gelassener ist als Al.»Ich glaube das kann man nicht einfach verstehen, aber ich bezweifle dass er verrückt oder böse ist.«
Darüber hat Al auch des Öfteren gedacht, scheint aber noch nicht überzeugt zu sein. »Bist du dir sicher? Ich meine Genie und Wahnsinn sind Brüder und in diesem Falle könnte man es wörtlich nehmen! Vielleicht ist Tibor in den letzten Jahren wirklich wahnsinnig geworden und wir wissen nur nicht warum.«
»Wir wissen nicht warum? Er hat mit siebzehn eines der schlimmsten Dinge erlebt die einem jungen Agenten passieren kann und als Dank wurde er fertig gemacht, einschließlich von seinen Eltern und dir, Al.« Der Vorwurf in Scarletts Stimme ist deutlich zu hören, obwohl sie sich bemüht so sachlich wie möglich zu bleiben. Al kann auch keine weiteren Vorwürfe gebrauchen. »Jaja ich weiß und ich habe immer noch Schuldgefühle. Aber deswegen auf seinen eigenen Bruder losgehen? Julius wusste ja noch nicht mal was von Tibor, Mann!«
Nachdenklich startet Scarlett den Computer. Wie immer regt sie sich über den fast schon altertümlichen Monitor auf, an den Al so hängt, aber jetzt sind andere Dinge wichtiger. Al hat Recht, sein gesamtes Verhalten passt nicht zu Tibor, auch wenn er seine gesamte Familie offensichtlich hasst. Irgendwelche Informationen muss man doch über ihn finden, doch Al unterbricht mal wieder ihre Gedanken.
»Moment mal: Im Grunde genommen hat Tibor nicht einmal versucht, Julius umzubringen, oder? Er hätte mehrfach die Möglichkeit gehabt, Delilah und Julius zu töten doch er hat es nicht getan.«
»Soweit war ich auch schon. Aber wieso wollte er unbedingt in die Vergangenheit zurück? Ich kann mir nicht vorstellen, dass er einfach Julius als Kind töten wollte, so wahnsinnig ist er auch schon wieder nicht. Außerdem ist er clever, er dürfte wissen, dass man nichts in der Vergangenheit töten kann was in der Gegenwart offensichtlich noch lebt.«
»Woher soll er das wissen? Wir wissen selber doch gerade mal was mit der Nullliste eigentlich alles möglich ist und was nicht.« Scarlett gibt ein kleines Schnaufen von sich. »Wie soll das denn aussehen? Ein riesiges Loch was den jetzigen Julius verschlingt? Wir sind hier nicht bei den Men in black, auch wenn wir so aussehen. Es wäre auch viel zu gefährlich gewesen. Außerdem hätte er Delilah und Julius in der Gegenwart spätestens dann töten müssen, als er wusste, dass sie ihn nicht mehr helfen sondern gefährlich werden würden. Bei so was geht er nicht gerne auf Risiko.«
Irgendwas sagt Al, dass Scarlett damit nicht ganz Unrecht hat. Es ist ein Akt der Rache, aber an wen? Vielleicht hätte er Delilah und Julius getötet, wenn sie ihn zu gefährlich geworden wären? Nein, Julius ist nicht irgendein Agent sondern sein kleiner Bruder, und auch wenn Tibor ihn damit manipulieren wollte: Die Tatsache, dass er ihn auch Bruder nennt zeigt schon, dass er ihn immer als solchen betrachtet, wenn auch auf einer verhassten Art und Weise. Und Geschwister sind sich nie gleichgültig.
Julius auf seine Seite ziehen? Vielleicht, aber er weiß dass sein kleiner Bruder niemals Delilah oder die Akademie verlassen würde. Außerdem würde es keinen Sinn ergeben, wenn er ihn erst auf seine Seite ziehen und dann töten würde. Wenn Tibor nur mal reden würde! Aber nein, stattdessen sitzt er Tag ein Tag aus mit der gleichen undurchschaubaren Miene in seiner Zelle und spricht kein Wort, außer dieses schroffe »Danke« wenn der arme Wärter ihn sein Essen liefert.
Irgendwann konnte Al diesen Anblick nicht mehr ertragen und gab Tibor in den Hoffen, er würde sich nicht als eine super MacGyver-Imitation herausstellen und daraus eine Bombe basteln, Stift und Papier. Und tatsächlich: Er bewegte sich! Damit hat Al zwar die Wette gegen einen Agenten gewonnen, dass selbst Tibor nicht mit offenen Augen schlafen kann und immer noch lebt, aber dieser kleine Erfolg war leider nicht von Dauer: Nur einen kurzen Satz hat dieser Kerl aufgeschrieben, und trotz stundenlanger Grübelei versteht keiner den Sinn.
The cake is a lie- der Kuchen ist eine Lüge. Was zum Teufel meint er damit? Hat er Hunger?
Will er ihnen wirklich etwas mitteilen oder hat er zu viel Portal gespielt? Oder zu viel gekifft?
Oder vielleicht von allen ein bisschen?
Oder erlaubt er sich einfach nur einen Scherz? Sehr komische Art von Humor, vor allem
wenn man in einer fünf mal vier Meter großen Zelle sitzt und sich scheinbar selbst
verboten hat, irgendwelche Regungen zu zeigen.
Einige Agenten sind immer noch der Meinung, dass ein ordentlicher Klaps auf den Hinterkopf á la Batman-meets-Joker-in-der-GefängniszelleWunder bewirkt, aber dieser Vogel singt nicht, darauf würde Al seinen Morgenmantel verwetten. Sogar Robinson ist der gleichen Meinung, und Robinson und Al sind sich nicht mal dann einig, wenn man sie fragt was eins plus eins ergibt. Robinson dieser clevere Idiot hat es irgendwie geschafft, die Zentrale davon zu überzeugen, dass er Tibor nur geholfen hat, um ihn zu durchschauen und aufhalten zu können. Ja klar, als ob! Leider scheinen die Leute von der Zentrale sehr zum Leidwesen von Al etwas Falsches eingeworfen zu haben und haben Robinson bereits nach einen Monat wieder seinen alten Job gegeben. Fehlt nur noch die Verdienstmarke. Ach ja stimmt ja, die offizielle Vergabe ist ja in einer Woche, weil Robinson ja ach so tapfer war.
Wie auch immer, jetzt ist nicht die Zeit dafür, um sich über Robinson aufzuregen. Nein, diesmal ist dieser andere clevere Vollidiot Thema Nummer eins. Mal wieder. Wieso hat Al nur dieses seltsame Gefühl, dass das Ganze noch nicht vorbei ist? Ach ja richtig, die Mischung aus Terminator und Pumuckl hat während einer seiner seltenen Plauderminuten so was angedeutet. Hat er doch noch ein Ass im Ärmel, obwohl die Nullliste zerstört wurde? Aber falls Al seine Menschenkenntnis nicht vollständig während der sechsmonatigen Gefangenschaft im Hochsicherheitstrack des geheimen Gefängnisses in Tibet verloren hat sah Chevalier ziemlich besorgt aus. Wieso macht sich Tibor Sorgen und worüber?
Und schon wieder hat Al große Lust Julius großem Bruder etwas unters Essen mischen zu lassen damit er mal redet. Und Robinson weiß oder vielmehr sagt auch nichts.
Dabei ist sowohl ihr als auch Big Al klar, wie man mit Tibor umgehen muss, auch wenn ihnen dieser Weg nicht gefällt. Endlich traut sich Scarlett, das Kind beim Namen zu nennen. »Al, wir wissen beide, wer Tibor zum Sprechen bringen kann. Auch wenn es riskant ist: Julius muss mit seinem Bruder sprechen, oder Tibor ist unser geringstes Problem.«
Kurzer Urlaub
Mit kräftigen Schlägen steuert Julius die nächste Welle an. Obwohl er schon seit Kindesbeinen an surft, ist dieses Gefühl, wenn er auf das Brett springt immer wieder einmalig. Dennoch- So perfekt wie heute war es noch nie. Seit zwei Wochen genießen er und Delilah ihren ersten richtigen Urlaub nach der Geschichte mit der Nullliste, seit drei Monaten sind sie offiziell ein Paar. Auch wenn es ihr letzter freier Tag ist: Es ist einfach nur perfekt. Gut, Delilah versucht zwar seit gut zwei Tagen, ihn zum Packen zu bewegen, aber diese Welle dürfte ihn doch wohl vergönnt sein oder? Aber dieser bitter böse Blick von ihr, wie sie dort am Strand steht. Typisch Delilah, immer alles in voraus planen. Ihr Flug geht doch erst in einer halben Stunde…
»Ich fasse es einfach nicht, wie du innerhalb von fünf Minuten dich umziehen und packen kannst. Ich brauchte fast vier Tage und hab immer noch das Gefühl, dass ich irgendwas vergessen habe.«
Etwas verärgert schaut Delilah aus dem Fenster des Flugzeuges. Natürlich hat sie was vergessen, ihre Flip Flops liegen bestimmt immer noch vor der Sauna. »Tja, ich für meinen Teil habe nichts vergessen. Ich arbeite unter Zeitdruck eben am besten.« Glücklich über seinen kleinen Sieg entspannt sich Julius in seinen Sitz. Delilah klappt währenddessen den Laptop auf. »Ja ich weiß. Kannst du mir vielleicht die Maus geben?«
Zu früh gefreut.
»Die hat die Hotelkatze gefressen? «
»Katzen fressen normalerweise keine W -Lan Mäuse, das weißt du doch Schatz. Weißt du vielleicht wo sie liegen könnte?«
Game over. Sobald Delilah ihn Schatz nennt weiß sie ganz genau, dass er irgendwas vermasselt hat. Das war schon so, als sie eins, zwei okay schon gut sieben Mal über seine Pizzaschachteln im Zimmer stolperte, und es wird auch immer so bleiben. Ihre Stimme kann noch so honigsüß klingen-jetzt gibt es Saures. »Ok es könnte sein dass ich sie unter Umständen ganz vielleicht auf dem Bett vergessen habe.«
»Und was hat eine Maus dort zu suchen?«
»Was weiß ich vielleicht haben wir aus Versehen Cyber-Käse liegen lassen.« »Julius…« »Ok ich hab sie vergessen, aber immerhin habe ich sie auch bezahlt. Ich bin zwanzig, und du bemutterst mich immer noch!«
Oh nein, falsche Antwort.
»Warum wohl? Du musst mal endlich…«
Zu Julius Glück verkündet die süße Stewardess mit den leichten Überbiss just im diesen Moment, dass sie zur Landung ansetzen und sich sämtliche Passagiere anschnallen sollen. Perfektes Timing mal wieder. Langsam kann er sich mit den öffentlichen Flugmitteln anfreunden.
Wie Julius bereits erwartet hatte ist mit dem Flug auch der Streit beendet, aber mit dem, was ihn in der Akademie erwartet, haben weder er noch seine Partnerin gerechnet. Zwar war es ihnen bewusst, dass Al sie vermutlich gleich nach ihrem kurzen Urlaub direkt auf die nächste Mission schickt, dass der Agent sie mit dem neuen Auftrag regelrecht überfällt kommt für seine Schützlinge jedoch überraschend. Und obwohl der Auftrag ziemlich ungefährlich zu sein scheint, ist er für einen von beiden die reinste Hölle. Die Anweisungen sind simpel: »Delilah, Julius! Zum Glück seid ihr wieder da! Sämtliche Toiletten sind verstopft und Nosey ist mit Zoe auf einer Mission, könntet ihr kurz Klempner spielen? Oh und anschließend müsst ihr mir ein paar Informationen über Tibor raussuchen. Er war nicht nur einfach so hinter der Null-Liste her. Das soll heißen, dass du mit deinen Bruder sprechen sollst, Julius.«
Niemals!
Das kann Al nicht von ihm verlangen! Das mit den Toiletten war ein Scherz, aber mit Tibor sprechen? Hat Julius nicht von Anfang an deutlich gemacht, dass er mit seinem Bruder absolut nichts zu tun haben möchte? Er sitzt hinter Gittern, und das ist auch gut so!
Er manipuliert, er lügt, er bedroht Menschen… »Und trotzdem ist er dein Bruder.«
Hat er etwa laut gedacht?
Beschämt sieht er Scarlett ins Gesicht, die ihn scheinbar schon die ganze Zeit beobachtet.
»Na und? Schon mal daran gedacht dass er mich umbringen wollte?!«
Warum sieht sie so traurig aus? Oder besorgt? Ist sie enttäuscht, weil er einen Auftrag ablehnt?
Das können sie doch nicht von ihm erwarten!
Auch Delilah ist seiner Meinung, aber warum steht sie jetzt neben Scarlett?
»Kleiner, vor was hast du Angst? Er weiß mehr als er zugeben möchte, um genau zu sein sagt er uns rein gar nichts.«
»Und ihr glaubt tatsächlich, dass ich irgendwas aus ihm raus kriege? Außerdem: Was gibt es noch, was wir wissen sollten? Die Null-Liste ist zerstört und er sitzt im Gefängnis, der Rest ist unwichtig.«
Delilah kann nicht fassen, was ihr Partner gerade gesagt hat. »Unwichtig? Willst du nicht wissen, warum er dich angeblich töten wollte? Und wenn einer was über ihn erfahren kann dann bist du das, Julius.«
Ist Delilah jetzt etwa auch schon verrückt geworden? Was verlangen sie eigentlich noch von ihm? Und Scarlett lächelt auch noch zufrieden. Zum Glück geht sie, sonst wäre Julius noch mal ausgerastet. »Was soll das? Wieso wollt ihr alle, dass ich mit Tibor spreche?« Delilah seufzt, dann setzt sie sich neben ihren Partner auf das riesige Bett, deren Matratze unter ihrem Gewicht nur ein wenig nachgibt.
»Hast du dir ihn einmal angesehen, seitdem er eingesperrt ist?«
Eiskalt erwischt. »Nicht wirklich, warum auch?« »Er spricht mit niemanden ein Wort und er scheint sich wegen irgendetwas Sorgen zu machen. Ich habe es gesehen, Julius. Und wenn sich Tibor Sorgen macht gibt es Probleme. Und er ist dein Bruder. Jemand, der mit dir verwandt ist kann doch gar nicht abgrundtief böse sein.«
Was sagt Delilah da? »Warst du etwa bei ihm?« »Ja, Al fährt täglich rüber und ich sollte mitkommen. Wir haben nicht mit Tibor gesprochen und vermutlich weiß er nicht mal, dass wir da waren.« Na toll, wie schafft sie es immer wieder, ihn schuldig fühlen zu lassen? Delilah hat sich Tibor angesehen und Julius kam noch nicht mal auf die Idee an seinen eigenen Bruder auch nur zu denken? Verdammt! »Und du meinst doch nicht ernsthaft, dass an ihn noch irgendetwas positiv ist, oder? Vielleicht war er mal ein netter Kerl, aber er ist es jetzt definitiv nicht mehr!« »Ich bin die Letzte, die ihn etwas Positives zutraut. Wenigstens bedankt er sich beim Wärter wenn er Essen bekommt.« Wie absurd es auch klingt, aber bei der Vorstellung muss Julius lachen. Tibor sagt bitte und danke, das gibt es doch gar nicht! »Ok, ein Fortschritt. Trotzdem glaube ich kaum, dass ich einfach in seiner Zelle auftauchen sollte. Und wir kennen keinen der Tibor kennen könnte.«
Doch, sie kennen jemanden. Zumindest Delilah kennt jemanden, und der wurde letztens wieder aus der Obhut des Nachrichtendienstes entlassen. Typisch, jeder der gegen den Feind kämpft ist ein Freund. »Ich weiß die Vorstellung gefällt dir auch nicht aber was ist mit Maximilian? Er scheint Tibor besser zu kennen und ich weiß wo wir ihn finden können.«
Delilah hatte Recht: Die Vorstellung, Maximilian zu treffen gefällt Julius gar nicht, aber es ist immer noch besser als sich direkt seinen Bruder zu stellen. Zu Julius Leidwesen beginnen sie keine Stunde später mit der Suche nach Max, wenn man es überhaupt eine Suche nennen kann: Delilahs Informationen über Maximilians Aufenthaltsort bewiesen sich als richtig, doch richtig überraschend ist eher die Begrüßung, die sie erwartet.
»Na ihr habt euch ja Zeit gelassen. Ich hab schon vor Monaten mit euch gerechnet.«
Perplex sieht Julius seine Partnerin an. Beide haben mit einem Fluchtversuch oder einen Kampf mit den Ex-Agenten gerechnet, aber nie damit, dass er sie sofort in seine Wohnung lässt. Ist er etwa auch bereit, ihnen Fragen zu beantworten? Oder ist es wieder eine Falle? »Ich hoffe, ihr habt keine Betäubungspfeile dabei, ich lag eine Woche wegen einer Überdosis im Krankenhaus.«
»Wir wollen Ihnen nur ein paar Fragen stellen, Max.«
»Ich nehme mal stark an, es geht um deinen Bruder.« »Und werden Sie uns helfen oder nicht?«
Misstrauisch sieht Delilah den ehemaligen Agenten direkt in die Augen. Können sie ihm überhaupt vertrauen? »Ich werde euch alles sagen, was ich sagen kann und darf. Es wird eine Weile dauern, also setzt euch.«
Max verschwindet kurz in das Nebenzimmer, dem Lärm nach zu urteilen scheint das die Küche zu sein. Vorsichtig sehen sich Delilah und Julius in der Wohnung um: Ein Computer steht direkt neben der Tür zur Küche, ein schwarzes Sofa und ein Sessel stehen mitten im Raum, neben dem Fernseher ist ein Regal mit einer ansehnlichen Sammlung von Büchern und Videospielen. In einer Ecke steht noch ein großes Aquarium mit mehreren Fischen, aber ansonsten sind bis auf ein paar wenige Bilder kaum persönliche Gegenstände zu sehen.
Keine Dekoration, keine Pflanzen. Die Wohnung ist schlicht, aber überraschend groß.
Einige Minuten später kehrt Max mit drei Tassen heißen Kaffee in das Wohnzimmer zurück. Sein Anblick und seine scheinbare Gastfreundschaft sind gewöhnungsbedürftig: Anders als bei ihrem ersten Treffen trägt er diesmal keinen Anzug, sondern einen einfachen schwarzen Pulli und Jeans. Aber gut, welcher ehemalige Agent rennt in seiner Arbeitskleidung rum, wenn er schon längst gefeuert wurde? »Um eines gleich klar zu stellen: Ich wollte keinen verletzen und war nie an der Null-Liste interessiert, ich wollte nur Tibor. Es tut mir leid, dass ich deswegen dein Vertrauen missbrauchen musste, Delilah.« »Das ist heute egal. Woher kennen Sie meinen Bruder und was wissen Sie über ihn?« »Hat Tibor euch nichts erzählt?«
»Wieso sollte er? Er war viel zu sehr damit beschäftigt, uns umzubringen.«
Max Augen weiten sich vor Schreck. »Dich umbringen Julius? Niemals!«
»Natürlich wollte er das! Er ist schön mit der Null-Liste in die Vergangenheit gereist und wollte erst Delilah töten.«
Maximilian entspannt sich ein wenig, obwohl keiner der anderen weiß, warum.
»Mit der Null-Liste kann man niemanden töten und Tibor wusste das. Außerdem würde er niemals seinen kleinen Bruder töten, dafür kenne ich ihn zu gut.«
»Sie wussten, dass die Null-Liste funktioniert und haben nichts gesagt? Und woher wissen Sie, dass man die Vergangenheit nicht verändern kann?«
Max versucht so gut es geht sich seine Ungeduld nicht anmerken zu lassen. Die unnützen Fragen lenken seiner Meinung nach viel zu sehr vom eigentlichen Thema ab, trotzdem bleibt er höfflich. »Die Geschichte mit der Null-Liste war im Projekt ein offenes Geheimnis, Delilah. Glaubst du wirklich, Tibor würde seine gesamte Existenz für eine Sache riskieren, bei der er nicht ganz genau weiß, dass sie funktioniert?«
»Aber er hat es nicht geschafft, irgendwas in der Vergangenheit zu verändern, also war die ganze Aktion doch umsonst.«
Maximilian trinkt erst einen Schluck aus seiner Tasse, bevor er antwortet.
»Umsonst war die ganze Aktion sicher nicht, aber sie sollte sicher nicht dazu dienen, euch los zu werden.« »Was macht Sie darin so sicher? Tibor hat es selbst zu mir gesagt!« Delilah hält Julius fest, sonst würde er wohl vor Wut auf Max losgehen. Dieser mustert den jüngeren Agenten kurz, dann sagt er: »Ich kenne deinen Bruder, er ist auf Rache fixiert aber seinen kleinen Bruder könnte er niemals töten.« »Dann kennen Sie ihn eben nicht gut genug!«
Maximilian scheint es wenig zu beeindrucken, dass Julius in seiner Wut den Henkel seiner Tasse abgebrochen hat. »Was glaubst du, woher ich ihn kenne? Ist euch eigentlich bewusst, dass Tibor und ich seit Kindesbeinen an im Projekt ausgebildet wurden? Wir waren bis vor einigen Jahren noch Freunde! Ich kann bis heute nicht glauben, dass er übergelaufen ist.«
Irgendetwas in Maximilians Worten scheint etwas in Julius zu bewirken, denn sein anfänglicher Wut und Zorn weicht Ungläubigkeit und Überraschung. »Sie waren Freunde? Warum haben Sie dann versucht, ihn auszuschalten?«
Max zögert mit der Antwort, er weiß nicht, wie viel er verraten darf. »Vor acht Jahren ist bei seinem ersten Auftrag ein Unfall passiert, an den er sich heute noch die Schuld gibt. Normalerweise wird jeder Fehler vom Projekt direkt bestraft, aber Tibor war einer der besten Agenten. Einige der Leiter schienen ihn praktisch dafür zu belohnen. Einige Jahre später war er plötzlich wie vom Erdboden verschluckt und tauchte einige Monate später völlig ausgetauscht wieder auf. Ich befürchte, er hat sich einigen Ausbildern angeschlossen.«
»Was meinen Sie mit: er hat sich einigen Ausbildern angeschlossen? Uns wurde gesagt, das Projekt wurde abgebrochen nachdem einige der Agenten auf die schiefe Bahn gerieten.«
Wieder diese unnützen Fragen, auf die Max nicht antworten dürfte, würde er sich auch nur an die Grundinhalte seiner Ausbildung halten. Aber welche Wahl bleibt ihm?
»Es sind auch einige Agenten auf die schiefe Bahn geraten, aber nur, weil ihre Ausbilder sie dazu verleitet haben. Einige Ausbilder gehörten zu denjenigen, die an der Null-Liste ein besonders großes Interesse haben. Sie manipulierten ihre Schüler, und einige wechselten deswegen die Seite. Bei einigen Ausbildern wurde es unter anderem aufgrund der Arbeit eurer Eltern bekannt, dass sie böse sind, aber die meisten konnten fliehen oder wurden getötet, bevor sie ihre Komplizen verraten konnten.« Delilah ignoriert, dass Max anscheinend auch mehr über ihre Eltern weiß. Etwas ganz anderes stört sie an seiner Erklärung. »Welches Interesse hatten die Ausbilder an der Null-Liste? Ich meine wenn es bekannt war dass die Nutzung stark eingeschränkt ist, wieso wollten sie dann noch die Liste?«
Auf diese Frage weiß Maximilian keine genaue Antwort, oder er möchte nicht sagen, was er weiß. »Ich weiß es auch nicht genau, da müsst ihr schon Tibor fragen. Wo ist er überhaupt? Habt ihr nach der Zerstörung der Null-Liste noch Kontakt?« »Kontakt kann man das nicht gerade nennen. Er sitzt seit drei Monaten im Gefängnis und sagt kein Wort. Wir haben noch nicht versucht, mit ihn zu sprechen, aber er scheint sich wegen irgendwas Sorgen zu machen. Er hat nur the cake is a lie auf einem Blatt Papier geschrieben.«
Der Satz erinnert Max an etwas, und nach kurzem Überlegen geht er zu dem Regal mit der Spielesammlung und zieht eines der zahllosen Spiele heraus. »Wenn sich Tibor wegen irgendwas Sorgen macht ist es definitiv nicht gut. Kennt ihr das Spiel Portal? Dort wird euch der Spruch the cake is a lie oft begegnen: Die versprochene Belohnung ist fiktiv und reine Motivation. Da Spiel erschien im Oktober 2007, also vor circa einem Jahr. Und was glaubt ihr: Wird sich Tibor neben seinen Bemühungen um die Null-Liste so viel mit Computerspielen beschäftigt haben, dass er eben einen Spruch aus Portal zitiert? Ich glaube eher nicht, auch wenn das Spiel sehr gut ist. Das ist eine Botschaft an euch.«
Jetzt weiß auch Julius, woher ihm dieser Spruch so bekannt vorkommt, obwohl er das Spiel nie gespielt hat. »Welche Belohnung ist gemeint und wozu musste er motiviert werden und von wen?« Maximilian seufzt, die endlosen Fragen gehen dem ehemaligen Agenten gehörig auf die Nerven. »Wenn ich das wüsste müssten wir hier nicht Rätselraten spielen. Aber wenn er sich solche Mühe gibt, die Botschaft zu verschlüsseln und mit keinen redet dann hat er vor irgendwas Angst. An eurer Stelle würde ich ganz schnell mit ihn sprechen.«
»Vor wen sollte er noch Angst haben? Er sitzt im Gefängnis, schlimmer kann es für ihn nicht kommen.«
Max Blick wirkt düster und erinnert stark an damals, als er und Tibor sich durch den ganzen Vergnügungspark gejagt haben. »Und ob es für ihn schlimmer kommen kann. Er ist ein ehemaliger Agent und sollte für irgendjemanden die Null-Liste besorgen. Vermutlich möchte er euch etwas über seine
Auftragsgeber verraten, aber offen sprechen kann er nicht. Vermutlich wäre er sofort tot, wenn er
jetzt den Falschen vertraut. Der einzige Mensch, den er vermutlich vertrauen kann bist du, Julius.«
Die Agenten sind vieles gewöhnt, aber selbst Julius ist diese Theorie zu absurd um wahr zu sein.
»Man kann ihn nicht so einfach töten, er wird rund um die Uhr bewacht. Und wieso hat er Al nichts erzählt?«
»Wenn seine Auftragsgeber wirklich zum Projekt gehören ist er so gut wie tot. Jeder Ausbilder vom Projekt hat seine Kontakte, und keiner weiß wer zu wem gehört. Al scheint vertrauenswürdig zu sein,
aber Al und Tibor gingen sie nach ihrem ersten Treffen nicht in Freundschaft auseinander.«
»Kein Wunder oder? Er hat Al den halben Kopf kahl rasiert und ihn entführt, Freunde werden die beiden wohl nie mehr.« Max massiert sich die Stirn, als ob ihn die Unwissenheit der jungen Agenten ihm Kopfschmerzen bereiten würde. »Ich rede hier nicht von seiner Aktion vor drei Monaten. Al kennt Tibor schon seitdem er ein kleines Kind war, oder glaubt ihr, dass seine Lieblingsagenten ihn ihr erstes Kind verheimlichen konnten?«
Daran hat weder Julius noch Delilah gedacht. Selbst wenn seine Eltern Tibor direkt nach der Geburt abgeben hätten: Eine Schwangerschaft ist selbst für eine Agentin schwer zu verheimlichen. Aber wieso hat Al nie etwas gesagt? Er war ja anscheinend sogar überrascht, als er von Tibor hörte, oder
etwa nicht? Max durchschaut ihre Gedankengänge sofort. »Vermutlich hat Al dir nichts gesagt, um dich zu schützen.«
»Also wollte Tibor sich doch an mir rächen.«
Hören sie ihm eigentlich zu? »Nein, hätte er dich töten wollen wärst du schon längst tot. Jemanden zu töten ist einfach: Eine Kugel, Gift, oder ein Messer reicht schon. Und er hatte genügend Gelegenheiten dafür, oder? Außerdem: Als ich Kontakt mit Delilah aufgenommen habe bin ich davon ausgegangen, dass Tibor dir bereits alles erzählt hat und dich damit auf seine Seite ziehen wollte.« Das hätte man aber auch eher vermuten können. Ich war auf der Suche nach Tibor und ich wusste, dass er sich in deiner Nähe aufhalten wird. Das waren damals im Freizeitpark Max Worte. Und als es offensichtlich wurde, dass Julius nichts von einem älteren Bruder wusste: Sieh an. Kommt er dir nicht ein wenig bekannt vor? Ähnelt er dir nicht ein bisschen? »Tibor ging davon aus, dass Sie ihn töten wollten und ist deswegen quer durch den Park geflüchtet. Er wusste nicht, dass Sie nie an der Null-Liste interessiert waren, oder?«
»Natürlich wusste er das nicht. So ziemlich jeder war hinter der Null-Liste her und einige sind es heute noch. In übrigen: Hätte er mich ablenken wollen, hätte er mir erzählt wer die Null-Liste zerstört hat. Jemand, der wirklich besessen ist von der Fantasie, durch die Zeit zu reisen, hätte den Verursacher umgehend aus Rache ins Jenseits befördert, was wie wir alle wissen, kein Problem darstellt.«
»Aber er hat es nicht getan.« Delilah überlegt. Das kann nicht sein, oder? War es vielleicht wieder einer von Tibors Tricks? Aber auch wenn es unmöglich erscheint: Aus dieser Sicht lässt zumindest dieser Teil der Geschichte nur einen Schluss zu: »Er wollte Julius vor Ihnen schützen, richtig?« Maximilian nickt, als ob er diesen Verdacht noch irgendwie bestätigen müsste.
»Richtig. Wie gesagt: Es kann sein, dass er euch loswerden musste, aber ich rede hier von einfachen Ablenkungsmanövern und nicht vom Töten. Und selbst wenn er nicht wusste, dass er niemanden in der Vergangenheit töten kann: So krank, dass er ein wehrloses Kind umbringen würde ist selbst er nicht.«
»Wollte er aber, und zwar mich. Oder wie würden Sie den Spruch: Was hältst du davon, gleich nicht mehr da zu sein, Delilah? deuten?« Obwohl sie schon weit aus Schlimmeres in ihrem Leben erlebt hat, stellt sich an die Erinnerung an diese Situation Delilahs Nackenhaare auf. Heute ist sie zwar nicht mehr hilflos, aber ihr damaliges, fünfjähriges Ich war es.
»Ich weiß nicht, was das sollte. Ihr müsst ihn selbst fragen. Er will oder wollte Rache, aber nicht an euch. Seine Kindheit war mit acht vorbei, eure Eltern haben ihn verstoßen, unsere Ausbilder wollten ihn in den meisten Fällen entweder manipulieren oder töten und Al hat ihn fertig gemacht, es gibt also genug vor euch, an denen er sich rächen könnte.«
»Moment mal: Al hat ihn fertig gemacht?«
»Ja, er gab Tibor die Schuld an den Unfall damals. Was das genau für ein Unfall war erzähl ich euch nicht. Nur eins verrate ich euch: Der Unfall war so schlimm, dass er Tibor völlig verändert hat und es damit vermutlich überhaupt möglich gemacht hat, dass er die Seiten wechselt. Ein Agent wie Tibor läuft nicht einfach über. Irgendwas ist in den letzten Monaten passiert, und ich bin mir ziemlich sicher, dass es uns alle in größere Gefahr bringt als alles andere jemals zu vor.«
Einfach nur laufen.
Genau dies will sie immer nur, dieses Gefühl der absoluten Freiheit genießen. Und keine Aufpasser, die jeden ihrer Schritte genau beobachten und dokumentieren müssen. Zum Glück ist bis jetzt keiner ihrer Aufpasser helle genug, ihre nächtlichen Streifzüge zu durchschauen. Ein kleiner Sprung aus dem Fenster genügt, und sie ist sie fürs erste los.
Lange ist sie nie weg, höchstens eine Stunde, aber wenn man den ganzen Tag nur kontrolliert wird ist es ein echter Segen für ein vierzehnjähriges Mädchen. Und kontrolliert wird sie schon ein ganzes Leben lang: Seit sie ein kleines Kind ist steckt sie im Zeugenschutzprogramm fest, ihr Zuhause und ihre „Babysitter“ wechselt sie genauso oft wie ihre Unterwäsche und ihre Familie kennt sie nicht. Dabei weiß sie nicht mal, warum sie so wichtig ist: Sie kann sich an nichts erinnern, und nicht mal Al will ihr irgendwas erzählen. Al ist der einzige Mensch, der sie die ganze Zeit über begleitet. Er ist der Leiter von irgendeinem Internat oder so was ähnlichem, und er hat ihr versprochen, sie irgendwann ebenfalls zu unterrichten.
Wenn sie alt genug ist. Wie sehr hasst sie diesen Spruch? Aber irgendwann wird es aufhören, dieses ständige hin und her, ganz sicher.
Das Mädchen spürt, wie die kalte Nachtluft seine Lungen füllt, während es vorsichtig um das Grundstück des Nachbarn schleicht. Sie kann bei ihren nächtlichen Rundgänge keine Zeugen gebrauchen, die Tratschtanten neben an würden sie bestimmt verpfeifen.
Noch ein kurzer Blick um die Ecke zur Absicherung.
Dann rennt sie los. Einfach die Straße entlang, einfach diese Dunkelheit genießen. Früher als Kind hat sie sich oft vor der Dunkelheit gefürchtet, jetzt liebt sie diesen kleinen Adrenalinstoß und das Gefühl absoluter Unabhängigkeit, auch wenn es nur für einen flüchtigen Moment ist.
Sie versteckt sich schnell hinter der nächsten Hecke, als ihr ein Auto entgegen kommt. Sie kennt den Wagen zwar nicht, aber wie gesagt: Zeugen kann sie nicht gebrauchen.
Und weiter geht’s.
Um die nächste Ecke, durch die schmale dunkle Gasse, die zum Spielplatz führt… Einfach nur herrlich. Nicht mal der leichte Nieselregen kann dieses Gefühl dämpfen.
Sie ist bereits eine halbe Stunde unterwegs, als sie diesen leichten Brandgeruch wahrnimmt. Plötzlich hört sie einen lauten Knall, auf den kurze Zeit später drei weitere folgen. Feuern die Jugendlichen wieder diese verdammten Silvester Knaller ab? Nein, es ist kein Wochenende, kein Mensch geht bei Regen um diese Uhrzeit aus dem Haus, und Knaller hören sich anders an. Außerdem wohnt auf ihrer Straße kein anderer Teenager außer ihr.
Moment. Auf ihrer Straße? Nein, das kann nicht sein!
Panisch sprintet sie durch die Gasse und kümmert sich nicht um die kleinen Pfützen auf ihren Weg, durch die sie mit ihren nackten Füßen einfach durchläuft. Doch die Ursache für den Brandgeruch kann sie von der Straßenseite sehen: Ein Haus brennt lichterloh.
Ihr Zuhause.
So langsam verhält sich Julius wirklich merkwürdig. Okay, er hat jetzt neue Informationen über seinen Bruder und ja, es muss ziemlich hart für ihn sein, aber muss er wirklich die ganze Fahrt über schweigen? Sie haben Max Wohnung schon vor einer Stunde verlassen, und die Fahrt wird noch mindestens drei Stunden dauern. Und Julius sitzt einfach auf dem Beifahrersitz und starrt in die Dunkelheit. Das ist doch nicht zum Aushalten!
»Würdest du jetzt bitte aufhören herum zu träumen und mir bitte erzählen, was du von der ganzen Geschichte hältst?«
»Hmm?«
Na super, er ist mal wieder völlig neben der Spur. »Na die Sachen, die uns Max heute erzählt hat. Glaubst du, er erzählt wirklich die Wahrheit?«
„Natürlich nicht! Das kann einfach nicht alles stimmen.«
»Ich weiß nicht, ob alles stimmt aber ein Teil müsste doch wahr sein, oder? Wir können Al fragen, was er darüber weiß.«
»Auch wenn das stimmt: Er irrt sich, was Tibor betrifft. Wir haben es doch selbst erlebt.« »Es gibt nur eine Möglichkeit, dass herauszufinden und das weißt du.«
Genervt seufzt Julius. »Hör auf, Delilah. Tibor wird sowieso lügen, also was nützt uns es, ihn zu befragen?«
»Denkst du wirklich, dass Maximilian sich irrt oder willst du, dass er uns täuscht? Langsam aber sicher vermute ich bei dir Letzteres.«
»Bist du verrückt geworden? Tibor wird mir Honig ums Maul streichen und mir dann in den Rücken fallen.« Leise, so das selbst Delilah es nicht mal verstehen kann fügt er hinzu: »So wie jedes Mal.«
»Das ist eine Möglichkeit. Die zweite ist, dass Maximilian wirklich Recht hat und Tibor so gut wie tot ist, wenn das so weiter geht. Das ist zwar unwahrscheinlich, aber dennoch möglich. Ich kenne dich zu gut, Julius: Wenn das passieren sollte, könntest du dir das nie verzeihen, auch wenn er versucht hat dich zu töten. Auch wenn es schwer fällt: Du musst mit ihn reden, und zwar schnell.«
Komisch, so was Ähnliches hat Maximilian beim Hinausgehen Julius auch noch gesagt. Es kann sein, dass ich lüge oder mich täusche, aber falls ich Recht behalten sollte und Tibor wirklich getötet werden würde, kannst du es nicht mehr rückgängig machen. Er ist zwar ein ziemlicher Idiot, aber trotzdem dein Bruder. Und du würdest dir ein Leben lang den Vorwurf machen, durch dein Nichthandeln für seinen Tod verantwortlich zu sein.
Julius ist über seine eigene Nervosität selbst erstaunt. Das Gespräch mit Max war gestern, und gleich am nächsten Morgen fuhr er zum Gefängnis, um mit Tibor zu sprechen. Allein. Er und Delilah waren sich einig, dass Tibor vermutlich wenn überhaupt nur mit Julius sprechen würde. Und nun sitzt Tibor mit verbundenen Händen im Besucherraum, der einzige Bereich, indem man frei sprechen kann. Julius wartet nur noch auf das OK der Wärter, dann kann er endlich selbst hinein. Ein letztes Mal durchatmen und diese verdammte Idee verfluchen, dann geht es los.
Völlig ruhig sitzt Tibor auf den harten Stuhl, seine Miene so undurchdringlich wie immer. »Ich hab schon gedacht, du hättest mich vergessen. Nett dass du auch mal auftauchst, Julius.« Hat er jetzt wirklich gesprochen?
»Sei froh, dass ich überhaupt hier bin, verdient hast du es dir ja nicht gerade.« Tibor zieht seine rechte Augenbraue hoch, wie immer, wenn er Julius durchschaut. »Es ist also nicht deine Idee, deinen eigenen Bruder mal zu besuchen. Gut, du kannst auch gerne wieder gehen. Aber ich gehe mal davon aus, dass du irgendwas von mir willst.«
»Oh ja, ich will jetzt endlich mal ein paar Antworten.« »Gut, und auf welche Fragen?«
Das ist doch bestimmt eine Falle, oder? Seit wann beantwortet Tibor Fragen?
»Was ist mit deiner Ich-beantworte-keine-Fragen-Regel?«
Demonstrativ hebt Tibor seine Hände, die mit Handschellen verbunden wurden. »Ich habe hier wohl keine andere Wahl, oder? Außerdem stehen dir ein paar Antworten zu. Keine Angst, ich werde ehrlich sein, auch wenn es ziemlich unlogisch erscheint, dies noch extra zu betonen. Ich habe nur eine Voraussetzung: Stelle mir Fragen, die ich beantworten kann und auf deren Antwort du mit ein wenig logischem Denken nicht selbst hättest kommen können.«
Das überrascht Julius. Er hat nicht damit gerechnet, dass sein älterer Bruder überhaupt reden würde geschweige denn Fragen beantworten möchte. Dementsprechend ist auch seine Vorbereitung. Was soll er jetzt bitte schön fragen? Und meint er das nur oder ist Tibor über die Ratlosigkeit seines Bruders ziemlich amüsiert?
»Ich habe eine simple Frage: Was sollte der ganze Mist?« »So was nennst du eine simple Frage? In meinen Augen ist es die Frage schlecht hin, oder? Stell sie bitte etwas genauer.« Obwohl Tibor die Handschellen trägt, fühlt sich Julius unterlegen. Wie schafft sein Bruder es nur, selbst jetzt gelassen zu bleiben? »Okay, dann versuch ich es hiermit: Wofür brauchtest du die Null-Liste und wieso hast du mich nicht einfach getötet, als du es konntest?«
»Ich habe dir schon mal gesagt, dass ich dich nicht töten möchte.«
»Du hast gesagt dass du mich jetzt noch nicht töten möchtest, und du wolltest mir das Leben so schwer wie möglich gestalten.«
»Und das habe ich auch geschafft, oder? Sonst wäre ich ziemlich enttäuscht von meiner Arbeit. Ich will dich immer noch nicht töten, und bevor du fragst: Nein, Delilah auch nicht und auch keinen sonst aus eurer Akademie.«
Es klingt wie eine Mischung aus Schnauben und Lachen, als Julius erwidert: »Das hab ich aber anders in Erinnerung. Ich sage ja nur Giftschlangen im Lastwagen. Außerdem hast du Delilah als Kind bedroht, sie zurück in die Vergangenheit gestoßen und dann die Null-Liste zerstört.« »Lieber, ich stoße sie zurück in die Vergangenheit als ins Jenseits, oder findest du etwa nicht? Zu den Punkt komme ich aber später. Um bei den Giftschlangen zu bleiben: Du hast ja wohl ein enormes Talent, dich in Computer zu hacken aber lesen scheint nicht deine Stärke zu sein. Beeindruckend, wie du meinen falschen Namen herausgefunden hast aber du hättest dir auch den offiziellen Auftragsnamen durchlesen sollen: Transport von Schlangen.« Wieder schafft es Tibor, dass sich Julius sich wie ein Trottel fühlt. »Ich bin davon ausgegangen, dass das gelogen war.«
»Und ausgerechnet dann ist es die Wahrheit. Aber du hast Recht, die Schlangen waren nicht ohne Grund dort. Ich wollte mögliche Verfolger so lange wie möglich beschäftigen.« »Du hättest uns fast endgültig beschäftigt.«
»Sag bloß, ihr könnt euch zu zweit nicht gegen ein paar einfache Schlangen wehren. Sogar ich hab euch das noch zugetraut. Außerdem wart ihr nicht die einzigen, die hinter mir her waren.« Julius spart sich die Frage, wer sonst noch Tibor hätte verfolgen wollen, das würde er noch früh genug erfahren. »Wieso wolltest du unbedingt zurück in die Vergangenheit? Wir wissen, dass du wusstest dass du nichts verändern kannst.« Kaum hat Julius den Satz ausgesprochen, bereut er ihn auch wieder. Tibors Blick könnte nun eine ganze Armee töten.
»Woher wisst ihr das? Ihr habt mit Max gesprochen, richtig?«
»Richtig.«
»Daran bin ich vermutlich selbst schuld. Trotzdem ist da ein kleiner Fehler: Es ist zwar richtig, dass man in der Vergangenheit nichts verändern kann, was nicht sowieso schon so war, aber beeinflussen kann man sie trotzdem.« Julius ist sichtlich verwirrt. »Also jetzt versteh ich gar nicht mehr.«
»Das beste Beispiel ist deine kleine Freundin: In Anlage 9 hängen überall gemalte Bilder von ihr, die Kampfszenen zwischen uns darstellen.«
»Und sie konnte es nur malen, weil wir in der Vergangenheit waren. So ist das doch auch mit ihrer Uhr!« »Genau richtig. Aber eine Beeinflussung ist immer von Anfang an mit einberechnet, also wenn ich euch als Kind hätte töten wollen hätte es so oder so nicht funktioniert, weil ihr im Erwachsenenalter definitiv lebt. Selbst wenn es klappen würde: Hätte ich euch getötet hätte es den gesamten Verlauf der Zeit verändert. Ihr wärt niemals Agenten geworden und hättet niemals ein paar gewisse Trottel mit ihren tollen Eroberungsplänen gestoppt. Und für mich wäre das vermutlich auch nicht gut gewesen.«
»Schmetterlingseffekt. Aber was wolltest du dann mit der Null-Liste? Sie ist dann doch eigentlich nutzlos.«
»Nutzlos? Ganz sicher nicht. Hast du keine Fantasie, was man damit anstellen könnte? Denk daran, du kannst zwar die Vergangenheit nicht ändern, die Gegenwart und die Zukunft jedoch schon.“ „Ich hab immer noch keine Ahnung.«
»Jetzt enttäuschst du mich aber, kleiner Bruder. Um eins klar zu stellen: Etwas, was in der Zukunft existiert, muss auch in der Vergangenheit existieren. Aber wenn etwas in der Vergangenheit scheinbar zerstört wurde heißt das noch lange nicht, dass es auch wirklich zerstört wurde. Nehmen wir mal an, jemand aus der Vergangenheit hat wichtige Informationen und wird erschossen, bevor er was sagen kann. Dein jetziges Ich könnte diese Person zwar nicht retten, aber dennoch befragen. Diese Informationen hättest du nur in der Zukunft und es würde die Vergangenheit nicht ändern. Oder ein wichtiges Dokument mit allen Namen von Agenten und Ausbildern, die vom Projekt übergelaufen sind, wurde bei einem Brand rein zufällig zerstört. Dein zukünftiges Ich könnte keine Spuren hinterlassen, aber das Dokument an sich nehmen.«
»Man kann nichts aus der Vergangenheit mit in die Zukunft nehmen, das gleiche Problem gab es schon mit Delilahs Uhr.«
»Aber es besteht ein winziger Unterschied: Delilahs Uhr existierte die ganze Zeit über, so ein Dokument jedoch spielt dann keine Rolle.«
»Hör auf, mein Kopf platzt gleich! Aber ich glaube, ich habe es so ziemlich verstanden. Aber sag jetzt nicht, du willst diese Informationen um das Projekt auffliegen zu lassen.«
»Gut, dann sage ich es nicht, du würdest damit allerdings genau richtig liegen.«
»Das gibt es nicht! Max hat zu uns gesagt, du wärest übergelaufen!«
»Bis vor ein paar Monaten habe ich das Selbe auch von ihm gedacht. Ich habe den größten Fehler gemacht, den man als Agent nur machen kann: Ich habe den Falschen vertraut.«
»Deinem Auftragsgeber?«
»Auftragsgeber trifft es zwar nicht ganz, aber im Grunde genommen kann man es schon so nennen. Man sagte mir, dass die Null-Liste nicht zerstört wurde und ich damit die Möglichkeit hätte, diese Verräter auffliegen zu lassen. Man sagte mir, sämtliche meiner ehemaligen Freunde seien übergelaufen. Als ich dann den Auftrag erhielt, dich zu töten wusste ich jedoch, was los war. Und nein, ich kenne nicht die Identität meines Auftragsgebers, das macht die Sache so gefährlich.«
»Wieso hast du ihn vertraut, du bist doch sonst nicht so naiv.«
Tibor lacht freudlos. »Du bist genau der Richtige, der mich das fragt, Julius. Man hat mit mir genau das gemacht, was ich bei dir gemacht hab: Er hat mir Informationen gegeben, die ich sonst nie bekommen hätte.«
»Welche Infos können so gut sein, dass man seinen eigenen Freunden nicht mehr traut?«
»Zum Beispiel die, dass mein kleiner Bruder noch lebt und wo er sich aufhält.«
Das haut jetzt sogar Julius um. »Bitte was? Du wusstest nichts von mir?«
»Oh doch, ich wusste dass ich einen kleinen Bruder hab, aber unsere tollen Eltern haben mir vor acht Jahren erzählt, du wurdest von den Idioten getötet, die ich während meines ersten Auftrages hätte fassen sollen.«
»Unsere Eltern sind seit über sechszehn Jahre tot, wenn du nicht rein zufällig mit Geistern reden kannst lügst du.«
Tibors Lachen klingt kein bisschen amüsiert. »Oh nein, ich lüge nicht. Zumindest nicht jetzt. Die beiden gehörten zu den besten Agenten der Welt, den eigenen Tod vorzutäuschen war ein Kinderspiel. Leider waren sie nicht halb so gute Eltern.«
»Das ist nicht dein Ernst, wieso sollten sie das machen?«
»Aus den gleichen Grund, warum ich jetzt im Gefängnis sitze. Sie wollten das Projekt stoppen, und vermutlich wissen sie mehr als wir alle zusammen. Ich weiß nicht, ob sie immer noch am Leben sind, falls es dich interessiert. An dem Tag, als du erfahren hast dass wir Brüder sind, wusste ich nicht mal dass du nichts von ihrem Überleben wusstest .«
Was für einen grausamen Scherz erlaubt sich Tibor nun schon wieder? Es kostet Julius jede Selbstbeherrschung, Tibor nicht anzuschreien. Würde er es tuen, würde die Akademie nie die dringend benötigten Informationen bekommen. Es muss jetzt ruhig bleiben und Tibors Spiel mitspielen, auch wenn es hart ist.
»Meintest du das mit sie haben mich durch dich ersetzt?«
»Ja. Du hast dir nie wirklich Gedanken über den Spruch gemacht, oder?«
Nein, das hat Julius nicht. Wenn er ehrlich ist, wollte er Tibor so gut es ging verdrängen. »Ich bin 25 Jahre alt, also gerade mal fünf Jahre älter als du. Du wusstest zwar mein genaues Alter nicht, aber viel älter hättest du mich nicht schätzen können. Vor sechszehn Jahren war ich neun Jahre
alt, also ein Jahr im Projekt. Ziemlich früh um sein eigenes Kind zu verstoßen, oder?« Julius kann die Lügen nicht mehr länger ertragen. Was ist, wenn es die Wahrheit ist? »Also haben sie
dich nach deinem Auftrag verstoßen. Aber wenn sie zu dir sagten, dass du für meinen Tod verantwortlich bist und ganz genau wussten, dass ich lebe, kann es eigentlich nur bedeuten, dass sie dich und mich schützen wollten.«
»Sie wollten dich vor mir schützen. Hat dir Max erzählt, was damals passiert ist?« Von Tibors anfänglicher Gelassenheit und Gleichgültigkeit ist nicht mehr viel geblieben. Jetzt wird es ernst. »Er sagte uns nur, dass es zu einem Unfall kam und du seitdem nicht mehr der Selbe wärst. Al hätte
dich damals ziemlich fertig gemacht.«
Tibor überlegt sich genau, was er sagt. »Nicht nur Al. Ich sollte damals eine Tochter von Agenten schützen. Ihre Eltern kamen anscheinend bei einem wichtigen Auftrag ums Leben, und man wollte sie
auch töten. Als wir endlich die Idioten hatten, die sie umbringen sollten, kam es zu einer Schießerei.
Ich wollte damals niemanden erschießen, also schoss ich einen von den beiden ins Schienenbein. In diesem Moment zog er das Mädchen nach vorne. Die Kugel ging direkt durch ihre Schulter.«
Nach einer kurzen Pause fügt er hinzu: »Ich habe ein junges Mädchen getötet, Julius.«
Selbst Julius geht diese neue Information nahe. Zum ersten Mal in seinem Leben sieht er wahres Bedauern in Tibors Augen. Er hätte nie gedacht, dass sein Bruder überhaupt fähig ist, um einen anderen Menschen zu trauern. Vorausgesetzt, es ist nicht wieder ein Bestandteil von Tibors Show. Kann es wahr sein, dass er tatsächlich einen Fehler bereut? Julius schwirren tausend Fragen im Kopf, versucht sich aber so wenig wie möglich anmerken zu lassen.
»Hatten ihre Eltern Informationen über das Projekt?«
Was auch immer falsch an Julius Frage war, es macht Tibor regelrecht wütend. »Ist dir eigentlich bewusst, dass ich dir einen Mord gestanden habe? Ja, verdammt, es waren Informationen über das Projekt aber ich hab erst später erfahren, dass einige Ausbilder übergelaufen sind. Ich hätte spätestens dann Verdacht schöpfen müssen, als man mich praktisch für mein Versagen belohnt hat.«
»Bis vor ein paar Stunden war ich der festen Überzeugung, dass du mich töten wolltest, der Tod des
Mädchens war ein Unfall, der dadurch entstand, dass du nicht zum Mörder werden wolltest. Ich kann
nur nicht verstehen, dass Al dich deswegen fertig gemacht hat. Konntest du ihn deswegen nicht vertrauen?«
»Al und Scarlett sind beides keine Verräter, aber sie hätten mir nie wieder vertraut. Um Vertrauen ging es übrigens auch, als ich Delilah zurück gestoßen habe. Mein Informant wusste anscheinend nicht, dass ich wusste dass man niemanden in der Vergangenheit töten kann. Hätte ich Delilah nicht als Kind gedroht oder eben zurück in die Vergangenheit gestoßen, wäre ich aufgeflogen und höchstwahrscheinlich tot. Und ihr ebenfalls. Ich wusste auch nicht, ob Robinson nun zu den Verrätern gehört oder nicht, deswegen musste ich so lange wie möglich den Schein waren, euch
wirklich umbringen zu wollen. Ich wollte die Informationen über das Projekt. Und ich will diese beiden Männer, die das Mädchen töten wollten, koste es was es wolle.«
»Aber dein Auftragsgeber hatte nie vor, dass du die Informationen bekommst. Du solltest die Drecksarbeit verrichten.«
»Ja. Wie ich auf den Zettel geschrieben habe: The cake is a lie.«
Ungeduldig wartet Julius auf eine Antwort von Al. Nicht mal jetzt, zwei Stunden nach seinem Gespräch mit Tibor, versteht Julius was eigentlich da drinnen passiert ist. Während des Gespräches erschien alles so logisch und einfach, man könnte es beinahe ein normales Gespräch zwischen Brüdern nennen. Hat er Tibor gerade tatsächlich geglaubt? Kann er ihm überhaupt auch nur ansatzweise trauen? Vor drei Monaten hätte er ihn nicht mal geglaubt, wenn er gesagt hätte, dass die Erde rund ist und nun kauft er die ganze Geschichte ab? Im Moment zweifelt Julius an seinen gesunden Menschenverstand. Obwohl… Alles, was Tibor gesagt hat klingt doch irgendwie logisch, oder? Wie ein riesiges Puzzle, jedes kleine Detail ein Stück. Es hat alles so schön gepasst, aber sind die Teile wirklich richtig? Vielleicht. Wenn Al nur was sagen würde! Scarlett ist ebenfalls in Als Büro, Delilah wartet draußen. Endlich unterbricht Scarlett das Schweigen. »Du solltest Julius wirklich die Wahrheit sagen, Großer. Bevor noch mehr passiert.«
»Ich weiß, aber das ist gerade nicht so einfach.«
»Sagt mir einfach was los ist. Hat Tibor jetzt die Wahrheit gesagt oder nicht?«
Ratlos hebt Al seine Arme. »Das weiß ich auch nicht, Mann. Aber es ist nicht so unwahrscheinlich, wie
es auf den ersten Blick klingen mag. Die Geschichte mit den Mädchen ist aber auf jeden Fall nicht gelogen, auch wenn es mir heute noch leid tut.«
»Also wusstest du die ganze Zeit schon von Tibor? Und das unsere Eltern eventuell noch leben?
Wieso hast du nie was gesagt?«
»Woah jetzt mal ganz langsam mit den jungen Frühlingsrollen. Von Tibor wusste ich, aber das eure Eltern noch leben könnten ist mir auch neu. Wobei es natürlich möglich wäre. Nach der Explosion hat
man ihre Leichen nie gefunden.«
Die Schreie, die Julius während des Gesprächs mit Tibor so gut zurück gehalten hat, treffen nun mit voller Wucht Al. »Und dann seid ihr einfach davon ausgegangen, sie seien tot? Man hätte doch
irgendeinen Hinweis finden müssen!«
Scarlett ist wenig erschrocken über dem Ausraster des Agenten. Irgendwann musste es ja so weit
kommen. »Wir haben Leichenteile gefunden, aber eine Identifizierung war damals unmöglich. Tut mir leid, Kleiner.«
»Das tut dir Leid, Scarlett? Das ist nicht euer Ernst!«
»Auf wen bist du wütend, Julius? Von deinen Bruder haben wir nur deswegen nichts erzählt, um das Projekt nicht auf dich aufmerksam zu machen. Ich habe ihn damals nach der Sache mit den Mädchen sehr grausame Dinge gesagt, nur um ihn von dir fern zu halten.« »Du erwartest jetzt keine Dankbarkeit von mir, oder Al?« »Nein, genauso wenig wie ich von Tibor Vergebung erwarte. Aber du wärst für gewisse Leute das perfekte Mittel gewesen, um ihn zu erpressen. Ich wusste damals schon, dass dein Bruder an den Mädchen hing, aber dass ihr Tod ihn so geprägt hat konnte ich nicht ahnen. Er muss damals schon gemerkt haben, dass etwas im Projekt nicht stimmt.«
»Oder wir lagen mit unserer ersten Vermutung richtig und er ist übergelaufen.«
»Oder das. Die Frage ist: Willst du ihn vertrauen, Julius?« Darauf kennt er keine Antwort. Wenn er jetzt den Falschen vertraut würde er sich und Delilah in Gefahr bringen. Andererseits kann er Al und Scarlett auch nicht voll und ganz vertrauen, oder? Und du würdest dir ein Leben lang den Vorwurf machen, durch dein Nichthandeln für seinen Tod verantwortlich zu sein. Sogar Maximilian glaubt fest daran, dass Tibor ihn nie töten wollte, aber heißt das gleich, dass man Tibor glauben kann? Aber mit seiner Aussage hat Max leider Recht.
»Es gibt drei Möglichkeiten, die auf der Hand liegen: Entweder er ist durchgedreht, hat sich den Projekt angeschlossen und möchte es jetzt auffliegen lassen. Dann würde ich versuchen, ihn zu verzeihen und wir bräuchten sämtliche Informationen, damit das Projekt gestoppt wird. Er könnte aber auch immer noch zur anderen Seite gehören und uns alle hier zum Narren halten. In diesem Falle würde er darauf warten, dass ich ihm vertraue und dann würde er uns alle umbringen. Wenn er jedoch wirklich die Wahrheit sagt, wird bald jemand versuchen ihn umzubringen und er würde es dann auch aller Wahrscheinlichkeit nach schaffen. Dann wäre auch die gesamte Akademie in Gefahr. Mit anderen Worten: Wir sind hier sowieso so gut wie tot. Mal wieder.«
»Herzlich Willkommen in der Welt der Agenten. Es kam gestern zu einem anderen Zwischenfall, der vermutlich auch mit dieser Situation zusammenhängt. Ich lass dir ein wenig Zeit mit deiner Entscheidung. Könntest du bitte aufhören zu telefonieren, Scarlett?« Julius ist es gar nicht aufgefallen, dass Scarlett bereits seit geraumer Zeit in einem Telefonat verwickelt ist. Das Gespräch scheint ziemlich wichtig zu sein, denn das sonst so entspannte Gesicht von Scarlett wirkt auf mal sehr sorgenvoll und ernst. »Ich glaube aus der Bedenkzeit wird nichts. Es kam gerade zu einem bewaffneten Angriff auf das Gefängnis. Die Angreifer scheinen einige Komplizen im Gefängnis gehabt zu haben. Zwei Wärter wurden getötet.«
»Was ist mit Tibor?«
»Sie haben gezielt nach ihn gesucht. Er wurde zu seinem Glück nur angeschossen. Bevor sie nochmal auf ihn zielen konnten, wurde einer der Angreifer ebenfalls angeschossen. Sie mussten so schnell wie möglich fliehen. Es waren ein Mann und eine Frau, zumindest einer der erschossenen Wärter gehörte zu ihren Komplizen.«
»Also wollten sie Tibor definitiv töten.«
»Entweder das oder er ist ein noch besserer Schauspieler als wir sowieso gedacht haben. Jetzt entscheide du Julius: Soll er in die Akademie oder zurück ins Gefängnis?«
Eine wahre Wahl hat Julius seiner Meinung nach nicht. »Als erstes sollte er in ein Krankenhaus. Danach holt ihn in die Akademie.«
Tibors Anblick wirkt ein wenig befremdlich. Wenn er auch sonst mit seinen Blicken töten kann: Im Moment sieht er eher müde und erschöpft aus. Kein Wunder, wenn zwei Schüsse einen fast ins Jenseits befördert hätten. Ein Schuss streifte den rechten Oberschenkel, der andere die linke Schulter. Laut den Ärzten sind beides reine Fleischwunden, jedoch hätte gerade die Kugel in der Schulter beinahe Gefäße und Muskeln zerstört. So oder so: Selbst Tibor, der wie er selbst sagt in mehr Schmerzbekämpfungstechniken ausgebildet wurde als wie sein Bruder überhaupt kennt, sieht man an, dass die Schmerzen höllisch sein müssen. Kann das wirklich alles so geplant sein?
Bei einem normalen Superagenten definitiv nicht, aber bei Tibor sollte man die ganze Sache nochmal anzweifeln. Aber zwei Schüsse aus knapp sieben Metern Entfernung so setzen, dass sie nicht tödlich sind? Pure Millimeterarbeit, die einen Schützen fordert, der selbst dann ruhig schießt, wenn er selbst auch in einem anderen Kampf verwickelt wird.
»Scarlett möchte sich jetzt noch mal deine Verletzungen ansehen, sie traut den Ärzten im Krankenhaus nicht. Außerdem soll ich dir von Al sagen, dass der Teppich neu ist und du bitte aufpassen sollst, wo du hin tropfst.« Dabei zeigt Delilah auf die kleinen Bluttropfen, die deutliche Abdrücke neben Tibors Stuhl auf den weißen Teppich in Als Büro hinterlassen. Mit einem stummen Nicken verlässt Tibor das Büro.
»Also jetzt mal Klartext, Julius: Was hältst du von der ganzen Geschichte?«
»Ich hab keine Ahnung. Tibor ist listig, aber ich befürchte er konnte das alles auch nicht planen, oder?«
»Sag du mir das.« Delilah sieht ihn direkt in die Augen. Sie weiß genau, dass Julius eine Antwort nicht
leicht fällt, aber sie muss es wissen. Nach einigen zögern sagt er: »Zumindest wissen wir, dass Teile auf jeden Fall nicht gelogen sind, Al und Scarlett haben mir das bestätigt.«
»Und was ist mit den Rest? Siehst du das bestätigt, weil er angeschossen wurde oder ist das alles nur
»Und was ist mit den Rest? Siehst du das bestätigt, weil er angeschossen wurde oder ist das alles nur eine Falle?« Sie bleibt hartnäckig, was Julius frustriet. »Also denkst du, dass ich ihn im Gefängnis hätte lassen sollen, weil sowieso alles nur eine Falle war.« Delilah schüttelt den Kopf. »Nein, das habe ich nicht gesagt. Ich habe nur eine Frage: Hast du ihn hergeholt, weil alles darauf hindeutet, dass er die Wahrheit sagt oder nur deshalb weil du hoffst dass er die Wahrheit sagt?«
Wieso verlangt sie jetzt tatsächlich eine Erklärung von Julius? Er seufzt, wenn Delilah Antworten verlangt hat niemand eine Chance. »Ich hatte gestern keine Zeit, meine Entscheidung irgendwie zu überdenken. Ich hab das getan, was mir in den Moment richtig erschien. Er ist mein Bruder Delilah. Was er auch getan hat, ich kann nicht zulassen, dass er von irgendwelchen Idioten erschossen wird.«
»Also willst du kein Risiko eingehen, was seine Sicherheit betrifft.«
»Ich sage es mal so: Er weiß mehr über das Projekt als wir, und jedes bisschen Wissen haben wir bitter nötig. Wir werden es früher und später auch noch mal mit den Projekt zu tun haben und dann ist jede Information für die Sicherheit der Akademie wichtig.«
Damit gibt sich auch Delilah zufrieden. »Ich würde niemals deine Entscheidungen anzweifeln, nur damit du es weißt. Aber er ist nun mal dein Bruder, daran kann man nichts ändern. Ich wollte nur sicher gehen, dass du die Sache einigermaßen objektiv betrachten kannst. Ich hätte übrigens genauso
gehandelt. Du konntest nicht zulassen, dass er im Gefängnis bleibt und dann wohlmöglich endgültig
erschossen wird.« Mehr will und kann Delilah dazu nicht mehr sagen, denn in diesem Moment betreten Al und Scarlett zusammen mit Tibor das Büro.
»Ich möchte hier nicht lange um den heißen Pudding reden: Scarlett und ich haben jetzt beschlossen, dass Tibor zu seiner eigenen Sicherheit vorrübergehend hier bleibt. Guck mich nicht so an, Mann. Du hast die Wahl: Entweder Akademie oder Knast. Hier wird auf dich wenigstens nicht geschossen, zumindest so lange wie du dich anständig benimmst. Das gilt für euch beide, ja ich meine dich Julius: Kein Kratzen, Schlagen, Treten, Beißen, Erschießen, aus einem Helikopter, Auto oder sonstigen fliegenden, fahrenden oder schwimmenden Fahrzeugen Gestosse oder sonstige brüderliche Mätzchen, verstanden? Gut, dann hab ich gleich den ersten Auftrag für euch drei: Oben liegt ein vierzehnjähriges Mädchen, welches eigentlich zum Zeugenschutzprogramm gehört. Letzte Nacht wurde ein Anschlag verübt, die beiden Agenten, die auf sie aufpassen sollten wurden hingerichtet und das Hauswurde beinahe vollständig verbrannt. Sie befand sich zum Glück nicht im Haus, aber der Anschlag galt definitiv ihr. Zu ihren eigenen Schutz wurde sie jetzt in der Akademie untergebracht.« Delilah und Julius schauen sich an. Tibor als Babysitter für einen Teenager? Das könnte heiter werden. Er selbst interessiert sich jedoch eher für was anderes.»Warum ist sie im Schutzprogramm?«
»Gut, dass ausgerechnet du fragst Tibor. Ich darf euch nicht alles sagen, aber ihre Eltern waren mit dem Projekt verwickelt und sind nun entweder tot oder abgetaucht. Das Mädchen wird seit ihrem sechsten Lebensjahr vor dem Projekt beschützt. Man muss davon ausgehen dass sie Teile aus ihrer Vergangenheit aufgrund traumatischer Erinnerungen verdrängt hat.«
»Und ein paar gewisse Leute wollen verhindern, dass sie sich wieder erinnert.«
»So ist es, Delilah. Ihr sollt auf ihr aufpassen und verhindern, dass sie sich in Schwierigkeiten bringt.«
»Damit sie sich nicht in Schwierigkeiten bringt? Wie sollen wir das verstehen, Al?«
»Sie ist ein Teenager, Mann. Du und Delilah habt euch in dem Alter andauernd in Gefahr gebracht. Nur für das Mädchen ist die ganze Situation neu und ungewohnt, also seid nett zu ihr. Ich rede von dir, Tibor: Du hast hier ständig mit Agenten zu tun, aber sie ist im Grunde genommen ein einfacher Zivilist. Sie ist weder dumm noch naiv, aber sie wurde noch nicht ausgebildet.«
»Noch nicht ausgebildet?«
»Wenn sie sich bewährt könnte man sich überlegen, sie hier auszubilden. Lieber wir bilden sie vernünftig aus als dass sie an den globalen Nachrichtendienst gerät, dafür wäre selbst eine zermatschte Kartoffel zu schade. Aber sagt ihr das nicht. Geht zu ihr, sie wohnt in Ursulas altem Zimmer. Tibor, warte kurz.« Al greift nach Tibors gesunder Schulter, damit er stehen bleibt. »Sie ist vierzehn. Ich hoffe du verstehst was ich meine.«
Tibor braucht nicht lange zu überlegen, er weiß was Al damit andeuten möchte. »Keine Sorge Al, ich kann rechnen.«
Dieses Zimmer ist ja mal so was von cool! Das Bett ist gefühlte zwei Meter breit, und direkt gegenüber ist ein riesiger Fernseher. Ein Computer ist auch vorhanden, aber der kleine kitschige Schminktisch muss definitiv raus. Aber das Beste ist definitiv das Badezimmer. Ein eigenes Badezimmer, das ist der Wahnsinn! Egal wo sie auch gerade gewohnt hat, dieses Zimmer topt alles.
Gerade, als sie sich lang auf das Bett legen will, klopft es an der Tür. Müssen dir hier alle so ein perfektes Timing haben? Dieses Bett ist so gemütlich…
»Herein wenns kein Yeti ist!« Drei Erwachsene kommen in ihr Zimmer, vermutlich ihre neuen Aufpasser. Der blonde Kerl und die Frau dürften nur ein paar Jahre älter sein als sie selbst, der Rotschopf mit der sichtbar schlechten Laune scheint auch noch relativ jung zu sein.
»Also ich gehe mal davon aus, ihr bringt mir nichts zu Essen mit.« »Ähhm nein, sollten wir? Wir sollen dich ab nun…«
»Beschützen. So weit bin ich auch gekommen.« Der Rotschopf murmelt etwas von Wir können es auch sein lassen, was Blondie dazu veranlasst, ihn leicht auf die bandagierte Schulter zu Klopfen. Leicht, aber trotzdem schmerzhaft. Die Frau sie mit diesen Ich-weiß-wie-schlimm-das-für-dich-sein-muss-Blick an. »Du hörst so was nicht zum ersten Mal, oder? Wir wissen, was letzte Nacht passiert ist. Geht es dir gut?«
Jetzt bloß cool bleiben. Es muss ja niemand wissen, dass ihre Knie immer noch zittern wenn sie daran denkt. »Mir geht es auf jeden Fall besser als meinen alten Aufpassern. Ich war ja nicht im Haus.«
Die anderen beiden sind wohl überzeugt, aber Pumuckl muss natürlich nachhacken. »Wieso nicht?« Oh ha, mit den Kerl ist nicht gut Kirschen essen. Trotzdem ruhig bleiben. »Ich wollte noch spazieren.« »Um zwei Uhr nachts? Ziemlich ungewöhnlich für einen Spaziergang.«
»Ich wollte halt gerne laufen« , und um weitere Fragen von diesen Idioten im Keim zu ersticken fügt sie schnell hinzu: »Wer seid ihr im Übrigen überhaupt? Normalerweise stellen sich Leute erst vor, bevor sie mich verhören.« Blondi klingt im Gegensatz zu dem anderen Kerl um einiges freundlicher. »Stimmt. Mein Name ist Julius und das ist Delilah. Al hat uns übrigens nicht erzählt wie du eigentlich heißt.«
»Dominique. Und wie heißt Mister Lächeln-verboten?«
»Tibor.«
»Das ist ein Name? Gibt es nicht ein Comic oder so? Ich glaube es heißt Tibor-Sohn des Dschungels . Wenigstens bin ich hier nicht die einzige mit einem blöden Namen.« Tja, Rotschopf zeigt keine Reaktion. Schade. Dafür muss sich Blondi anscheinend ein Lachen verkneifen. Delilah versucht abzulenken. »Magst du deinen Namen etwa nicht? Dominique ist doch an sich ein netter Name.« Jetzt hagelt es aber bitter böse Blicke. »Nett?! Ich weiß nicht, was meine Eltern sich dabei gedacht haben, aber ich bin keine, ich wiederhole KEINE 40 jährige Alte mit wasserstoffblonden Haaren, die sich einen Pseudo-Franzosenakzent antrainiert und kleine Kätzchen züchtet! Und das Schlimmste ist: Es gibt keinen vernünftigen Spitznamen!«
»Okay, wir denken uns was aus. Komm mit, ich zeig dir eben wo die Kantine ist.« Delilah scheint hier doch die Nette zu sein, endlich was essen! Dominique kann ja nicht wissen, dass sie jetzt nur aus Tibors Nähe ferngehalten werden soll.
»Du würdest sie am liebsten umbringen, oder?« »Richtig geraten kleiner Bruder.«
»Das war nicht geraten, du wärst fast auf sie losgegangen.«
»Oh ja.«
Julius lächelt zufrieden. »Ich mag die Kleine.«
»Die Göre hat Nerven! Sie hat mich beleidigt!« Wütend schlägt Tibor gegen den Boxsack, bereut dies jedoch im selben Moment. So eine Kugel in der Schulter kann schon ziemlich schmerzhaft sein. »Sie hat ja nicht direkt dich beleidigt, sondern eher deinen Namen….« Aber diese Beruhigungsversuche bringen Julius nur böse Blicke ein. Meint der Kerl wirklich, er kann mit Blicken töten? Wobei: Bei Tibor könnte es klappen.
»Ich erwähne das ja nur ungern, aber nur weil auf dich geschossen wurde und du Julius Bruder bist heißt das noch lange nicht, dass du aus dem Schneider bist. Wer sagt uns, dass du Dominique nicht bei der nächst besten Gelegenheit umbringst?« »Oh, ich werde sie umbringen, damit das schon mal geklärt ist. Wisst ihr warum ich es nicht getan habe?« »Weil du dieses Mädchen in den Tiefen deines Herzens doch magst?«
»Nein.« Julius rät weiter. »Weil du Töten hasst und niemals kleine Teenager umbringen würdest?« »Oh nein Julius. Zu viele Zeugen.«Meint er das jetzt ernst oder ist er nur wütend? Schwierig zu sagen, Tibor ist fast rund um die Uhr wütend. »Ich bin euch sehr dankbar, dass ihr mich nicht im Gefängnis gelassen habt und ich möchte mich wirklich nicht beschweren, aber muss das sein?« »Warte mal. Hast du dich gerade bedankt? Ich meine so richtig bedankt? Delilah, ich hoffe wir haben das auf Band.« Das kommt auch selten vor. Tibor bedankt sich. Eine Sensation! »Trotzdem: Ich würde lieber Waffen an mir testen lassen anstatt auf einen Teenager aufzupassen.«
»Tja, Scarlett möchte dich nicht immer zusammenflicken lassen. Außerdem: Du kennst sie doch kaum, so schlimm ist sie bestimmt auch nicht.«
»Das hat unsere Mutter von meiner früheren Zahnärztin auch behauptet und sie wollte mir als Kind drei gesunde Zähne ziehen.« Julius muss daran denken, wie ihre Mutter ihn als kleinen Jungen riet, Zahnarzt zu werden, aber diesen Gedanken vertreibt er lieber wieder aus seinem Kopf. Und das jetzt vor Tibor zu erwähnen ist sicher auch keine tolle Idee. »Wie auch immer. Also Dominique sollte getötet werden, sie befand sich aber um zwei Uhr nachts nicht im Haus. Die Frage ist: Wer war das?«
»Das könnte jeder aus dem Projekt gewesen sein, aber Mord mit anschließender Brandstiftung ist das Markenzeichen von Giulia und Montinguez.«
Delilah überlegt. »Irgendwie kommt mir Montinguez bekannt vor.«
»Kein Wunder, er war damals der stellvertretene Leiter vom Projekt und ein hohes Tier beim Globalen Nachrichtendienst. Giulia war im gleichen Jahrgang wie ich damals. Wir mochten uns damals schon nicht und jetzt neigt sie dazu, alles und jeden zu erschießen.«
»Waren sie es auch, die dich in der Zelle angegriffen haben?« Tibor schüttelt den Kopf. »Nein. Giulia eignet sich als Agentin genauso wie ich mich für Kochen und Stricken, aber eins muss man ihr lassen: So wie sie schießt keine Zweite. Hätte sie auf mich geschossen, könntet ihr mich jetzt in der Leichenhalle besuchen. Die Angreifer und ihre Komplizen kenne ich nicht.« Delilah tippt auf ihren Kommunikator. »Dann sollten wir schnell herausfinden, wer das war. Aber wir sollen jetzt nach oben, Zoe und die anderen sind wieder da. Außerdem sollten wir Dominique nicht zu lange alleine lassen.«
Obwohl sie Hunger hat, verlässt Dominique die Kantine schnell wieder. Es sind zwar nur wenige Leute dort, aber sie wird angestarrt wie ein bunter Hund. Sie macht sich ein Sandwich und versucht, so unauffällig wie möglich zu ihrem Zimmer zu gelangen. Mehrmals verirrt sie sich, und als sie zum fünften Mal an Als Büro vorbei geht fragt sie sich ob sie sich irgendwo einen Kompass und eine Karte ausleihen kann. So eine Agentenakademie kann schon riesig sein! Sie hat Al und Scarlett seit ihrer Ankunft nicht mehr gesehen, verwirft aber den Gedanken, sie jetzt zu suchen. Aus einem Fenster sieht Dominique den riesigen Pool und bedauert es ein wenig, dass es schon zu kalt ist um draußen zu schwimmen. Zumindest für Normalsterbliche.
Endlich findet sie einen Gang, der ihr einigermaßen bekannt vor kommt und tatsächlich: Ein kleines Schild an der Wand zeigt mir der Aufschrift „Schlafräume“ nach links. Wieso nicht gleich so? doch kaum biegt sie ab, hört sie Gelächter und Stimmen auf den Flur. Auf keinen Fall will sie jetzt einen von den verrückten Agenten treffen, aber wo soll sie hin? Vorsichtig schaut sie um die Ecke. Tatsächlich: Drei Männer und eine etwas zu klein geratene Frau unterhalten sich auf den Flur, direkt vor ihrem Zimmer! Diese drei Agenten waren nicht unten in der Kantine, also haben sie Dominique auch noch nicht vorher gesehen. Vielleicht gehen sie einfach weiter? Doch diese Hoffnung kann das Mädchen gleich begraben. Der Mann mit den wuscheligen Haaren hat seinen Arm um die Frau gelegt, wenn die jetzt auch noch anfangen zu knutschen kann sie drei Jahre auf ihr Essen warten! Tja, jetzt gewinnt der Hunger. Schnell zählt die Teenagerin bis drei, bevor sie ihren ganzen Mut zusammen nimmt und zu ihrem Zimmer geht. Doch kaum will sie die Klinke runter drücken, packt der andere Mann sie an den Schultern.
»Hey! Was machst du hier?« Oh nein, wissen sie noch gar nichts von ihr? Wie soll sie das jetzt erklären? Jetzt bloß cool bleiben. »Ich habe Hunger und will auf mein Zimmer, oder ist das etwa verboten?« Gut so, sie sind verwirrt. Der Mund von Lockenkopf klappt nur noch auf und zu, aber die Frau scheint noch wenig beeindruckt.
»Aha und wie heißt du? Und du weißt schon dass das Zimmer eigentlich gesperrt wurde, oder?« »Man hat mich heute Morgen in das Zimmer gesteckt, es war wohl das einzige was noch frei war. Ich heiße Dominique, aber um Himmels Willen: Lasst mich jetzt essen.«
»Dann wäre das schon mal geklärt. Ich heiße Zoe und das sind Emmet und Noesy. Wieso bist du in der Akademie? Wirst du schon ausgebildet?« Sie schüttelt den Kopf. »Nein, mir sind die Babysitter ausgegangen. Jetzt passen sie hier auf mich auf.«
»Also ich gehe mal davon aus dass du zum Zeugenschutzprogramm gehörst. Sag mal, hast du Delilah und Julius gesehen? Wir suchen schon die ganze Akademie nach ihnen ab.« Das Mädchen zeigt auf den anderen Mann, der gerade die Ecke entlang kommt. »Sie waren die ganze Zeit mit dem grimmigen Rotkopf unterwegs, fragt ihn.« Der Rest geht zu schnell für sie. Schlagartig reißt einer der Agenten sie nach hinten, Emmet stellt sich schützend vor ihr.
»Oh mein Gott er hat Delilah und Julius getötet? Wie bist du aus dem Gefängnis ausgebrochen, Tibor?« Die drei Agenten begeben sich sofort in Kampfhaltung, doch Tibor zuckt nicht mal mit der Wimper. Eins muss man Pumuckl lassen: Er ist verdammt cool. »Punkt eins: Nein, ich habe keinen getötet. Noch nicht.« Beim letzten Satz schaut er auffällig auf Dominique. War ja klar. »Punkt zwei: ich bin nicht ausgebrochen, ich wurde freigelassen. Zumindest könnte man es so nennen.«
»Ja klar und ich bin der Weihnachtsmann. Erzähl uns keine Lügen, Tibor!«
»Ich sag‘s nur ungern aber er sagt die Wahrheit.« Das schockt die drei jungen Agenten. Sind sie wirklich in der richtigen Akademie oder warum schützt Julius seinen Bruder?
»Delilah, ich glaube Julius ist verrückt geworden. Wir waren doch nur zwei Wochen weg!«
»Tja, es ist viel passiert in den letzten zwei Tagen. Wir erklären es euch, aber lasst Dominique in ihr Zimmer.« Ach menno, immer wenn es spannend wird. Widerwillig geht das Mädchen in ihr Zimmer. Naja, jetzt kann sie wenigstens endlich essen.
»….Aha, zusammenfassend heißt es also dass Tibor und das Mädchen fürs erste hier bleiben.« Noch kann Emmet nicht ganz glauben, was seine beiden Freunde gerade erzählt haben. »Ja, das ist das Sicherste.«
»Sicher? Spinnst du Julius? Bei unserer letzten Begegnung hat Tibor mit Emmets und meinen Kopf das Klo geputzt, darauf hab ich echt keine Lust mehr!« Oh ja, daran kann sich Tibor auch noch genau erinnern. Jetzt bloß nicht lachen, sonst macht er sich noch mehr verdächtig. »Keine Sorge, bevor ihr dran seid spüle ich noch ein kleines Mädchen die Toilette runter.« Die Bemerkung konnte er sich nun doch nicht verkneifen.
»Könntest du bitte aufhören Dominique zu bedrohen? Außerdem: Andere wollen sie schon länger umbringen, stell dich also mit deinen Morddrohungen hinten an.«
»Das war keine Drohung, das war ein Versprechen.« Und wieder die Frage: Meint er das ernst? Bestimmt nicht, oder doch?
»Okay, halten wir fest: Tibor möchte nicht uns, sondern ein kleines Mädchen umbringen.«
»Richtig.«
»Soll aber jetzt auf das Mädchen aufpassen.«
»Richtig.«
»Und bleibt hier in der Akademie.«
»Richtig. Mensch Noesy, ist dein IQ gestiegen oder warum bist du auf mal so ein Blitzmerker.«
»Haha, Delilah. Aber es ist mir auch egal. Aber ich warne euch: Wenn ich morgen früh tot in meinem Bett liege, weil er uns alle mit einem Kissen erstickt hat, dann bringe ich euch alle um!«
»Ich töte einen und er tötet alle, das nenne ich mal einen positiven Effekt.« Zu seinem Glück hat anscheinend keiner auf Tibors Spruch geachtet. Ironie scheinen die anderen heute nicht mehr zu verstehen.
»Bist du endlich zufrieden?« Doch Tibor schüttelt den Kopf- mal wieder.Dominique ist genervt. Mister Sadistisch tut mal wieder das, was er am besten kann: Einen wehrlosen Teenager gefühlte zehn Stunden mit irgendwelchen Hausaufgaben quälen. Ihre Hoffnungen, während ihres Aufenthalts in der Akademie von Chemie und Co verschont zu werden, haben sich binnen weniger Tage in Luft aufgelöst. Sie zu einer normalen Schule zu schicken wäre viel zu gefährlich gewesen, und weil sie nun mal die einzige Schulpflichtige in der ganzen Akademie ist und Tibor auch anscheinend nichts Besseres zu tun hat, bekommt sie jetzt seit drei Wochen Privatunterricht von Mister Ich-hasse-alle-die-mir-nur-zur-Nase-reichen persönlich. Und er scheint seinen Job richtig zu genießen! Verdammter Sadist.
»Das habe ich gehört.«
Kann der Mistkerl etwa schon Gedanken lesen? Wohl eher nicht. Dominique sollte lieber aufpassen, was sie sagt. Seit zwei Stunden lässt er ihr eine verdammte Matheaufgabe nach der anderen rechnen, während er seelenruhig die Zeitung liest. Wieso muss es ausgerechnet Mathe sein? Vokabeln pauken ist kein Problem, aber Mathe?! Damit macht er sich auch nicht wirklich beliebter. Er erinnert sie ein wenig an ihren alten Englischlehrer Mr. Hooper. Er diente früher in der Armee und benahm sich auch entsprechend. Sein Unterrichtsstil war- man kann es einfach nicht anders sagen-sehr autoritär. Er quälte die Schüler gerne mit Hausaufgaben, für die selbst die Oberstufenschüler Tage brauchten und strafte die Schüler bei jeden Verstoß mit extra Aufgaben und Nachsitzen. Naja, zumindest bis die Schüler du einen dummen Zufall (okay weniger Zufall, eher Spionage) herausfanden, dass er ein Fabel für Opern und Meerschweinchenzucht hat. Eigentlich kann man nichts dagegen sagen, aber als sie ein Video machten, während der Kraftprotz in seinem Wohnzimmer zu Schwanensee tanzt, war es mit seinem Bootscamp-Unterricht vorbei. Leider zweifelt Dominique daran, dass Tibor noch ein anderes Hobby außer Schüler quälen hat. Sie sieht nur noch eine Möglichkeit: Sie hasst sich selbst dafür, aber sie muss wohl oder übel anfangen zu betteln.
»Och komm schon wie lange noch? Ich hab die Aufgaben jetzt drei Mal gerechnet, ich kann nicht mehr! Sogar die Batterien von meinem Taschenrechner sind leer.« Aber Tibor legt nur seine Zeitung zur Seite und beschäftigt stattdessen mit seinem Laptop. »Na und? Dann rechnest du halt ohne weiter, musste ich früher auch.« Ist er nicht ein wenig zu jung für diese Früher-haben-wir-noch-richtig-gelernt-Nummer? »Spinnst du? Ich hab das mal Delilah und Julius gezeigt und ogar die hatten Schwierigkeiten mit den Aufgaben. Lass mich gehen, bitte.«
Dackelblick-Modus ein.
»Jammern bringt dir nichts. Du sollst die Sachen lernen, also lerne gefälligst.«
»Das würde ich auch sagen wenn ich die ganze Zeit nur Kaffee trinken dürfte. Was machst du eigentlich da am Laptop?«
»Das geht dir gar nichts an!« Aber zu spät: Schon hat das Mädchen gesehen, was ihr „Lehrer“ eigentlich für wichtige Dinge am Laptop macht. »DU SPIELST PORTAL UND ICH RECHNE MIR HIER DEN ARSCH AB?! BIN ICH HIER IM FALSCHEN FILM? WOLLT IHR MICH HIER EIGENTLICH ALLE VERAR…«
»Wer spielt hier Portal? Du kannst aufhören, wir lernen in einer halben Stunde Spanisch.«
Perfektes Timing von Delilah. Ja, sie ist wirklich die halbwegs normale Agentin hier. Und ein absolutes Ass in jeder erdenkbaren Fremdsprache. Der „Unterricht“ bei ihr wird deswegen zwar auch nicht viel besser, aber so schlimm wie bei Tibor ist es noch lange nicht. Trotzdem nimmt das Mädchen jetzt lieber die Beine in die Hand und sucht das Weite. Wenn Tibor anfängt zu quälen hört er meistens erst nach drei Stunden auf, und sie will gar nicht wissen ob Delilah sich gegen diesen Sadisten durchsetzen kann. Aber er bekommt sein Fett auch noch weg, ganz sicher.
Eine Agentenakademie ist das Coolste was es gibt.
Eigentlich.
In einer Akademie mit einer riesigen Sporthalle, einem Pool und einem Zimmer mit Internetanschluss und Fernseher kann man sich gar nicht langweilen.
Eigentlich.
Eine Vierzehnjährige hat einen gewissen Freiraum.
Eigentlich.
Seit einem Monat ist Dominique schon in der Akademie und hat Tag ein Tag aus nichts Besseres zu tun als zu lernen, fern zu sehen oder mit Zoe und den anderen Freaks Computerspiele zu spielen. Die Akademie hat das Mädchen seit ihrer Ankunft nicht einmal verlassen. Laut Al, Scarlett und den anderen ist es viel zu gefährlich, auch nur daran zu denken das Gelände zu verlassen.
Aber was spricht dagegen, einmal was anderes zu sehen? Sie würde sogar lieber shoppen gehen als den ganzen Tag nur in der Akademie zu verbringen. Sie sehnt sich nach ihren alten Schulkammeraden und Freundinnen, aber jeder Kontakt wurde ihr streng verboten. Sogar bei ihren alten Aufpassern hatte sie mehr Freiheiten, und die wollten eine Kamera in ihrem Zimmer installieren! Zum Glück haben sie es nicht getan, sonst wären ihre nächtlichen Ausflüge bestimmt aufgeflogen.
Moment: Ihre nächtlichen Ausflüge? Warum hat sie nicht eher daran gedacht? Die Akademie wird bestimmt strenger überwacht als ihr altes Zuhause, aber irgendwie muss sie es schaffen.
»Ja! Drei Null für Julius! Du bist unkonzentriert, Kleine.« »Kein Wunder, oder? Ich musste drei Stunden ohne einen Taschenrechner rechnen, ich kann keine Zahlen mehr sehen, und Tibor erst recht nicht!« Dominique versucht, so unverdächtig wie möglich zu verhalten. Keiner soll wissen, was sie für heute Nacht geplant hat, aber wenn sie schon gegen Julius bei Mario Cart verliert, ist das nicht gerade unverdächtig. Aber das mit den drei Stunden rechnen war zumindest nicht gelogen.
»Tja, Tibor kann anstrengend werden. Aber sei bloß nett zu ihn, er wartet nur darauf, dass seine Schussverletzungen soweit verheilt sind, damit er dich zu Katzenfutter verarbeiten kann. Und glaub mir: Er kann es und er macht es.« Auch das Mädchen hat bereits gehört, dass Tibor einen Tag vor ihrer Ankunft zweimal angeschossen wurde und wohl ziemlich starke Schmerzen haben muss. Das ist aber natürlich kein Grund, Mitleid zu zeigen und nett zu ihm zu sein. Oder ihn seine Schmerztabletten wieder zu geben, die sie ihm nach ihrer ersten Mathestunde geklaut hat. »Soll er doch, ich mag Katzen. Außerdem: Er braucht es nicht an mir auslassen, wenn er sich langweilt.«
»Glaub mir, vor einem Jahr war er schlimmer. Viel schlimmer.«
»Ach ja, was war denn los?« Upps, das sollte Julius natürlich nicht verraten. Sie soll gar nicht wissen, dass er Tibor bis vor einem Monat noch als absoluten Feind angesehen hat. Er vertraut ihm zwar immer noch nicht, aber das Mädchen soll deswegen nicht beunruhigt werden. »Das ist eine sehr lange Geschichte, aber nichts Besonderes eigentlich.«
»Ist ja auch egal. Ich geh jetzt lieber ins Bett, ich hab das Gefühl ich sehe hier überall Zahlen und Brüche.«
»Du gehst doch nur weil du verlierst.« »Egal. Gute Nacht.« Dominique geht freiwillig ins Bett? Ungewöhnlich aber was soll‘s. Julius kann ja nicht wissen, was sie plant…
Um Punkt Mitternacht weckt der Alarm sämtliche Agenten in der Akademie. Sie haben jetzt genau zwei Minuten Zeit, um sich anzuziehen und sich in Als Büro zu sammeln.
»Wasn los, Al?« Wie immer ist Emmet derjenige, der am längsten braucht um in die Gänge zu kommen. Aber auch die anderen fünf und auch Scarlett und Al scheinen hundemüde zu sein.
»Wir haben ein kleines Problem, Mann. Dominique hat sich aus den Staub gemacht.«
»Das ist völlig unmöglich! Die Sicherheitsüberwachungen sind viel zu komplex. Eine Vierzehnjährige kann diese unmöglich knacken, schon gar keine Zivilistin.«
»Ich nehme das mal als Kompliment, Tibor. Aber sie musste die Programme gar nicht knacken, das Tor wird erst ab 22Uhr überwacht.« Wie immer wenn etwas passiert ist sitzt Scarlett mit übereinander geschlagenen Beinen auf Als Schreibtisch und versucht, Robinson vom Nachrichtendienst zu erreichen. »Moment. Sie ist heute um neun ins Bett gegangen, heißt das sie ist seitdem schon verschwunden?« Al schaut Julius erst wie ein geparktes Auto im Regen an, dann schlägt er seine Hand gegen die Stirn. »Julius, Mann, ich dachte du wüsstest mehr über Teenager. Vierzehnjährige gehen nie freiwillig vor zehn ins Bett, verstehst du? Niemals!« Im Normalfall würde Tibor jetzt einen gemeinen Kommentar darüber ablassen, dass sich sein Bruder von einem kleinen Mädchen hat austricksen lassen, aber jetzt gibt es Wichtigeres. Scarlett beendet das kurze Gespräch mit Robinson, dann wendet sie sich an die anderen Agenten.
Sie nickt. »Das Mädchen ist zwar Zivilistin, aber nicht blöd. Trotzdem weiß sie nicht wie gefährlich die ganze Situation eigentlich ist. Ihr müsst sie so schnell wie möglich finden, sonst bringt sie sich vermutlich noch selbst in Gefahr.« Alle Agenten haben sofort verstanden und machen sich auf den Weg, nur einer wird von Scarlett abgehalten.
»Du nicht, Tibor. Deine Wunden sind noch nicht gut genug verheilt. Warte lieber hier und sag Bescheid, falls das Mädchen hier auftauchen sollte.«
»Was? Falls sie wirklich schon von den Leuten von Projekt gefunden wurde bin ich der Einzige…« »Genau deswegen, Mann. Die würden dich sofort töten, und wenn Giulia wirklich so schlimm ist wie du sagst dann wird sie mit dir vorher noch ganz andere Sachen anstellen wenn du verstehst was ich meine. Du kennst zu viele Informationen über das Projekt, wir können jetzt auf keinen Fall zulassen dass du doch noch erschossen wirst. Vertraue einmal deinem kleinen Bruder, Mann. Er weiß wohl was er tut.« Tibor ist immer noch nicht überzeugt. »Ich zweifle nicht an seinen oder Delilahs Fähigkeiten, aber sie haben es zum ersten Mal mit dem Projekt zu tun.«
»Verstehe. Kann es sein dass du dir Sorgen machst?« Tibor schweigt, was für Al schon Antwort genug ist. »Bleib trotzdem hier. Höre einmal auf mich, du weißt was das letzte Mal passiert ist als du es nicht getan hast.«
Oh ja, das weiß er nur zu gut.
»Wieso darf ich nicht mitspielen?« Schmollend sieht das Mädchen Tibor an, aber der Siebzehnjährige lacht nur. »Auf keinen Fall. Du kannst ja noch nicht mal richtig lesen und einmal möchte ich auch meine Ruhe von dir.«
Das ist so gemein! Er und Max spielen schon die ganze Zeit diese blöden Computerspiele, sie will auch mal! Aber sie hat ja noch eine Geheimwaffe. »Al hat gesagt ihr sollt mit mir spielen. Mir ist langweilig!«
»Lass uns noch diese Runde zu Ende spielen und dann bauen wir mit dir zusammen einen Schneemann.« Max ist der Nette von den beiden. Er kommt nur manchmal zu Besuch, aber wenn er da ist dann spielt er auch mit ihr. Und er nennt sie nicht immer Nervensäge.Tibor scheint von der Idee des Freundes nicht sonderlich begeistert zu sein. »Spinnst du, es ist eiskalt draußen.«
»Dann lasst mich doch wenigstens auch mal spielen. Ich bin schon groß, ich bin sechs!«Um zu zeigen wie groß sie ist streckt sie ihre Arme ganz weit nach außen und stellt sich sogar die Zehenspitzen, aber Tibor konzentriert sich weiter nur auf das blöde Spiel. »Groß, ja klar. Du reichst mir ja nicht mal bis zum Knie.«
»Sei nett zu ihr, Tibor. Du weißt was sie das letzte Mal gemacht hat.« Oh ja, wie kann er das auch vergessen? Vor zwei Wochen hat sie ihr Lieblingskuscheltier in einer Tierhandlung vergessen (Max brauchte neue Fische für sein Aquarium und nahm die Kleine mit). Sie ging ihren Aufpassern nur noch auf die Nerven, doch Tibor platzte irgendwann der Kragen und er sagte ihr, dass ihr geliebter Teddy bestimmt von den Fischen gefressen wird, wenn sie nicht endlich ruhig ist.
Großer Fehler.
Den ganzen Abend und die ganze Nacht machte das Mädchen nur Radau, bis der junge Agent notgedrungen mitten in der Nacht in der Tierhandlung anrief und diesen verdammten Teddybär abholte. Lektion fürs Leben: Reize niemals, wirklich niemals kleine Mädchen! »Verdammt noch mal, dann bauen wir halt diesen verfluchten Schneemann!«Trotz der Flüche strahlt das Mädchen über das gesamte Gesicht. In Blitzgeschwindigkeit rennt sie in ihr Zimmer und holt Schal und Mütze. Ein wenig beeindruckt ist Tibor schon. Eine Minute und zwanzig Sekunden um sich kältetauglich anzuziehen und das für eine Sechsjährige, Respekt.
Tja, dann mal los.
Ein wenig deprimierend ist das schon: Neun Jahre harte Ausbildung, Klassenbester in jedem Fach, laut einigen Ausbildern einer fähigsten Jungagenten die das Projekt je ausbilden konnte und wofür?
Um mit einer Sechsjährigen einen Schneemann zu bauen. Wieso haben sie ausgerechnet ihn für diesen „Auftrag“ ausgewählt? Jeder andere könnte auf das Mädchen aufpassen, aber nein, ausgerechnet Tibor Chevalier soll sich von einem Kind Schneebälle ins Gesicht werfen lassen. Und Teddybären. Und Legosteine.
Das ist ungerecht! Al hat sich mit dieser Aktion bei Tibor richtig unbeliebt gemacht. Er ist ein Freund seiner Eltern, und die einzige Möglichkeit, um mit seiner Familie Kontakt aufzunehmen. Sein kleiner Bruder Julius wurde vor zwei Monaten zwölf, aber er hat ihn das letzte Mal als Kleinkind gesehen. Jedenfalls tauchte Al plötzlich mit diesem Mädchen im Projekt auf, und suchte dringend einen Babysitter. Und anstelle eines der Mädchen zu nehmen, die die Sechsjährige für ach so niedlich halten, musste er ja ausgerechnet Tibor nehmen. Es wird ja auch nur ein paar Tage, höchstens Wochen dauern und es wird ihn auch gar nicht bei seinem Training beeinträchtigen. Ja klar, als ob. Aus den „paar Tagen“ wurde ein halbes Jahr, und das Mädel hat seine Lehrbücher als Malbuch missbraucht. Aber irgendwie ist dieses Monster schon ein bisschen niedlich. So niedlich wie einer von diesen Gremlins. Nicht nach Mitternacht füttern, kein Sonnenlicht oder Wasser und alles ist gut.
Auch das noch. Schniefend liegt Tibor auf dem Sofa, eine heiße Suppe in der Hand. Dem Schneemanndraußen geht es auf jeden Fall besser als dem jungen Agenten, der sich dank einer glorreichen Schneeballschlacht und einer Wette mit Max und dem Monster eine dicke Erkältung zugezogen halt.
»Max, nichts für ungut aber wenn genauso viel Talent zum Agent wie zum Koch besitzt dann geht die Welt heute noch unter.« Demonstrativ verzieht Tibor das Gesicht. In etwa so müssten seiner Meinung nach gekochte Sportsocken schmecken. »Was passt dir denn nun schon wieder nicht? Und du wolltest unbedingt angeben und hast gesagt, dass du den Schneemann auch barfuß bauen kannst.«
„Erinnere mich nicht daran. Wann musst du zurück?“ Es kostet Tibors gesamten Willen, die Suppe herunterzuschlucken, was Max entweder nicht bemerkt oder ignoriert. »Ich fahre sofort los, es wurde ein Schneesturm angekündigt.«
»Dann nimm bitte das Monster mit. Wenn ich noch einmal mit ihren Puppen spielen muss dreh ich entweder ihr oder mir den Hals um.« Auch ein lustiges Bild: Tibor spielt zusammen mit einem kleinen Mädchen und ihren Puppen Tee Party. Max sagt jetzt lieber nicht, dass er davon ein Foto hat und es jeden mehr oder weniger interessierten Agenten vom Projekt gezeigt hat. Einschließlich Ashley.
»Wollte Al nicht heute noch vorbei schauen? Oder irre ich mich?«
»Ich will es hoffen. Dieses Mädchen treibt mich in den Wahnsinn. Hol mir noch mal einen Teller von der Suppe, oder das was du als Suppe bezeichnest.« Eines muss man Maximilians Suppe lassen: sie scheint tatsächlich zu helfen, denn schon fühlt sich Tibor wacher und fitter. Was natürlich auch am Adrenalin liegen könnte, denn das Zeug zu essen kostet mehr Nerven als eine Schießerei. »Kannst du vergessen, ich verschwinde jetzt. Aber da wartet jemand auf seine Gute-Nacht-Geschichte.« Tatsächlich: Mit ihrem Teddybär und einem dicken Buch in der Hand steht das Mädchen im Türrahmen. »Was willst du jetzt schon wieder Nervensäge?«
»Tibor, was ist ein Hacker?« Er kann Max nicht mehraufhalten, wie er mit einem leisen Lachen die Wohnung verlässt. Als wäre sie ein Wesen von einem anderen Planet (was sie seiner Meinung nach auch ist) starrt Tibor die Kleine völlig perplex an. »Ein was? Wie kommst du darauf?«
»Das steht hier in diesem Buch. «
»Hey Moment mal: Das ist ja MEIN Buch! Ich hab es überall gesucht, ich muss noch einen Aufsatz schreiben! Wo hast du das her?«
»Es lag in deinem Zimmer. Ich hab meine Bücher schon gelesen und Al hat gesagt ich muss immer was Neues lesen sonst verlern ich es wieder.«
»Deswegen musst du doch noch lange nicht meine Schulbücher lesen! Und du hast wirklich schon deine ganzen Kinderbücher gelesen?« Schuldbewusst nickt das Mädchen. »Bist du jetzt wütend auf mich?« Dicke Tränen glitzern in ihren Augen. Nicht einmal Tibor kann sie weinen sehen, also sagt er schnell: »Nein, natürlich nicht. Ich bin nur ein wenig…beeindruckt. Du liest nicht schlecht. Für eine Sechsjährige.« Das macht das Mädchen stolz. »Das hast du mir ja auch beigebracht. Und was ist jetzt ein Hacker?« Absolut kein Thema für eine Sechsjährige, aber es fällt ihn auch nur eine Sache ein, mit der man die Neugier des Kindes ein Ende bereiten kann, auch wenn es ihn nicht gefällt. »Ähm nun ja…. Willst du das wissen oder willst du nicht lieber Videospiele spielen?« Da muss das Mädchen nicht zweimal überlegen. Keine zwei Sekunden später drückt sie ihrem Aufpasser einen Controller in die Hand. »Ich warne dich. Gegen mich gewinnt nicht mal Max, und er spielt definitiv besser als er kocht.« Das Mädchen ist voller Eifer, so leicht möchte sie ihn auch nicht gewinnen lassen. Doch das kostet Kraft und Energie. Sie wird müder, und müder…
Das ist wahrscheinlich eines der schönsten Bilder, die Al während seiner gesamten Agenten-Karriere gesehen hat. Tibor ist mit seinem Buch auf dem Sofa eingeschlafen, das kleine Mädchen hält immer noch den Controller in der Hand und schläft seelenruhig neben ihn. Ein Bild für die Götter.
»Lauf! Lauf verdammt noch mal und versteck dich!« Doch das Mädchen scheint ihn nicht zu hören. Am Morgen haben zwei bewaffnete Männer das Mädchen entführt, erst vor einer Stunde konnten sie das Versteck der Entführer mitten in einem Wald ausfindig machen. Aus der Hütte konnten sie das Mädchen bereits befreien, wurden jedoch von einem Schusshagel begrüßt. Sogar der sonst so ruhige Al ist panisch. »Tibor, schnapp dir die Kleine und verschwinde! Ich werde mit diesen Idioten schon alleine fertig!« Ist Al verrückt geworden? Wenn er unter seinem Bademantel nicht zufällig drei Waffen versteckt, ist er völlig unbewaffnet. Trotzdem: Die Kleine muss in Sicherheit gebracht werden, koste es was es wolle. Mit einem schnellen Griff packt er das Mädchen an der Hüfte und springt mit ihr eine Anhöhe hinauf. Eine Kugel streift seinen Oberarm, aber das ist irrelevant. Unten versucht Al sich gegen einen der Angreifer zu verteidigen, schafft es aber gerade nur, nicht erschossen zu werden. Wo ist der zweite Angreifer?
Keine fünf Meter von Tibor entfernt springt der zweite Angreifer auf die Anhöhe. Jetzt ist nicht die Zeit, um sich auszuruhen. Wieder packt er das Mädchen und springt und klettert weiter. Er ist trotz des Gewichtes des Mädchens schneller als sein Verfolger, aber dieser könnte ihn oder das Mädchen jederzeit erschießen, wenn Tibor sich nicht beeilt. Er hört, wie auch Al und der zweite Angreifer die Anhöhe hinauf klettern, sieht aber keine Möglichkeit, dem Agenten zu helfen. Das Mädchen klammert sich mit ihren kleinen Händen um seinen Hals. Sie zeigt keine Angst, sie hat nicht mal geweint. Tapferes kleines Monster.
Immer mehr Schüsse fallen. Wurde Al etwa schon erwischt? Fieberhaft überlegt Tibor, wie er Al helfen kann ohne die Sicherheit seines Schützlings noch mehr zu gefährden. »Tibor, bring die Kleine zum Jeep, sofort! Sie dürfen sie nicht kriegen, hörst du?« Aber er kann nicht. Er kann unmöglich Al seinem Schicksal überlassen, niemals! Er hat nur noch eine Idee. Schnell vergewissert er sich, dass er außer Schussweite ist und setzt das Mädchen ab. »Renn immer weiter geradeaus, dreh dich nicht um und halte unter gar keinen Umständen an, hast du mich verstanden? Ich muss Al helfen und ich versuche, diese Idioten von dir fern zu halten. Wenn du auf mich hörst wird dir nichts passieren, okay?«
Das Mädchen nickt. »Ich hab dich lieb, Tibor.«
Mit diesen Worten rennt sie los, so schnell wie ihre kleinen Beine sie tragen können. Tibor hingegen zieht seine Pistole. Er war schon die ganze Zeit bewaffnet, sah aber noch keine Möglichkeit, diese auch einzusetzen. Doch wo sind seine Verfolger? Kurz hält er inne und achtet auf jedes Geräusch, was die Anwesenheit einer zweiten Person verraten könnte. Nichts. Hat Al die anderen etwa schon besiegt? Nein, unmöglich. Al ist unbewaffnet, und selbst wenn er den einen Angreifer besiegt hat, kann er unmöglich Tibors Verfolger schon eingeholt haben. Mit geladener Waffe schleicht Tibor durch den Wald. Endlich, keine fünfzig Meter von ihm entfernt, hört er die typischen Geräusche eines Kampfes. Ohne zu zögern rennt er los. Al hat es geschafft, seinen Verfolger zu entwaffnen und verprügelt ihn nach bester Agenten-Manier. Aber wo ist der zweite Verfolger? Der steht dicht am Abhang, ganz in der Nähe von Al.
»Jetzt schieß schon, Mann! Mit den hier werde ich fertig, aber schnapp dir seinen Kumpel!«
Ein Schuss, und das Mädchen wäre fürs erste in Sicherheit. Der Mann hat Tibor wohl noch nicht bemerkt, er zielt zumindest Richtung Al. Eine Kugel ins Herz, und der Angreifer würde niemals wieder das Mädchen bedrohen. Tibor zielt. Ein Schuss in den Kopf, und der Mann wäre tot.
Tot ?
Für den Tod eines Menschen verantwortlich sein? Nein! Im letzten Moment zieht der junge Agent die Waffe runter. Die Kugel fliegt direkt auf das linke Bein des Angreifers, aber was ist das?
Entsetzt weitet Tibor die Augen. Direkt hinter den Mann, den er Sekunden zuvor eine Kugel in den Kopf schießen wollte, stand das kleine Mädchen. Sie konnte nicht mehr fliehen. Im letzten Augenblick reißt der Mann das Mädchen nach vorne, direkt vor seinem Bein. Die Kugel geht direkt durch ihre kleine Schulter. Nein, das kann nicht sein!
Auch Al und der andere Mann haben gesehen, was soeben passiert ist. Unfähig sich zu bewegen steht Tibor geschockt da. Was hat er gerade getan? Die Kugel, die seine linke Schulter durchschlägt, nimmt er gar nicht mehr wahr. Er sieht noch, wie das Kind den Abhang hinunter stürzt und die beiden Männer fliehen. Dann sieht und spürt er nichts mehr.
Es war alles seine Schuld! Mit voller Wucht schlägt Tibor auf den Boxsack, die Schmerzen in seiner Schulter nimmt er gar nicht mehr wahr.
Soll es jetzt genauso laufen wie vor acht Jahren? Das Mädchen damals wäre heute genauso alt gewesen wie Dominique, Al hat es schon vorher angedeutet. Dominique beschützen, um zu zeigen, dass er aus seinem Fehler gelernt hat. Hätte er damals nur auf Al gehört! Aber nein, er war zu feige um diesen Kerl direkt durch den Kopf zu schießen, stattdessen musste eine Sechsjährige sterben. Wie sie ihn noch kurz ansah, als die Kugel durch ihren kleinen Körper schoss. Diesen Blick konnte er bis heut nicht vergessen. Ihre letzten Worte jedoch auch nicht. Ich hab dich lieb, Tibor.
Und er hat sie getötet!
Blut tropft durch seinen Pullover, vermutlich hat sich die Wunde wieder geöffnet. Aber das ist irrelevant. Alle bringen sich in Gefahr, und er sitzt hier nur faul rum, obwohl ER einen Fehler wieder gut machen muss. Was ist, wenn Dominique auch noch stirbt?
Was ist, wenn die anderen… Ein Klappern reißt ihn aus seinen Gedanken. Die Schlafsäle grenzen direkt an der Sporthalle an, vielleicht…
Ohne weiter zu überlegen rennt er los, und tatsächlich: Seelenruhig klettert die Teenagerin durch das Fenster in ihr Zimmer. Wie soll er reagieren? Soll er lachen, sie anschreien?
Nein, momentan tut er lieber gar nichts.
»Ich kann das erklären…« Doch Tibor achtet gar nicht auf die Worte des Mädchens. Stattdessen versucht er, Julius per Kommunikator zu erreichen. Nichts. Das kann doch gar nicht sein! Er versucht es weiter, aber immer noch nichts. Er versucht seinen kleinen Bruder mit dem Handy zu erreichen, aber auch damit funktioniert es nicht. Er kann auch Delilah oder einen von den Anderen nicht erreichen.
Sie werden doch wohl nicht…
»Wenn du nicht vorhast, mich anzubrüllen, dann geh wenigstens aus meinem Zimmer raus. Ich will schlafen.« Die Ignoranz und Arroganz der Teenagerin bringen Tibor aus der Fassung. Versteht das Mädchen denn gar nichts? »Was denkst du, was hier gerade los ist? Glaubst du wirklich es fällt keinen auf, dass du abgehauen bist?«
Doch Dominique zeigt sich nicht sehr beeindruckt. »Ich lasse mich nicht einsperren. Und es ist ja schließlich nichts passiert oder?« Das bringt das Fass endgültig zum Überlaufen. »Nichts passiert? Es geht hier nicht nur um dich klar? Zwei Menschen haben sich erschießen lassen, nur um dich zu schützen und es ist nichts passiert? Alle suchen dich und bringen sich für dich in Gefahr.«
»Welche Gefahr, ich sehe keine Gefahr!«, brüllt sie zurück, sie zittert förmlich vor Wut. »Seitdem ich ein kleines Kind bin sagen alle ich wäre in großer Gefahr, aber ich hab keine Ahnung warum! Ich finde es auch nicht witzig, ständig mein Zuhause wechseln zu müssen, nur weil ihr mir nicht sagen wollt warum ich so in Gefahr bin! Ich habe keine Familie oder Freunde, klar?« Tibor scheint wenig Mitleid mit ihr zu haben. »Oh, das tut mir aber Leid für dich. Nur um mal eins klar zu stellen: Ich kann keinen von den anderen erreichen. Wer weiß, vielleicht sind sie alle tot, genauso wie deine alten Beschützer vor einem Monat? Mein kleiner Bruder ist vermutlich jetzt schon tot, nur weil er dich schützen will! Erzähl du mir nichts von wegen keine Familie.« Was, Tibor hat einen Bruder? Das wusste sie nicht. Dann fällt es ihr wie Schuppen vor den Augen. Innerlich sind sie zwar auf den ersten Blick grundverschieden, aber die äußere Ähnlichkeit ist kaum zu leugnen.
»Julius.« Sie ist plötzlich ganz still. »Das wusste ich nicht«, flüstert sie, was Tibor kein Stück besänftigt. Genauso wenig wie ihre Entschuldigung, die sie vor sich hin stammelt.
»Natürlich wusstest du das nicht, du interessierst dich ja auchnur für deine eigene Haut. Weißt du eigentlich, wie die anderen Agenten hießen? Oder ist das auch unwichtig?« Erst nachdem Tibor mit dem Anbrüllen fertig ist, dass schon die ganze Zeit dicke Tränen aus Dominiques Augen quellen. Ein leiser Schluchzer dringt durch ihre Kehle, als sie weinend auf ihren Bett einbricht. Tibor weiß selbst nicht, mit welcher Reaktion er gerechnet hat, aber ganz sicher nicht mit dieser. Als müsse sie beweisen, dass sie es sehr wohl weiß beginnt sie mit zittriger Stimme los zu plappern, ohne dabei aufzuhören zu weinen.
»Ihre Namen waren Mary und Jack. Jack brachte mich immer mit seinem Wagen zur Schule und sie hat mir ihre alten Stiefel geschenkt. Sie haben gerade erst zugegeben, dass sie ein Paar sind. Ich hätte niemals weglaufen dürfen. Wäre ich da gewesen, hätte man sie nicht erschossen und würden noch leben. Ich habe sie umgebracht, Tibor!« Sie verliert auch noch das letzte bisschen ihrer Selbstbeherrschung und nun völlig unfähig zu sprechen weint sie hemmungslos. Die schnippische Teenagerin wirkt plötzlich so verletzlich, und Tibor bezweifelt, dass dies sonst ihre Art ist. Sie öffnet sich nie anderen Menschen, und wenn er ehrlich ist würde Tibor das in ihrer Situation auch nicht.
Wie soll er reagieren? Sie jetzt trösten oder bestrafen? Was soll er sagen? Ja, du hast sie umgebracht, weil du weggelaufen bist? Bestimmt nicht! Das hat auch Dominique nicht verdient. Er wollte sie zum Nachdenken bringen, aber einen Nervenzusammenbruch zu verursachen war nun wirklich nicht seine Absicht.
»Du hast sie nicht getötet. Wärst du im Haus gewesen, hätten sie trotzdem versucht dich zu schützen und wären dabei gestorben. Und du wärst jetzt auch tot.«
»Manchmal wäre es besser, oder? Dann hätte ich deinen Bruder nicht in Gefahr gebracht.« Tibor lässt sich nicht anmerken, dass ihre Worte ihn ziemlich erschrecken. Sie ist doch gerade mal vierzehn! »Er ist clever, er hat schon ganz andere Sachen überlebt. Vorwürfe machen bringt jetzt nichts. Aber ein Rat am Rande: Sei nicht so abweisendend zu den Menschen, die dir helfen wollen. Damit machst du dich nur selbst fertig. Ich weiß es aus eigener Erfahrung.« Max, Ashley… zu jedem seiner Freunde war er nach dem Tod des Mädchens damals abweisend. Sie konnten ihm nicht helfen, und nun war es schon so weit, dass er und sein ehemals bester Freund sich beinahe gegenseitig getötet hätten.
» Darf ich dir eine Frage stellen? Warum wollt ihr mich denn alle beschützen?«
»Du würdest ansonsten getötet werden.« Tibor weiß selbst, dass dies nicht die eigentliche Frage war. »Nein, wovor müsst ihr mich beschützen?«
»Das darf ich dir nicht sagen, da musst du schon Al fragen.« Ein wenig hat sich das Mädchen wieder gefasst. Eine Frage interessiert ihr doch noch. »Sei ehrlich, Tibor: Wollt ihr wirklich mich beschützen oder die Informationen, die ich eventuell hab?« Tibor schweigt. Darauf weiß er selbst keine Antwort, und er will es auch gar nicht so genau wissen. Dominique anscheinend auch wohl nicht, zumindest fragt sie nicht weiter nach. Einige Minuten schweigen sie nur, bis dem Agenten auffällt, dass das Mädchen an seiner Schulter eingeschlafen ist. Er hat gar nicht gemerkt, dass er seinen Arm um sie gelegt hat, um sie zu trösten. Vorsichtig legt er ihren Kopf auf das Kissen.
»Sieh dir das mal an, Tibor tröstet Dominique, hättest du das für möglich gehalten D?« Vorsichtig schaut Delilah nochmal durch den Türspalt. »Nein, aber vor einem Monat hätte ich es auch nicht für möglich gehalten, dass man normal mit ihn sprechen kann. Eins muss man ihn lassen: Dein Bruder ist immer für eine Überraschung gut.« Ja, das ist er wirklich. Sie mussten ihre Suche vorzeitig abbrechen, aus irgendwelchen Gründen funktionierten ihre Kommunikatoren nicht mehr. Umso erleichterter waren sie, als sie gesehen haben, dass Dominique bereits wieder Zuhause war. »Und, was hältst du von der Sache?«
»Tibor will Dominique nicht töten, aber er muss nicht unbedingt wissen dass wir ihm soweit vertrauen.«
Dominique war nur einmal zuvor in Als Büro, und dass sie nun schon wieder hier sitzt gefällt ihr gar nicht. Jetzt im Nachhinein war ihr nächtliche Fluchtaktion doch eine blöde Idee, sie hätte es ja wissen sollen dass gefühlte dreißig Agenten sie nach zehn Minuten suchen würden. Verdammt.
Nervös versucht sie Al ins Gesicht zu sehen, aber er scheint mit seinen Gedanken völlig woanders zu sein. Sie fühlt sich wie auf einen Servierteller, sämtliche Agenten starren sie ringsum an. Auch ein ziemlich stämmiger dunkelhäutiger Agent ist anwesend, Robinson heißt er. Er sieht aus, als würde er den Teenager am liebsten in der Luft zerreißen. Ob man sie jetzt rausschmeißt?
»Du hast keine Ahnung, warum du eigentlich hier bist, oder?« Unsicher schüttelt das Mädchen den Kopf. Versucht Al gerade, ihr eine Falle zu stellen? »Tja, dann müssen wir es dir wohl erklären.«
»Das ist zu riskant, Al Sie darf es nicht erfahren.«
»Halte du dich raus, Robinson. Das Mädchen hat ein Recht darauf, zu erfahren, warum sie ihr Leben lang wie ein Ping Pong Ball hin und hergeworfen wird, Mann.« Robinson möchte wieder etwas einwenden, aber Al fährt unbeirrt fort. »Die Sache ist Folgende, Dominique: Vor zwanzig Jahren wurde ein Projekt gegründet, in dem Kinder und Jugendliche zu eine Art Superagenten ausgebildet werden sollten. Unser lieber Tibor hier war einer davon. Leider ist dort gründlichst was schief gelaufen, als einige Ausbilder und Schüler die Seite gewechselt haben. Deine Eltern waren mit diesem Projekt verwickelt, wir gehen davon aus dass sie wichtige Informationen darüber hatten.«
»Und was hat das mit mir zu tun? Und was haben die vom Projekt vor?«
»Das kann dir Tibor besser erklären.« Tibor zieht eine Augenbraue hoch, er kann nicht verstehen, warum Al plötzlich will, dass das Mädchen vom Projekt erfährt. Trotzdem fängt er sehr zum Missfallen von Robinson an, zu erklären: »Egal welche Informationen deine Eltern gesammelt haben, sie dürfen aus der Sicht der Überläufer nicht in die falschen Hände geraten. Und die beste Methode, jemanden zum Schweigen zu bringen ist nun mal ihn zu töten. Und weil keiner weiß, ob deine Eltern noch am Leben sind vermutet man, dass sie dir auf irgendeine Art Informationen zugestellt haben.«
»Das haben sie nicht, ich schwöre es!«
Tibor winkt ab. »Ich glaube dir, zumindest weißt du nichts davon. Es gibt Methoden, um das Gedächtnis von jemandem zu manipulieren aber das ist eine andere Sache. Fakt ist: Es interessiert diesen Leuten nicht, ob du nun was weißt oder nicht. Sie wollen dich trotzdem töten, und jeden in deiner Umgebung. Wenn du Glück hast, heißt das. Ansonsten nehmen sie dich gefangen, foltern dich und töten jeden, der dir irgendwie nahe steht, um Informationen zu erzwingen.«
Und für solche Leute hat Tibor mal gearbeitet? Aber hinter ihn sind sie ja auch her. »Wurdest du deswegen angeschossen? Weil du nicht übergelaufen bist?«
»Ja, unter anderem. Bei einigen wissen wir, dass sie übergelaufen sind. Sie verkaufen Informationen an unsere Feinde und erpressen jeden, der ihnen in die Quere kommt.« Dominique hört, wie Julius hinter ihr »An wen erinnert uns das?« murmelt, versteht aber nicht was er meint. Tibor anscheinend schon. »Sehr witzig, Julius.«
»Aber wieso laufen Agenten über?« Für sie ist es schwer vorstellbar, dass man jemanden wie Tibor mit Geld oder was anderem locken könnte. Aber wie schafft man es sonst, dass jemand die Seite wechselt? »Die meisten wissen nicht mal, was sie da genau anstellen, Dominique. Die Agenten vom Projekt gehören zur absoluten Elite, nur leider wird den meisten dort im Gegensatz zu hier in der Akademie das eigenständige Denken nicht beigebracht. Sie sind zu stolz darauf, was sie sind und wozu sie gehören. Man schmiert ihnen Honig ums Maul und sagt ihnen, dass ihre Freunde die wahren Verräter seien.«
»Und wie hast du es geschafft, nicht auch geblendet zu werden?« Darauf hat sie eigentlich keine Antwort erwartet. Auch Julius scheint überrascht zu sein, als sein Bruder tatsächlich antwortet.
»Bei mir hätten sie es auch fast geschafft. Erst durch einen schlimmen Fehler habe ich gemerkt, was manche meiner ehemaligen Lehrer eigentlich vorhatten.« Die Frage, welchen Fehler Tibor begangen haben soll bleibt dem Mädchen im Hals stecken, als sie die Gesichter der Agenten sieht. Was hat Tibor angestellt? Keiner von den Agenten würde ihr die Frage beantworten, soviel ist sicher.
»Zusammenfassend: Wenn ich überleben möchte darf ich die Akademie nie ohne Geleitschutz verlassen und niemals jemanden trauen.«
»Niemand verlangt von dir, völlig paranoid zu werden. Aber ein Rat: Überleg es dir zweimal bevor du jemanden auch nur deinen Namen anvertraust.«
Die Teenagerin hat noch mehr Fragen, aber Robinson unterbricht sie. »Das reicht, sie weiß schon mehr als ihr gut tut.«
»Dann bleibt nur noch die Frage, wie wir jetzt weiter machen, Mann. Sie kann nicht ewig Delilahs alte Klamotten nachtragen.« Robinson ahnt schon, was Al plant. »Du willst die Kleine doch nicht tatsächlich rauslassen, oder Al?« Rauslassen? Sie ist doch kein Hund, den man in einem Zwinger sperrt! Der gleichen Meinung ist auch Al. »Sollen wir sie etwa weiter einsperren? Das Mädchen muss auch mal raus, sonst können wir sie in ein paar Monaten in eine geschlossene Anstalt einweisen lassen.«
»Das ist viel zu riskant! Du weißt, was das letzte Mal passiert ist.«
»Oh ja, das wissen wir alle nur zu genau. Und nein, das erzählen wir dir nicht, Kleine.« Er sieht das Mädchen an, die tatsächlich gerade den Mund öffnen wollte um danach zu fragen.
»Es ist deine Entscheidung, Al. Ich soll hier nur überprüfen, ob es dem Mädchen gut geht.«
»Ich hatte nie vor dich um Erlaubnis zu bitten, Robinson.«
Falls der stämmige Agent dem Hippie das übel nimmt lässt er sich wenigstens nichts anmerken.
»Gut, dann habe ich nur drei Bedingungen: Erstens verlässt sie die Akademie nicht ohne Begleitung, zweitens hält sie sich an die Regeln und drittens: Delilah und Julius bilden sie wenigstens ansatzweise in Selbstverteidigung aus. Tibor auch meinetwegen, wenn seine Schulter wieder verheilt ist. Guck mich nicht so an, Julius. Dein Bruder hätte mich wahrscheinlich schon längst erwürgt wenn es seine Schulter zugelassen hätte, und ich muss zugeben ich bin nicht ganz unschuldig. Vorausgesetzt seine Geschichte stimmt.«
»Welche Geschi…«
„Genug Fragen für heute, du Nervensäge! Wenn du jetzt aufhörst Fragen zu stellen gehen wir gleich morgen in die Stadt, okay?«
Widerwillig nimmt das Mädchen Julius Angebot an. Erzählen würde man ihr doch nichts. Keine zwei Minuten später verschwinden die Agenten wieder aus Als Büro, nur Dominique ist sich nicht sicher, ob sie den Braten trauen darf. »Al, wieso bekomme ich keinen Ärger?«
»Tibor hat mir gesagt, du hättest das Akademiegelände nie verlassen und es wäre alles ein Missverständnis gewesen.«
»Aber ich…«
»Genug jetzt. Wenn Tibor dich schon im Schutz nimmt wollen wir lieber nicht prüfen, ob es wirklich stimmt, oder? Sei‘ lieber nett zu ihm, er hat dir eine Menge Ärger mit Robinson erspart.«
»Seid ihr bald fertig? Ich spüre meine Arme nicht mehr!« Demonstrativ hebt Julius die drei Tüten hoch, die er seit gefühlten drei Stunden schleppen muss. Wieso hat er sich dazu überreden lassen, mit Delilah und Dominique einkaufen zu gehen? Er weiß doch ganz genau, wie das endet: Die Mädchen tingeln von einem Laden zum nächsten und er darf schleppen.
»Wir sind sofort fertig, aber Scarlett holt uns doch erst in einer Stunde wieder ab.«
»Ich hoffe sie bringt einen Truck mit, bei den Klamotten die ihr gekauft habt. Warum nochmal haben wir nicht selber den Wagen mitgenommen?«
»Weil Scarlett sowieso in die Stadt musste und wir an eine Rückfahrmöglichkeit nicht gedacht haben. Wo steckt Tibor eigentlich?« Anstelle Delilah zu antworten, flucht Julius vor sich hin. Tibor hat sich bereits zu Beginn der Shopping-Tour von den anderen abgesetzt. Er habe noch was zu erledigen, hat er gesagt. Außerdem würde er nie im Leben ein Shopping-Center betreten.
Julius hat seinen großen Bruder noch nie so sehr gehasst wie in diesem Moment.
Tibor macht sich einen schönen Tag und Julius darf drei Tonnen Einkaufstüten schleppen, das ist unfair!
»Ich glaube wir kommen wohl nach Hause, schaut mal!« Dominique zeigt nach vorne. Auf einem Parkplatz neben einem Park steht Tibor, der sich sichtlich gelangweilt an ein dunkelblaues Auto lehnt. »Wolltet ihr etwa den ganzen Laden leer räumen? Ich warte seit einer Stunde auf euch.«
»Sag das den Beiden. Was ist das für ein Auto?«
»Das ist mein Auto. Ich hab es hier während des letzten Jahres untergestellt.« Julius pfeift anerkennend. »Na dein Gehalt hätte ich auch gerne. Wie viel hast du bitte schön im Projekt verdient wenn du dir so einen Wagen leisten kannst?«
»Ich habe mehr in einem Monat verdient als ihr zusammen in einem Jahr, dafür haben sie sich andere Sachen für uns ausgedacht um uns das Leben zur Hölle zu machen. Steigt ein, aber falls ich nur einen Krümel auf den Sitzen finde drehe ich euch den Hals um…Oh nein nicht der!« Die anderen folgen seinen Blick, doch wie sehr sie sich auch bemühen, sie können nichts Ungewöhnliches entdecken.
»Was ist denn los? Hat dich ein Eichhörnchen erschreckt?«
»Sehr lustig. Seht ihr dort an der Kreuzung den schwarzen Wagen? Sein Besitzer gehörte ebenfalls zum Projekt und soweit ich gehört habe wurde ihm vom globalen Nachrichtendienst aufgetragen mich zu finden.«
»Ist er übergelaufen?«
»Keine Ahnung, er folgte zwar immer strikt dem Protokoll war aber ansonsten ein netter Kerl. Falls er mich jetzt hier sehen sollte würde er umgehend entweder den Nachrichtendienst oder das Projekt verständigen, und wie das ausgehen könnte muss ich euch hoffentlich nicht erklären.« Wieder möchte Dominique was fragen, aber Julius hält ihr einfach den Mund zu, ohne auf ihren Protest zu achten. »Halt die Klappe Dominique. Also, was machen wir jetzt? Er kennt dein Auto, oder?« Tibors Blick spricht Bände. Er fährt definitiv keinen Wagen, den man schnell vergisst. »Einfach wegfahren ist zu riskant, vermutlich hat er zumindest den Wagen schon längst gesehen.«
»Jungs ich hab eine Idee, aber es ist ziemlich riskant. Er kennt nur dich, oder Tibor? Was ist wenn einer von uns behauptet es wäre sein Wagen?« Tibor schüttelt den Kopf. »An sich eine nette Idee, aber ihr seid beide Agenten, er würde sofort die Datenbanken vom Nachrichtendienst überprüfen.«
»Moment: Nicht jeder von uns ist Agent, und gerade kleine Mädchen im Zeugenschutzprogramm tauchen in keiner Datenbank auf.«
Wieso gucken sie sie alle an?
»Julius, was hast du vor? Warum guckt ihr alle so?«
»Tu nicht so scheinheilig, du weißt genau was er plant.«
Oh nein!
»Vergisst es, nicht mit mir! Ich kann doch keinen Agenten ablenken!«
»Wo sie Recht hat, hat sie Recht. Dafür hat sie nicht das Zeug.«
»Was soll das heißen, Tibor? Dafür hat sie nicht das Zeug, ha! Ich kann das, ich bin kein Kleinkind mehr!« Anscheinend schon, denn Tibors Falle bemerkt Dominique erst jetzt. Verfluchter Mistkerl, das riecht nach Rache!
»Gut, dann hätten wir das geklärt. Delilah, bring einen Peilsender an seinem Auto an, ich will wissen wo er gleich hinfährt. Julius und ich werden dich aus sicherer Entfernung beobachten, damit dir nichts passiert Dominique.« Letzteres glaubt sie ihm nicht wirklich, aber Julius verhindert mal wieder, dass sie lautstark anfängt zu protestieren.
»Ich will ja nichts sagen aber entweder versucht jemand in sein Auto einzubrechen oder es geht los. Viel Glück Nervensäge!« Mit einem schnellen Sprung verschwinden die Brüder in den Park, während Delilah sich zum schwarzen Wagen schleicht. Sein Besitzer holt einen Aktenkoffer aus den Wagen und geht direkt auf Dominique zu. Verdammter Mist, was soll sie nur machen?
Fieberhaft überlegt das Mädchen, was es tun kann, doch der Mann kommt immer näher. Welche Geschichte kann sie nur erzählen? Alles ist so an den Haaren herbeigezogen, die Lüge wird er sofort durchschauen. Noch zehn Schritte… Was soll sie jetzt bitte schön erzählen? Wie kommt dieser verfluchte Mistkerl nur dazu, ihr die Drecksarbeit zu überlassen?
Noch drei Schritte…
Rache, einfach nur Rache!
Vorbei.
»Hey Mädchen, wo ist der Besitzer von dem Auto?«
»Auto?«
Einfach blöd stellen, genauso wie in der Schule früher. Oder wenn sie mal wieder Schwarzgefahren ist. »Ich meine das Auto direkt hinter dir.«
»Oh, dieses Auto. Ich nicht wissen wo Herr sein, ich nur warten hier.« Endlich macht es sich bezahlt, ständig diesen breiten Akzent dieser blöden Kuh und ehemaligen Klassenkameradin namens Nadja zu imitieren. Der Agent ist auf jeden Fall sichtlich irritiert.
»Herr? Was zum.. Egal, wer bist du?«
»Ich seien Hausmädchen von Herrn. Herr wirklich nett sein, Herr schlagen mich nur drei Mal mit großen Besen am Tag.«
»Großer Besen? Wie heißt du und wo kommst du her?« Wie war das noch? Überlege dir dreimal, bis du jemanden deinen richtigen Namen sagst. »Herr sagen zu mir Du-da.«
»Und wo kommst du her?«
»Ich kommen von Straße dahinten, ich kaufen Sachen für Herr damit ich kochen kann kleine Hunde.«
»Ich meine aus welchem Land kommst du? Moment: Kleine Hunde?!« Nimm das, Tibor!
»Ja, gekochter Hund seien Lieblingsessen von Herr, er kochen zu Erst kleine Geschwister, aber die nun seien weg und er nun essen kleine Hunde. Herr möchten das ich stehlen kleinem Mädchen Hund.« Dabei zeigt sie auf ein kleines Mädchen im Park, was mit einem kleinen Welpen spielt. Die Eltern sind nirgendswo zu sehen.
»Und dann sollst du den kleinen Hund kochen?« Die Teenagerin lacht . »Nein, Hund noch seinen zu klein, aber Mädchen haben richtige Größe für Topf. Ich nehmen Hund, Mädchen verfolgen mich und ich dann schnappen Mädchen.«
Hinter sich hört Dominique ein kurzes Geräusch. Ja klar, sie soll hier Ernst bleiben und die beiden im Busch können ein Lachen nicht unterdrücken, typisch! Wobei, bei diesem geschockten Gesicht ist es auch ziemlich schwer, ein Lachen zurück zu halten. Bloß nichts anmerken lassen, Dominique…
»Und jetzt noch mal: Wo kommst du her?« Sie muss nicht lange überlegen, um Tibor wie den letzten Trottel dastehen zu lassen fällt ihr immer was ein. »Ich kommen aus Land ganz weit weg, ich nicht wissen wie heißen. Herr holen mich und Schwestern mit großem schwarzen Laster vor vielen Jahren.«
»Vor wie vielen Jahren? Wie alt bist du eigentlich?«
»Ich nicht wissen, ich nicht können zählen. Seien dummes Mädchen, Herr schlagen mich deswegen.
Aber froh seien das Herr mich noch nicht haben gekocht in Badewanne.«
Der Blick des Agenten ist einfach nur göttlich! Lange kann Dominique diese Show nicht mehr durchziehen. Delilah scheint mit dem Wagen fertig zu sein, zumindest versucht sie sich zurück zum Park zu schleichen. Eine kleine Idee hat Dominique doch noch, auch eine kleine Racheaktion zu Delilahs Ungunsten.
»Oh, da seien Freundin mit Nachrichten von Herr!« Delilah scheint zwar etwas durcheinander zu sein, aber als gute Agentin muss man auch improvisieren können, oder nicht?
»Wer bist du schon wieder? Wo ist euer „Herr“ ?«
»Oh, sie nicht sprechen Sprache eure, sie noch dümmer sein als ich.« Dominique ist sich nicht sicher, ob Delilah sie verstanden hat, aber plötzlich fängt sie an etwas völlig Fremdartiges zu sagen.
»BortaS bIr jablu’DI’ reH QaQqu’ nay’ .« Jetzt ist der arme Kerl völlig durcheinander.
»Was hat sie gesagt, antworte!«
»Sie sagen Herr mich kochen alle wenn nicht bald fahren nach Hause. Sie können fahren Auto, Herr uns töten wenn nicht fahren.« Oh nein, fängt der Kerl gleich an zu weinen? Auf jeden Fall scheint er sich nicht sonderlich wohl in seiner Haut zu fühlen. »Ich glaub ich hab den Wagen verwechselt, fahrt schnell nach Hause, bevor euer Herr euch kocht. Noch einen schönen Tag.« Ohne ein weiteres Wort zu verlieren rennt der arme Kerl zu seinen Wagen und fährt davon. Irgendwie schon ein wenig schade, es fing gerade an richtig Spaß zu machen. Das findet auch wohl Julius, immer noch lachend kommt er zusammen mit Tibor zurück zum Wagen.
»Was war das denn für eine Show? Dafür hättest du Eintritt verlangen können, woher kannst du das?«
»Ich wurde zu drei Jahre Theatergruppe gezwungen, nichts Besonderes eigentlich.« Tibor scheint die ganze Aktion nicht ganz so lustig zu finden, er sieht aus als ob er in eine Zitrone gebissen hätte. Obwohl: So sieht er eigentlich immer aus. »Weißt du eigentlich wie leichtsinnig das war? Deine kleine Lachnummer hätte mir Kopf und Kragen kosten können. Das war einfach nur kindisch.«
»Ich weiß, ich fand es auch witzig. Außerdem: Mir ist so schnell nichts Besseres eingefallen, das einzige was in meinem Kopf drin war, war der Satz des Pythagoras.«
»Ja ok ich habs begriffen, weniger Mathe mehr Improvisationsübungen. Eine Frage: Was hast du da eigentlich genau gesagt, Delilah? War das Klyngonisch?«
»Weißt du eigentlich was für ein Comic-Fanatiker dein Bruder ist? Er spricht wirklich fließend Klyngonisch, und ich musste wenigstens einen Spruch lernen.«
»Und der wäre?«
» Rache wird am besten kalt serviert.«
Hätte sie doch nur gehört!
Seit einer halben Stunde fuchtelt Dominique schon mit dem Staubsauger in Tibors Auto rum, ihrer Meinung nach ist alles blitzeblank. Aber nein, Mister Ich-fresse-kleine-Kinder ist das alles nicht gut genug. Dabei hat sie nur die Chips-Tüte angebrochen, sie hatte nun mal Hunger! Warum musste er auch eine Vollbremsung hinlegen? Und dass Julius sie auch die ganze Zeit mit SEINEN Chips abgeworfen hat, hat natürlich auch keiner gesehen. Und jetzt muss sie das Auto sauber machen, während die Brüder IHRE Chips fressen und zusehen.
Verfluchte Geschwister!
»Komm schon, ich hab deine verfluchte Karre jetzt drei Mal gesaugt, jetzt ist doch mal gut gewesen.« Oh nein das hätte sie nicht sagen dürfen!
»Verfluchte Karre?! Dieses AUTO kostet mehr als DU dein ganzes Leben verdienen wirst, es gibt Menschen die dafür sterben würden!«
»Ja, zum Beispiel wir wenn du noch mal aus der falsche Richtung in den Kreisverkehr fährst. Wo hast du bitte schön deinen Führerschein gemacht? Hast du den aus einem Kaugummi-Automaten gezogen?«
Tibor sieht sie ein wenig perplex an. »Meinen Führerschein?«
»Ja du weißt schon dieses kleine Plastik-Ding was Normalsterbliche brauchen um Autofahren zu dürfen.«
Tibor ist platt und Julius verschüttet vor Lachen die ganzen Chips auf den Boden. So wollen wir es haben. »Ich weiß was ein Führerschein ist.«
»Na super, dann weißt du hoffentlich auch dass man erst bei grün über die Ampel fährt und die Geschwindigkeitsbegrenzungen nicht pro Reifen gelten. Also nicht Tempo 50 mal vier wenn du verstehst was ich meine.«
»Hey ich bin ein Agent, ich darf so was!«
»Erzähl das nicht mir sondern der Oma, die du anscheinend an der vorletzten Kreuzung platt gefahren hast!«
»Da war eine Frau?«
»Ja, die kann man mit 140 km/h wohl leicht übersehen, was? Ich glaub ihr Dackel hängt immer noch am Stoßdämpfer.« Mit einem Satz ist Tibor bei seinem Auto und begutachtet den Stoßdämpfer.
Mache niemals, aber auch wirklich NIEMALS Witze über SEIN Auto! Er wird dich langsam und qualvoll töten, so viel ist sicher.
Verdächtig ruhig wendet er sich wieder an das Mädchen. »Dominique, sollten wir dir nicht noch ein paar Selbstverteidigungstechniken beibringen?«
Was hab ich gesagt?
»Ähm Tibor ich glaube das sollten besser Delilah und ich übernehmen, es wäre nämlich nicht schlecht wenn das Mädchen anschließend noch in einem Stück wäre.«
»Das ist mir egal! Dominique, zieh dich um, wir treffen uns in fünf Minuten in der Halle.« Werden in der Akademie jetzt schon Horror-Filme gedreht? Wütender Agent bringt Teenager qualvoll um und sein Bruder guckt zu? Wäre bestimmt ein Klassenschlager.
Wohlwissend, dass ihr letztes Stündlein geschlagen hat, geht Dominique auf ihr Zimmer, ein wütender Tibor folgt ihr. Seine Schulter ist zwar noch nicht ganz verheilt und schmerzt seit seiner Prügelattacke auf den Boxsack vor zwei Nächten unheimlich, aber ein kleines Mädchen in seine Einzelteile zu zerlegen dürfte noch zu schaffen sein, oder?
»Was ist denn hier los? Hat Tibor es endlich satt, das Mädchen zu quälen?« Etwas misstrauisch begutachtet Delilah das Auto, während Julius sich immer mehr Chips in den Mund steckt. »Von wegen, er trainiert jetzt mit ihr. Ich hoffe du bist gut in Nervensägen-zusammen-puzzeln , D.«
»Nein, noch mal!«
Zum gefühlten 1078934 Mal versucht Dominique, Tibors Angriffen auszuweichen oder abzuwehren, aber er lässt ihr absolut keine Chance. Wie zum Teufel macht er das bloß?
»Starre nicht auf meine Hände, da passiert nichts. Schau mir ins Gesicht, dann hast du meine Schultern im Blick. Egal wie winzig die Bewegung ist, die Schultern verraten dir sofort was passiert.«
Drei zwei eins und schon wieder vorbei. Das kann doch nicht wahr sein!
»Du schaust schon wieder auf deine Füße. Deine Beine machen das von alleine, aber wenn du nicht darauf achtest was ich mache liegst du gleich wieder auf den Boden.« Es funktioniert immer noch nicht.
»Das war schon besser, aber das nächste Mal mit weniger Kraft. Du bist nicht stark genug, um meine Angriffe direkt zu blocken, weiche lieber nach außen oder nach unten aus und lege dann deine gesamte Kraft in einen Gegenangriff. Wenn du deine Energie für einen unnötig starken Block verschwendest, verkrampfst du und du bist nicht schnell genug.«
Diesmal schafft sie es wenigstens die ersten zwei Angriffe mehr schlecht als Recht auszuweichen, aber beim dritten Angriff hat er sie wieder.
»Fast. Du musst mit mehr Angriffen rechnen, also sei schneller und versuch sie mit einem starken Konter zu unterbrechen. Danach spring sofort zurück und verschwinde.«
Der gleiche Angriff, diesmal setzt sie einen Stoß Richtung Bauch, der aber herzlich wenig Wirkung zeigt.
»Den Bauch kann man anspannen, das Gesicht nicht. Du musst aber damit rechnen, dass dein Gegner schlagartig die Arme hochreißt um sich zu schützen. Bleib bei Schienenbein, Solar Plexus, kurze Rippe oder bei sichtbaren Verletzungen, die du angreifen kannst.«
Wieder greift er an, aber durch seine Deckung ist kaum ein Durchkommen. Außer…
Tibor packt sie, doch ein kräftiger Schlag auf seine Schulter lockert seinen Griff. Damit hat selbst er nicht gerechnet. Dominique rennt demonstrativ ein Stück weg, um die Flucht zu simulieren, doch ihre Freude über ihren kleinen Triumpf weicht schlagartig Sorge, als sie Tibor schwer atmend auf den Boden sieht, Blut tropft durch sein T-Shirt.
Ist sie zu weit gegangen?
»Ist alles ok? Ich wollte das nicht, ehrlich nicht! Aber mir fiel nichts Besseres ein…«
»Sei ruhig«, keucht er, »Das war sehr gut, damit hätte keiner gerechnet. Du hast nur einen Fehler begangen: Kehre niemals deinem Gegner den Rücken zu, auch wenn er am Boden liegt. Gewinne erst einen gewissen Abstand, und dann drehst du dich um und rennst weg, verstanden?«
Dominique nickt, erleichtert, dass es den Agenten anscheinend gut geht.
»Wir machen Schluss für heute. Nur noch eine kleine Sache: Das nächste Mal wenn du jemanden auf die Schulter schlägst nimm Julius, meine braucht sowieso schon lange genug um zu verheilen.«
So und so ähnlich laufen auch die Trainingseinheiten während der kommenden Wochen ab, mal mit Tibor, dann wieder mit Delilah und Julius oder auch mal alle zusammen. Manchmal trainieren auch Zoe und die anderen mit ihr, einmal sogar Al und Scarlett. Das Training macht ihr sichtlich Spaß, manchmal wird sie auch dabei erwischt, wie sie heimlich am Boxsack trainiert, so wie an diesem Tag.
»Jeder Materialschaden wird von deinem Taschengeld abgezogen, denk daran falls du vor hast den Boxsack in seine Einzelteile zu zerlegen.«
Mit Tibor hat sie nicht gerechnet. In letzter Zeit wurde er immer stiller, sogar seine Gemeinheiten halten sie in Grenzen.
»Welches Taschengeld? Ich hab nicht mal genug Geld um mir ein neues T-Shirt zu kaufen.«
Zum Beweis deutet das Mädchen auf die kleinen Löcher ihres Trainingsshirts, die sich während des Trainings dank der Fingernägel so angesammelt haben.
»Wieso fragst du nicht Delilah, ob sie dir nicht was leihen kann?«
»Nee lieber nicht, mir würden nur ihre Tops passen und ich mag es überhaupt nicht, wenn man meine Schultern sehen kann, ich hab dort eine fette Narbe. Außerdem sind wir ja auch manchmal draußen beim Training, und selbst unter der Trainingsjacke ist ein Top Anfang Januar zu kalt.«
»Was für eine Narbe ist das?«
»Keine Ahnung, ich glaub es hat sich dort ein Hund oder so festgebissen. Zumindest wurde mir das so erzählt, könnte aber genauso gut einfach nur eine Ausrede sein, warum ich nie einen Hund haben durfte.«
Ein wenig seltsam findet Tibor das schon. Ein Hund, der in die Schulter beißt? Aber es ist auch relativ egal, für heute Nacht hat er andere Sorgen.
»Ist auch egal, trainier du weiter und lass dich nicht stören. Ciao.«
Der Anruf erreicht Al mitten in der Nacht. Wer zum Henker erlaubt es sich, ihn aus einem Traum mit Frühlingsrollen und Pizza zu wecken. »Hey wasn los, Mann? Julius, bist du das?«
»Ja, ich bins. Du musst sofort kommen, Tibor ist getürmt.«
»Das darf doch wohl nicht wahr sein! Dieser verdammte Mistkerl hat uns schon wieder gelinkt!« So wütend hat noch niemand Julius gesehen. Die ganze Akademie hat sich mal wieder in Als Büro versammelt, nur Delilah fehlt noch.
»Dann fängt man gerade an, ihn zu vertrauen und er hat nichts Besseres zu tun als uns in den Rücken zu fallen!« Emmet ist wenig überrascht. »Was erwartest du? Wir reden über Tibor, schon vergessen was er letztes Jahr getan hat?«
Nein, natürlich hat Julius das nicht vergessen, auch wenn er es manchmal liebend gern getan hätte. Insgeheim hatte er immer die Hoffnung, dass sein älterer Bruder doch nicht so ein schlechter Kerl ist wie es manchmal den Anschein macht. Wie naiv!
»Das Schlimme ist: Er hat sämtliche Informationen über Dominique, er kann sie jetzt so verraten.«
Das wird dem Mädchen zu viel. »Okay könnt ihr mir bitte schön verraten warum hier jeder glaubt Tibor wäre übergelaufen? Julius, er ist dein Bruder!« Wieso schauen alle sie so traurig an?
»Deswegen ja, Dominique. Du hast keine Ahnung, was hier letztes Jahr los war.«
»Dann erzählt es mir doch endlich!«
Während der letzten Monate hatte sie so viele Fragen an die Agenten, zum Beispiel warum Tibor in einem Projekt war während Julius in der Akademie aufwuchs, aber keiner wollte ihr je die Wahrheit erzählen. Für sie stand von vornerein fest: Zwischen den Brüdern ist eine gewisse Spannung, auch wenn sie versuchten, sich so normal wie möglich zu verhalten.
Julius schüttelt den Kopf. »Das können wir nicht. Ich weiß, dass du ihn vertraut hast, aber er war nie auf unserer Seite, auch wenn ich es auch schon fast geglaubt hätte.«
»Das kann nicht sein! Wieso hat er dann noch eine Nachricht geschrieben, wenn er uns doch alle verraten wird?« Sie ist rasend vor Wut. Nein, sie ist ausnahmsweise nicht wütend auf Tibor, sondern eher auf die anderen Agenten hier. Will denn keiner verstehen, dass er zwar ein Idiot, aber doch ein netter Kerl ist? Das er längst nicht so böse ist, wie er immer tut? Verdammt, er war rasend vor Sorge, als Delilah und Julius sie suchen mussten und die Kommunikatoren ausfielen. Hat das denn keiner bemerkt?
»Er hat einfach nur Sucht mich nicht auf einen Zettel geschrieben, das kann man nicht Nachricht nennen. Außerdem hat er sich in letzter Zeit immer seltsamer verhalten, das musst sogar du zugeben.«
Julius versteht die Wut und Traurigkeit von Dominique genau. Sie hat ihn wirklich vertraut, und auch wenn man es nicht glauben mag: Manchmal hatte er das Gefühl, dass Tibor das Mädchen auf irgendeine Art und Weise doch mochte. Für ihn steht fest: Seinen kleinen Bruder umbringen zu wollen ist die eine Sache, aber sich so hinterhältig das Vertrauen einer Teenagerin zu erschleichen, nur um sie später umbringen zu müssen ist unverzeihlich! Ihr Anblick erinnert Julius an einem kleinen Entenküken, welches voller Vertrauen und Liebe einem Menschen folgte, nur um von der Hand, die es aufzog, geschlachtet zu werden.
Das geht selbst für Tibor zu weit!
Julius hat ihn gewarnt: Sollte er dem Mädchen auch nur einmal auf so eine Art und Weise enttäuschen, würde er keine Gnade für seinen älteren Bruder kennen. Damals hat Tibor ihn ernst ins Gesicht geschaut und behauptet, so was würde nicht vorkommen.
Und Julius hat ihn geglaubt!
Endlich kehrt Delilah zurück, Maximilian im Schlepptau. »Ich glaub ich weiß wo Tibor ist, am schnellsten erreichen wir ihn mit dem Helikopter.« Diese Nachricht überrascht alle. Delilah hat den Vorschlag gemacht, Maximilian nochmals nach Tibor zu befragen, aber keiner hat mit einem wirklichen Erfolg gerechnet.
»In Ordnung, wir kommen mit!«
Noesy, Emmet und Zoe springen schon auf, doch Julius bedeutet ihnen, sich wieder zu setzten.
»Auf keinen Fall. Das ist eine Sache zwischen mir und Tibor, die einzigen die mitkommen sind Delilah und Max. Ihr sucht die nähere Umgebung nach ihm ab, vielleicht ist er doch nicht dort wo Maximilian ihn vermutet.«
»Und was soll ich tun?« Dominique kann doch nicht ruhig bleiben, während jeder Tibor sucht, oder? Für irgendwas muss sie doch nützlich sein!
»Du bleibst hier. Falls Tibor zurückkommen sollte versteckst du dich, verstanden? Wir fliegen los und ich warne dich: Tibor ist ein perfekt ausgebildeter Agent, komme nicht auf die Idee dich mit ihn anzulegen.«
Kaum zwei Sekunden ist das Büro wie leer gefegt, nur Dominique sitzt noch völlig frustriert auf Als Schreibtisch. Alleine hier bleiben und nichts tun? Nicht mit ihr! Nein, sie wird Tibor auch suchen, auf ihre Weise…
Max Flugstil ist gewöhnungsbedürftig, aber im Moment hat Julius andere Sorgen. Unter ihnen sieht er einen dichten Wald, hier und da ein kleiner Felsvorsprung. Es beginnt wieder zu schneien, doch Maximilian setzt schon zur Landung auf einer kleinen Lichtung an. Die Dunkelheit nimmt ihnen die Sicht, der Tag wird erst in ein paar Stunden anbrechen.
»Und du glaubst wirklich, dass Tibor hier ist?« Zweifelnd sieht sich Delilah um. Nichts außer Bäume und Felsen, das passt doch gar nicht zu Tibor.
»Zumindest war er hier. Seht euch das an.« Mit seiner Taschenlampe leuchtet Max auf die Reifenspuren. Julius sieht sich ein wenig um. Ihn kommt die Gegend auf eine seltsame Weise bekannt vor, auch ohne Licht. Das letzte Mal hatte er auch keine Taschenlampe…
»Hey ich weiß wo wir sind! Vor fast eineinhalb Jahren war Tibor schon mal hier, kurz nach dem er Kontakt zu mir aufgenommen hat. Ich hab ihn dort hinten in einer kleinen Hütte gefunden, das war an dem Tag als Evil Eye dir eine Falle gestellt hat. Weiß du noch D?«
»Natürlich weiß ich das noch, er wollte mir die Augen rausreißen, schon vergessen? Aber wieso versteckt er sich ausgerechnet hier?«
»Oh er versteckt sich nicht hier, zumindest gibt es eine andere logische Erklärung für sein Verschwinden.« Max schwenkt seine Taschenlampe ein wenig hin und her, so als würde er etwas in der Ferne suchen. Der Lichtpegel scheint zu kreuzen, was er sucht, denn er rennt geradewegs auf eine Anhöhe etwa hundert Meter von ihnen zu.
»Hey warte mal, soll das heißen er ist vielleicht nicht übergelaufen?«
»Wahrscheinlich. Dass er ausgerechnet heute hier ist muss zumindest nicht heißen, dass er böse ist. Ganz im Gegenteil.«
»Wie ganz im Gegenteil? Max bleib mal stehen, was suchst du überhaupt?«
Max springt die Anhöhe hoch, die Taschenlampe ständig auf den Boden gerichtet. Von hier hat man einen perfekten Blick auf die kleine Hütte unten, es ist dieselbe Anhöhe, von der Julius Tibor damals beobachtet hat. Der Lichtpegel wandert über den Boden, kreuzt hier und da einen Strauch oder Fußabdrücke, die von einer Person vor ihnen stammen. Endlich hört Maximilian auf, weiter zu suchen. Das Licht ist direkt auf Wurzel gerichtet, die etwa kniehoch senkrecht aus dem Boden ragt.
»Nach all den Jahren konnte er es doch einfach nicht vergessen, typisch Tibor.«
»Was vergessen?« Delilah bückt sich, um sich den Fund näher anzuschauen. Doch das, was durch den Schnee und der Dunkelheit wie eine offene Wurzel aussah, zeigt sich als zwei provisorisch zusammengeschlagene Bretter. Wie ein Kreuz.
»Ihren Todestag.«
Sein Kopf fühlt sich an, als hätte jemand ihn mit Watte gefüllt. Er hasst dieses Gefühl, nicht klar denken zu können. Vorsichtig versucht er, seine Finger und Zehen zu bewegen, aber es will ihn nur unter größter Mühe gelingen. Schmerzen hat Tibor keine, dafür fühlt er sich wie in Beton gegossen. Sitzt er, steht er? Nein, er liegt. Aber auf was? Nochmal versucht er seine Finger zu beugen, diesmal bekommt er etwas zu fassen. Er versucht den Gegenstand genauer zu erfühlen, aber noch fühlen sich seine Hände taub an, so als würden sie immer noch schlafen. Tibor versucht seine Augen zu öffnen, die scheinbar mit Kleber dicht geklebt wurden. Oder etwa nicht? Sind seine Augen nun offen oder nicht? Es ist so dunkel hier… Erst als er seinen Kopf nach rechts dreht und die grünen und roten Lichter sieht weiß er, dass er noch was sieht. Ein leises Piepen lässt ihn aufhorchen. Es ist ihm vertraut, aber seine Gedanken sind scheinen nur durch den Raum zu schweben, während er selbst zu träge und schwerfällig ist, um sie zu fangen.
Was war nur passiert?
Der Agent versucht sich zu erinnern, aber es will ihn einfach nicht gelingen. Und dieser Ort hilft ihm immer noch nicht weiter. Er schaut sich nochmal genauer um. Von seinem rechten Arm führt ein Seil nach oben. Halt Moment, das ist kein Seil, sondern ein Schlauch. En Schlauch, Lichter, ein regelmäßiges Piepen… Ist er im Krankenhaus? Der Verdacht liegt nahe, schließlich wurde er nicht festgebunden. Aber warum? Erinnere dich, los! Wenige Bruchstücke kehren zurück, Kiefern, Sand, Kälte, roter Schnee… Roter Schnee? Ach ja, er hat geblutet. Nur er? Nein, da war noch…
Wie ein Hammer donnern die Erinnerungen wieder auf ihn ein. Man hat auf ihn geschossen, in einem Wald.
Und er hat auf ein Kind geschossen.
Wieso musste er nur wieder aufwachen? Nein, das kann nicht sein, er träumt nur! Oder?
»Sieh mal an, Dornröschen ist wieder aufgewacht.« Diese Stimme, von wo kommt sie? Wer spricht?
»Max? Was machst du denn hier?«
»Ich hab gedacht dass dich wenigstens einer besuchen kann. Du liegst hier schon seit fast zwei Wochen, ist dir eigentlich klar wie viel Glück du hattest?«
Glück…
Langsam dreht Tibor den Kopf nach links. Auf einen Stuhl in der Ecke sitzt der Freund, seinem Gesicht nach zu urteilen ist er ziemlich besorgt.
»Wo ist…«
Wieso guckt Maximilian so traurig. Ist sie etwa…?
»Sie ist tot. Die Kugel und den Sturz konnte sie nicht überleben, sie wurde vor einer Woche beerdigt.«
»Du lügst. Sag, das du lügst!«
Das tapfere kleine Mädchen tot? Dabei wurde sie erst vor wenigen Wochen sechs Jahre alt! Das kann nicht sein, so jemand stirbt nicht. Aber nicht mal sie kann eine Kugel überleben.
»Ich hab dich nie angelogen, und das tue ich auch jetzt nicht. Es tut mir wirklich leid.«
Zwei Wochen musste Tibor noch im Krankenhaus bleiben. Er hat nur sehr wenig gesprochen, die traurigen Blicke von Max und Ashley konnte er einfach nicht ertragen. Wieso müssen sie immer so viel Mitleid zeigen? Doch das Schlimmste steht ihn noch bevor, das weiß er…
Wie in Trance nähert sich Tibor dem Büro seines Vorgesetzten. Niemand hatte es angesprochen, aber dass er sich früher oder später seinem Schicksal stellen muss war ihn auch so klar. Die Regeln im Projekt sind einfach: Beantworte keine Fragen. Vertraue niemandem. Doch die wichtigste Regel ist: Mache niemals Fehler, schon gar nicht während eines Auftrags. Die Konsequenzen für jeden Fehler sind bitter. Manchmal verschwinden sogar Agenten, wohin weiß niemand. Warum hat man ihn nicht einfach im Wald gelassen? Vermutlich wäre es zu gnädig gewesen. Aber er muss sich seiner Strafe stellen, das Opfer war zu groß um einfach feige zu verschwinden. Außerdem wäre eine Flucht sowieso unmöglich gewesen, das Projekt hätte ihn gefunden.
Überall.
Einmal noch die Ruhe vorm Sturm genießen, dann betritt Tibor das Büro.
»Ahh Chevalier, da sind Sie endlich. Wie geht es Ihrer Schulter? Ich hoffe Sie haben sich gut erholt.« Warum ist er so freundlich? Lächelt sein Vorgesetzter sogar noch? Jetzt bloß nicht in falsche Hoffnungen vertrauen. »Mir geht es gut. Ich bin bereit für meine Strafe.«
Sein Vorgesetzter scheint überrascht. »Wofür sollten wir Sie bestrafen? Sie haben den Auftrag mit Bravour abgeschlossen. Nur durch Sie konnten wir die Entführer schnappen und ihre Organisation zerschlagen.«
Spricht er noch die gleiche Sprache wie Tibor? Er hat doch definitiv was falsch verstanden, oder?
»Ich weiß nicht ob Sie es bereits gehört haben, aber ich habe ein kleines Mädchen getötet, Sir.«
»Oh ja, sechs war sie, richtig? Das ist natürlich eine schreckliche Tragödie, aber in Anbetracht dessen, was ohne ihren Tod hätte passieren können, ist es doch nur ein geringes Opfer.«
»Ein geringes Opfer? Das Mädchen war sechs! Sie hatte ihr gesamtes Leben noch vor sich.«
Die Augen des Vorgesetzten verengen sich zu schmalen Schlitzen. »Ich verstehe Ihre Betroffenheit vollkommen, aber es wäre weitaus schlimmer gewesen, wenn wir Sie verloren hätten. Sie sind unser bester Agent, vergessen Sie das nicht.«
Irgendetwas sagt Tibor, dass etwas nicht stimmt. Nie werden Agenten über das Leben der Zivilisten gestellt, schließlich ist es ihre Aufgabe, diese zu beschützen.
»Sie haben schon des Öfteren die Größe Ihres Zimmers bemängelt, welches Sie zusammen mit Agent Maximilian Steiner teilen müssen. In Anbetracht Ihres Erfolges habe ich durchsetzen können, dass Sie von nun in einem Einzelzimmer leben können, wo sie sich auch von Ihren Schussverletzungen erholen können.«
»Danke, Sir.«
»Noch eine Sache, Chevalier: Denken Sie daran, was Sie sind. Werfen Sie Ihre Karriere nicht wegen Gewissensbissen über Bord. Ihre Eltern würden das auch nicht wollen.«
»Natürlich nicht, Mr. Montinguez.«
Kaum hat Tibor das Büro verlassen, trifft er auf das nächste bekannte Gesicht. Al gesund und in einem Stück zu sehen, ist vielleicht das einzig Positive an diesem Tag.
»Al, ich…«
»Bleib bloß weg!« Überrascht bleibt Tibor stehen. Was ist denn mit den sonst so freundlichen Al los?
»Was ist denn mit dir los? Ist alles in Ordnung?«
Al ist wütend. »Ist dir eigentlich klar, was du angestellt hast? Du hast ein Kind getötet!«
»Das ist mir durchaus bewusst, und keine Sorge: Du kannst mir nicht mehr Vorwürfe machen als ich sowieso schon habe.«
Al lacht freudlos. »Das beruhigt mich aber. Und wie ich deine Vorgesetzten kenne, wurdest du dafür noch mit Lorbeeren ausgezeichnet, stimmt‘?«
Tibor versucht sich nichts anmerken zu lassen, trotzdem hört man aus seinem geflüsterten »Ja« heraus, dass er sich lieber eine Strafe gewünscht hätte. Al lässt sich davon aber nicht beeindrucken.
»Dann lass dir eins sagen: Das was du getan hast ist ein unverzeihlicher Fehler. Wie du es mit deinem Gewissen regelst, bleibt dir überlassen.«
Selten hat es jemand geschafft, Tibor so fassungslos zu machen. Er hat mit Vorwürfen gerechnet, aber von Al? Er scheint wie ausgewechselt zu sein. Tibor versucht so ruhig wie möglich zu bleiben, seine Stimme zittert schon vor Selbstbeherrschung.
»Sag mir nur eins Al: Wo ist ihr Grab?«
»Ich werde es dir nicht sagen, nicht solange du für deinen Fehler gebüßt hast.«
Müde stapft Dominique durch den Schnee. Seit zwei Stunden läuft sie mit einer Taschenlampe durch den Wald, und seit einer Stunde schneit es ununterbrochen. Die dicken Flocken und die Dunkelheit rauben ihr die Sicht, trotzdem denkt sie nicht daran, aufzugeben. Nicht bevor Tibor gefunden wurde. Außerdem hat sie sich verlaufen, was sie sich vor einer halben Stunde mehr oder weniger gerne eingestehen musste. Ihre Füße fühlen sich trotz der geliehenen Winterstiefeln von Delilah wie Eiswürfel an, und sie könnte schwören dass an ihrer Nase Eiszapfen hängen.
Wenn sie Tibor erwischt, ist er tot, aber mausetot!
Vorausgesetzt sie erfriert nicht vorher. Warum musste er auch abhauen? Jetzt glaubt jeder er wäre böse, aber das ist er nicht!
Oder?
Er quält zwar gerne Teenager, tötet jeden, der seinem Auto zu nahe kommt, isst anscheinend gerne kleine Hunde…
Moment, auf was wollte sie eigentlich hinaus?
Ach ja richtig: Tibor ist zwar ein Idiot, aber er würde niemals die Akademie verraten. Oder Julius.
Außerdem: Welcher Verräter schreibt bitte schön vorher noch eine Nachricht? Das passt doch alles nicht zusammen, aber Julius wollte einfach nicht auf sie hören. Wieso gibt er Tibor so schnell auf?
Sie sind Brüder!
Keiner wollte ihr sagen, was wirklich los ist. Aber sie wird es noch allen zeigen. Sie wird Tibor finden, ihn töten weil sie dank ihm morgen eine dicke Erkältung haben wird und dann beweisen, dass er nicht übergelaufen ist. Sie läuft immer weiter, ihre unheimliche Umgebung versucht sie so gut es geht zu ignorieren.
Wie heißt noch mal das Spiel, was Julius immer spielt? Wo man nur mit einer Taschenlampe bewaffnet durch einen dunklen Wald latscht, Zettelchen suchen muss um schlussendlich doch vom Mörder geschnappt zu werden? Wieso muss sie ausgerechnet jetzt an das Spiel denken? Es ist so schon gruselig genug. Schnell läuft sie weiter, der gleichmäßige Klang ihrer Schritte verdrängt schnell ihre negativen Gedanken. Wie in Trance läuft sie weiter durch den Wald, ohne weiter auf ihre Umgebung zu achten. Doch plötzlich sieht sie etwas, was sie stutzig macht: Fußabdrücke! Sie geht näher und tatsächlich: Die Fußabdrücke scheinen noch sehr frisch zu sein.
Endlich!
Sie jubelt schon innerlich, aber dann sieht sie das zweite Paar Fußabdrücke, kleiner als die anderen, vermutlich die einer Frau. Moment: Tibor ist nicht allein? Unmöglich, dass die anderen von der Akademie ihn gefunden haben. Sie sind direkt mit den Autos losgefahren und Delilah und Julius können mit diesem Max auch unmöglich schon zurück sein. Irgendwas stimmt hier nicht, aber bevor sie weiter über die Sache nachdenken kann, hört sie schon die Stimmen.
»Hey hast du das auch gehört? Ich glaub jemand verfolgt uns.«
Ist das Tibor? Nein, unmöglich. Zum Glück. Aber Dominique bleibt keine Zeit, um erleichtert zu sein.
Jetzt fängt auch die Frau an zu sprechen. »Das werden wir schnell herausfinden. Komm mit du Trottel, gib mir jetzt lieber die Waffe.« Ein leises Klick-Klack lässt Dominique aufschrecken. War das etwa…? Verdammt, Tibor hat sie auf sämtliche Situationen vorbereitet, aber wie wehrt man sich noch mal gegen eine geladene Waffe? Richtig, verstecken, weglaufen und Hilfe suchen. Aber wo verstecken? Innerlich ohrfeigt sich Dominique selbst: Sie hat immer noch die Taschenlampe an, in dieser Dunkelheit könnte sie gleich einen riesigen Leuchtpfeil auf sich zeigen lassen. Attack here. Hastig schaltet sie die Taschenlampe aus, aber was jetzt? Ihre Verfolger haben ebenfalls eine Taschenlampe, ihre Fußabdrücke werden sie sofort entdecken. Ihr bleibt nur eins.
Flucht!
Sie rennt los, aber wohin? Der hohe Schnee und starke Wind raubt ihr alle Kraft, doch unter keinen Umständen wird sie jetzt anhalten. Das sonst so mutige Mädchen fühlt plötzlich nur noch eins: Absolute Todesangst. Völlig orientierungslos rennt sie weiter, die Sterne geben ihr gerade genug Licht, um nicht gegen den nächsten Baum zu laufen. Überall nur Bäume, keine Straße oder sonstige Anzeichen von Zivilisation. Direkt vor sich sieht sie einem großen Van, vermutlich das Fahrzeug ihrer Verfolger. Sie läuft geradewegs darauf zu, doch keine zehn Schritte vor den Wagen stolpert sie. Lang fällt sie nach vorne, das Gesicht tief in den kalten Schnee vergraben. Dominique versucht ihren Fuß zu befreien, der sich unter einer großen Wurzel geklemmt hat.
Zu langsam.
Entweder können Bäume jetzt laufen oder der Mann hat sie eingeholt.
»Oh ich glaube jetzt hast du ein gewaltiges Problem, junge Dame.«
Wieso kommt ihr die gesamte Situation nur so bekannt vor?
»Also ist Tibor hier, weil heute der siebte Todestag des Mädchens ist?«
»Der achte.« Vorsichtig leuchtet Delilah auf das Kreuz. Ein verblichenes Foto von dem kleinen Mädchen wurde an die Mitte des Kreuzes geheftet. »Ich hätte Tibor nie so viel Herz zugetraut.«
»Er wirkt ziemlich kalt, vermutlich ist er es sogar. Aber das Mädchen hat ihn damals so sehr ins Herz geschlossen, dass er sie zwangsläufig auch schon mögen musste.«
»So wie Dominique.« Ein plötzlicher Schwung Schuldgefühle trifft Julius. Sie haben das Mädchen wie ein Häufchen Elend zurück gelassen, obwohl Tibor der einzige Mensch ist, dem sich die schnippische Teenagerin jemals anvertraut hat. Nicht einmal Al kann zu dem Mädchen so durchdringen wie Julius großer Bruder es kann, laut des Langezeit-Hippies bedeutet er ihr mehr als all ihre alten Aufpasser zusammen. Und das trotz ihrer ständigen Streitereien.
»Ist Dominique das Mädchen aus der Akademie? Sie scheint noch sehr jung für eine Agentin zu sein.«
»Sie ist auch keine Agentin. Sie wurde letztens erst fünfzehn, wir sollten eigentlich auf sie aufpassen weil ihre Eltern vermutlich von den Idioten vom Projekt getötet wurden.«
Nachdenklich schaut Max auf das Kreuz. So ist das also. Ein Mädchen in diesem Alter dürfte Tibor noch mehr an das Geschehen damals erinnern.
»Aber wieso fährt er jedes Jahr hierher? Und wieso hat er nicht einfach gesagt, was er vor hat?«
»Man hat ihn damals verboten, das eigentliche Grab des Mädchens zu besuchen. Er weiß nicht mal, wo es ist. Außerdem…«
»Außerdem habe ich mir geschworen, niemals aufzuhören die Männer zu suchen die sie damals entführt haben.«
Überrascht drehen sich die drei Agenten um. Unbemerkt hat Tibor die anderen beobachtet. Typisch.
»Ich hab dir doch gesagt du sollst nicht versuchen mich zu finden, Julius.«
»Wow, kommt dir das nicht auch seltsam bekannt vor?«
»Du verfolgst mich ständig, so langsam wird das schon zur Gewohnheit. Also, was macht ihr hier.«
»Die beiden haben mal wieder geglaubt du wärst übergelaufen. Schön dich wieder zu sehen, Tibor.«
Zum ersten Mal seit ihrem Kampf im Vergnügungspark vor eineinhalb Jahren sehen sich Max und Tibor wieder. Lange haben sie von jeweils anderen geglaubt, dass er übergelaufen ist. Nun schauen sich beide erstmals wieder direkt in die Augen. Werden sie sich gleich wieder bekämpfen? Tibors zu engen Schlitzen verzogenen Augen deuten etwas in dieser Richtung an.
»Warum bist du hier, Max?«
Ma zieht seine Schultern hoch und beinahe beiläufig fügt er hinzu: »Delilah hat mich um Hilfe gebeten. Du gibst dir immer noch die Schuld an ihrem Tod, oder?« Der letzte Satz trifft Tibor hart. Ohne Vorwarnung schlägt der Agent gegen den Baum neben ihn. Er wirkt nun beinahe wie ein wahnsinniges Tier, was man verletzt hat.
»Ich habe damals auf sie geschossen! Ich habe ihre Entführer entkommen lassen.«
Maximilian schweigt. Er weiß genau, dass kein Wort Tibor die Schuldgefühle nehmen kann. Auch Delilah und Julius bleiben lieber ruhig. Dass das Mädchen für ihn ziemlich wichtig war, war ihnen von Anfang an bewusst. Aber dass Tibor sich wegen ihrem Tod so fertig macht? Nein, damit konnten sie nicht rechnen. Einige Zeit bleiben sie in stiller Übereinkunft so stehen, bis Tibor endlich seine Fassung zurück gewinnt. Er sieht den Rest an und zeigt mit seinem Finger zum Himmel.
»Schaut mal nach oben. Wir sollten lieber zur Hütte gehen, bevor wir noch komplett einschneien.«
Er hat zweifelsfrei Recht: Wenn sie noch länger draußen stehen bleiben werden sie zwangsläufig als Schneemann enden. Das Klingeln von Max Handy unterbricht die Stille. »Ok Leute, ich hab schlechte Nachrichten: Aus den heißen Tee wird nichts, im Projekt wollen sie unbedingt mit uns sprechen, man braucht unsere Hilfe.«
»Wie die brauchen Hilfe? Was ist denn hier los?« Julius ist verwirrt: Sind die Leute vom Projekt nicht die bösen? Tibor versucht zu erklären: »Das Projekt existiert noch, jedoch in einer völlig anderen Form als früher. Als bekannt wurde, dass einige Agenten übergelaufen sind, hat man viele der ehemaligen Ausbilder versetzt und Neue wieder eingestellt.«
»Ja, unter anderem eine gute Freundin von uns.«
»Oh nein, du meinst dich nicht etwa…«
»Oh doch Tibor. Ashley wartet seit Jahren darauf, dir die Meinung zu geigen.«
Insgesamt drei Stunden dauert der Flug vom Wald bis zum Gelände des Projekts, Tibors Wagen haben sie im Wald gelassen. Er ist sowieso dichtgeschneit.
»Also ich weiß nicht genau was ich erwartet habe, aber das ist absolut cool!«
Das ganze Gelände beeindruckt Julius enorm. Flugplatz, Schießstand, Trainingsgelände für virtuelles Training: Nicht mal die Akademie kann hier mithalten. Delilah ist ebenfalls begeistert, hält sich aber lieber zurück.
»Ok, Ashley wollte uns im Labor treffen, wir sollten uns lieber beeilen. Tibor, zum dreißigsten Mal: Du kannst nicht fliehen. Sei ein Mann und stell dich deinem Schicksal.«
»Aber muss es dieses Schicksal sein? Ich bin tot!«
»Stell dich nicht so an Tibor. Wie schlimm kann diese Ashley schon sein?« Wenn blicke töten könnten…
»Sie ist eigentlich sehr nett, Delilah. Aber sie und Tibor… Ach ihr seht es ja doch jetzt.« Langsam öffnet Max die Tür. Eine junge Frau sitzt tief über einen PC gebeugt und starrt konzentriert auf den Monitor. Erst als Max nochmal an die Tür klopft schaut sie auf und lächelt die Neuankömmlinge an.
Bis sie Tibor sieht.
So schnell hat noch keiner einen völligen Stimmungsumschwung gesehen. Mit einem Satz springt die Frau auf, schnappt sich ihre Tastatur und zieht sie Tibor quer über den Kopf.
»DU VERDAMMTER IDIOT! WAS GLAUBST DU EIGENTLICH WER DU BIST?! JEDER VERDAMMTE IDIOT GLAUBT HIER DU WÄRST ÜBERGELAUFEN! UND WIESO HAST DU DICH NICHTMAL BEI MIR GEMELDET?«
Sie schreit noch weiter auf den Agenten ein, doch keiner achtet mehr auf die weiteren Beleidigungen. Kaum ein anderer Mensch könnte nach dieser Attacke noch aufrecht stehen, aber Tibor trägt es mit Fassung. Julius ist unfähig, überhaupt etwas zu sagen, Maximilian scheint sich vor Lachen kaum noch beruhigen zu können.
Armer Tibor!
»Na jetzt weiß ich auch warum Tibor Angst vor Ashley hatte. Die beiden scheinen sich ja sehr zu mögen.«
Maximilian wischt sich eine Lachträne aus dem Auge. »Ob du es glaubst oder nicht Delilah: Die beiden mögen sich eigentlich wirklich, sogar ein wenig mehr als mögen.«
»Sag jetzt nicht…«
»Oh doch. Bevor er das Projekt verlassen hat waren die beiden eng befreundet, aber sie hat sich ein wenig verraten gefühlt.«
»Naja. Ich hätte mit Julius das gleiche gemacht.«
»Warum hast du es nicht getan?«
»Ich hatte keine Tastatur in der Nähe.«
Au, diese Kopfschmerzen! Ständig stößt Dominique mit ihrem Kopf gegen die Kofferraumwände, ihre verbundenen Arme und Beine lassen ihr keine Chance, sich irgendwie abzustützen. Erst seit wenigen Minuten lässt das Betäubungsmittel, was dieser verfluchte Mistkerl ihr verabreicht hat, nach. Wie lange sie ohnmächtig war weiß sie nicht, sie ist nur froh, dass sie noch am Leben ist.
Noch.
Warum hat der Mann sie nicht einfach getötet? Es wäre doch viel einfacherer gewesen, oder? Vielleicht hat sie noch den Ich-bin-doch-nur-ein-kleiner-Teenager-bitte-tut-mir-nichts-Bonus. Oh Mann, die Frau die bei ihm war scheint auf jeden Fall mächtig sauer zu sein, Dominique hört sogar im Kofferraum, wie sie den Kerl anschnauzt.
»Jetzt bieg rechts ab, du Idiot! Fahr jetzt gerade aus, dort an der schiefen Eiche musst du sofort links, da ist ein Schleichweg!«
Der Weg wird holpriger, das Mädchen stößt sich immer wieder den Kopf. Falls sie das hier überleben sollte, braucht sie dringend eine Kopfschmerztablette!
Endlich fährt der Idiot langsamer, bis er schließlich anhält. Ihre holprige Fahrt scheint zu Ende zu sein, Dominique hört, wie Türen geöffnet werden. Sie tut so, als ob sie immer noch ohnmächtig wäre, wehren kann sie sich gegen ihre Entführer im gefesselten Zustand sowieso nicht. Kalte Luft durchströmt den engen Raum, als jemand den Kofferraum öffnet. Dominique traut sich nicht, ihre Augen zu öffnen.
»Hey Giulia, die Göre ist immer noch k.o! Was soll ich jetzt machen?«
»Halte sie in der Hütte gefangen und geh gleich wenn es hell wird mit ihr tief in den Wald und knalle sie dort ab.«
Ihrem Kollegen scheint das gar nicht zu gefallen. »Wieso durfte ich sie nicht gerade schon umlegen?«
»Spinnst du? Im Schnee hätte man ihr Blut gesehen und diese verfluchten Akademie-Gören will ich nicht im Nacken haben.«
So ist das also. Na super, wieso gefällt Dominique die Aussicht, morgen eine tote Leiche zu sein, gar nicht? Und dieser Mistkerl beschwert sich auch noch! Sie lässt sich immer weiter durch den Schnee ziehen, ihre Beine spürt sie dankt der Kälte gar nicht mehr.
Plötzlich schreit diese Verrückte Giulia schrill auf.
»Das gibt es ja gar nicht! Siehst du das, du Trottel? Unser lieber Tibor ist auch hier!«
Oh nein! Tibor darf nicht hier sein, das darf er einfach nicht! Dominiques Erschöpfung ist nun nicht weiter vorgespielt, ihre Enttäuschung lässt sie wirklich fast ohnmächtig werden. Immer weiter lässt sie den hünenhaften Kerl ihren Körper Richtung Hütte schleifen, während sie versucht, ihre Tränen zurück zu halten. Tibor ist also doch ein Verräter. Erst jetzt merkt Dominique, wie unfassbar dumm diese Aktion eigentlich von ihr war. Hätte sie nur auf Delilah und Julius gehört! Aber ihre Strafe wird sie schon noch bekommen, da ist sie sich ganz sicher.
Die Hütte ist ziemlich warm, obwohl das Feuer im Kamin bereits erloschen ist. Beinahe vorsichtig setzt der Hüne das Mädchen auf einen Stuhl ab. Sie lässt sich ohne Widerstand fesseln, immer noch spielt sie die Bewusstlose. Giulia verlässt die Hütte, nur um wenige Minuten mit schlechter Laune wieder zurück zu kommen.
»Er ist weg. Anscheinend wusste unser Freund, dass wir heute Nacht hier sind.«
Ihr Helfer ist verwirrt. »Woher soll er das wissen? Montinguez hat doch nur uns erzählt, dass die Sache heute laufen soll.«
»Natürlich wusste er nicht dass wir hier sind, du Trottel! Aber Tiborchen ist doch schon immer meiner Kugel ausgewichen, dieser feige Hund.« Zärtlich streichelt Giulia über ihre Pistole. Dominique braucht ihre gesamte Beherrschung, um sich ihre Wut nicht anmerken zu lassen. Tibor ist zwar ein Verräter, aber ganz sicher nicht feige!
»Wieso willst du ihn eigentlich töten?«
»Sagen wir es mal so: Wir konnten uns noch nie leiden. Er und dieser verdammte Max könnten unsere gesamte Sache ruinieren, und wenn er nun wirklich zur Akademie gehört, wie Montinguez behauptet, dann wird er noch gefährlicher. Tibor hat vielleicht ein gewisses Talent, aber er gehört leider zur falschen Seite.«
Gehört Tibor etwa nicht zu diesen beiden Trotteln? Aber was macht er dann mitten in der Nacht in einem Wald? Egal, Hauptsache, er ist kein Verräter.
»Ich fahre zurück zu Montinguez, falls Tibor auftauchen sollte halte ihn fest. Ich will mich persönlich um ihn kümmern.«
»Warte, Giulia! Was mach ich, wenn das Mädchen wieder aufwacht?«
Geschickt wirft sie ihrem Partner ein kleines Döschen zu.
»Gib ihr davon eine, und sie wird dir keinen Ärger machen. Sonderlich intelligent sieht sie mir nicht aus, sogar du dürftest mit ihr fertig werden.«
Nicht sonderlich intelligent? Täusch dich nicht, Giulia!
So schnell, wie Ashley Tibor die Tastatur auf den Kopf gedonnert hat, so schnell hat sie sich auch wieder beruhigt und es wird klar, dass sie eigentlich eine sehr freundliche und ausgeglichene junge Agentin ist. Mit bereitgestellten Schokokeksen zieht sie die anderen sofort auf ihre Seite, nur Tibor weigert sich, auch nur einen anzunehmen. Ashley lacht. »Was ist los, Tibor? Immer noch beleidigt oder traust du mir etwa nicht?«
»Du hast mir deine Tastatur um die Ohren geschleudert, schon vergessen? Ich frage mich sowieso, wie man das essen kann, ich kenne deine Backkünste.«
»Sei bloß leise«, Krümel fallen aus Julius Mund, während er nochmal in seinen Keks beißt und versucht zu sprechen, »Ich spreche für Alle wenn ich sage dass Ashley sich in einer halben Stunde beliebter gemacht hat als du in einem halben Jahr.«
Die anderen beiden nicken, Ashley lässt zufrieden die Tastatur wieder fallen, mit der sie Tibor anscheinend wieder schlagen wollte.
»Ich hatte es eben nicht nötig, mich einzuschleimen.« Wieder hebt Ashley die Tastatur, doch Max schnappt sich ihren Arm und nimmt ihr mit einem schnellen Griff die „Waffe“ aus der Hand. »Könntet ihr bitte aufhören, euch wie ein altes Ehepaar zu streiten und beim Thema bleiben? Ashley, ich sag es zwar nur ungern aber wir brauchen Tibor noch, also bitte höre auf mit seinem Schädel Baseball zu spielen. Du wolltest mit uns sprechen, also leg los.«
»Meinetwegen. Ich will nur eins wissen: Wieso wolltest du die Null-Liste, Tibor? Du wusstest ganz genau was passiert.«
»Ich musste einen Fehler wieder rückgängig machen, du weißt welchen ich meine.«
Doch Ashley lässt sich nicht beirren. »Wir wissen beide, dass du das Mädchen nicht mehr lebendig machen kannst, also sag mir gefälligst die Wahrheit.«
Tibor ist hin- und hergerissen. Was darf er sagen, ohne alles zu riskieren?
»Na gut, du weißt, dass vor siebzehn Jahren ein Mann erschossen wurde, der anscheinend sämtliche Informationen über das Projekt kannte. Kurze Zeit später brannte das Gebäude, indem man diese Informationen vermutete, bis auf die Grundmauern nieder. Der Globale Nachrichtendienst beharrte darauf, dass es ein Unfall war und jede Art von Ermittlung wurde verboten.«
»Und du wolltest an die Informationen. Wie hast du herausgefunden, dass Agenten übergelaufen sind? Wollte man dich auch auf ihre Seite ziehen?«
»Fast. Als ich vor zweieinhalb Jahren das Projekt habe, wollte ich eigentlich nur Rache für den Tod des Mädchens. Außerdem stimmte was an den Ausbildern nicht. Ich wollte Informationen, kam alleine nicht weiter. Bis…«
»…Bis ein Kontaktmann Kontakt zu dir aufgenommen hat«, schlussfolgert Ashley.
»Richtig. Und nein, ich weiß nicht wer er ist, er war sehr vorsichtig was seine Identität betrifft. Er gab mir alles was ich brauchte. Ich wusste nicht, dass er was euch betrifft gelogen hat. Er sagte, Max sei übergelaufen und als ich gesehen habe, dass Max immer noch für das Projekt arbeitet hab ich das ebenfalls geglaubt. Ich wollte Rache für das, was man IHR vor genau neun Jahren angetan hat und ich habe zu spät gemerkt, was ich eigentlich getan habe.«
Für einige Sekunden ist alles still. Jeder ist mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt zu sein, nur Ashley gibt sich mit dieser Antwort nicht zufrieden. »Du bist der misstrauischste Mistkerl, den ich kenne und ausgerechnet DU hast einem Fremden vertraut? Du bist doch sonst nicht so naiv!«
Sie erschrickt, als sie in Tibors Augen blickt. Eine so tiefe Trauer hat sie selten bei ihm gesehen.
»Ich weiß, wie dumm ich war. Ich hätte ihn auch nicht vertraut, aber ich wollte Antworten und er hatte welche. Außerdem hätte ich sonst nie erfahren, dass mein Bruder noch lebt.«
Ashleys Kiefer klappt weit nach unten. »Dein Bruder? Julius wurde doch als Kind getötet, wieso sollten eure Eltern gelogen…« Ihr Blick schwenkt zwischen Tibor und den unbekannten, blonden jungen Mann mit der jungen Frau an seiner Seite hin und her.
Erst jetzt versteht sie.
»Oh mein Gott du bist Julius! Das gibt es doch gar nicht, wir dachten alle du wärst tot!«
Selbst Julius Agenten-Reflexe sind viel zu langsam, um sich gegen die Umarmung der Agentin zu wehren. »Ähhm ja ich glaub wir hätten uns vorstellen sollen.«
»Allerdings«, erwidert Ashley, ohne den Griff zu lockern, »Ich hab dich zum letzten Mal als Kleinkind gesehen, aber das weißt du vermutlich gar nicht mehr. Ich hab da sogar noch ein Foto von.« Perplex schaut Julius seinen älteren Bruder an, der-man glaubt es kaum-lächelt. »Du warst drei Jahre alt, als unsere Eltern mich in das Projekt gesteckt haben. Das Foto ist entstanden, als ich dich zum letzten Mal gesehen habe.«
»Das ist ja alles schön und gut«, unterbricht Max sie, »Aber könnten wir bitte beim Thema bleiben? Das ist fürs erste wichtiger.«
Ashley nickt. »Du hast Recht. Ich habe eigentlich nicht damit gerechnet, dich, Tibor UND seinen kleinen Bruder zu sehen. Moment: Dann bist du doch garantiert die Tochter von den Devonshires, oder? Delilah, richtig? Egal. Es geht um Folgendes: Seit die Null-Liste zerstört wurde, verschwinden immer mehr Agenten. Soweit eigentlich nichts Neues, aber jetzt kommt’s: Letztens ist jemand im alten Büro von Montinguez eingebrochen. Ich war noch im Labor und war somit die Einzige, die irgendwas gehört hat. Wer auch immer eingebrochen ist war schneller weg als ich reagieren konnte, aber er hat das hier als Geschenk dagelassen.«
Sie wirft einen dicken Ordner auf den Tisch, den die anderen Agenten umgehend begutachten.
»Das sind alles Daten über verschwundene Agenten. Natürlich hat er nicht den Ordner liegen lassen, aber der Einbrecher war nicht schnell genug, Montinguez alten PC runterzufahren. Es war noch eine geheime Datei geöffnet, die ich vermutlich sonst nie gefunden hätte. Also ich bin fast dankbar für den Einbruch.«
Konzentriert durchblättern sie die endlose Anzahl an Zetteln. Hin und wieder murmelt Max oder Tibor den Namen der Agenten, wenn sie auf einen der beigefügten Bilder ein bekanntes Gesicht erkennen. Nicht nur der Name und das Alter wurden notiert, nein, es handelt sich vielmehr um gesamte Profile. Hobbies, Familie, Freunde, Eigenschaften, Vorlieben… alles wurde bis in das kleinste Detail notiert. Manchmal durchzieht ein dickes, rotes Kreuz eines der Profile.
»Ich habe erst geglaubt, dass du hier eingebrochen bist, Tibor. Du warst immer derjenige, der erst alles über jemanden erfahren musste und der auf solche kleinen Details Wert legt. Aber du hättest niemals so einen großen Fehler begangen. Außerdem schaut euch mal die letzten Seiten an.«
Es ist für einen Augenblick völlig still im Raum, als die Agenten auf die durchgestrichenen Seiten von Tibors Profil blicken. Die Einträge über seinen Bruder und dem kleinen Mädchen wurden dick markiert.
»Ich habe erst geglaubt, dass der Eintrag über Julius nicht stimmen kann, weil du mir ja damals noch erzählt hast, dass du von euren Eltern erfahren hast, dass er ebenfalls getötet wurde. Aber es scheint ja zu stimmen, dass er ein Agent aus der Akademie ist.«
»Aber was sollte das? Wofür braucht man die ganzen Daten?« Zum ersten Mal unterbricht Delilah Ashleys Redefluss. Tibor antwortet, sein Ton ist bitter.
»Ganz einfach. Wer Informationen über einen Menschen hat, kann ihn nach Belieben manipulieren. Das gleiche habe ich mit Julius gemacht, ich wusste ganz genau, dass ich ihn mit dir am meisten unter Druck setzen konnte. Wenn du weißt, mit was du Menschen verletzen kannst, dann hast du Macht über ihn. Ich musste nur dafür sorgen, dass Julius glaubt dass er meine Hilfe braucht um dich zu schützen. Dafür musste ich nur Evil Eyes Hass auf dich und seine unglaubliche Berechenbarkeit ausnutzen. Danach konnte mein kleiner Bruder natürlich nicht anders und musste mir notgedrungen vertrauen. Gib dem Schaf erst Medizin, dann wird es freiwillig das Gift schlucken. Das wurde uns hier als Erstes beigebracht.«
Ein kalter Schauer läuft über Julius Rücken. Er und sein Bruder haben noch nie darüber gesprochen, wie Tibor es eigentlich genau angestellt hat, Julius zu manipulieren. Jetzt zu erfahren, wie einfach es war ihn zu steuern, lässt ihn sich angreifbar fühlen.
„Mit solchen Informationen kann man drei Dinge anstellen: Einerseits kann man Menschen unter »Druck stellen, so wie Tibor es erklärt hat. Dann kann man sie natürlich erpressen, was jedoch sehr riskant ist, weil man als Agent nun mal lernt, damit umzugehen. Weitaus gefährlicher ist jedoch die dritte Variante, nämlich seinem Opfer bei seiner Eitelkeit zu packen.«
An irgendetwas erinnert Delilah die Erklärung von Max. »Tibor hat doch auch schon mal etwas in der Richtung erwähnt, oder? Also dass man den Agenten Honig ums Maul schmiert, um sie auf ihre Seite zu ziehen.«
Max nickt. »Genau richtig. Für die meisten Agenten hier zählt nur die Bestätigung durch die Ausbilder. Sie will man unbedingt stolz machen, alles andere ist zweitrangig. Die meisten Überläufer machten dich förmlich süchtig nach ihrem Lob, dann warst du überaus bereit, ihnen egal wohin zu folgen. Und wenn du dafür deine besten Freunde töten musst. Gegen Anerkennung ist kein Mensch immun, viele Agenten vergessen das leider.«
»Also hat man versucht, diese Agenten überlaufen zu lassen, und jeder, der durchgestrichen wurde ist entweder tot oder weitere Versuche währen zwecklos gewesen. Aber wieso war so eine Datenbank auf Montinguez Computer? Er ist doch nicht mehr hier, oder habe ich was falsch verstanden?«
»Montinguez ist schon seit Jahren weg, aber sein Büro durfte nie betreten werden. Als Beweismittel, behaupten einige, aber ich glaube ja eher, dass welche vom Projekt genau solche Sachen vertuschen wollten. Vermutlich hast du Recht, Julius. Die meisten dürften davon tot sein.«
»Hast du den Überfall gemeldet?«
»Spinnst du, Tibor? Wenn das hier an die Falschen gerät habe ich schneller eine Kugel im Kopf als ich meinen Namen sagen kann. Deswegen wollte ich Max sprechen, ihn kann man noch vertrauen.«
Tibor lächelt kurz, aber schnell wird sein Blick wieder ernst. »Du solltest hier so oder so verschwinden, du befindest dich jetzt schon auf der Abschussliste. Ich frage mich sowieso, wie du es hier aushältst.«
Ashley schüttelt abwehrend den Kopf. »Ich kann hier nicht weg, dann würde ich noch mehr auffallen. Außerdem kann ich hier auf die Neuen aufpassen und verhindern, dass sie auf die schiefe Bahn geraten. Denk daran, ich habe noch eine kleine Schwester mit der man mich notfalls an das Projekt binden könnte. Ich habe übrigens noch was für dich.«
Sie reicht Tibor ein kleines Bündel zusammen gebundener Briefe.
»Das war in einem versteckten Safe im Büro. Man hat alle Briefe abgefangen und aufbewahrt. Keine Sorge, ich habe sie nicht gelesen.«
Tibor hört ihre Worte gar nicht mehr, er ist völlig in den Briefen versunken. Nicht nur die Briefe, die er selber geschrieben hat wurden abgefangen, sondern auch die Briefe seiner Mutter. Dabei war er überzeugt, dass seine Eltern ihn lieber schnell vergessen hätten. Zwei Fotos rutschen durch das viele Papier. Drei Kinder stehen vor dem Haupteingang vom Projekt-Gelände, ein Kleinkind in ihrer Mitte. Es strahlt glücklich vor sich hin, während das Mädchen die Zunge zu einem Jungen rausstreckt, während sein schwarzhaariger Freund beide auszulachen scheint. Julius braucht eine Weile, als er es endlich versteht klappt sein Mund weit auf.
Tibor lacht freudlos. »Das war etwa drei Monate nach dem unsere Eltern mich in das Projekt gesteckt haben. Damals hab ich noch geglaubt, dass ich hier am besten Ort der Welt gelandet bin. Als Kind konnte ich nicht wissen, dass man als Agentenkind niemals eine normale Kindheit haben kann. Tja, das hab ich nun davon.«
Sein Bruder hatte eine Kindheit, obwohl er auch erst vier war, als er in die Akademie kam. Al und Scarlett legten immer Wert darauf, dass ihre Schützlinge Delilah und Julius ein einigermaßen normales Leben führen konnten, obwohl auch sie ziemlich früh ausgebildet wurden. Ihre eigentliche Ausbildung begann aber erst mit elf und nicht mit acht.
Das zweite Bild zeigt einen älteren Tibor, ein kleines Mädchen mit dunkelblonden Haaren und tiefblauen Augen steht mit einem Teddybär in der Hand neben ihn. Delilah und Julius haben nur einmal zuvor ihr Foto gesehen, und zwar vor wenigen Stunden an ihrem provisorischen Grab.
»Es ist nun genau neun Jahre her, stimmt‘s?« Ein tiefes Bedauern liegt in Ashleys Stimme. Auch ihr geht der Tod des Mädchens nahe, obwohl sie das Kind nicht so gut gekannt hat wie Max, geschweige denn Tibor.
»Ich schäme mich immer noch, dass ich nicht mal auf ihrer Beerdigung war. Du lagst damals noch im Krankenhaus, aber wenigstens Max und ich hätten hingehen können.«
Erst scheint Tibor ihre Worte gar nicht wahr zu nehmen, doch irgendetwas stört ihn an das, was sie gesagt hat. Nicht mal sie war auf der Beerdigung?
»Man hat mir gesagt, dass ihr meinen Platz eingenommen habt. Ihr war wirklich nicht dort?«
Beinahe synchron schütten Max und Ashley die Köpfe. Tibor überlegt. Man hat ihn versichert, dass seine beiden Freunde dort waren, aber er hat sie nie persönlich gefragt. Etwas sagt ihn, dass das einen Grund hat.
»Also hat keiner von euch je ihre Leiche gesehen.«
Keine Frage, eine Feststellung. Seine Freunde scheinen seine Gedanken lesen zu können, doch bevor sie etwas sagen können, zerreißt das Klingeln von Delilahs Handy die Stille.
Al.
Ohne zu zögern reißt Tibor ihr das Telefon aus der Hand, Al scheint am anderen Ende der Leitung wenig erschrocken über seinen Gesprächspartner.
»Was willst du Tibor?«
»Ich brauche endlich mal Antworten von dir, Al. Du hast mich jahrelang belogen, schon vergessen?«
Ein tiefes Seufzen vom anderen Ende.
»Ich weiß, und ich werde dir alles erklären, aber jetzt haben wir ein anderes Problem. Dominique hat sich mal wieder selbstständig gemacht und in der Nähe der Akademie haben wir ihr Handy gefunden. Das Mädchen hat sich garantiert in Schwierigkeiten gebracht, aber das liegt wohl bei ihr in der Familie. Kommt zurück zur Akademie, dann erklären wir euch alles.«
Wie ein nervöses Tier läuft der hünenhafte Mann immer wieder in der kleinen Hütte auf und ab und flucht vor sich hin. »Immer wieder muss ich die Drecksarbeit machen« und »Diese verdammte Giulia muss ja immer der Liebling vom Boss sein« hört Dominique ihn sagen, während sie so unauffällig wie möglich versucht, ihre Handfesseln zu lösen. Lange kann sie ihre Ich-bin-ein-kleines-ohnmächtiges-Mädchen-bitte-tu-mir-nichts-Nummer nicht mehr spielen, ihr Entführer wird von Minute zu Minute ungeduldiger. Vorsicht öffnet sie ihre Augen, um einen kleinen Überblick über ihre Umgebung zu gewinnen. Sie sitzt auf einen Stuhl mitten im Raum, ein Tisch steht vor ihr. Ein Blick durch das Fenster zu ihrer Rechten sagt ihr, dass ihr noch höchstens zwei Stunden bis zum Sonnenaufgang bleiben. Noch zwei Stunden bis zur ihrer geplanten Hinrichtung.
Wilde Panik durchdringt ihren Geist, aber sie muss jetzt unbedingt einen klaren Gedanken fassen können. Was hat Tibor noch gleich immer gesagt? Adrenalin ist der beste Freund eines jeden Agenten, wenn er diesen Schub an Energie in die richtige Richtung lenken kann.
Tibor. Er war es, der ihr alles beigebracht hat. Was hat er noch gesagt? Neben den ganzen: Mach deine Hausaufgaben, das soll ein Schlag gewesen sein und vergiss es, du spielst jetzt kein Portal hat er doch garantiert noch was anderes gesagt, oder? Wie war das noch? Nutze deine Vorteile und Fähigkeiten. Verschaffe dir einen Überblick über deine Situation. Locke deine Gegner in einen Bereich, in den du sie kontrollieren kannst. Sehe dich selbst nie als Opfer. Werde unterschätzt.
Sie sitzt in einer abgelegenen Hütte mitten im Wald gefesselt auf einen Stuhl, ihr Gegner ist dreimal so groß wie sie und besitzt eine Waffe und möchte sie anscheinend auch noch unter Drogen sitzen. Unterschätzt werden kann sie in dieser Situation gar nicht mehr.
Welche Vorteile hat sie? Sie lernt schnell, was Kampfsport anbelangt, aber ihre wenigen Selbstverteidigungsfähigkeiten dürften gegen diesen Kerl mit der Matschbirne nicht ausreichen. Moment. Das dürfte der Idiot auch denken, und vielleicht hat sie dadurch einen kleinen Vorteil. Tibor sagte auch, dass man den Stolz seiner Gegner ausnutzen kann. Kein Mann der Welt würde in einem Mädchen eine Gefahr sehen, solange sie sich auch dementsprechend verhält. Delilah ist eine ausgezeichnete Kämpferin und selbst bei ihr sind die meisten überrascht, wenn sie einen Fuß von ihr im Gesicht haben.
Ausnutzen, als kleines Mädchen betrachtet zu werden. Na toll. Ziemlich einfach wenn man bedenkt, dass Dominique ein kleines Mädchen ist. Ein wenig wünscht sie sich, wirklich ohnmächtig zu sein, dann bräuchte sie diese Hoffnungslosigkeit nicht ertragen. Halt, nicht in die Opferrolle drängen lassen, schon vergessen? Vielleicht liegt der Vorteil genau hier: Der Idiot glaubt, Dominique sei immer noch k.o und wüsste nicht, was um ihr herum geschieht.
Plötzlich werden ihre Gedanken klar. Ein letztes Mal versichert sie sich, dass sie sich alles in ihrer Umgebung genau eingeprägt hat, dann öffnet sie bewusst auffällig ihre Augen und versichert ihren Entführer, dass sie wach ist. Dieser steht nach zwei großen Schritten direkt vor ihr und presst ihr ein Glas voll Wasser gegen den Mund. Dominique trinkt, bedacht, die kleine Tablette, die ebenfalls im Glas war nicht mit herunter zu schlucken. Diese versteckt sie vorsichtig unter ihrer Zunge, nur um sie in einem unbeobachteten Moment auf ihren Schoß fallen zu lassen. Sie kennt nicht die Wirkung dieser Droge und sendet ein paar Stoßgebete, dass ihr Kidnapper sie auch nicht kennt.
Einige Augenblicke später lässt sie ihre gesamten Muskeln entspannen. Ihr Gegenüber hat diese Reaktion anscheinend erwartet, denn ein dümmliches Lächeln durchzieht sein Gesicht. »Wie heißt du meine Süße?«
Dominique ignoriert diese Frage gekonnt. »Was sind das für viele bunte Schmetterlinge? Oh, da ist ja ein Pony!« Das dürfte zwar die schlechteste Imitation eines unter Drogen Stehenden überhaupt sein, aber dem Mann scheint es zu gefallen. Dominique plappert immer mehr wirres Zeug, wie so oft setzt sie alles auf die Naivchen-Nummer. Dem Mann scheint diese Situation zu entspannen, er legt sogar seine Waffe auf den Kaminsims auf der anderen Seite des Zimmers. Vor sich hat er keine Gefangene, sondern ein willenloses, naives Ding was zudem mit seinen dunkelblonden Haaren und blauen Augen auch noch ziemlich hübsch ist.
Mit seiner rechten Hand streicht er über das mittellange Haar des Mädchens. Von diesem dummen Gör geht keine Gefahr aus, wieso sollte er vorsichtig sein? Dominique braucht ihre gesamte Willenskraft, um ihr Gesicht nicht angewidert zu verziehen. Stattdessen plappert sie immer weiter und beschwert sich sogar über die Schmerzen in ihren Gelenken. Tatsächlich durchschneidet ihr Kidnapper ihrer Fesseln.
»Dafür schuldest du mir was«, fügt er noch mit einem dümmlichen Grinsen hinzu. Kurz überlegt das Mädchen, ob es jetzt angreifen sollte, verwirft diese Idee aber gleich wieder.
Viel zu riskant. Ruhig bleibt sie auf ihren Stuhl sitzen, als der Mann langsam durch das Zimmer schleicht. Sie braucht sein Vertrauen, jetzt ist es zu früh um zu Handeln. Plötzlich bleibt er vor der Tür zum einzigen Nebenzimmer der Hütte stehen. Mit einer Handbewegung fordert er Dominique auf, ihm in den kleinen Raum zu folgen.
Langsam steht sie auf und torkelt zu ihm rüber. Er steht mitten im Raum, während sie direkt neben der Tür stehen bleibt. »Das muss unter uns bleiben, verstanden Süße?«
Sein Rücken ist dem Mädchen zugedreht, als er ein paar Bücher von dem Sofa am anderen Ende des Raumes wirft. Jetzt ist ihre Chance. Behände reißt sie die Tür auf und stürmt aus dem Raum.
Den Rest ihres Planes hat sie sich alles bereits genau überlegt. Die Schlüssel von Tibors Auto liegen direkt neben der Waffe auf den Kaminsims, mitten auf den Tisch liegt noch das Handy von dem Hünen und weitere Schlüssel. Schnell greift sie nach all den Sachen und rennt aus der Hütte. Auch der Hüne hat seine Verdutztheit überwunden und stürmt ihr nach. Sie achtet nicht auf seine Beleidigungen, sie konzentriert sich nur noch auf die Flucht.
Der geschmolzene Schnee von der letzten Nacht hat den Boden matschig werden lassen, trotzdem schafft es ihr Verfolger nicht, Dominiques Vorsprung wieder einzuholen. Der schwerfällige Hüne bleibt tief im Schlamm stecken, während das leichtere Mädchen wie ein junges Reh über den Matsch zu fliegen scheint.
Wie Tibor sagte: Adrenalin kann Wunder bewirken. Mit zittrigen Händen öffnet das Mädchen die Autotür und atmet erleichtert auf, als der Wagen sofort startet. Zum Glück hat sie nicht zwei typische Horrorfilm-Klischees bestätigt. Viel Zeit zum Jubeln bleibt ihr nicht, denn auch ihr Verfolger hat den Wagen erreicht. Erst scheint es, als würde der Matsch die Räder des Wagens festhalten, aber mit einem Satz schießt das Auto nach vorne. Dominique rast den schmalen Pfad durch den Wald nach, ihr Verfolger weit hinter sich. Er hat keine Möglichkeit, dem Mädchen zu folgen. Sie hat es tatsächlich geschafft zu entkommen.
So schnell wie es der vom Schnee aufgeweichten Waldboden zulässt rast Dominique den schmalen Waldweg entlang. Wenn sie auch während ihrer Reise versucht hat sich den Weg zu merken, jetzt ist jegliche Erinnerung aus ihrem Kopf verschwunden. Es ist ihr auch egal. Nur raus aus diesem Wald, wohin ist ihr egal. Ab und zu schaut sie panisch in den Rückspiegel, aber es ist keine Spur von einem Verfolger zu sehen. Immer wieder streifen tief hängende Äste den Wagen, einige hinterlassen sicher lange Kratzer in Tibors heiß geliebtes Auto. Auch das ist dem Mädchen egal.
Waffe, Schlüssel und Handy ihres Entführers springen auf den Beifahrersitz auf und ab, während das Auto über den unebenen Pfad schießt. Dominique ist stolz auf ihre Idee, all diese Sachen mitzunehmen. So hat der Hüne keine Möglichkeit, mit dem Handy Verstärkung zu rufen. In der Akademie anzurufen erscheint Dominique zu riskant, erst muss sie einen Weg aus diesem Wald finden. Endlich findet sie ein paar Schilder, die Wanderer und Radfahrer den Weg zur Hauptstraße zeigen. Mit neuer Zuversicht tritt sie noch mal auf das Gaspedal und rast nun noch schneller durch den Wald. Endlich sieht sie, wie vor ihr das Grün weniger wird und sie das Ende aus der grünen Hölle erreicht. Sie braucht einen Moment um sich zu orientieren, dann fällt ihr die grobe Richtung zur Akademie wieder ein. Um ihre Nerven zu beruhigen und um ihr pochendes Herz zu überspielen schaltet Dominique das Radio ein. Erst jetzt merkt sie, dass die Sonne bereits aufgegangen ist. Wäre sie aus der Hütte nicht entkommen, hätte der Mann sie wahrscheinlich jetzt in die Berge geschleppt um sie dort zu erschießen.
Oder Schlimmeres.
Das Mädchen zwingt sich dazu, diese Gedanken fürs Erste aus ihrem Kopf zu vertreiben und sich nur noch auf die Straße und die Musik zu konzentrieren. Delilah wollte erst in ein paar Monaten beginnen, Dominique das Fahren beizubringen, trotzdem schafft es das Mädchen irgendwie, im Verkehr nicht allzu sehr aufzufallen. Glücklicherweise führt ihr Weg zur Akademie nur über Landstraßen und nicht durch die Städte Kanadas. Sie weiß, dass es nur noch eine gute Stunde dauert, bis sie den geheimen Zugang zur Akademie erreicht, trotzdem möchte sie jetzt lieber einen der Agenten anrufen. Sie möchte schon nach dem Hany auf den Beifahrersitz greifen, bis sie sich daran erinnert dass Tibor immer ein Handy in einem versteckten Fach im Handschuhfach für Notfälle bereit hat. Außerdem kennt sie keine der Nummern auswendig. Sie würde jetzt als erstes Tibor anrufen, aber weil sie nicht weiß ob er bereits zurück in der Akademie ist versucht sie es lieber bei Al. Außerdem braucht sie jetzt unbedingt die beruhigende Stimme des älteren Agenten. Sie flucht leise, als sie ihn nach mehreren Versuchen immer noch nicht erreicht. Delilah und Julius könnten noch immer unterwegs sein, also versucht sie es bei Scarlett. Es scheint eine Ewigkeit zu dauern, bis das Mädchen die vertraute Stimme hört. Jetzt ist sie in Sicherheit.
Wieder haben sich die Agenten in Als Büro versammelt, jedem kann man die Sorge aus dem Gesicht lesen. Was ist mit dem Mädchen passiert? Hat sie sich nur verlaufen oder ist doch was Schlimmeres passiert? Nur Emmet, Noesy und Zoe konnten die Akademie noch nicht erreichen, wurden aber benachrichtigt, dass Tibor nicht übergelaufen ist und sie jetzt Dominique suchen müssen. Schon seit einigen Minuten herrscht absolute Stille im Raum, während die Agenten auf die Ankunft Robinsons warten. Auch er wurde umgehend über das Verschwinden des Mädchens benachrichtig und hat Al angewiesen, mit jeder weiteren Aktion bis zu seiner Ankunft zu warten. Währenddessen liefern sich Al und Tibor ein stummes Duell, jeder scheint zu ahnen, dass zwischen den beiden Agenten noch viel ausgesprochen werden muss.
»Verdammt noch mal was ist hier los?«
Erschrocken sehen die anderen Julius an, der wütend auf den Schreibtisch geschlagen hat.
»Ich halt es hier nicht mehr aus. Entweder ihr sagt jetzt was los ist oder ich prügle es aus euch raus!«
So etwas hat Julius noch nie gesagt, aber nicht mal Al –sein Vorgesetzter- nimmt es ihn übel.
Delilah versucht ihren Partner zu beruhigen. »Wir machen uns alle sorgen. Beruhige dich, du brauchst auch einen klaren Kopf.«
Doch Julius schüttelt den Kopf. »Darum geht es nicht. Irgendetwas stimmt hier nicht, und ich rede hier nicht von Dominiques Verschwinden. Was verschweigt ihr uns?«
Dabei sieht er seinem Bruder direkt ins Gesicht, aber der starrt weiter Al an. Dieser tauscht einen schnellen Blick mit Scarlett.
»Ich glaube es wäre besser, wir lassen die beiden erst mal allein. Ich gehe ins Labor, falls ihr mich sucht. Al und Tibor haben noch eine Menge zu besprechen.«
Ohne Widerworte verlassen die vier den Raum, danach ist es für einige Sekunden absolut still.
»Du willst wissen warum ich dir nie etwas erzählt habe.«
Al hat diese besondere Gabe, das Anliegen eines Menschen direkt zu durchschauen. Tibor antwortet nicht, trotzdem fährt Al fort.
»Es ist ganz einfach: Hätte ich dir erzählt, dass sie noch am Leben ist hättest du sie und dich in größere Gefahr gebracht als du sowieso schon bist. Du weißt doch: Tot Geglaubte leben länger.«
»Du weißt genau, dass es mich in all den Jahren verfolgt hat. Du hast mich schon von meinem Bruder fern gehalten und dann das auch noch? Ich wurde schon vom Projekt angelogen, und dann ihr auch noch? Nicht nur du, auch unsere Eltern haben mir in den letzten neun Jahren Vorwürfe gemacht, sie haben mich verstoßen! Und lass mich raten: Sie wissen ganz genau, dass sie noch am Leben ist.«
Al braucht nichts zu erwidern, er weiß ganz genau, was er Tibor damit angetan hat. Keine Entschuldigung von ihn, Scarlett oder Aiden und Isabelle –Tibors Eltern- könnten jemals den Schaden an den jungen Agenten wieder richten.
»Ich erwarte nicht, dass du mir oder deinen Eltern verzeihst, aber du sollst es verstehen. Hätten wir es nicht getan, wäre jetzt jeder von euch tot. Ich weiß, dass du es manchmal lieber gewesen wärst.«
Für einige Augenblicke schweigt Tibor, dann sagt er: »Weißt du was passiert ist, als ich endlich herausgefunden habe was im Projekt läuft? Ich bin nach Hause gelaufen und habe mich meinen Eltern gestellt, sie um Verzeihung für mein Versagen gebeten. Mein Vater ließ mich noch nicht mal ins Haus, er sah mich an und fragte mich, wie ich es wagen könnte auch nur einen Fuß in ihre Richtung zu setzten. Durch meine Feigheit und Arroganz hätte ich ein Mädchen getötet und ihre Mörder, die ich hätte stellen sollen, haben meinen Bruder ermordet. Dann sagte er mir, wer das Mädchen war und warum ausgerechnet ich auf sie aufpassen sollte. Meine Mutter stand weinend daneben und sagte, sie hätte durch mich alle ihrer Kinder verloren. Sag du mir wie sich das für einen siebzehnjährigen, dummen Teenager anfühlen muss Al.«
»Ich kann das nicht mal ansatzweise erahnen. Aber deine Eltern wussten, dass du stark bist und nicht zerbrechen wirst.«
Bitter lacht Tibor kurz auf. »Ach, das ist ja mal nett von ihnen. Und würden sie sich einmal melden? Einmal an ihre Kinder wenden?«
»Sie haben es sich auch nicht ausgesucht!« Zum ersten Mal ist Al wirklich wütend, er schreit fast. »Glaubst du es ist leicht, seinem Kind das anzutun? Glaubst du es war leicht für sie, ihren Tod vorzuspielen und sich bei keines ihrer Kinder zu melden? Gib mir die Schuld an der ganzen Sache, aber deine Eltern konnten nichts dafür. Sie MUSSTEN den Befehl befolgen.«
»Das weiß ich, aber erwarte nicht, dass ich es ihnen verzeihe. Glaube mir: Hättet ihr Julius das Gleiche angetan, würdest du dein Lebtag nicht mehr glücklich werden. Aber das Schlimme ist: Er war all die Jahre ahnungslos, er weiß noch nicht mal alles von Nicky! Eins will ich aber noch wissen: Wie konnte sie es überleben?«
Nicky war der Name des Mädchens, nie hat man sie anders gerufen oder genannt. Deswegen schöpfte Tibor auch erst keinen Verdacht, als Dominique auftauchte. Al lässt sich Zeit mit seiner Antwort. »Sie wäre uns fast gestorben, aber mit viel Glück konnten wir sie rechtzeitig ins Krankenhaus bringen. Dort haben wir die Reste ihrer Erinnerung gelöscht, was aber nach dem Trauma kaum mehr nötig war. Woher wusstest du, dass Dominique Nicky ist?«
»Sie erzählte mir letzten Abend, dass sie eine Narbe an ihrer linken Schulter hat und nicht weiß, woher sie kommt. Dann ihr Alter und ihr Name. Und als Max und Ashley sagten, dass sie die Leiche des Mädchens nie gesehen hätten, wurde mir alles klar.«
Al nickt. Etwas anderes hat er nicht erwartet, was das Finden und Kombinieren von Hinweisen anbelangt ist Tibor noch um einiges erfahrener als sein Bruder. »Und was hast du jetzt vor?«
Tibor braucht nicht lange zu überlegen. »Egal was heute noch geschieht, ich werde Julius heute noch die Wahrheit erzählen. Delilah ebenfalls, ich werde das Vertrauen der beiden nicht noch einmal riskieren. Du kannst mich davon nicht abhalten.«
Stumm nickt Al. Robinson wird davon zwar gar nicht begeistert sein, aber das wird wohl für alle das Beste sein. »Unter einer Bedingung: Falls sie überleben sollte: Dominique erfährt gar nichts, verstanden?«
Tibor hat keine Zeit mehr zum Antworten, denn schon platzt Scarlett mit den Anderen in das Büro.
»Ich habe Neuigkeiten von Dominique. Sie hat dich gesucht und wurde dabei von Giulia und ihrem Komplizen entführt. Sie wurde in eine Hütte im Wald verschleppt.«
Tibors und Als Gesicht werden auf einen Schlag kreidebleich. »Geht es ihr gut? Wo ist sie jetzt?«
Scarlett winkt hastig ab. »Keine Panik, sie hat es irgendwie geschafft zu fliehen. Übrigens mit deinem Auto. Sie ist auf den Weg zur Akademie, Robinson ist auch gerade angekommen. Er und ich fahren ihr jetzt entgegen, bevor sie noch einen Unfall verursacht.«
Erleichtert atmet Tibor auf, doch irgendetwas scheint ihn zu stören. »Moment: Wie hat sie es geschafft, Giulia zu entkommen? Normalerweise erschießt sie ihre Opfer sofort oder foltert sie zu Tode.«
Wieder schüttelt Scarlett den Kopf. »Das erklärt sie uns später, wir müssen sie jetzt abholen.« Zu Tibor und Julius gewandt fügt sie noch hinzu: »Ihr bleibt besser hier, ich glaube ihr habt sowieso noch eine Menge zu klären. Wir sind in spätestens einer Stunde zurück.« Mit diesen Worten verlässt sie das Büro, einige Augenblicke später hören die Agenten das Abfahren von Robinsons Wagen im Hof. Tibor atmet einmal tief durch, bevor er sich an die verbliebenen drei Agenten wendet. »Gut, ich werde euch drei viel erklären müssen. Max weiß das meiste zwar schon, aber trotzdem wird ihn das Neuste auch interessieren.«
Julius scheint kein bisschen überrascht. »Dominique ist das Mädchen von damals, oder?«
Tibor nickt. »Ja das stimmt, aber es gibt noch weit mehr was ihr wissen solltet. Vor allem du, Julius. Ich werde dir nun etwas erzählen, was sowohl Al als auch unsere Eltern Jahre lang vor dir geheim gehalten haben.«
Ungeduldig läuft Dominique immer wieder den Parkplatz entlang. Ihre Beine zittern noch vor Aufregung, aber sie zwingt sich zur Ruhe. Wenn doch nur Scarlett endlich kommen würde! Sie hat das Mädchen strikt angewiesen, genau hier zu warten damit sie nicht doch noch einen oder mehrere Unfälle verursacht. Genervt lehnt sie sich Tibors Wagen. Bis jetzt hat sie es bewusst vermieden, sich das Auto genauer anzusehen, aber früher oder später muss sie sich doch die Schäden ansehen, die sie durch ihre wilde Fahrt durch den Wald verursacht hat. Zu ihrer Erleichterung scheinen die Äste doch keine so tiefen Kratzer verursacht zu haben wie sie befürchtet hatte, aber das kann Scarlett besser beurteilen. Unruhig stapft sie noch mal auf und ab, ihre Schuhe hinterlassen dabei tiefe Spuren im Matsch und den wenigen Flecken unberührten, weißen Schnee. Zu ihrer Überraschung ist sie weder müde noch ist ihr kalt, obwohl sie bereits die ganze Nacht auf den Beinen ist.
Wieder drängen sich die Bilder von der letzten Nacht in ihren Kopf. Heftig schüttelt Dominique den Kopf, gerade so, als ob sie damit die Bilder aus ihrem Kopf vertreiben könnte. Stattdessen fügen sie sich immer wieder neu zusammen und vermischen sich mit längst verblassten und fast fremd gewordenen Erinnerungen. Woher diese neuen Bilder kommen weiß das Mädchen nicht, wahrscheinlich erinnert sie sich an einen alten Film oder einen Albtraum. Mehr Zeit um sich darüber Gedanken zu machen bleibt ihr nicht, denn schon biegt ein schwarzer Wagen auf den Parkplatz ab. Das Auto rollt noch als Scarlett mit einem leichtfüßigen Satz herausspringt und zu Dominique läuft. Ihre sanfte, aber auch feste Umarmung beruhigt die Teenagerin, gerade so, als ob sie ab diesen Moment in Sicherheit ist. Auch Robinson eilt zu ihnen, er ist aber im Gegensatz zu Scarlett um einiges reservierter zu den Mädchen.
»Du hast dich in gehörige Schwierigkeiten gebracht, junge Dame.« Scarlett wirft ihren Fahrer einen kurzen, bösen Blick zu, dann versucht sie das Mädchen zu beruhigen. »Das ist jetzt auch egal. Wichtig ist nur, dass du am Leben bist und es dir gut geht. Es geht dir doch gut, oder Kleines?« Heftig nickt Dominique, diese besorgten Blicke sind beinahe schlimmer als ihre Fahrt durch den Wald.
»Dann ist ja gut. Mich würde es nur interessieren, wie eine Fünfzehnjährige Zivilistin sich selbst befreien konnte.« Robinsons Stimme klingt misstrauisch, beinahe so als zweifelt er an ihrer Geschichte. Nach einem weiteren Blick Scarletts fügt er aber nun mit einer erheblich sanfteren Stimme hinzu: »Das ist auch nicht wichtig. Du kannst es gleich in der Akademie in aller Ruhe erklären, Scarlett fährt Tibors Auto zurück und du fährst bei mir mit.«
Die Vorstellung, bei ihm mitfahren zu müssen behagt Dominique überhaupt nicht. Es ist nicht so, dass sie Robinson nicht vertraut oder nicht an seine guten Absichten glaubt, trotzdem wäre ihr die einfühlsamere Scarlett jetzt um einiges lieber.
»Kann ich nicht bei Scarlett mitfahren?« Robinson zieht die Augenbraue hoch, als ob er noch was sagen möchte oder auf eine Begründung von Dominique wartet, sie denkt aber gar nicht daran ihre Entscheidung zu erklären und schaut den Agenten einfach nur in die Augen.
Schließlich nickt er. »In Ordnung. Wir treffen uns in einer halben Stunde in Als Büro, bis dahin solltest du dich wieder beruhigt haben.« Mit diesen Worten verlässt er mit seinem Wagen den Parkplatz. Auch Scarlett steigt in Tibors Auto. Ihr Blick fällt auf die Waffe und die Schlüssel, die immer noch auf den Beifahrersitz liegen, sagt aber nichts. Für Erklärungen ist später genug Zeit.
Während der gesamten Autofahrt sagt weder Scarlett noch Dominique ein Wort, und dafür ist das Mädchen sehr dankbar. Es gibt ihr die Möglichkeit, über alles Geschehene nochmals nachzudenken und sich zu überlegen, wie sie es den anderen am besten erklären kann, obwohl sie auch jetzt alles so weit von sich drängt, wie es geht. Stattdessen lauscht sie lieber den sanften Tönen der Ballade, die gerade aus dem Radio ertönt. Für sie ist es eine kurze Galgenfrist, die Ruhe vor den Sturm an Fragen, der sie gewiss in wenigen Minuten in der Akademie erwartet.
Kaum in der Akademie angekommen sehen sie schon, wie Robinson ungeduldig vor Als Büro auf sie wartet. Scarlett murmelt eine schroffe Entschuldigung, dann gehen sie gemeinsam hinein. Trotz seiner Größe scheint das Büro aufgrund der Anzahl an Personen beinahe überzulaufen. Sogar Emmet, Zoe und Noesy sind wieder da, ebenso wie dieser seltsame Kerl mit den schwarzen Haaren, den Delilah letzte Nacht nach Tibors Verschwinden mitgebracht hat.
Alle starren sie an, doch die Teenagerin sucht nur ein einziges Gesicht. Als sie Tibor endlich sieht, weicht sogar die restliche Farbe aus ihrem Gesicht, nur um in doppelter Stärke zurückzukehren. Ihre Freude darüber, ihn hier unverletzt und ohne Handschellen sitzen zu sehen, überwältigt das Mädchen völlig. Tibor starrt sie kurz an, als sie ihn unvermittelt umarmt, lässt es aber trotz seiner sonst kühlen Art zu. Dominique wusste nicht, ob Tibor nun übergelaufen ist oder nicht, und sie hat es sich während der Autofahrt nicht getraut, Scarlett zu fragen. Die anderen Agenten schmunzeln, dieser Anblick ist einfach höchst ungewöhnlich. Auch ihre Anspannung scheint sich erst jetzt zu lösen, obwohl sie wussten, dass es dem Mädchen gut geht. Erst jetzt, wo sie direkt vor ihnen steht, ist es für die Agenten sicher, dass Dominique in Sicherheit ist.
Ihre Sorge kehrt jedoch zurück, als sie beginnt ihre Geschichte zu erzählen. Sie berichtet über ihre Entführung, über das Gefühl, als sie Tibors Auto im Wald stehen sah und natürlich über ihre Flucht. Erst jetzt wird ihr wirklich bewusst, welch übergroßes Glück sie hatte und ein kalter Schauer läuft ihr den Nacken entlang, sodass trotz der angenehmen Wärme im Zimmer eine Gänsehaut ihre Arme überzieht. Wieder beginnen ihre Knie zu zittern und hin und wieder gerät sie ins Stocken und muss neu ansetzen, aber keiner der Agenten –Robinson eingeschlossen- wird ungeduldig oder fordert sie auf, schneller zu sprechen. Allgemein hat sie sehr stille Zuhörer, nur hin und wieder stellt jemand eine kurze Frage. In ihren Augen erkennt Dominique ein starkes Interesse und Neugier, was das Mädchen zunächst irritiert weil sie es eigentlich nicht gewohnt ist, dass ein ganzer Raum voller Erwachsener ihren Worten lauscht. Doch hin und wieder können die Agenten –und seien sie noch so erfahren- ihre innersten Fragen und Gefühle nicht verbergen: In ihren Augen steht eine wachsende Sorge, als Dominique von Giulia und den plötzlichen Anruf berichtet, Entsetzen, als sie erfahren dass das Mädchen in den Bergen erschossen werden sollte, Wut, als sie erfahren was der Hüne mit Dominique anscheinend vorher geplant hatte. Aber auch ein leichtes, stolzes Lächeln schleicht auf ihre Gesichter, als sie erklärt, wie sie fliehen konnte.
Nur Tibor zeigt –wie fast immer- keine Regung.
Er stellte auch keine einzige Frage und schaut sie nur mit diesem undurchdringlichen Blick an, gerade so, als könne er so aus dem Mädchen jedes kleine Detail entlocken, was sie vielleicht übersehen oder bewusst verschwiegen hat. Erst als sie ihre Geschichte endet, beginnt er zu sprechen. »Du hast also die Waffe mitgenommen, damit er dich nicht hinterrücks erschießen kann, aber wieso hast du das auch mitgenommen?« Dabei deutet er auf die Schlüssel und das Handy, die neben der Waffe in der Mitte auf Als Schreibtisch liegen.
Dominique zuckt mit den Schultern. »Ich weiß nicht genau. Es war einfach eine Eingebung von mir, irgendwas sagte mir, dass es vielleicht besser so ist.«
Tibor nickt. »Sehr richtig. Jetzt können wir verfolgen, wer der Mann ist und mit wem er Kontakt aufgenommen hat. Es ist vielleicht eines der wichtigsten Hinweise seit Monaten, was das Projekt betrifft. Was dich betrifft: Es war sehr dumm von dir, mich suchen zu wollen. Was glaubst du was passiert wäre wenn ich dich wirklich töten wollte? Bei mir hätte deine Aktion nichts bewirkt. Außerdem hattest du unverschämtes Glück. «
Schamesröte steigt in Dominiques Gesicht, schließlich weiß sie selber, wie hitzköpfig sie gehandelt hat. Tibor lässt sich davon jedoch nicht beirren. »Andererseits hast du genau das getan, was ich dir immer beigebracht habe, und meine Erwartungen sogar übertroffen. Ich kenne Giulia noch von früher. Nicht viele Agenten überleben eine solche Begegnung mit ihr, und ich habe bis heute von keiner Fünfzehnjährigen gehört, der das gelungen ist. Du kannst stolz darauf sein, unverletzt überlebt zu haben, ich jedenfalls bin es. Wie jeder hier. Jedoch muss dir klar sein, dass dir dieses Kunststück wahrscheinlich nicht ein zweites Mal gelingen wird.«
Ein plötzliches, wohliges Glücksgefühl durchströmt Dominique. Es ist zwar nicht so, dass sie sonst nicht gelobt wird, aber gerade ein Lob von Tibor bedeutet ihr immer viel.
Beinahe beiläufig nimmt Al das Handy in die Hand und betrachtet es. Er scheint völlig in einer anderen Welt verschwunden zu sein, aber jeder wusste, dass dies nur seine Art ist, sich auf etwas voll und ganz zu konzentrieren. Wortlos reicht er es Scarlett, die ihrerseits damit beginnt, sich durch die Nachrichten- und Anrufliste zu klicken. Nach einigen Minuten gibt sie enttäuscht auf. »Jede Nachricht wurde gelöscht und es wurden auch keine Kontakte abgespeichert. Ich bezweifle, dass ich noch irgendetwas herausfinden kann. Oder? Wartet einen Moment.« Mit einem Kabel schließt sie das Gerät an ihren Laptop an, den sie mitgebracht hat. Jeder starrt gebannt auf den Bildschirm, während sie so schnell etwas auf ihrer Tastatur tippt, dass es selbst geübte Könner schwer fallen dürfte, ihre Bewegungen zu folgen. Auch Scarlett ist jetzt hoch konzentriert, ihr Eifer und Neugier ist kaum zu bremsen.
Doch auch jetzt lässt sie enttäuscht die Schulter hängen. »Wieder nichts. Irgendjemand hat ganze Arbeit geleistet und den gesamten Verlauf gelöscht, ohne Spuren zu hinterlassen. Es ist beinahe so, als wäre das Handy nie benutzt worden.« Zum Beweis scrollt sie die leeren Seiten runter, auf denen eigentlich der gesamte Verlauf hätte zu sehen sein müssen. Doch plötzlich weiten sich Scarletts Augen vor Freude. Ganz unten, auf einer der letzten Seite, hat man einen Satz übersehen. Ihre Freude kehrt augenblicklich in Bestürzung um, als sie liest, was der Besitzer des Handys verfasst hat. »Hier steht Waren da, konnten das Mädchen nicht finden. Ihre Kindermädchen wollten nichts sagen. Giulia hat ihnen das Hirn wegepustet. Die Nachricht wurde Anfang Oktober verfasst. Dominique, wir haben die Mörder deiner Beschützer gefunden.«
Wie jeden Mittag ist die Stimmung in der Kantine gelöst, die Müdigkeit und Trägheit der Agenten vom Morgen verschwand durch die ersten Trainingseinheiten des Tages und wildes Geplapper und Gelächter füllen den riesigen Saal mit Leben. Sie reden über ihre letzten Missionen genauso wie über den Film, den sie am vergangenen Abend gesehen haben. Kaum einer bemerkt, dass es an einem Tisch weit weniger entspannt zugeht, aber es interessiert sie auch nicht. Sie wissen kaum etwas über die Geschehnisse der letzten Woche und Monate, nichts über die Null-Liste, nichts über Julius Bruder, nichts über Dominique. Ihnen sind zwar die Ankunft der zwei neuen Agenten und die des jungen Mädchens aufgefallen, aber mit keinen von ihnen wechseln sie je ein Wort. Es ist beinahe so, als gehöre jeder Mensch an diesem einen Tisch einer fremden Welt an, die keinen Einfluss auf ihr eigenes Dasein hat. Die Sorgen von Delilah, Julius und den Rest, der sie ständig zu umgeben scheint sind nicht ihre Sorgen, und so ignorieren sie die Grabesstille des Tisches, so als würde er nicht existieren.
Das leise Klingeln eines Handys unterbricht die Stille und nach einem kurzen Blick auf das Gerät trinkt Tibor den letzten Schluck Wasser aus seinem Glas und verschwindet lautlos. Worte wären auch zwecklos gewesen, jeder weiß, dass Scarlett in zurück ins Labor gerufen hat. Seit Dominiques Flucht arbeitet sie fieberhaft an eine Möglichkeit, Giulia und die restlichen Überläufer ausfindig und unschädlich zu machen. Tibors -und auch Max- Wissen über das Projekt sind ihr dabei eine große Hilfe und sie liefern ihr bereitwillig alle nötigen Informationen. Trotzdem scheint sein Verhalten in letzter Zeit Aufmerksamkeit zu erregen.
»Sagt mal was ist denn mit Tibor los? Der ist ja noch grimmiger als sonst. Weißt du was, Julius?« Emmet macht sich gar nicht die Mühe, die Spagetti vor dem Sprechen herunterzuschlucken und die rote Tomatensauce tropft seine Mundwinkel herab. Julius schaut nicht mal von seinem Teller auf, als er mit einer grimmigen Miene antwortet. »Keine Ahnung. Ist mir auch egal.«
Seit einem Monat ist die Stimmung zwischen ihn und seinem Bruder laut Al »frostiger als Sibirien in Januar«. Es ist nicht so, als ob sie streiten würden. Ganz im Gegenteil: Die Brüder haben seit Dominiques Flucht kaum ein Wort miteinander gewechselt.
»Wenn ihr mich fragt macht er sich einfach nur Sorgen.« Wie immer verrät Maximilians Gesicht nichts darüber, was er wirklich denkt. Damit erinnert er jedes Mal stark an Tibor, was wohl auf ihre gemeinsame Ausbildung zurückzuführen ist. Als er sieht, dass die anderen immer noch nicht wirklich überzeugt sind, lächelt er sie beruhigend an. »Ich kann ja nachher noch mit ihn reden. Vorher suche ich noch Dominique, sie dürfte bestimmt auch Hunger haben. Weiß vielleicht einer, wo sie steckt?« Wie ein Mann schütteln die anderen den Kopf. Auf das Mädchen hat in letzter Zeit niemand genau geachtet, schließlich sind alle damit beschäftigt, ihre Entführer zu schnappen.
»Dann werde ich sie eben suchen.« Zusammen mit Max steht auch Emmet auf.
»Ich komme mit, ich habe sowieso nichts Besseres zu tun.« Auch Noesy und Zoe sind bereits mit dem Essen fertig und folgen ihnen. Zurück bleiben Delilah und Julius, der immer noch auf seinen Teller starrt. »Was ist los mit dir, Jules?« Die Sorge in ihrer Stimme ist kaum zu überhören. Julius murmelt etwas unverständliches, was Delilahs Verzweiflung noch mehr wachsen lässt. »Julius, ich weiß dass Tibor einen großen Fehler begangen hat, aber kannst du nicht wenigstens versuchen ihn zu verzeihen? Er ist immer noch dein Bruder!« Delilah nimmt Tibor normalerweise nie in Schutz, aber selbst für sie war der letzte Monat unerträglich. Sie gibt es nur ungern zu, aber sie vermisst die ständigen Zankereien und Diskussionen, die zwar ausnahmslos jeden Unglücklichen, der sich in der Nähe befand den letzten Nerv raubte, einen aber doch das beruhigende Gefühl vermittelten, dass Julius und Tibor ganz normale Agenten-Brüder sind.
Sanft hebt Delilah mit ihrer rechten Hand Julius Kinn, so dass sie ihm direkt in die Augen schauen kann, doch schnell zieht er den Kopf weg. Delilah ist ein wenig überrascht von der Heftigkeit seiner Reaktion, lässt sich aber nichts anmerken. »Sag mir doch einfach was los ist. Wieso hastt du ihn so sehr?«
»Ich hasse ihn weniger als mich.« Seine Stimme klingt weit schroffer als er es beabsichtigt hat, aber Delilah ist viel zu verblüfft um darauf zu achten. »Wieso?«
Bitterkeit und Selbsthass liegen in Julius Stimme. »Er hat doch eigentlich alles richtig gemacht, oder? Er hat jeden von uns mehrfach das Leben gerettet und ich habe nichts Besseres zu tun als ihn zu misstrauen, ich WOLLTE ihn nicht vertrauen. Und dann ist er einmal kurz weg und ich denke gleich wieder er ist ein Doppelagent.«
Unbemerkt legt Delilah ihre Hand auf seine. »Das haben wir alle gedacht, Julius.« Obwohl er beinahe flüstert, klingt seine Stimme fest und überzeugt. »Dominique hat es nicht getan.«
Wieder lässt sich Delilah durch den bitteren Unterton nicht beirren. »Ja, aber sie hat keine Ahnung, was letztes Jahr los war. Du hast weit mehr Erfahrung, du musstest-«
»Das ist egal!« Sein anfängliches Flüstern ist nun beinahe ein Schreien. »Ich hätte es wenigstens in Betracht ziehen können, dass Tibor andere Gründe hat um für einen Abend zu verschwinden. Er war nur ein paar Stunden weg und ich habe ihn behandelt wie den letzten Verräter.«
Es fällt Delilah schwer, darauf etwas zu erwidern. In ihren Augen ihr Partner hätte nicht anders handeln können, aber er ist zu störrisch, um sich das sagen zu lassen. »Also vertraust du Tibor?«
Julius überlegt einige Sekunden, dann schüttelt er den Kopf. »Ich weiß noch nicht, ob ich ihm vollkommen vertraue und ob ich ihn seine Geheimniskrämereien verzeihen kann. Aber mir ist erst vor einem Monat aufgefallen, dass ich es bisher noch nicht einmal versucht habe.«
Es wird ihn warm ums Herz, als er Delilah lächeln sieht. »Ich glaube nicht dass Tibor von dir erwartet dass du ihn nach allem, was geschehen ist vollkommen vertraust. Aber versuchen solltest du es. Das sollten wir alle.« Mit diesen Worten umschließt sie seine Hand, so als könne sie ihre gesamte Liebe und ihr Vertrauen in eine Geste legen. Sanft küsst er sie. Wenn auch alle ihn immer irgendetwas verheimlicht haben: Auf einen Menschen kann sich Julius immer verlassen.
Weitere fünfmal schlägt und tritt Dominique auf den Boxsack ein, bevor sie sich eine kurze Pause gönnt. In der Trainingshalle verliert sie jedes Mal jegliches Zeitgefühl, sicher dürfte es bereits nach Mittag sein. Trotzdem ignoriert sie ihren Hunger und schlägt wieder mit wilden Attacken auf ihr Opfer ein. Sie verspürt nicht die geringste Lust, dass alle in ihrer Nähe sofort alle Gespräche einstellen und so tun, als sei nichts gewesen. Dabei weiß sie ganz genau, dass die neue Aufregung in der Akademie mit ihren Entführern zusammenhängt. Jeder verschweigt ihr etwas, und jeder Versuch, aus den Agenten auch nur die winzigste Information herauszulocken war bisher nutzlos. Sie hat sich in ihrem neuen Zuhause selten so einsam gefühlt. Dabei ist es ihr beinahe egal, dass sie nicht alles weiß. Sie ist nun mal keine Agentin und dementsprechend wenig wird ihr erzählt, trotzdem könnte sich wenigstens einer Zeit für sie nehmen.
Jeder scheint mit etwas anderem beschäftigt zu sein. Al und Robinson besprechen sich im Büro und wenn sie es nach mehreren Stunden wieder verlassen sehen sie noch besorgter aus als vorher. Tibor telefoniert ständig mit einer gewissen Ashley oder hilft Scarlett im Labor, was sie im frühen Morgen betritt und erst spät in der Nacht wieder verlässt. Die anderen scheinen auch jedes Mal mit etwas beschäftigt zu sein. Nur der neue Agent Maximilian lässt sich all die Sorgen nicht anmerken. Dominique braucht dringend jemanden zum Reden, auch wenn ihr Stolz verhindert, dass sie es sich auch eingesteht. Die Entführung hat ihr mehr zugesetzt als es von außen den Anschein hat, obwohl sie weder Alpträume noch Panikattacken plagen. Stattdessen erwischt sie sich immer wieder, wie sie sich diese "Was-wäre-wenn"-Fragen stellt, vor denen Tibor und die anderen sie immer gewarnt haben. Was wäre, wenn Giulia dortgeblieben wäre? Was wäre, wenn man sie gleich hätte erschießen wollen? Was wäre, wenn.... Mit jedem Was-wäre-wenn tritt sie noch härter zu. Sie hätte sich nicht wehren können, das ist sicher. Niemals möchte sie sich wieder so klein und unterlegen fühlen. Sie würde trainieren, um eines Tages...
»Was hast du vor? Möchtest du den Boxsack gleich durch die Halle kicken?«
Überrascht hält Dominique inne, in ihrer Trainingswut hat sie gar nicht bemerkt, wie Emmet und Max sie von der Tür aus beobachten. »Tibor hat dir eine Menge beigebracht, trotzdem musst du noch lernen deine Wut zu kontrollieren.«
Ein grimmiges Lächeln durchzieht das Gesicht des Mädchens. »Gut, dann bringe es mir bei. Ihr habt ja anscheinend doch nichts Besseres zu tun.« Zu ihrer Überraschung stimmt Max zu.
»In Ordnung, der Boxsack hat sowieso genug gelitten für Heute. Emmet, du greifst sie an.«
Es ist eine Genugtuung für das Mädchen, endlich wieder einen richtigen Gegner zu haben. Langsam laufen sie und Emmet umeinander herum, bedacht, ihren Gegner nicht aus den Augen zu verlieren und bei den kleinsten Anzeichen einer Schwäche diese auszunutzen. Emmet ist einer der stärksten der Akademie, deswegen darf sie sich auf keinen Fall von ihm festhalten lassen. Er versucht den ersten Angriff und greift nach ihren Schultern, aber sie ist schneller und schlägt ihren Ellenbogen unter sein Kinn. Er schreit als ob er sich verbrannt hätte, trotzdem möchte er sich nicht geschlagen geben. Bei seinen nächsten Angriffen ist er vorsichtiger und täuscht erst andere Techniken vor, bevor er das Mädchen mit einem Würgegriff fest in der Mangel hält.
»Das reicht.« Emmet lässt sie sofort los, als Max den Kampf unterbricht. »Dominique, du willst viel zu sehr mit Kraft arbeiten. Versuche, seinen Angriffen auszuweichen um dann im richtigen Moment anzugreifen.« Wieder beginnt der Kampf, diesmal versucht Dominique die Worte des Agenten so genau wie möglich umzusetzen. Emmet greift wieder mit einigen Fauststößen und Tritten an, und das Mädchen hat alle Not, ihnen auszuweichen. Plötzlich merkt sie, dass seine Angriffe eine Spur langsamer werden und greift seinen Arm. Er kann ihn nicht schnell genug zurückziehen, so dass sie ihn einen schmerzhaften Tritt auf die kurze Rippe verpassen kann. Max nickt zufrieden. »Gut, aber hätte Emmet dich wirklich verletzten wollen hätte er es bei der ersten Gelegenheit getan. Er ist größer und stärker wie du und du kannst mit Schmerzen noch nicht umgehen. Wie hast du vor einem Monat den Hünen besiegt?« Erst glaubt Dominique, dass Max immer noch ungläubig ist von ihrem kleinen Kunststück. Dann merkt sie aber, dass diese Frage absolut ernst gemeint ist. Wie hat sie den Hünen besiegt? Sie war intelligenter als er und hatte den Vorteil, dass er sie unterschätzt hat. Das kann sie unmöglich bei Emmet schaffen, er kennt ihre Stärken. Aber vielleicht wenn sie genau das Gegenteil macht? Ihr kommt eine Idee, die sie ausprobieren möchte.
Anstelle sich ihren Gegner so konzentriert wie möglich anzuschauen, beginnt das Mädchen zu lächeln, gerade so, als ob sie den Kampf bereits gewonnen hätte.
Ihre kleine Flinte zeigt Wirkung: Emmet ist verwirrt und zögert. Auch sein erster Angriff ist unentschlossen und Dominique nutzt ihre Chance um ihn den Arm zu verdrehen und ihr Knie in seinen Magen zu rammen. Vor Schmerzen sackt ihr Kontrahent auf den Boden, erholt sich aber schnell wieder. Nur sein Stolz scheint verletzt zu sein.
»Hey, wie wäre es wenn du mir mal Tipps geben würdest, Max.«
Dieser lacht. »Wieso, damit dich nicht nochmal eine Fünfzehnjährige besiegt? Gewöhn dich besser gleich dran.« Zu Dominique gewandt fügt er hinzu: »Das hast du sehr gut gemacht. Du hast ihn an seine eigenen Fähigkeiten zweifeln lassen und es ausgenutzt. Es wird dir nicht bei jeden etwas nützen, aber wenn deine Gegner wissen, dass du kein unschuldiger kleiner Teenager bist musst du so tun, als ob du noch ein Ass im Ärmel hättest.«
Dominique ist stolz auf das Lob, trotzdem ist sie mit ihrer Leistung nicht zufrieden. Sie will später weiter trainieren, soviel steht fest. Emmet geht mit einem angeschlagenen Stolz wieder und sie möchte ihn bereits folgen, aber Max hält sie noch fest. »Nicht so schnell, ich will noch kurz mit dir reden. Du hast Angst, oder?« Das Mädchen möchte gerade protestieren, aber Max unterbricht sie. »Warum trainierst du in letzter Zeit so viel? Es macht dir ja sichtlich Spaß, aber das ist nicht der einzige Grund, oder?« Wie Tibor und Al hat Max diese unglaubliche Fähigkeit, einen Menschen mit nur einem einzigen Blick durchschauen zu können. Sie zögert mit ihrer Antwort, unsicher, ob sie Max trauen kann. Sie weiß eigentlich nur wenig über den neuen Agenten, nur, dass er mit Tibor befreundet ist und zusammen mit ihm im Projekt ausgebildet wurde. Trotzdem war er bisher immer nett zu ihr und schließlich vertraut Tibor ihn auch.
»Ich habe keine Lust, dass mich dieser fette Kerl beim nächsten Mal umbringen kann. Ich wäre jetzt tot, wenn er nicht so blöd gewesen wäre. Er war stärker als ich.«
»Die meisten meiner Gegner oder die von Delilah, Julius und Tibor waren stärker, trotzdem leben wir noch alle.«
Dominique ist unfähig, ihre Gefühle zu erklären. Ihre Angst, beim nächsten Mal zu versagen. Ihre Panik, dass ihre nächsten Gegner schlauer sind als sie. All dies und noch viel mehr geht in ihrem Kopf herum. Trotzdem versucht sie es so gut wie möglich in Worte zu packen. »Das ist was anderes. Ich hatte nur Glück. Ihr seid stark und ausgebildet-«
Max schüttelt heftig den Kopf. »Das ist nicht was anderes. Jeder Agent hat es früher oder später mit Gegnern zu tun, die stärker oder klüger sind als er selbst. Manchmal auch beides. Und dann hilft nur das bessere Material, ein verlässlicher Partner und wenn alles nicht vorhanden ist eben Glück. Mach dir keine Gedanken, was hätte sein können. Du hast das Zeug um mal eine gute Agentin zu werden, aber dafür musst du deine Panik ablegen. Wenn du kämpfst kann es sein dass du dein Leben verlierst, wenn du nicht kämpfst verlierst du vermutlich alles, was dir etwas bedeutet. Und Glück ist immer etwas, was jeder Agent mal braucht. Aber je mehr du trainierst und je mehr du lernst desto weniger bist du von Glück abhängig.«
Dominique denkt über seine Worte nach, aber trotzdem kann sie den Sinn noch nicht ganz begreifen. Auf ihre Nachfrage hin antwortet Max: »Du wirst noch herausfinden, was das bedeutet. Wichtig ist nur, dass du in Notsituationen nicht verzweifelst, und du hast ja schon eindrucksvoll bewiesen, dass du es nicht tust. Für heute solltest du dir jetzt eine Pause gönnen, du hast schon das Mittagessen verpasst.«
Dominique bedankt sich und verlässt die Halle wieder. Erst jetzt merkt sie, dass sie seit über drei Stunden trainiert hat und ein heftiges Hungergefühl überfällt sie. Trotzdem entschließt sie sich, bevor sie in der Kantine etwas isst zu duschen, ihr T-Shirt ist durchnässt von Schweiß. Sie lässt sich wie immer viel Zeit beim Duschen und denkt noch mal über alles nach, was Maximilian ihr erzählt hat.
Du hat das Zeug um eine gute Agentin zu werden. Bei dieser Erinnerung muss sie vor Stolz grinsen, gerade von Max bedeuten ihr diese Worte viel. Gleichzeitig muss sie aber auch daran denken, dass Tibor sie mal davor gewarnt hat sich von einem Agenten vom Projekt Honig ums Maul schmieren zu lassen. Aber möchte Max sie wirklich nur manipulieren? Sie bezweifelt dies, trotzdem ist sie entschlossen, seinem Lob nicht allzu viel Gewicht zu geben. Nach dem Duschen setzt sie sich kurz auf ihr Bett und zieht sich bequeme Haussachen an. In der Kantine gibt es bestimmt noch ein paar kalte Nudeln, die sie sich aufwärmen kann, aber nach dem Bad ist ihr Hunger auf mal zweitrangig geworden. Sie schafft es bestimmt noch, bis zum Abendessen nichts zu essen und zur Not hat sie hier noch eine Tüte Chips, die sie verdrücken kann. Sie schnappt sich eines der vielen Bücher auf den Regal und beginnt zu lesen, aber nach einer halben Stunde fallen ihr die Augen zu und sie schläft ein.
Tibor startet einen neuen Versuch, aber wieder öffnet sich die Tür nicht. Ein wenig frustriert macht er Platz für Julius, der mit in der Dunkelheit kaum sichtbaren Bewegungen etwas auf die Schaltfläche neben den Eingang tippt. Nach einigen Sekunden hören sie das vertraute Klicken und die Tür schwenkt auf. Das Knacken von Schlössern ist eine der wenigen Fähigkeiten, die Julius seinem Bruder voraus hat und es beruhigt ihn, dass Tibor wenigstens eine Schwäche hat. Zusammen mit Delilah betreten sie den dunklen Gang, bedacht, keinen Alarm auszulösen. Nicht mal eine halbe Stunde nach dem Mittagessen rief Al seine Agenten in sein Büro. Er hat von einem Informanten Hinweise über den Aufenthaltsort von Giulia und Montinguez erhalten. Delilah und Julius sollen die verräterischen Agenten aufspüren und herausfinden, mit wem sie zusammenarbeiten.
Fast lautlos schleichen sie den Flur entlang. Sie befinden sich in einem ehemaligen Außenposten des Projekts. Tibor hat ihnen erzählt, dass man für bestimmte Ausbildungsinhalte die Agenten im ganzen Land verteilt hat. Angeblich wäre der Hauptsitz viel zu klein für die Anzahl an Schülern, aber einige wenige wissen, dass diese Aufteilung es wesentlich einfacher machte, die Agenten zu manipulieren. Sobald sie von ihren Freunden getrennt wurden, waren die einzigen Personen, die sie ich anvertrauen konnten ihre Ausbilder. Der Grund, warum man Tibor und Max nach dem Unfall in zwei verschiedene Zimmer steckte.
Etwa zehn Schritte vor ihnen kreuzt ein anderer Gang den Flur. Direkt vor ihnen sehen sie die erste Tür, doch als Delilah näher heran tritt, hält Tibor sie fest. Mit einer Kopfbewegung deutet er auf eine kleine Fliese auf den Boden, die irgendwie nicht zu den anderen passen möchte. Obwohl Delilah die genaue Bedeutung dieser Fliese nicht kennt, schwört sie sich ab jetzt genauer darauf zu achten. Tibors Wissen über die alten Sicherheitssysteme erweist sich einmal mehr als nützlich, obwohl es sich die beiden anderen sicher sind, auch ohne seine Hilfe diese Mission überstehen zu können. Julius ist sich ziemlich sicher, dass Al Tibor nur deswegen auf die Mission geschickt hat, damit die beiden Brüder lernen, zusammen zu arbeiten. Es ist ein seltsames Gefühl, trotzdem beruhigt es Julius, einen Agenten mit Wissen über das Projekt auf dieser Mission zu haben.
Tibor führt sie den nächsten Gang entlang, immer darauf bedacht, die seltsamen Fliesen, die in einem uregelmäßigen Abstand in dem Boden eingelassen sind, so gut wie möglich zu umgehen. Ohne Nachtsichtgeräte hätte einer von ihnen die Fliesen gewiss früher oder später übersehen, in der Dunkelheit sind sie kaum zu erkennen. Fast lautlos schleichen sie weiter, bis Tibor die erste Tür öffnet. Wie er vermutet hat befindet sich genau hier das Büro, in dem sich hoffentlich alle nötigen Informationen befinden. Sogleich machen sich Julius und Delilah an die Arbeit und durchsuchen den Safe, den Schreibtisch und die Regale. Alles, was auf den ersten Blick nützlich erscheint, stecken sie ein, während Tibor an der Tür Wache steht. Er findet es ziemlich ungewöhnlich, dass ihre Mission bisher so einfach verlief. Keine nennenswerten Fallen, keine Wachen, noch nicht einmal die Tür zum Büro war verschlossen. Je länger Tibor darüber nachdenkt, desto mehr stellen sich seine Nackenhaare auf. Irgendetwas stimmt hier nicht, ganz sicher....
Ohne den anderen etwas zu sagen läuft er los. Er sieht noch kurz seinen überraschten Bruder, aber das ist ihm jetzt egal. So schnell er kann rennt er durch das verschlungene Labyrinth aus Gängen, er braucht so viel Abstand wie möglich zum Büro. Als er endlich meint, weit genug entfernt zu sein bleibt er vor einer der Fliesen stehen. Er atmet noch einmal aus, dann tritt er zu. Alles was danach kommt hat er erwartet, trotzdem erstaunt ihn die Geschwindigkeit, in der alles passiert. Sofort senken sich in allen Richtungen schwere Metallwände, die jeglichen Fluchtversuch unmöglich machen. Er zählt drei Sekunden, dann strömt das Gas in sein kleines Gefängnis. Trotz aller Willenskraft wird er schläfrig und sinkt zu Boden, die lauten Sirenen, die den Eindringling verraten, scheinen sehr weit entfernt.
»Du weißt doch, dass du nicht dagegen an kämpfen kannst, Tibor.« Ein Mann in Als Alter mit einer Gasmaske hat eines der Tore geöffnet und geht auf sein Opfer zu. Er lacht, als er den wehrlosen Agenten am Kragen hochzieht. »Was glaubst du eigentlich wer du bist, Chevalier?« Selbst wenn Tibor wollte könnte er sich gegen Montinguez Griff nicht wehren.
Es ist schon beinahe Abend, als Dominique endlich wieder aufwacht. Sie massiert ihren Nacken, der durch die krumme Schlafposition steif geworden ist und denkt noch einmal an das, was Max ihr gesagt hat. Hat sie wirklich Angst? Ganz genau weiß sie es nicht. Ob die anderen sich jemals auf einer ihrer Missionen fürchten? Sie wirken immer so furchtlos und mutig, aber sind sie es auch? Diese Frage hat sich Dominique vorher noch nie gestellt, aber jetzt lässt sie sie nicht mehr los. Ob sie die Agenten mal fragen sollte? Lieber nicht, das wäre doch zu seltsam.
Das laute Knurren ihres Magens weckt sie aus ihren Tagträumen. Vor ihrem ungeplanten Nickerchen hat sie nichts gegessen und ihr Hunger macht ihr bereits Bauchschmerzen. Frustriert stellt sie fest, dass es frühestens in einer Stunde Abendessen in der Kantine gibt, und ihre gebunkerten Chips würden nur ihren Durst verschlimmern. Sie überlegt kurz, ob sie die restliche Zeit auf ihrem Zimmer verbringen soll, aber die Gefahr wäre zu groß, dass sie noch einmal einschläft und auch das nächste Essen verpasst. Also bringt sie ihre Haare einigermaßen in Ordnung und geht Richtung Kantine. Vielleicht hat ja jemand von den anderen etwas gebunkert? Einige der jüngeren Agenten laufen ihr über den Weg. Dominique kennt ihre Namen nicht, weiß aber, dass sie kaum zwei Jahre älter sind als sie selbst. Ob Al sie auch einmal ausbilden wird? Würde sie es überhaupt wollen? Vor ein paar Monaten hätte sich das Mädchen nichts sehnlicher gewünscht, aber nachdem sie erlebt hat, welche Opfer ein Agent bringen muss ist sie sich nicht mehr so sicher.
»Hey Schlafmütze, auch mal wieder aufgewacht?« Wie von einer Tarantel gestochen dreht sich Dominique um, sie hat Emmet gar nicht bemerkt, der von hinten auf sie zu rennt. Seiner guten Laune nach zu urteilen dürfte sich sein Stolz nach ihrem letzten Übungskampf erholt haben. »Du hast den ganzen Nachmittag verpennt, habe ich dich so fertig gemacht?«
Ein spöttisches Lächeln durchzieht das Gesicht des Mädchens. »Wer hat hier wen fertig gemacht? Du lagst auf den Boden, nicht ich.«
»Ach was ich wollte doch nur nett sein. Außerdem hat dir Max Tipps gegeben, das war echt nicht fair.«
»Und wie soll ich sonst lernen? Aber wenn du willst können wir den Kampf gerne wiederholen, aber erst mal möchte ich was essen. Du hast nicht zufällig noch was Essbares auf deinem Zimmer?«
»Ich bedaure, Kleine, leider nein. Aber Max hat dir anscheinend was in der Kantine zurückstellen lassen. Wieso sind eigentlich alle so nett zu dir?«
Wieder grinst das Mädchen. »Ich bin klein, süß und liebenswert. Mich muss man einfach mögen.«
Auch Emmet lacht. » Jaja genau, gerade du. Du bist der Teufel in Person, ich glaube vor dir hat jeder Angst. Und dann bringt dir Tibor auch noch Kampfsport bei, ich meine Tibor! Das kann einfach nicht gut gehen.«
»Ich weiß zwar nicht was du damit meinst aber kann ich jetzt bitte was essen? Ich verhungere hier! Und wenn ich Hunger habe geht das für keinen Anwesenden gut aus.«
»Ist ja ok, dann gehen wir eben halt was essen.« Doch wieder werden sie aufgehalten, diesmal von einem Mann und einer Frau. Dominique hat sie noch nie vorher gesehen, sie sind älter als die restlichen Agenten und an ihrer Kleidung kann sie erkennen, dass sie nicht zum Nachrichtendienst gehören. Auch Emmet scheint die beiden nicht zu kennen, er bleibt aber höflich, als die Frau ihn nach Al fragt. »Der ist in seinem Büro, glaube ich. Ansonsten ist er im Labor bei Scarlett.«
Die Frau bedankt sich freundlich, dann sind sie und der Mann wieder verschwunden.
»Wer war das denn? Kennst du sie, Emmet?« Er schüttelt den Kopf. »Ich habe die beiden noch nie vorher gesehen, aber die beiden scheinen sich hier auszukennen. Vielleicht ehemalige Agenten. Irgendwie kommen sie mir bekannt vor.« Damit ist das Thema für sie erledigt und sie gehen weiter Richtung Kantine, wo Max schon ungeduldig auf sie wartet. »Da seid ihr ja endlich, warum hat das so lange gedauert?« Er reicht Dominique eine Schale mit Müsli, welches sie dankbar in sich hinein schüttet. »Wir wurden aufgehalten, aber wo sind Tibor und die anderen?«
»Er ist zusammen mit Delilah und Julius auf eine Mission. Sie dürften in ein paar Stunden zurückkehren.«
Hastig schluckt das Mädchen das Müsli runter. »Sie sind zu DRITT auf einer Mission? Wieso hat mich keiner geweckt?« Es ist nichts neues, das die drei zu einem Auftrag aufbrechen, aber es ist das erste Mal, dass sie ein Team bilden. Außerdem verabschieden sie sich immer bei Dominique, bevor sie verschwinden.
»Ich weiß auch nicht, was Al sich dabei gedacht hat aber so wird es wohl am besten sein. Dich Schnarchnase haben sie lieber schlafen lassen, bevor du sie wieder Löcher in den Bauch fragst.«
Ein wenig gekränkt isst die Teenagerin ihr Müsli weiter, aber Emmet hat noch eine Frage. »Sag mal Max: Kennst du die zwei Agenten, die hier rumlaufen? Ich hab die hier noch nie vorher gesehen, aber sie kennen angeblich Al.«
Max runzelt die Stirn. »Vielleicht zwei Neue, man weiß ja nie.«
»Nee, dafür sind sie zu alt. Sie dürften sogar noch älter sein wie Scarlett. Guck, da vorn laufen sie.« Emmet zeigt dabei auf das Paar, was mit Al am anderen Ende des Saals diskutiert. Der Mann schaut direkt zu ihnen rüber, und für einen Moment glaubt Dominique, eine Spur der Überraschung in Maximilians Gesicht zu erkennen. Der Agent fängt sich aber schnell wieder und das Mädchen bezweifelt, überhaupt etwas gesehen zu haben.
Oder?
Tibors plötzliche Flucht überrascht Delilah und Julius so sehr, dass sie kaum Zeit haben, zu reagieren. Sie schnappen sich die restlichen Dokumente und wollen ihren Begleiter schon folgen, als ein ohrenbetäubender Lärm vom anderen Ende des Gebäudes zu ihnen rüber tönt. Reflexartig zieht Julius Delilah in das nächste Büro, als drei Männer den Gang entlang stürmen.
»Was glaubst du was passiert ist?« Delilahs Stimme ist so gedämpft, dass sogar Julius Mühe hat, sie zu verstehen. »Ich weiß es nicht genau, aber es war garantiert eine Falle. Ich meine keine Wachen, nur ein Sicherungssystem...«
»Du glaubst doch nicht-«
Julius schüttelt den Kopf, obwohl seine Partnerin es höchstwahrscheinlich nicht sehen kann.
»Nein, diesmal ist es keiner von Tibors Tricks, zumindest nicht von Anfang an. Er könnte uns jetzt natürlich im Stich lassen, aber was will er am anderen Ende des Gebäudes?«
»Seit wann ist Tibor so unvorsichtig und tritt auf eine Falle? Oder war das mit Absicht?« Julius weiß genau, was Delilah meint. Warum sollte Tibor das tun?
»Ich habe keine Ahnung, aber wir sollten von hier verschwinden.« Er möchte gerade aus dem Zimmer stürmen, als Delilah ihn fest hält.
»Warte, Julius. Du möchtest Tibor hier nicht alleine lassen, oder? Wenn er es wirklich war, der auf die Falle getreten ist, dann befindet er sich in Lebensgefahr.«
Julius zögert nicht mit einer Antwort. »Natürlich lassen wir ihn nicht hier, aber wir müssen ihn so schnell wie möglich finden und verschwinden, sonst sind wir alle dran.«
Mit diesen Worten laufen sie los, immer bedacht, nicht auf die verräterischen Fliesen zu treten. Hin und wieder müssen sie einigen der Wachleute ausweichen und nur mit Glück schaffen sie es, nicht erwischt zu werden. Fast eine Stunde lang spielen sie ein Katz und Maus Spiel mit den Wachen und haben jedes Zimmer mehrfach durchsucht, trotzdem finden sie keine Hinweise über Tibor.
»Es ist zwecklos, Julius. Sie haben hier garantiert noch einen geheimen Raum, und wenn wir den nicht bald finden ist Tibor eher tot als bis wir hier raus sind.« Julius gibt ihr Recht, aber aufgeben kann er noch nicht. Ihm fällt ein, dass er auch ein Dokument eingesteckt hat, was aussah wie eine Art Lageplan. Ohne etwas zu sagen breitet er die unzähligen Papiere auf den Boden aus. Als er endlich findet was er sucht zeigt er das Dokument Delilah.
»Ich weiß ja nicht ob die Dokumente getürkt sind aber versuchen kann man es ja.« Gemeinsam studieren sie den komplexen Plan. Mehrere geheime Gänge führen durch und unter das Gebäude. Die meisten von ihnen führen zu einen der vielen Kammern, die verborgen weit unter der Erde liegen. Ohne Hinweise könnte es mehrere Stunden oder sogar Tage dauern, bis sie Tibor finden. Und dann wäre es zu spät.
Das Blatt wendet sich, als Delilah eine unerwartete Regelmäßigkeit im Labyrinth entdeckt.
»Sieh mal, Julius. Laut diesem Plan befinden wir uns direkt hier, und wir müssten direkt an einem der verborgenen Eingänge zu den Tunnels vorbei gelaufen sein.« Ihr Finger zeigt auf den Plan den Weg, den sie gegangen sind. »Sind wir nicht gerade einer der Fliesen ausgewichen?«
Julius versteht. »Also sind die Eingänge genau dort wo die Fliesen sind und wenn Tibor tatsächlich auf einer getreten ist-«
»-Dann wurde er durch diesen Eingang in den Tunnel gezogen. Alles was wir jetzt machen müssen ist zu den Punkt hinlaufen, wo Tibor geschnappt wurde und von durch den Eingang zu kommen.« Wieder zeigt Delilah mit ihrem Finger auf den Weg. »Der Tunnel führt zu zwei Räumen und hat einen zweiten Eingang hier in der Nähe. Wir können auch ihn nehmen.«
Julius zögert noch, etwas stört ihn an ihrem Plan. »Warte. Wie haben sie Tibor dort hineingezogen? Mir ist klar, dass alle vom Projekt gute Kämpfer sind, aber um Tibor zu schnappen braucht man ein paar Leute mehr.« Delilah erinnert sich wieder an das letzte Jahr, als sie versucht haben, Tibor zu überwältigen. Er lässt sich nicht so einfach besiegen, es sei denn...
»Es sei denn er wurde irgendwie geschwächt. Ich habe keine Schüsse gehört, außerdem wollen sie ihn garantiert lebend haben.«
»Wir suchen also etwas Lautloses und nicht tödliches, was sogar meinen Bruder außer Gefecht setzt. Vielleicht eine Art Gas?« Bei dieser Bemerkung fällt Delilah etwas ein. Sie geht zum Schreibtisch und öffnet eine der vielen Fächer. Triumphierend hält sie zwei Gasmasken hoch.
»Ich habe mich schon gewundert, wofür sie die hier alle brauchen.«
Zusammen rennen sie wieder die wieder den Gang entlang, den Lageplan und die Gasmaske fest in der Hand. Jetzt würde es sich zeigen, ob sie mit ihrer Vermutung richtig liegen. Sie wollen gerade auf den Gang mit dem Eingang abbiegen, als ihnen eine junge Frau den Weg versperrt.
»Na sieh mal einer an, seit wann arbeitet unser lieber Tibor denn in einem Team?« Mit einem gehässigen Lächeln richtet sie ihre Waffe auf Julius Brust. »Keine Sorge, ihr könnt euren Freund gleich wieder sehen, zumindest wenn ihr euch benimmt. Eine Kugel wäre einfach unpassend für so einen süßen Kerl wie dich.«
Warum stehen eigentlich alle bösen Frauen auf Julius? Und diese Frau sieht mit ihrem langen, pechschwarzen Haaren, die sie in einem Pferdeschwanz zusammen gebunden hat, auch noch ziemlich gut aus! Man sollte meinen, dass es Delilah weniger ausmacht, seitdem sie ein Paar sind, aber dass Julius auch noch lächelt gibt ihr den Rest.
Mit einem wütenden Satz stürmt sie auf die Frau zu, die keine Chance mehr hat, ihre Pistole auf Delilah zu richten. Die junge Agentin schlägt ihr gekonnt die Waffe aus ihrem Griff, so dass sie mehrere Meter über den Boden rutscht. Die andere Frau scheint verdutzt, lächelt aber schließlich. »Sieh an. Bist du etwa seine kleine Freundin? Ist ja niedlich.« Sie greift nach Delilahs Schulter, sie aber schlägt der Schwarzhaarigen mehrfach das Knie in die Magengrube. Einige Sekunden kämpfen sie so weiter, bis Julius die Gegnerin mit einem ordentlichen Schlag auf den Nacken außer Gefecht setzt. »Na so was D, sag bloß du wirst eifersüchtig.« Sie antwortet nicht, aber er sieht deutlich ihren wütenden Gesichtsausduck.
Ohne etwas zu sagen setzen sie ihre Masken auf und Delilah tritt auf die Fliese. Sofort schließen sich an allen Enden des Korridors schwere Metallwände und ein ohrenbetäubender Lärm setzt ein. Wenige Sekunden später füllt ein Gas den Raum, was jeden Agenten mit wenigen Atemzügen außer Gefecht setzen dürfte.
Delilah und Julius pressen sich links und rechts an die Stelle, wo sie eine geheime Tür vermuten. Tatsächlich öffnet sich an dieser Stelle die Wand und zwei massige Männer mit Gasmasken laufen in das kleine Gefängnis. Sie sehen ihre Kollegin am Boden liegen, können aber den Angriff der beiden anderen nicht mehr abwehren. Mit einer schnellen Bewegung ziehen sie den Männern die Gasmasken vom Kopf, und einige Augenblicke später liegen sie neben der bewusstlosen Frau.
»Ich fasse es nicht dass ich das mal sage aber komm schon Julius, wir müssen deinen Bruder retten.« Kaum gehen sie einige Schritte durch den Gang, schon führen mehrere Stufen nach unten. Sie bleiben vorsichtig, um nicht doch noch in einer der unzähligen Fallen zu tappen. Die schmale Treppe führt sie einige Meter tief nach unten, bis sie schließlich in einem Raum mit mehreren Türen endet. Auf der Karte ist nur ein weiterer Gang eingezeichnet, der Rest wurde ausgelassen. Eine Stimme nähert sich ihnen, und die Agenten können sich gerade noch vor den Mann mit dem Baseballschläger verstecken, der aus der Tür rechts außen rennt. Er läuft ohne sich umzusehen die Treppe hoch, während die beiden den Weg folgen, den der Mann gerade gegangen ist. Sie gehen wieder einige Meter, bis sie etwas von ihnen entfernt ein Fluchen hören, und mit einiger Mühe drücken sie sich in bester Agenten-Manier die Wände hoch, so dass sie sich mit dem Rücken an die Decke pressen können. Gerade noch rechtzeitig, denn schon schießt ein weiterer Mann unter ihnen hindurch.
Sie kann ihn nur für den Bruchteil einer Sekunde sehen, trotzdem ist sich Delilah sicher, diesen Mann vor langer Zeit mal auf einer Fotografie gesehen zu haben.
»Hey, ich glaube das war Montinguez.« Julius nickt, er hat sich das auch schon gedacht. Wenn Montinguez hier ist, kann Tibor nicht weit weg sein.
Die Kantine füllt sich langsam wieder mit Menschen, die hungrig und ungeduldig auf das langersehnte Abendessen warten. Dominique isst ihr Müsli weiter, während sie so unauffällig wie möglich Max von der Seite beobachtet. Der Agent lässt sich nichts anmerken, aber hin und wieder erwischt sie ihn, wie er geistesabwesend zu Al und den fremden Agenten rüber starrt. Sie scheinen nichts zu bemerken, und nach einigen Minuten verlässt Al die fremden Agenten und geht zu dem Tisch rüber, an den Dominique und die anderen warten.
»Na Kleine, bist du endlich wieder aufgewacht? Wenn du aufgegessen hast komm doch bitte in mein Büro, wir müssen noch etwas klären. Max, du kannst gerne mitkommen.« Mehr sagt Al nicht, dann geht er schon wieder.
»Was war denn das gerade? Weißt du vielleicht doch wer die Agenten sind? Max hallo ich rede mit dir!« Erst als Dominique mit der flachen Hand auf den Tisch knallt, reagiert er. »Sag schon was los ist, Max. Ist vielleicht etwas mit den anderen passiert?«
Er schüttelt den Kopf. »Mach dir darüber keine Sorgen, denen ist bestimmt nichts passiert.« Der Agent scheint sich über etwas ganz Anderes Gedanken zu machen, und seine geistige Abwesenheit gefällt Dominique gar nicht. Trotzdem fragt sie nicht weiter nach, eine Antwort würde sie sowieso nicht bekommen. Ohne aufzuessen steht sie zusammen mit den Agenten auf, ihr Hunger scheint wie wegeblasen zu sein. Sie brauchen keine fünf Minuten, dann stehen sie bereits vor der Tür vom Büro. Dominique merkt, dass ihre Hände anfangen zu schwitzen, so nervös war sie bisher nie, wenn sie zu Al gerufen wurde.
Wie nicht anders erwartet warten Al, Robinson und die beiden Fremden schon auf sie. Dominique merkt, wie Maximilian zu ihrer Rechten seine Hände verkrampft, aber er sagt immer noch kein Wort. Stumm nickt er den fremden Mann zur Begrüßung zu, der wenig überrascht über Max Anwesenheit ist. Die Frau, die Dominique schon auf den Gang angesprochen hat, lächelt dem Mädchen freundlich zu.
»Du bist also Dominique. Wir haben uns schon gedacht, dass du noch wenig jung für eine Agentin bist.« Die Frau nennt noch ihren und den Namen ihres Begleiters, aber das Mädchen kann einfach nicht den Blick von Al lassen, der gedankenverloren seine Fingerspitzen gegeneinander tippt. Das macht er immer, wenn er beunruhigt ist.
»Wir haben gute Nachrichten für dich, Dominique. Du kannst wieder ein ganz normales Leben führen.« Maximilian sieht aus, als würde er am liebsten Robinson angreifen, aber er bleibt ruhig. »Also wollt ihr das Mädchen nach einem halben Jahr wieder so schnell wie möglich loswerden, und das ohne Tibor Bescheid zu sagen. Was glauben Sie wie er reagieren wird, Robinson.«
»Tibor wird es akzeptieren müssen, die Akademie ist kein geeigneter Ort für eine junge Zivilistin. Was glaubst du was passiert, wenn sie geheime Informationen von einem unachtsamen Agenten erfährt? Es würde sie und alle in der Akademie in große Gefahr bringen.« Robinson klingt so, als ob er damit ganz bestimmte Informationen meint.
»Es würde sie in große Gefahr bringen? Ich weiß ja nicht was Sie gehört haben aber soweit ich weiß befindet sich Dominique bereits in großer Gefahr. Sie wäre nirgendswo besser aufgehoben als in der Akademie, also wieso-«
»Genug! Es reicht, Maximilian. Du hast Recht, sie war zu jeder Zeit in ihrem Leben in Gefahr, und solange Delilah, Julius und Tibor auf sie aufpassen konnten, war sie hier in der Akademie sicher.«
Die Trauer in Als Stimme schockt sowohl Max als auch Dominique. »Als sie noch auf mich aufpassen konnten? Al, sie sind doch nicht-«
»Wir wissen es nicht. Sicher ist nur, dass sie in eine Falle vom Projekt gelockt wurden. Wir haben gehofft, Al noch vor den Informanten rechtzeitig warnen zu können, aber es war leider zu spät.« Es ist das erste Mal, dass der Mann spricht. Seine Stimme ist tief und klingt bitter, so als ob er wirklich vom ganzen Herzen bereut, nicht schneller gewesen zu sein.
»Das Sushi ist nicht gleich verdorben, nur weil es streng riecht. Delilah und Julius sind meine besten Agenten, und zu Tibor muss ich nun wirklich nichts sagen. Wenn es jemand schafft, dort in einem Stück heraus zu kommen, dann sie, Mann.«
Obwohl Al damit zweifelsfrei Recht hat, schafft er es nicht, Dominique ganz zu beruhigen. Sie sieht es Robinson an, dass er nicht an die drei Agenten glaubt. »Selbst wenn sie es schaffen sollten, brauchen wir die drei nach ihrer Rückkehr als Agenten, nicht als Babysitter.«
Al nickt bei den Worten Robinsons, obwohl sich die beiden Agenten bekanntlich nicht ausstehen können. »Er hat Recht. Dominique, du hast noch nie ein normales Leben geführt, oder? Die ganze Zeit warst du eingesperrt und du hattest mehr Aufpasser als ich Bademäntel habe. Diese beiden Agenten hier sind gute Freunde von mir, wenn ich jemanden dein Leben anvertraue, dann ihnen. Du würdest mit ihnen weit genug wegziehen, kein Agent der Welt könnte dich finden. Du könntest ein ganz normales Leben führen, Dominique. Wolltest du das nicht immer?«
Wollte sie es immer? Hier in der Akademie fühlte sie sich oft eingesperrt und ausgeschlossen, trotzdem hat sie sich nirgendswo so wohl gefühlt wie hier. Sie würde Tibor und die anderen mehr vermissen als irgendjemanden sonst auf der Welt, aber falls ihnen wirklich etwas zugestoßen ist? Könnte sie dann an einem Ort bleiben, der sie Rund um die Uhr an sie erinnert?
Ihr Zögern genügt Robinson als Beweis. »Damit wäre es geklärt. Pack deine Sachen, in einer halben
Stunde wirst du die Akademie für immer verlassen.«
»Warum willst du mir nicht sagen, wo deine Komplizen sind. Du könntest dir die weiteren Schmerzen sparen.« Wieder lässt Montinguez einige Tropfen der Säure auf Tibors Haut tröpfeln. Es brennt wie heißes Eisen, aber der Agent verzieht keine Miene. Zumindest versucht er es. Man hat ihn sein Jackett abgenommen, und die kleinen Tropfen fressen sie durch den dünnen Stoff seines T-Shirts. »Du hasst mich jetzt, oder? Aber glaube mir: Es macht mir genauso wenig Spaß wie dir.«
Tibor weiß, dass das gelogen ist, aber es lässt ihn kalt. Sein Ausbilder versucht immer noch, ihn auf seine Seite zu ziehen. »Warum glaubst du, dass WIR die bösen sind, Tibor. Wir tun nur das, was nötig ist, um die Ordnung wahren zu können. Und du stellst dich einfach gegen uns.«
»Für euren Plan von Ordnung tötet ihr Unschuldige. Glaubst du ich weiß nicht, dass ihr laufend Leute tötet, die euch im Weg stehen? Glaubst du wirklich ich weiß nicht, dass es deine Leute waren, die damals das Mädchen töten sollten?« Das war ein winziger Ausrutscher Tibors, aber Montinguez rächt sich gleich mit weiteren Tropfen der Säure. »Der Tod des Mädchens war nur ein geringes Opfer für das, was wir geplant haben. Die Welt ist ein grausamer Ort, aber wir können es ändern.«
Tibor lacht. »Wie willst du sie ändern? Indem du weiter die Bosse der Nachrichtendienste erpresst? Oder Politiker? Eine wirklich tolle Welt.«
»Es ist alles nur Mittel zum Zweck. Und jetzt verrate mir wer deine Komplizen sind, oder...«
Weiter kommt Montinguez nicht, denn selbst unten im Keller ist der schrille Alarm zu hören.
Sind Delilah und Julius etwa…? Montinguez lacht, als er den Anflug von Panik in den Augen seines Opfers sieht.
»Jetzt ist es doch vorbei, Tibor. Bist du dir sicher, nicht mehr für mich arbeiten zu wollen? Ich könnte dir jeden deiner Fehler verzeihen, und eventuell lass ich deine Freunde sogar am Leben.«
Doch Tibor ist nicht bereit, zu sprechen.
»Wie du willst. In wenigen Augenblicken werden meine Männer deine Freunde durch diese Tür schleifen und du wirst dabei sein, wie sie getötet werden. Möchtest du wieder für den Tod von jemandem verantwortlich sein?« Wieder schweigt Tibor, fest entschlossen, niemanden zu verraten. Einige Minuten bleibt es völlig still im Keller, aber Montinguez wird zunehmend unruhiger.
Seine Männer hätten schon längst mit den Gefangenen hier sein müssen, aber nichts geschieht. Er schreit dem Mann mit den Baseballschläger, der immer noch draußen wartet, etwas zu, dann wendet er sich wieder zu Tibor.
»Ich weiß zwar nicht was da draußen los ist, aber ich bin mir sicher dass ich es gleich erfahren werde. Die Frage ist nur, was mache ich mit dir? Ich kann dich doch nicht einfach hängen lassen, oder?« Wieder greift er nach seiner Flasche, diesmal hält er sie Tibor direkt unter das Kinn. Ein starker, säuerlicher Geruch steigt seine Nase empor und wilde Panik macht sich in den gefesselten Agenten breit. Immer mehr nähert sich das Fläschchen Tibors Mund, während Montinguez grausam lächelt.
Er zieht mit der einen Hand Tibors Kopf in den Nacken, sodass er dazu gezwungen ist, die Säure zu trinken.
Montinguez genießt seine Grausamkeit so sehr, dass er seinen eigenen Fehler zu spät bemerkt. Er steht direkt vor seinem Opfer, dicht genug für Tibors Beine, die nicht gefesselt sind. Mit einem Sprung hängt er sich an die Kette und schafft es, mit seinem rechten Fuß direkt unter Montinguez Kinn zu treten. Er lässt erschrocken das Fläschchen fallen, und der gesamte Inhalt läuft dicht an seinem Hals Tibors Schulter herunter. Seine gesamte linke Körperhälfte scheint in Flammen zu stehen und der Agent schreit auf, als selbst er nicht mehr die Schmerzen ertragen kann.
Montinguez scheint den Verlust seiner Flasche zu bedauern, aber lächelt wieder, als er Tibors schmerzverzehrtes Gesicht sieht. »Du hast dein Ende noch schmerzvoller gestaltet als sowieso schon. Ich kümmere mich gleich um dich, jetzt sind deine Freunde dran.«
Mit diesen Worten stürmt er aus dem Keller, aber Tibor achtet gar nicht darauf. Er versucht weiterhin, sich nicht vom Schmerz überwältigen zu lassen, aber er verliert ständig die Konzentration. Panik ist jetzt das letzte, was er jetzt gebrauchen kann. Er muss klar denken können, ob es ihn gefällt oder nicht.
Was weiß er?
Jemand ist in die Falle getreten. Dieser jemand ist vermutlich Delilah oder Julius. Jemanden vom Projekt zu entkommen ist beinahe unmöglich. Sein Bruder hat ihn des Öfteren überrascht.
Und: Wenn er nicht bald hier raus kommt frisst sich die Säure noch durch seine Halsschlagader.
Die Tür wird aufgestoßen. Ist Montinguez etwa schon wieder zurück? Für einen Moment vergisst Tibor seine Schmerzen, als er die Neuankömmlinge sieht.
»Delilah, Julius! Wie habt ihr mich gefunden?«
»Das war gar nicht mal so einfach nach deiner Aktion im Büro. Was sollte das?« Julius ist ziemlich wütend, dann sieht er aber den schrecklichen Zustand, in den sich sein Bruder befindet: T-Shirt und Hose wurden zerfetzt, sein gesamter Körper scheint von kleinen, aber gewiss schmerzhaften Verätzungen übersäht zu sein. Am meisten schockt Julius aber die Schulter, auf der die oberste Hautschicht zu fehlen scheint.
»Wow, was ist denn mit dir passiert?!« Ein starker Geruch von Säure steigt in seiner Nase auf, als er sich seinen Bruder genauer anschaut.
»Ich erkläre es euch später, falls wir dann noch leben heißt das. Montinguez hat den Schlüssel mitgenommen, ihr müsst das Schloss irgendwie anders knacken.« Ohne zu zögern macht sich Julius an die Arbeit, bedacht, die Wunden so wenig wie möglich zu berühren. Er vermeidet es sowieso, sich die schmerzhaften Verletzungen genauer anzusehen. »Sag mal, wer ist eigentlich die scharfe Schwarzhaarige, die hier rumläuft?«
»Na vielen Dank für die Blumen Julius, zur Erinnerung: Ich bin auch da.« Delilah schaut ihren Partner wütend an, der sich sofort entschuldigen möchte. »Du weißt doch, dass ich nichts von scharfen Frauen will, ich möchte mit dir… Ok ich merk es selber, das war blöd.«
»Könntet ihr freundlicher Weise aufhören euch wie ein altes Ehepaar zu streiten und mich hier runter holen? Es ist nicht so gemütlich wie es aussieht!« Keiner der anderen bezweifelt, dass sogar Tibor Schmerzen haben muss. Angespannt versucht Julius, mit seinem Dietrich das Schloss zu knacken, aber es dauert einen Augenblick, bis sich mit einem vertrauten Klick die Fesseln öffnen.
Tibor sackt vor Schmerzen zusammen, als seine Arme unkontrolliert nach unten fallen. Er weiß nicht genau, wie lange er an der Kette hing, aber jetzt spürt er erst das volle Ausmaß seiner Verletzungen.
Delilah und Julius eilen zu ihm, um ihn zu stützen, Tibor lehnt ihre Hilfe jedoch ab.
»Wir müssen hier unbedingt raus, bevor Montinguez seine Leute auf uns hetzt. Die Tunnelsysteme vom Projekt haben immer einen oder mehrere Ausgänge außerhalb des Geländes. Wenn wir Glück haben finden wir sie, bevor wir eine Kugel im Kopf haben. Folgt mir.« Sein Gang ist immer noch wackelig, trotzdem haben Delilah und Julius Probleme, Tibor folgen zu können. Ohne sich umzusehen führt er sie durch das komplexe Labyrinth, indem sich jeder andere drin verlaufen hätte.
Hin und wieder glauben sie, die entfernten Rufe ihrer Verfolger zu hören, aber Tibor kennt immer eine Möglichkeit, ihnen auszuweichen. Zu seinem Glück sind die unterirdischen Gänge jeder Ausbildungsstätte gleich aufgebaut, und so finden sie ziemlich schnell den langersehnten Ausgang. Tibors Wagen steht nur ein wenig abseits, und nach dem er sich versichert hat, dass niemand ihnen folgen konnte, reicht er Julius die Schlüssel.
»Du willst dass ich fahre? Was hat man dir angetan?« Er ist ziemlich verblüfft, dass Tibor ihm die Schlüssel seines heißgeliebten Autos überlässt, aber er lächelt seinen jüngeren Bruder nur müde an. Ohne Zweifel: Er hat sehr große Schmerzen. Sie steigen ein, und mit einem wahnsinnigen Tempo rast Julius auf die Straße.
»Du schuldest uns eine Antwort, Tibor: Warum warst du plötzlich verschwunden?«
Während er weiter mit Stoffresten seine Wunden notdürftig versorgt, antwortet er: »Ich habe geahnt, dass etwas nicht stimmt. Bevor sie uns alle drei erwischen, war es besser, dass sie glauben es wäre nur eine Aktion von mir gewesen. Und es hat ja anscheinend auch geklappt. Wie konntet ihr fliehen?«
»Wir haben eins und eins zusammengerechnet. Julius hat einen Lageplan gefunden und daher wussten wir, dass es viele geheime Tunnel und Gänge gibt. Es wurde jeweils dort eine geheime Tür eingezeichnet, wo die Fliesen sind, also führt von dort ein Weg in das Tunnelsystem. Wir haben uns gedacht, dass sie ihre Opfer mit einer Art Gas betäuben also haben wir Gasmasken aus dem Büro geklaut. Wir haben uns noch einen Kampf mit der schwarzhaarigen Tussi geleistet und sind dann auf die Fliese getreten. Den Rest kennst du ja.«
Tibor scheint beeindruckt von dem, was Delilah erzählt. »Gut gemacht. Ich hätte nie gedacht, dass ihr mich dort raus holt und vor allem: Dass ihr es auch schafft. Giulia in einem Kampf zu besiegen ist nicht gerade einfach.«
»DAS war Giulia?! Kein Wunder dass du sie nicht ausstehen kannst.« Julius kann nicht glauben, dass ausgerechnet diese Frau Tibor so viele Schwierigkeiten bereitet hat.
»Freu dich nicht zu früh, Julius. Sie hat euch eindeutig unterschätzt, den Fehler wird sie nicht ein zweites Mal machen. Und jetzt fahr ein wenig schneller, ich habe das Gefühl am lebendigen Leib zu verbrennen.«
»Da seid ihr ja endlich! Dominique ist... Wow was ist denn mit dir passiert?« Max bleibt vor Schreck mitten auf den Gang zu den Schlafräumen stehen, als er seinen besten Freund sieht. Was kann man einem Menschen innerhalb weniger Stunden antun?
»War das Montinguez?« Tibor nickt, mehr braucht Max nicht zu wissen.
»Was ist nun mit Dominique? Ich kann sie nirgends sehen.« Irgendetwas sagt Tibor, dass etwas nicht stimmt. Das Mädchen riecht sonst aus zehn Kilometern Entfernung, wenn die Agenten zurückkommen.
»Man hat sie mitgenommen. Nein, sie wurde nicht entführt, aber so ähnlich. Sie hat jetzt neue Aufpasser, sie sind vor zwei Stunden abgefahren.«
»Das kann doch gar nicht sein! Wen kann Al Dominique schon anvertrauen außer uns?« Bei Julius Bemerkung kommt Tibor ein schrecklicher Gedanke.
»SIE!« Max weiß, an wen der Freund denkt. »Ja genau, SIE. Dominique weiß noch nicht, wer sie sind. Sie wollen morgen früh einen Flieger nehmen, wohin weiß niemand. Über Nacht bleiben sie in einem Hotel ganz in der Nähe.«
»Sie hatten es ja ziemlich eilig, von hier wegzukommen. Und du hast nichts dagegen unternommen?« Max zuckt mit den Schultern. »Ich habe es versucht, aber Robinson war wohl festentschlossen, das Mädchen loszuwerden.«
Tibor lässt sich einfach nicht beruhigen, er ist sichtlich wütend. »Wir können sie damit nicht durchkommen lassen! Wir müssen ihnen folgen, und zwar sofort!« Er stürmt in sein Zimmer, die drei anderen Agenten folgen ihn. Julius war bisher nur einmal in Tibors Zimmer, aber es ist genau so, wie er es in Erinnerung hat: top aufgeräumt und schlicht.
»Könnt ihr uns bitte erklären was hier los ist? Wer hat Dominique mitgenommen und was habt ihr jetzt vor?«
Tibor schreit ihnen ein »Gleich« aus dem Badezimmer zu, während er sich eine heile Hose anzieht. Als er zurückkommt, hat er sich das Blut und die überschüssige Säure bereits abgewaschen, aber auf seinen nackten Oberkörper sehen die anderen zum ersten Mal den vollen Ausmaß der Verletzungen: Mehrere Blutergüsse und Verätzungen auf Armen, Brust und Rücken, Montinguez letzte Attacke hat eine riesige Wunde hinterlassen, die sich vom Hals hinunter zur linken Schulter erstreckt.
Drei Narben kennzeichnen die Stellen, an denen ihn in den letzten Jahren eine Kugel gestreift hat. »Das sollte sich definitiv gleich Scarlett anschauen, das sieht verdammt übel aus.«
Max meint es ernst: Ohne medizinische Behandlung würden sich die Wunden entzünden, und das könnte noch schmerzhafter werden als Montinguez Folter.
»Das hat Zeit. Wir müssen zu Erst zu Dominique, sonst bekommen wir sie nie eingeholt.«
Die anderen nicken zur Zustimmung. »Willst du nicht lieber hier bleiben? Jemand muss Al benachrichtigen und du bist nicht in der Verfassung, um heute noch zu kämpfen.«
»Ich weiß deine Sorge zu schätzen, Julius, aber ein Kampf wird heute nicht nötig sein. Und ich komme mit, koste es was es wolle.« Tibor ist fest entschlossen, niemand würde ihn jetzt noch aufhalten können.
Max und Delilah sehen sich vielsagend an, beide haben die gleiche Idee.
»Dann bleiben wir hier.« Dieser Vorschlag kommt zur Überraschung aller ausgerechnet von Delilah. »Max wird mir alles erklären und ich werde Al benachrichtigen. Sobald wir können werden wir euch folgen, aber ihr müsst jetzt unbedingt los und Dominique zurückholen!«
Falls es Julius beunruhigt, seine Partnerin nicht dabei zu haben, so sagt er es nicht. Tibor bedankt sich bei ihr, dann stürmen die Brüder schon zum Wagen.
Ohne auf die anderen Verkehrsteilnehmer zu achten, rast Tibor die Straßen entlang. Er ist Agent, er darf das. Er hört zwar, wie Julius neben ihn laut flucht, aber er ignoriert es einfach. Er ist Agent, er darf das.
»Könntest du mir wenigstens erklären, warum du uns hier anscheinend umbringen möchtest? Was sind das für zwei Agenten, die Dominique mitgenommen haben? Gehören sie auch zum Projekt?« Tibor fährt eine scharfe Rechtskurve, dann antwortet er.
»Ich kann dir nur so viel sagen: Al würde Dominique niemals Agenten überlassen, bei denen nur ansatzweise die Möglichkeit besteht, dass sie zum Projekt gehören. Trotzdem: Wenn wir uns nicht beeilen sehen wir das Mädchen nie wieder, und du weißt was das bedeutet. Warum muss sie sich eigentlich immer in Schwierigkeiten bringen?«
Darauf weiß selbst Julius keine Antwort. Er weiß auch nicht, was ihn mehr Sorgen bereitet: Der Fahrstil seines Bruders oder die Möglichkeit, das Mädchen nie wieder zu sehen. »Ich hätte nie gedacht, dass du für ein kleines Mädchen mal einen solchen Zirkus veranstaltest.«
»Du weißt noch einiges nicht über mich, kleiner Bruder. Aber um dich zu beruhigen: Das Wichtigste weißt du.«
»Davon bin ich noch nicht überzeugt. Wieso erzählst du nie freiwillig etwas über dich?«
Tibor überlegt eine Weile. »Ich beantworte grundsätzlich keine Fragen, vor allem wenn man auf die Antwort selber kommen könnte. Du hast keine Ahnung, was in den letzten Jahren alles passiert ist. Wenn du das erlebt hättest, würdest du nie wieder jemanden trauen. Aber das kann ich dir später erklären, wir sind da.«
Mit einer saftigen Vollbremsung hält er direkt vor einem kleinen Hotel. Sie rennen geradewegs zu den Treppen als der Portier versucht, sie aufzuhalten. Doch ein Blick von Tibor genügt, um den Mann eingeschüchtert zu vertreiben.
»Woher weißt du eigentlich, welches Zimmer sie haben?« Mit großen Schritten rennt Julius dicht hinter Tibor die Treppen hoch.
»Wenn es die sind von denen ich denke dass es sie sind dann nehmen sie jedes Mal das gleiche Zimmer, wenn sie hier sind.«
Im dritten Stock verlassen sie das Treppenhaus. Erinnerungen kommen in Tibor hoch, alles ist noch genauso wie damals, als er das letzte Mal hier war. Vor dem Zimmer mit der Nummer 173 bleibt er stehen und klopft. Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis tatsächlich Dominique die Tür öffnet.
»Tibor! Julius! Na endlich!« Ohne es zu wollen umarmt sie die beiden Agenten, einfach nur glücklich, sie zu sehen. Eine Frau und ein Mann treten hinter das Mädchen. »Es ist ziemlich lange her, dass wir uns gesehen haben, Tibor.«
»Nicht solange, wie ihr Julius nicht gesehen habt. Darf ich vorstellen: Aiden und Isabelle Chevalier, unsere Eltern.«
Für einen Moment ist es ganz still in Zimmer 173. Isabelle schlägt ihre Hand vor den Mund, Dominique sieht, wie ihr Tränen in die Augen schießen und sie immer wieder ein stummes »Julius« flüstert. Julius ist unfähig, zu sprechen oder sich zu bewegen, er starrt einfach nur seine Eltern an.
Soll er sich freuen? Soll er sie umarmen? Soll er wütend sein, dass sie sich nicht einmal gemeldet haben?
Er tut nichts von all dem.
»Also lebt ihr doch
noch.« Eine Feststellung, keine Frage. Tibor hat es ihm bereits
gesagt, dass ihre Eltern noch am Leben sein könnten, aber sie nach
all den Jahren zu sehen übersteigt seine Vorstellung. Er hat sich
als Kind nie etwas sehnlicher gewünscht, als das seine Eltern noch
am Leben wären, doch mit den Jahren hat er gelernt, mit den Verlust
umzugehen. Nun sind sie wieder da und all die alten Gefühle
überwältigen ihn.
»Es tut uns unglaublich leid, aber wir
mussten... Versteh doch, wir hätten dich und Tibor...« Julius
schüttelt den Kopf, er weiß genau was seine Mutter ihn sagen will.
Sie mussten es tun, um ihn und Tibor zu schützen. Aber war es das
wirklich wert? Er sieht, wie Dominique die Frau trösten möchte,
aber er selbst ist immer noch unfähig, irgendetwas zu tun.
»Bevor wir das ganze Hotel wecken sollten wir lieber hinein gehen, findet ihr nicht auch?« Im Gegensatz zu Isabelle zeigt der Vater keine Reaktion, keine Freude, kein Bedauern. Jetzt ist auch klar, von wem Tibor seine Herzlichkeit geerbt hat. »Wie ich sehe, sind meine Söhne der Falle doch entkommen. Gut gemacht.«
»Gut gemacht?! Nach all den Jahren hast du nichts Besseres zu sagen als gut gemacht? Wir wurden heute fast getötet, MAL WIEDER!«
Aiden lässt der Ausraster seines ältesten Söhne völlig kalt. »Wir wussten, dass Montinguez eine Falle für euch geplant hat aber bevor wir Al warnen konnten war es schon zu spät. Wir sahen es als unsere Pflicht an, wenigstens das Mädchen zu schützen.«
Tibor war noch nie so perplex wie jetzt. »Ihr habt gedacht dass eure eigenen Söhne vom Projekt getötet werden und holt in der Zwischenzeit Dominique aus der Akademie? Wie kalt muss man sein?«
»Wir hatten keine andere Wahl. Dominique-«
Ein wildes Klopfen gegen die Eingangstür unterbricht Aiden. Zuerst denken sie, dass es aufgebrachte Nachbarn aus dem Nebenzimmer sind, die sich durch den Lärm gestört fühlen. Doch zu ihrer Überraschung stehen Delilah, Max und auch Al vor der Tür.
»Julius! Max hat mir alles erzählt, geht es dir gut?« Ihre Umarmung löst Julius Trance ein wenig. Sein Verstand wird klarer, und auch die Farbe kehrt in sein Gesicht zurück.
»Gut das du da bist, Al. Vielleicht kannst du meinem Sohn erklären, warum wir das Mädchen mitgenommen haben.« Al scheint alles andere als froh über diese Aufgabe zu sein, mit einem traurigen Lächeln blickt er Aidens Sohn an.
»Tibor, die Akademie ist kein geeigneter Ort für eine Zivilistin. So ist es wirklich das Beste.«
Tibors Wut kennt keine Grenzen mehr. »Das Beste für sie? Habt ihr euch je gefragt, was Dominique will? Ihr habt keine Ahnung, was ihr dem Mädchen eigentlich antut.«
Max zieht das Mädchen hinter seinen Rücken, als er spürt, wie auch Aiden zurück schreien will. »Es geht dir nicht um Dominique, sondern mal wieder nur um dich, Tibor. Du willst nur dein Gewissen beruhigen. Lass mich raten, sie weiß nichts von deinem Fehler.«
Tibor starrt seinen Vater an, unfähig, etwas auf diesen Schlag zu erwidern. Aiden sieht, wie sein Gesicht kreidebleich wird, doch denkt gar nicht daran, seinen Sohn zu schonen. »Weißt du was Tibor vor neun Jahren getan hat? Er hat seinen Schützling erschossen, ein sechsjähriges Mädchen! Und diesen Fehler will er durch dich ungeschehen machen, Dominique.«
Wie erstarrt stehen sich Vater und Sohn gegenüber. »Es war ein Unfall«, knurrt Tibor, »Und das weißt du ganz genau. Ich wollte nicht sie, sondern ihren Entführer treffen. Ich habe für mein Versagen gebüßt, auch wenn man es mir nie verzeihen kann.«
»Aiden...«
»Nicht jetzt, Isabelle. Dominique muss wissen, warum wir sie nicht bei Tibor lassen können. Jetzt möchtest du nicht mehr zurück, oder?«
Der Teenager steht immer noch bewegungslos hinter Max Rücken. Tibor hat ein Mädchen getötet, was so alt wäre wie sie. Aber...
Entschieden tritt sie nach vorne. »Doch, ich will zurück. Die Akademie ist mein Zuhause, ich fühle mich wohl dort. Und es ist mir egal, was Tibor getan hat. Er hat alles für mich getan, er hat mich beschützt und mir alles beigebracht, was ich kann. Und wenn er das Mädchen damals genauso behandelt hat wie mich heute, dann wird sie wissen, dass er sie nie töten wollte. Hätte er gewusst was passiert, hätte er sich lieber selbst erschossen.«
Sie ist so überzeugt von dem, was sie sagt, dass sogar Aiden lächeln muss. »Warum bist du dir so sicher?«
Dominique zögert nicht lange mit der Antwort. » Bin ich hier wirklich die Einzige, die sich Tibor heute mal genauer angesehen hat? Das Jackett kann die Verletzung an seinem Hals nicht verbergen. Er wurde bei einem Auftrag verletzt und ist trotzdem sofort losgefahren, um mich zurückzuholen.«
Das Lächeln auf Aidens Gesicht erstirbt. Das wusste er nicht, aber tatsächlich: Links an Tibors Hals ist ein kleiner Teil der Verätzung zu sehen. Isabelle möchte zu ihrem Sohn, aber Al hält sie ab.
»Delilah hat mir alles erklärt. Tibor wurde von Montinguez gefoltert, weil er ihn nicht verraten wollte wo Julius steckt. Dominique hat Recht: Er würde sich lieber töten lassen, als jemanden aus seiner Familie sterben zu lassen. Und das Mädchen gehört mittlerweile auch dazu, oder?«
Tibor nickt, während Aiden seinen alten Freund und Vorgesetzen wie ein geparktes Auto im Regen an starrt.
»Nichtsdestotrotz ist die Akademie kein Ort für eine Zivilistin. Tut mir Leid Kleine, aber du musst dich entscheiden.«
Das Mädchen weiß nicht, was Al mit Entscheidung meint. Wenn es sein Wunsch ist, muss sie damit leben. Sie hat keine Wahl.
Nicht als Zivilistin...
»Al, du hast doch nicht vor was ich denke was du vorhast, oder?«
Erleichtert lächelt er den Teenager an.
»Na endlich, Mann. Ich dachte schon du verstehst es gar nicht mehr. Es wird zwar Robinson gar nicht gefallen aber bist du bereit, dich von der Akademie als Agentin ausbilden zu lassen?«
Sieben top-ausgebildete Agenten starren auf ein kleines Mädchen. Sie fühlt sich unwohl, aber wie auch immer ihre Wahl ausfallen wird: Sie hat nicht vor, jetzt Schwäche zu zeigen.
»Dominique, du hast gesehen wozu ein Leben als Agentin führen kann. Du wirst nie wieder ein normales Leben führen können, sei dir das bewusst.« Delilahs Stimme ist sanft und mitfühlend, sie will das Mädchen zu keiner Entscheidung zwingen.
»Normal war mein Leben sowieso nie.« Was nicht heißen soll, dass sie ihre Entscheidung schon gefällt hat. Vor wenigen Wochen hätte sie Al noch angefleht, sie auszubilden, aber heute... Tibor wurde in den wenigen Monaten mehrmals angeschossen, heute sogar gefoltert! Und er hat seinen Bruder erst vor knapp zwei Jahren kennengelernt.
»Nein, dein Leben war alles andere als normal, aber das kann es noch werden. Wirst du Agentin, gibt es kein Zurück mehr für dich. Und du wirst noch sehr oft leiden. Wir hatten keine Wahl, aber du hast sie! Sei dir sicher mit deiner Entscheidung.«
Sie weiß genau, was Julius mit Leid meint. Sie hat sein Gesicht gesehen, als er seine Eltern gesehen hat. Den Schock. Und die grausame Kälte, mit der Aiden Tibor begegnet.
»Gibt es denn eine richtige Entscheidung? Ich meine was wäre passiert wenn ihr keine Agenten geworden wärt? Würdet ihr was anderes wollen?«
Dass Tibor lacht überrascht sie. »Vor ein paar Stunden hat mir jemand gesagt ich wäre ein Büroangestellter geworden, der in seiner Freizeit Briefmarken sammelt. Und um mal ehrlich zu sein, hat diese Vorstellung hin und wieder einen gewissen Reiz. Es wäre auf jeden Fall ungefährlicher. Du weißt, dass ich nicht nochmal ins Projekt gegangen wäre wenn ich die Wahl hätte.«
»Was würdet ihr mit mir machen, wenn ich mich für das Leben als Zivilistin entscheide? Dürfte ich mein Gedächtnis behalten? Könnte ich euch jemals wiedersehen?«
Das bedrückte Schweigen ist Dominique Antwort genug. »Also nicht. Aber würde ich mich als Agentin eignen?« Sie schaut bewusst nicht Max an, seine Antwort kennt sie ja.
»Viele, von denen wir glaubten sie haben Talent, sind gleich bei ihrer ersten Mission eingebrochen und sogar gestorben.«
»Darum geht es nicht. Könnte ich es schaffen?«
Es bleibt für eine Weile still, dann beginnen zu Dominiques Überraschung alle Agenten zu nicken.
»Du kannst es schaffen, wenn du dir sicher bist dass du es auch wirklich willst.« Ausgerechnet Aiden sagt das.
»Was sagst du dazu, Tibor?« Seine Meinung ist dem Mädchen am wichtigsten, und das weiß er auch.
Nur widerwillig antwortet er. »Meine Eltern lassen dir ja eine tolle Wahl. Entweder lebst du ein sicheres Leben und verlierst dadurch alle deine Erinnerungen, oder du musst jeden Tag mit deinem Tod rechnen. Ich würde es lieber sehen, wenn du in Sicherheit wärst, aber du hast mich gefragt, ob du das Zeug als Agentin hättest. Und ob es mir gefällt oder nicht: Ja, das hast du.«
Lange, ausführliche Antworten sind eher untypisch für Tibor. Er will auch nicht für die Entscheidung des Teenagers verantwortlich sein.
Sie atmet noch ein letztes Mal tief durch, dann hat Dominique ihre Wahl getroffen. »Ich habe Angst vor dem Leben als Agentin. Aber lieber sterbe ich, als meine Erinnerungen, mein Zuhause UND meine Familie zu verlieren. Al, ich mach‘s.«
Im Gegensatz zum Rest, der keine Emotionen zeigt, ist Al glücklich mit ihrer Entscheidung. »Ich freu mich schon auf Robinsons Gesicht. Aber jetzt verschwindet von hier, Tibor braucht dringend einen Arzt und du musst ins Bett Kleine, morgen beginnt deine Ausbildung. Wenn du willst kannst du noch bleiben, Julius.«
Er weiß, dass er seine Eltern vermutlich für sehr lange Zeit nicht mehr sehen wird, trotzdem schüttelt Julius den Kopf. »Tibor hat heute sein Leben für uns riskiert, ich bin ihn wenigstens das schuldig.«
Keine fünf Minuten später ist die Wohnung wie leer gefegt, nur noch Al, Aiden und Isabelle stehen noch zusammen. »Es ist unglaublich, wie ähnlich Tibor dir sieht, Aiden. Vor einem Jahr wäre er ins Gefängnis gegangen, nur um Julius zu schützen. Ihm ist es wie dir auch egal, wie sehr er gehasst wird.«
Aiden nickt. »Ich habe es gesehen. Tibor ist reifer geworden, er würde sterben um Dominique und Julius zu schützen. Ich bin sehr stolz auf ihn. Auf alle.«
»Ihr wisst, dass Tibor euch nun noch mehr hasst als sowieso schon, oder? Sogar Julius hat sich gegen euch gestellt!«
Aiden hat seine Arme um seine Frau gelegt, die ihren Kopf gegen seine Schulter lehnt.
»Es ist egal, ob sie uns lieben. Wichtig ist nur, dass sie als Brüder zusammen halten. Wir haben ihnen so viel angetan, uns kann er nicht mehr vergeben. Aber vielleicht ist Tibor nun, wo er weiß dass Dominique ihn keine Vorwürfe macht, bereit, sich selbst zu vergeben.«
»Es ist nur traurig, dass eure Kinder nicht wissen, wie sehr ihr sie eigentlich liebt und was ihr alles für sie getan habt. Es muss unglaublich hart für euch sein.«
Isabelle schaut kurz auf. »Es zerreißt einem das Herz. Aber vielleicht erfahren sie es irgendwann mal.«
Es wird Zeit. Hastig greift Ashley nach scheinbar willkürlichen Gegenständen, die in ihrem Zimmer verstreut liegen. Sie weiß, dass sie sich durch ihre Flucht endgültig vom Projekt lossagen wird, aber sie hat keine andere Wahl. Vor einigen Tagen waren Agenten bei ihr, die sie gewarnt haben. Ashleys Name ist aufgetaucht, man würde nun versuchen, sie auszuschalten. Eine Überraschung war das nicht, schließlich ist sie mit den beiden schlimmsten und gefährlichsten Verrätern befreundet. Sie greift nach einem Bilderrahmen mit dem Bild eines jungen Mädchens in Dominiques Alter.
Jenny.
Das Wissen, dass ihre kleine Schwester am anderen Ende der Welt ist beruhigt Ashley. Vor wenigen Tagen hat Jenny der Agentin erzählt, dass ihr Vater nach Deutschland versetzt wurde und dass sie mit ihn gehen würde. Ihr Vater ist ein solcher Narr. Er hat nie erfahren, dass seine Frau eine Agentin war, und seit ihrer Scheidung hat er seine älteste Tochter nur selten gesehen. Nach dem Tod der Mutter wuchs Ashley im Projekt auf, auch davon weiß er nicht. Es ist auch besser so für den berühmten Reporter Parker Steel, der darauf versessen ist, geheime Agenten-Ausbildungsstätten zu finden.
Welche Ironie.
Ihrer Schwester konnte Ashley jedoch nichts verschweigen, sie weiß über alles Bescheid. Und obwohl sie ihren Kontakt auf ein paar wenige Telefonate im Jahr beschränken und Ashley den Mädchennamen ihrer Mutter, Cooper, angenommen hat, könnte das Projekt mit einem einfachen Foto das Mädchen finden und töten.
Oder Schlimmeres.
Noch ein letztes Mal versichert sich Ashley, alle wichtigen Gegenstände eingepackt zu haben. Nichts. Ihr Zimmer hat nun nichts Persönliches mehr, es existieren keine Anzeichen, dass bis vor wenigen Tagen noch eine chaotische Agentin mit einem Fabel für Rockbands und Skateboards gelebt hat. Maximilian hat einmal gesagt, dass dies wohl der verrückteste Gegensatz zwischen ihr und Tibor sei. Sie, die immer gutgelaunte und tollpatschige Boarderin und er, dessen einziger Fehler das Unvermögen ist, sich auf irgendeiner Art von Brett zu halten.
Jetzt, ohne ihre ganzen persönlichen Dinge, hat dieses Zimmer keinen Reiz mehr für Ashley. Es ist so wie jedes andere in diesem Gebäude, trotzdem fällt ihr der Abschied schwer. Was auch geschieht: Sobald sie das Gelände verlässt, gibt es kein Zurück mehr. Wo sie auch hingeht, sie wird vom Projekt verfolgt werden.
Aber auch das ist egal.
Ohne sich noch einmal umzudrehen tritt sie auf den Flur. Sie macht sich gar nicht die Mühe, das Licht einzuschalten. Nach all den Jahren im Projekt weiß sie ganz genau, wo die Fliesen versteckt sind. Es ist bereits Sperrstunde, deswegen begegnet sie auch auf den Weg zu ihrem Wagen keiner Menschenseele. Selbst wenn würde kaum einer versuchen, Ashley aufzuhalten. Jeder würde denken, sie würde zu einem Auftrag aufbrechen und falls doch einer so dumm sein sollte und sich ihr in den Weg stellt, würde sie ihn problemlos besiegen können. Aber nichts davon geschieht, nicht einmal, als sie das Ende des Geländes erreicht und durch das versteckte Tor fährt. Sie hat nun den Ort, der seit fast siebzehn Jahren ihr Zuhause war, für immer verlassen aber was jetzt? Soll sie versuchen, so wie Tibor und Max abzutauchen? Sicher nicht. Man würde sie finden, kein Zweifel. Ihr bleibt nur die Akademie, aber würde man dort eine weitere Agentin des Projekts aufnehmen? Vielleicht kann Max Al und Scarlett von Ashley überzeugen, vielleicht auch nicht. Tibor hat sie in den letzten Wochen förmlich angefleht, das Projekt zu verlassen. Es wird zu gefährlich, hat er gesagt. Ashley weiß nicht warum aber dass dieser Idiot, der jahrelang nicht von sich hören ließ, sich um sie sorgt freut sie ein wenig.
Mit einer wachsenden Unruhe wandert Ashleys Blick in den Rückspiegel. Ein Wagen scheint sie seit einigen Kilometern ständig zu folgen, was allerdings auf der graden Strecke noch kein Wunder ist. Aber als Ashley zum Test abbremst, überholt der Fahrer nicht, sondern wahrt weiterhin den gleichen Abstand. Sie weiß, dass sie sich das in der Aufregung auch nur einbilden könnte, trotzdem biegt sie auf den nächsten Parkplatz ab. Ihr Herz pocht wild, aber zu ihrer Erleichterung fährt der andere Wagen weiter. Sie steigt kurz aus, um ihren Kopf ein wenig abzukühlen. Sie geht ein paar Schritte, Bewegung hilft ihr, nicht völlig paranoid zu werden. Der Parkplatz ist völlig unbeleuchtet, und so bemerkt sie auch zu spät, wie sich eine Person mit einem Messer an sie heranschleicht.
Seine Arme hat er im Nacken verschränkt, während er teilnahmslos die Fliege beobachtet, die an der Decke in seinem Zimmer schwirrt. Jeder Versuch, einzuschlafen endet in wirren Träumen, in denen die letzten Ereignisse in einem wilden Strudel vermischt werden. Zweifelsohne sind die Schmerztabletten, die Scarlett Tibor für seine verletzte Schulter gegeben hat, schuld daran.
Die Fliege fliegt nun dicht über seinen Kopf und ist dreist genug, sich auf den schneeweißen Verband zu setzen, der um seinen halben Rücken gewickelt ist. Ein leises Klopfen an der Tür schreckt das Insekt auf und in einem Zick Zack-Flug fliegt es wieder zur Decke.
»Komm rein.«
Es überrascht Tibor nicht, seinen jüngeren Bruder zu sehen. Das unerwartete Treffen mit ihren Eltern muss auch ihn aufgewühlt haben.
»Lass mich raten: Du kannst auch nicht schlafen. Wie geht es deiner Schulter?«
Tibor hält als Antwort nur eine kleine Dose hoch. Wenn sogar er Schmerztabletten braucht, dann dürften die Schmerzen unerträglich sein.
Vorsichtig setzt sich Tibor auf, aber selbst die kleinste Bewegung versetzt ihn schmerzhafte Stiche. »Wieso bist du nicht bei ihnen geblieben? Du hättest unsere Eltern alles fragen können was du wolltest, aber du hast es nicht getan.«
»Ich wusste nicht, was ich ihnen hätte fragen sollen. Warum sie ihren Tod vorgetäuscht haben. Warum sie mir verschwiegen haben, dass ich einen älteren Bruder habe. Aber ich glaube nicht, dass sie mir das hätten sagen können. Oder wollen.« Mit vor der Brust verschränkten Armen lehnt sich Julius gegen die Wand, er vermeidet es, seinen Bruder direkt anzusehen.
»Du weißt, dass du unsere Eltern vielleicht nie wieder sehen wirst. Wir beide nicht.« Tibor mustert seinen Bruder, aber er erkennt keine Spur des Bedauerns.
Nur eine für Julius untypische, tiefe Bitterkeit. »Das ist mir egal. Sie sind am Leben und es geht ihnen gut. Wie sie mit dir umgegangen sind war einfach nicht fair, egal was du angestellt hast. Außerdem wissen sie genau, dass das Mädchen noch lebt!«
Eine starke Entschiedenheit liegt in Julius Stimme. »Gegen unseren Vater bist du ja noch der reinste Sonnenschein.«
Tibor lacht. »Werde jetzt nicht selber unfair, kleiner Bruder. Dad ist nicht annähernd so schlimm, wie du vielleicht meinst. Ich weiß auch nicht, was heute in ihn gefahren ist.«
»Trotzdem hätte er dir nicht solche Vorwürfe machen dürfen. Ich hätte nie gedacht...«
»...Du hättest nie gedacht, dass unsere Eltern so kalt sein können«, stellt Tibor fest, »Aber du musst dir bewusst sein, dass sie nun mal Agenten sind. Sie würden alles tun, um ihre Mission nicht zu gefährden, sogar den Kontakt zu ihren Kindern abbrechen. Delilahs Eltern sind nicht anders. Ich will nur hoffen, dass sie es tun um euch zu schützen.«
»Aber...«
»Julius, mach es dir nicht schwerer als es ist. Vor nicht einmal einem Jahr war es mir auch egal, ob du oder Delilah mich hasst. Es wäre mir egal gewesen, wenn ich in den Knast gegangen wäre und das nur um das Projekt nicht auf auch aufmerksam zu machen. Unseren Eltern ist es auch egal. MICH konnten sie nicht mehr vor Montinguez und den anderen schützen, aber DICH. Vertraue darauf, dass sie das Richtige tun, sie haben weit mehr Erfahrung als du.«
Damit ist für Tibor das Thema erledigt. Es gibt wichtigere Dinge, als die Zeit mit Gedanken über ihre Eltern zu verschwenden. Aber es gibt noch mehr, über das Julius mit ihn sprechen möchte. Es kommt überaus selten vor, dass die beiden offen miteinander sprechen. Meistens streiten sie sich nur oder gehen sich aus dem Weg, für einen Abend scheint dieses ungeschriebene Brüder-Gesetz außer Kraft gesetzt zu sein
»Was hältst du davon? Also das Dominique jetzt Agentin werden soll, meine ich.«
Tibors Antwort klingt beinahe wie ein Schnauben. »Wenn du mich fragst hat Al das von Anfang an geplant. Dieser clevere Hund wusste, dass wir ihr sofort nachfahren würden. Und erinnerst du dich noch an das, was er uns zu Beginn des Auftrages gesagt hat?«
Julius erinnert sich noch zu gut. Al sagte, dass er darüber nachdenkt, Dominique auszubilden, bevor sie an den Nachrichtendienst gerät. »Glaubst du es ist wirklich eine gute Idee von Al? Das Projekt wird doch nun noch mehr hinter ihr her sein.«
»Nicht mehr als sowieso schon. Der alte Hippie hat sich was dabei gedacht, da bin ich mir ziemlich sicher. Ich schätze mal, sie wird vorläufig hauptsächlich auf dem Papier eine Agentin sein.«
Das versteht Julius nicht. »Wie meinst du das?«
»Ganz einfach: Er wird sie nicht auf Missionen schicken, dafür ist sie sowieso noch zu jung. Aber nun darf er sie offiziell in allem einweihen, was er nicht gekonnt hätte, wäre sie Zivilistin geblieben. Und sie darf so in der Akademie bleiben. Aber nun wird es für sie natürlich noch gefährlicher.«
»Hättest du sie lieber zu unseren Eltern geschickt? Du hast ja selbst gesagt, dass du nicht noch einmal Agent werden wolltest.«
Tibor braucht eine Weile, um zu antworten. »Ich bereue es nicht Agent zu sein, wenn du das wissen willst. Aber das Leben als Agentin wird verdammt hart, dass dürfte Dominique aber selbst wissen. Ich für meinen Teil hätte es lieber gesehen, wenn sie ein sicheres Leben als Zivilistin geführt hätte, aber wirklich glücklich wäre sie nie geworden.«
Sein kleiner Bruder kann dem nur zustimmen. »Ich glaube, aus ihr könnte eine gute Agentin werden.«
Aus dem Augenwinkel sieht er, wie Tibor nickt. »Da hast du Recht. Vorausgesetzt, sie überlebt die nächsten Monate.«
Ashley kann nicht verhindern, dass sie zu Boden geworfen wird. Sie schreit vor Schmerz auf, als ihr Knie auf einen Stein schlägt, aber ihr Angreifer drückt seine Hand auf ihren Mund. Mit dem Griff seines Messers schlägt er auf ihr Schulterblatt, wohlwissend, dass sie sich vor Schmerzen instinktiv auf den Bauch legen wird. Es wäre Ashley beinahe zum Verhängnis geworden, denn mit einer schnellen Bewegung versucht er, sein Messer in ihre Lunge zu stoßen. Doch die junge Frau ist schneller als er und schafft es, den Angriff mit ihrem Arm abzufangen. Heißes Blut tropft auf ihre Brust, als die Klinge ihren Oberarm schneidet. Sie wehrt sich verzweifelt gegen die Attacken des Unbekannten, aber immer wieder trifft seine Waffe ihren Körper. Doch auch er verletzt sich, als er für einen kurzen Augenblick unaufmerksam ist und Ashley seinen Arm zu seiner Brust drückt und er sich selbst eine lange, tiefe Schnittwunde zufügt.
Er schreit auf vor Schmerzen und Ashley nutzt seine Überraschung, um ihn zurückzustoßen und aufzustehen. Ihr Gegner ist kleiner als sie selbst und höchstwahrscheinlich jünger, trotzdem hält es ihn nicht davon ab, sie erneut anzugreifen. Seine einst gezielten Angriffe werden immer unkontrollierter und wilder, verzweifelt versucht er, die unbewaffnete Agentin zu überwältigen. Und obwohl seine eigene Panik und Verzweiflung Besitz von ihm ergriffen hat, weiß Ashley, dass ihr Gegner geübt mit dem Messer ist. Ungeübte hätten versucht, ihrem Opfer direkt die Kehle durchzuschneiden, er hingegen attackierte zuerst die Lunge, damit durch sie die Luft entweicht und es für Ashley unmöglich gewesen wäre, zu schreien.
Die leiseste Methode, jemanden mit einem Messer zu töten.
Jetzt jedoch, nachdem er entsetzt feststellen musste, dass sein Opfer durchaus weiß, sich in solchen Situationen zu verteidigen, ist sein purer Wille seine Waffe.
Er darf sie nicht entkommen lassen, er muss sie töten.
Die ersten Angriffe kann Ashley noch problemlos ausweichen, dann jedoch wird sie wieder zu Boden gezwungen. Verzweifelt kämpfen sie um das Messer, und beinahe abwechselnd schaffen sie es, den jeweils anderen zu verletzten. Sie wälzen sich über den harten Schotterboden, ohne das einer den anderen endgültig besiegen kann.
Er drückt Ashleys Kopf auf den Boden und zielt mit dem Messer direkt auf ihr Herz, doch im gleichen Moment schafft sie es, ihre Arme zu befreien und ihn eine Hand voll Kieselsteine in die Augen zu werfen. Er ist für einen kurzen Augenblick geblendet und Ashley kann ihn das Messer abnehmen und es in seine Brust rammen.
Er sackt zusammen und sein Blut tropft auf Ashley herunter. Erschrocken über ihre Tat stößt sie ihn von sich weg.
Sie hat ihn doch nicht etwa...?
Nein, das Messer hat die lebenswichtigen Organe verfehlt, trotzdem droht er, zu verbluten. Ihr Angreifer, der sie vor wenigen Minuten noch töten wollte, liegt nun keuchend auf den Parkplatz, unfähig, auch nur seine Finger zu krümmen. Erst jetzt kann Ashley erkennen, wer er ist: Es ist einer der jungen Rekruten vom Projekt, noch keine sechszehn Jahre alt.
Jünger als Jenny.
Ohne zu zögern rennt sie zu ihm und versucht, mit seiner Kleidung die Blutung notdürftig zu stoppen. Sie greift nach ihrem Handy und ruft den Notarzt, verschweigt aber, dass sie ebenfalls verletzt wurde. Sie wird nicht bleiben können, man würde sie in ein Krankenhaus stecken, wo sie erneuten Angriffen schutzlos ausgeliefert wäre.
Ashley geht ein letztes Mal ganz dicht an den Verletzten ran, greift in seine Jackentasche und zieht eine winzige Tablette heraus.
»Wenn du schlau bist«, flüstert sie, »Dann erzählst du ihnen, dass du mich im letzten Moment vergiften konntest. Ich weiß, dass du das hättest tun sollen, falls ich dich verletze, richtig? In zwei Stunden würde das Gift wirken und meine Leiche könnte überall sein. Zumindest fürs Erste würden sie dir glauben. Ich würde mich hüten, ihnen die Wahrheit zu erzählen. Du weißt ja selbst: Das Projekt verzeiht keine Fehler. Ich hoffe du überlebst.«
Sie sieht noch, wie der Verletzte mit letzter Kraft nickt, dann steigt sie in ihr Auto und fährt davon. Sie hasst sich dafür, den Teenager alleine zurücklassen zu müssen, aber nur so haben beide die Chance, zu überleben. Wer auch immer den jungen Agenten auf sie angesetzt hat: Er wollte den Jungen bestrafen oder loswerden.
Die restlichen Kilometer zur Akademie legt sie ohne Zwischenfälle zurück, nur ihre eigenen Wunden schmerzen unvorstellbar. Die Sonne ist bereits aufgegangen, als sie den versteckten Eingang findet und ihr Auto mitten auf den Innenhof abstellt. Ohne Umwege geht sie durch den Haupteingang, als ein junges Mädchen ihr entgegen läuft.
»Wer sind Sie... Oh mein Gott!« Die Augen des Mädchens, was immer noch ihren Schlafanzug trägt, sind beim Anblick des vielen Blutes auf der Kleidung der Unbekannten weit aufgerissen.
»Das ist jetzt egal. Hast du vielleicht ein paar Pflaster für mich? Und ein starker Kaffee wäre auch nicht schlecht, ich hatte bis jetzt ‘nen wirklich Scheiß-Tag.«
Der Mund des Mädchens ist immer noch weit geöffnet, doch als Ashleys Beine zitternd nachgeben und sie droht, zusammenzufallen, ist der Teenager mit einem Sprung bei ihr und stützt sie ab.
»Ich glaube Pflaster helfen auch nicht mehr. Ich bringe dich besser zu Scarlett, sie hat bis jetzt jeden zusammen-gepuzzelt.«
Wortlos nickt die Agentin. Sie hasst sich dafür, sich auf den Mädchen abstützen zu müssen, aber ihre Beine lassen ein eigenständiges Gehen nicht mehr zu. Zwei junge Männer, ebenfalls im Schlafanzug, kreuzen ihren Weg. Sie reagieren ähnlich wie das junge Mädchen, auch ihre Augen sind entsetzt aufgerissen. Ashley will im Moment gar nicht so genau wissen, wie schlimm sie aussieht.
Der Mann mit dem Wuschelkopf rennt los, und nach wenigen Augenblicken kehrt er mit einer dunkelhäutigen Frau in einem weißen Arztkittel zurück. Sie kratzt sich an der Stirn, als sie die verletzte junge Frau sieht.
»Also dich haben sie ja wirklich zugerichtet. Komm mit, ich setze dich wieder zusammen. Dominique, zieh dich an und komme dann zum Krankenzimmer. Und ihr zwei: Glaubt ja nicht, ich hätte das nicht gehört.« Sie wirft den kräftigeren der Beiden Männer einen bösen Blick zu, dessen Kopf daraufhin die Farbe einer überreifen Tomate annimmt. Sein Freund Struppi lacht ihn aus, bis auch er einen wütenden Blick kassiert. Ashley konnte nicht genau verstehen, was die Männer gesagt haben, aber anscheinend ging es um sie.
Und ihren Hintern.
Der Weg bis zum Krankenzimmer ist nicht weit, trotzdem erscheint es Ashley wie eine halbe Ewigkeit, bis sie endlich auf der dunkelgrünen Trage sitzt. Sie hält die Luft an, als die Frau mit lauwarmem Wasser beginnt, die Wunden auszuwaschen. »Ich heiße übrigens Scarlett. Und wenn mich nicht alles täuscht dürftest du Ashley sein, oder? Tibor hat mir schon von dir erzählt.«
Ashley nickt. Ihre Stimme zittert vor Schmerzen, als sie fragt: »Was wollt ihr nun mit mir machen?« Scarlett antwortet nicht gleich, vorher beginnt sie, einige der Wunden zu nähen. »Ich weiß es nicht, Al wird das entscheiden. Aber wer war das? Montinguez?«
»Ich weiß es nicht, es kann auch das Projekt gewesen sein. Ich wollte heute Nacht fliehen, und das dürfte ihnen weniger gefallen. Es war einer der jungen Schüler, vielleicht fünfzehn oder sechszehn Jahre alt.«
Scarlett runzelt die Stirn. »Was ist jetzt mit dem Jungen? Hast du ihn etwa-«
Träge schüttelt Ashley den Kopf. »Nein, zumindest will ich das nicht hoffen. Er sieht noch übler aus als ich, aber ich habe den Notarzt gerufen.«
»Das war alles, was du tun konntest. Ich werde nachher ein paar Agenten losschicken, sie sollen prüfen ob ein Teenager mit Stichverletzungen in eines der umliegenden Krankenhäuser eingeliefert wurde. Wieso wolltest du fliehen?«
»Es wurde mir einfach zu heiß. Man hat mich vor wenigen Tagen gewarnt, mein Name ist aufgetaucht.«
Scarlett möchte gerade etwas antworten, da klopft es. Das junge Mädchen von gerade steht vor der Tür, diesmal angezogen.
Scarlett wirft Ashley noch ein letztes Lächeln zu, dann sagt sie: »Das Mädchen wird bei dir bleiben. Ich hole eben Tibor.« Ihr Kittel flattert hinter ihr her, als Scarlett schnellen Schrittes das Krankenzimmer verlässt.
Ashley möchte gerade ihr Gesicht im Spiegel betrachten, aber das Mädchen warnt sie. »Das würde ich lieber sein lassen, du siehst wirklich übel aus.“«
Die Warnung kommt ein wenig zu spät, denn schon sieht Ashley die tiefen Ringe um ihre Augen und den langen Kratzer auf ihrer Wange. Ihr langes, blondes Haar hängt schlaff herunter, einige Strähnen sind blutverklebt. Sie hat schon mal schlimmer ausgesehen, trotzdem weicht sie bei ihrem eigenen Anblick erschrocken einen Schritt zurück.
»Kein Wunder dass ihr mich alle angestarrt habt. Ich sehe ja aus wie ein Zombie!«
»Ich habe erst gedacht du bist ein Zombie, bei dem ganzen Blut. Ich bin übrigens Dominique.«
Ein dickes Grinsen erscheint auf Ashleys Gesicht. »Dann bist DU also Tibors kleiner Schützling! Er hat mir schon viel von dir erzählt! Ich bin übrigens Ashley, falls dir das was sagt.«
Und ob es Dominique etwas sagt. In der letzten Zeit hat Tibor öfters mit dieser Frau telefoniert, und von Max hat sie erfahren, dass Ashley zumindest früher wohl ein bisschen mehr für Tibor war als nur eine Freundin.
»Warum grinst du so?« Verwirrt starrt die Agentin das Mädchen an, die mit ihrem Kopf völlig woanders zu sein scheint.
»Ähm ich habe einfach nur gute Laune. Oh guck mal, da kommt Tibor!« Der Agent rettet den Teenager gerade noch vor einer peinlichen Erklärung, als er ohne zu klopfen herein stürmt.
»Verzieh dich, Nervensäge.« Ausnahmsweise nimmt Dominique ihn die Beleidigung nicht übel, sie wird sich später noch rächen können.
»Du hast auch schon mal besser ausgesehen.« Mehr sagt Tibor nach einer kurzen, peinlichen Stille nicht.
»Na das war genau das was ich hören wollte. Charmant wie immer, Tibor.« Ashleys schnippische Antwort zeigt Wirkung: Sie kann deutlich sehen, wie sich Tibor von Sekunde zu Sekunde immer unwohler in seiner Haut fühlt. Erst, als sie ihn einen versöhnlichen Blick zuwirft, entspannt sich seine Körperhaltung ein wenig.
»Also hast du dich doch entschlossen, das Projekt zu verlassen. Wieso so plötzlich?« Gespielt gelangweilt blättert er durch eines der unzähligen Medizinbücher, die ordentlich aneinander gereiht in einem Regal hinter ihm stehen. Es ist Tibor jedes Mittel recht, um nicht Ashleys unzählige Verletzungen sehen zu müssen. Er mag zu den besten Agenten der Welt zu gehören, aber sie in diesem Zustand zu sehen und sich die wilde Panik nicht anmerken zu lassen ist für ihn absolut unmöglich.
»Mein Name ist aufgetaucht.«
Überrascht klappt Tibor das Buch zu, die rechte Augenbraue weit hochgezogen.
»Woher weißt du das? Das hast du doch kaum selbst herausgefunden.«
Sie beißt sich auf die Unterlippe, wie immer wenn sie etwas vor Tibor verheimlichen möchte. Und wie immer hat es auch diesmal keinen Zweck.
»Deine Eltern haben mich vor einigen Tagen gewarnt. Bitte, ich wollte dir etwas sagen aber sie haben mich-«
Verdutzt bricht Ashley ihren Erklärungsversuch ab, als sie sieht, wie Tibor freudlos anfängt zu lachen. »Damit haben sie wenigstens ihre gestrige Aktion wieder gut gemacht.«
Nach Ashleys fragenden Blick fügt er hinzu: »Sie wollten Dominique gestern abholen, weil Delilah, Julius und ich in eine Falle von Montinguez geraten sind und sie angeblich geglaubt haben, wir würden dort nicht in einem Stück raus kommen. Keine Sorge, es ist nichts passiert.«
Ashleys Fäuste sind so verkrampft, dass Tibor die die Adern auf ihren Handrücken deutlich sehen kann. Ein sicheres Zeichen dafür, dass sie ihm nicht glaubt.
»Was ist passiert?«
Er würde am liebsten gar nichts mehr sagen, aber ihr Gesicht ist so kreidebleich, dass er sich schließlich doch zu einer widerwilligen Erklärung überwindet.
»Wir sollten in der alten Außenstelle nach Informationen suchen. Leider war unser Informant ein Verräter und Giulia und Montinguez haben bereits auf uns gewartet. Glücklicherweise konnten wir entkommen, ohne das Montinguez von Julius Existenz erfahren hat.«
Irgendetwas sagt ihr, dass das nicht alles war.
»Wie konntet ihr entkommen, Tibor?«
Er möchte schon etwas erwidern, als sie ein kleines Stück von dem Verband sieht, was am Kragen seines T-Shirts herausragt. Der Agent kann nicht verhindern, dass sie aufspringt und ihn mit einer blitzschnellen Bewegung das Jackett aussieht, was bis jetzt die restlichen Verletzungen vor Ashleys Augen verborgen hat. Entsetzt weicht sie nach hinten, ihre Hände fest vor den Mund gepresst.
»Oh mein Gott, was haben sie mit dir angestellt?«
Ihr Gesicht ist nun noch bleicher und vermutlich wäre sie geschockt zusammengebrochen, würde Tibor sie nicht an den Schultern greifen und sanft wieder auf die Trage setzen.
»Mit mir ist alles in Ordnung, es hätte schlimmer sein können. Aber du hast mir immer noch nicht erzählt, wer dich in der letzten Nacht angegriffen hat.«
Sie ist nicht in der Lage, gleich zu antworten. Selbst der jahrelange Drill und die Ausbildung als Agentin der absoluten Elite machen es für sie möglich, von den Ereignissen der letzten Nacht zu erzählen, ohne dass ihre Stimme zittert und ihr Mund austrocknet. Tibor hört ihr geduldig zu, seine Augen verraten nicht, was er wirklich denkt. Ihre letzten Worte sind nur noch ein schwaches Flüstern. »Es hat mich einer meiner Schüler angegriffen. Ich hätte ihn vor dem Projekt schützen sollen, stattdessen habe ich ihn vermutlich getötet.«
Als sie endet verliert sie auch den Rest ihrer Beherrschung. Hemmungslos presst sie ihr Gesicht an Tibors gesunde Schulter. Tibor hat Ashley nur selten weinen sehen, dementsprechend überfordert ist er mit der Situation. Er versucht sie zu beruhigen, und tatsächlich werden die Schluchzer nach einer Zeit weniger, bis sie schließlich ganz aufhören. Sanft drückt er ihren Kopf von seiner Schulter, geradewegs so, dass er ihr direkt in die Augen sehen kann.
»Hör mir genau zu: Was glaubst du, warum sie gerade ihn losgeschickt haben? Er hatte gegen dich keine Chance. Sie wollen dir Schuldgefühle machen, aber den Gefallen tust du ihnen nicht, verstanden?« Er klingt weit strenger als er beabsichtig hat, trotzdem scheinen seine Worte sie irgendwie zu beruhigen.
Sie legt ihre Hand um seinen Nacken, die Eiseskälte ihrer Finger lassen ihn erschaudern. Tibor zieht ihren Kopf dichter zu seinen keiner der beiden bemerkt, dass sie beobachtet werden.
»Woaah hätten wir das gewusst wären wir draußen geblieben. Ihr hättet auch einfach eine Socke an die Klinke hängen können.« Emmet, Noesy, Delilah, Julius, Dominique und Max stehen in der Tür, jeder von ihnen mit einem dicken Grinsen auf dem Gesicht.
»Ich habe es dir doch schon mal gesagt, Noesy: Alle Blondinen sind absolut durchgeknallt. Ursula ist übergelaufen, Dominique ist absolut durchgeknallt und Ashley wollte gerade Tibor küssen. Ich meine TIBOR! Nicht, dass daran irgendetwas falsch wäre«, fügt Emmet schnell hinzu, als der Agent ihn wieder einen seiner Dein-Kopf-landet-in-der-Toilette-wenn-du-nicht-die-Klappe-hältst-Blicke zuwirft.
»Eine Beziehung unter Agenten ist zu gefährlich, wie konnte Al nur das zwischen dir und Delilah zulassen. Kommt dir das ein wenig bekannt vor, großer Bruder?« Julius weiß, dass Tibor ihn jetzt am liebsten umbringen würde, aber er genießt es einfach, seinen älteren Bruder aus der Reserve zu locken.
»Erst Julius und Delilah, dann Noesy und Zoe und jetzt auch noch Tibor und Ashley! Warum habt ihr eigentlich alle eine Freundin und ich nicht? Das ist nicht fair!« Schmollend kreuzt Emmet seine Arme vor der Brust.
»Mach dir nichts draus, du bist hier nicht der einzige Single. Hey da fällt mir ein: Dominique hat doch auch noch keinen Freund, oder?«
Entsetzt reißt das Mädchen die Augen auf, als ihr klar wird, was Delilah damit ansprechen möchte. »Auf gar keinen Fall! Ich bin glücklicher Single und dabei bleibt es. Außerdem ist Emmet fünf Jahre älter, also vergisst es.«
»Ein Grund, kein Hindernis«, erwidert Max. Mit einem Augenzwinkern fügt er hinzu: »Außerdem ist er rein körperlich älter, geistig kann es eine zerquetschte Tomate mit ihm aufnehmen.«
»Hey, ich bin auch hier! Und bist du nicht auch noch Single, Max?« Mit dem letzten Satz macht Emmet den Agenten sprachlos. »Ähm ja aber zehn Jahre Altersunterschied sind doch ein bisschen zu viel. Könnten wir bitte das Thema wechseln? Ich meine: Tibor hat jetzt eine Freundin!«
»Wir sind nicht-«
»Wenn du jetzt sagst ihr seid nicht zusammen dann erklär doch bitte mal was das gerade war? Mund-zur-Mund-Beatmung oder was? Ich bin hier vielleicht die Jüngste, aber so blöd bin ich auch schon wieder nicht!« Tibors Mund klappt auf, als ob er was sagen möchte, schließt sich aber gleich wieder. Selbst ihn fällt darauf keine vernünftige Antwort ein.
Ashley scheint die Situation um einiges gelassener zu sehen, zumindest sieht sie im Gegensatz zu Tibor nicht so aus, als ob sie gerade überlegen würde wie sie jeden der Anwesenden töten kann, ohne Spuren zu hinterlassen.
»Es gibt da noch etwas, was ich euch schon früher fragen wollte. Was war eigentlich zwischen dir und Morris los, Tibor? Er kam vor einigen Wochen völlig aufgelöst ins Labor gerannt und hat behauptet, dass du kleine Mädchen entführst um sie als Sklaven zu halten und sie später zu kochen. Man hat ihn für zwei Monate beurlaubt, damit er sich erholen kann.«
Delilah und Julius brechen in einem schallenden Gelächter aus, was die Agentin gründlich verwirrt. Dominique versucht ernst zu bleiben, prustet aber ebenfalls los, als Tibor sie vernichtend anschaut. Julius wischt sich eine Lachträne weg und nach einigen weiteren Lachern sagt er: »Das ist eine sehr lange Geschichte und eine der lustigsten Ablenkungsmanöver, die je ein Agent gebracht hat. Wobei: Damals war unsere liebe Dominique noch Zivilistin!«
Wieder hätte Tibor den Jüngeren der Chevaliers am liebsten auf der Stelle in der Luft zerrissen, aber das plötzliche Auftauchen von Zoe hindert ihn daran.
»Was ist denn hier los? Hat die Lachgasflasche wieder ein Leck oder wieso lacht ihr alle?«
Dominique rennt zu ihr, und wie ein wildgewordener Teenager, der seine Lieblingsband Backstage treffen darf, schreit sie: »Tibor hat eine Freundin und er hätte sie gerade beinahe geküsst!«
»Ist nicht wahr! Eine richtige Freundin, also ich meine eine Frau? Ein richtiger LEBENDIGER Mensch?« Ungläubig schaut sie das jüngere Mädchen an, die mit einem dicken Grinsen auf die Frau hinter ihr zeigt. »Okay, welche Drogen hat Tibor ihr gegeben? Sie ist doch nicht freiwillig mit ihm zusammen, oder?«
»Doch, und sie wollten sich KÜSSEN! Wir haben es alle gesehen und Max hat es anscheinend sogar auf Video!«
Jetzt stimmt auch Zoe in Dominiques wildem Kreischen ein. »Oh man das will ich sehen! Tibor hat eine Freundin, das gibt es ja gar nicht!«
»Ashley ist nicht meine-«
»Du wolltest sie küssen, also seid ihr zusammen. Gewöhn dich dran, Tibor.« Jeder grinst nun auf den Agenten, der jeden im Raum verprügeln möchte.
»Ich dachte immer, wir wären alle -bis auf Dominique- erwachsen. Maximilian, sobald meine Schulter verheilt ist sprechen wir uns noch.« Maximilian nimmt die Drohung des Freundes einfach hin, dafür wird Zoe schnell wieder ernst.
»Jetzt hätte ich beinahe vergessen, warum ich runter gekommen bin. Al und Scarlett möchten uns alle sofort oben sprechen, euch auch Ashley und Dominique.«
»Du verstehst doch gar nichts mehr!« Voller Zorn schreit Jenny ihren Vater an.
»Ich hasse es hier! Warum musstest du mir das antun?« Es ist schon das dritte Mal in dieser Woche, dass sich sie und ihr Vater, der berühmte Reporter Parker Steel, sich streiten. Und wie die letzten Male ist der Grund für ihre Auseinandersetzung der Umzug nach Deutschland.
»Ich habe es mir doch auch nicht ausgesucht«, versucht er seine Tochter zu beruhigen, »Aber es gehört nun mal zu meinem Job, daran lässt sich leider nichts ändern. Aber wenn du erst mal neue Freundinnen gefunden hast-«
»Dann ziehen wir wieder um, wie jedes Mal! Warum konntest du nicht einfach in Kanada bleiben?« Wie seine Tochter Ashley beißt auch er sich auf die Lippe, wenn er am liebsten nichts sagen würde. »Hier ist die Bezahlung besser, und...«
»Und hier vermutest du wieder irgendwelche streng geheimen Agentenausbildungsstätten, richtig? Warum kannst du es einfach nicht sein lassen, Dad?« Doch ihr Flehen stößt auf taube Ohren.
»Stell dir doch mal vor«, sagt er begeistert, »Was für eine Story das wäre! Und ich bin mir sicher, dass es solche Ausbildungsstätten geben muss, du nicht auch?«
»Nein! Ich glaube nicht an so einen Quatsch.« Zu Jennys Glück kennt ihr Vater sie nicht gut genug, um ihre Lüge zu durchschauen. Wenn er wüsste dass seine älteste Tochter...
»Außerdem: Wenn es solche Ausbildungszentren geben würde dann würdest du alle Agenten in Gefahr bringen, du würdest UNS in Gefahr bringen, weil sie uns aus den Verkehr ziehen wollten.«
Steel lacht über die Warnung seiner Tochter als wäre es ein schlechter Scherz. »Ich glaube DU siehst dir zu viele schlechte Filme an. Niemand würde uns aus dem Verkehr ziehen wollen, schließlich stehe ich mitten in der Öffentlichkeit.«
Deine Töchter nicht, denkt sich Jenny, spricht aber ihre Gedanken nicht laut aus. Sie weiß von Ashley, wie gefährlich es für jemanden wird, wenn er sich mit Agenten anlegt. Und ihr Vater ist absolut ahnungslos.
»Warum kannst du denn nicht wenigstens MICH aus der Sache raushalten? Weißt du denn nicht, wie peinlich deine Besessenheit von Agenten für mich ist? Sogar hier in Deutschland bin ich in der Schule deswegen eine absolute Lachnummer.«
»Sie werden nicht mehr lachen, wenn ich meine Theorie erst einmal bewiesen habe. Und wo sollte ich dich sonst lassen, bei deiner Mutter? Sie scheint sich für ihre jüngste Tochter nicht sonderlich zu interessieren, oder warum hat sie dich an mich abgegeben?«
Tränen schießen in Jennys Augen, wie immer wenn ihre Mutter angesprochen wird. Ashley war noch keine siebzehn Jahre alt, als ihre Mutter starb. Sie musste damals ihren Tod vor ihrem Vater geheim halten, damit er sie nicht zu sich holt. Oder schlimmer noch: Damit er nicht erfährt, dass seine Ex-Frau eine Agentin war und seine älteste Tochter tatsächlich in einer strenggeheimen Ausbildungsstätte aufwächst. Jenny ging damals gerade erst zur Schule, und für sie ist es auch heute noch besonders schwer, mit niemanden über den Verlust der Mutter sprechen zu können.
»DU interessierst dich nicht für deine Töchter, Dad! DU ignorierst doch einfach, dass ich keine Lust mehr habe, ständig umziehen zu müssen, jetzt leben wir sogar noch auf einen anderen Kontinent! Und Ashley ist für dich gestorben, nach dem sie sich für Mum entschieden hat, richtig?«
Das war zu viel. »Dann geh doch zu deiner Ashley!«, brüllt er. Als sie es wagt, sich von ihm abzuwenden packt er seine Tochter am Arm und verpasst ihr eine Ohrfeige. Entsetzt starrt er seine Hand an, nachdem er realisiert, dass er seine Tochter zum ersten Mal in seinem Leben geschlagen hat.
»Jenny«, stottert er unter Schock. »Es tut mir leid! Jenny, warte!«
Aber zu spät: Mit einem lauten Krachen schlägt sie die Tür hinter sich zu und rennt das Treppenhaus herunter. Einige der anderen Bewohner des Miethauses sind aus ihren Wohnungen getreten um zu sehen, wer für den ganzen Krach verantwortlich ist, aber das Mädchen ignoriert sie einfach. Saure Tränen rennen ihr Gesicht herunter, sie kann immer noch nicht glauben, was gerade passiert ist.
Ihr Vater hat sie gerade geschlagen!
Die Ohrfeige war nicht wirklich schmerzhaft, aber damit hat er eine deutliche Grenze überschritten. Sie haben sich oft gestritten, aber er hat sie nie geschlagen. Es war ein Tabu, und nun weiß sie nicht, wozu ihr Vater noch fähig ist. Wie weit wird er durch seine Besessenheit noch gehen?
Jenny rennt ziellos durch die Stadt, sie weiß nicht was sie nun noch machen soll. Zurück kann und will sie im Moment nicht, aber sie kann sich in diesem fremden Land kaum zu Recht finden. Sie beherrscht nur Bruchstücke dieser eigenartigen Sprache, gerade gut genug, um nach den Weg zur nächsten U-Bahnstation zu fragen. In ihrer Hosentasche hat sie noch genug Kleingeld, um einige Stationen fahren zu können, sicher wird sie dadurch einen klaren Kopf bekommen. Sie will gerade die Treppe zur Station herab gehen, als ein ziemlich großer Mann sie anrempelt. Jenny stolpert und wäre beinahe die Stufen herunter gefallen, hätte der Mann nicht blitzschnell reagiert und sie am Arm gepackt.
»Vorsicht, junge Lady!« Zu ihrer Überraschung spricht er nicht auf Deutsch, sondern auf Englisch mit ihr.
»Wenn mich nicht alles täuscht musst du Jenny sein, richtig? Keine Angst, dass Gift wird dich nur betäuben.«
Gift? Der Teenager will schreien, aber ihre Beine geben bereits nach. Ihre Kehle ist wie zugeschnürt und ihre Gedanken wären immer schwerer. Sie hört noch, wie der Mann auf Deutsch etwas zu den anderen Passanten sagt, dann bricht sie zusammen.
Der Geruch von Tannennadeln dringt in ihre Nase. Umgeben von den riesigen Bäumen fühlt sie sich noch kleiner als sonst. Etwas Kaltes läuft ihren Nacken hinab, aber es ist nur der Schnee, der von einem der Bäume herab rieselt.
Ihr ist kalt, so schrecklich kalt. Aber sie darf nicht aufgeben, niemals. Sie hat es versprochen. Sie darf nicht zurück, egal was geschieht. Weit vor sich sieht sie die Umrisse des schwarzen Autos, aber selbst jetzt, wo sie ihr Ziel in greifbarer Nähe ist, weicht ihre Angst. Es ist nur noch ein kleines Stück, aber mit ihren kleinen Füßen versinken immer wieder in durch dicke Schneedecke. Das wilde Gebrüll kommt immer näher und mit einem Anflug von Panik sieht sie, dass ihr Verfolger nur noch wenige Meter von ihr entfernt ist. Sie ist kleiner und leichter und der Schnee macht ihr weniger Schwierigkeiten als dem hünenhaften Mann hinter ihr, aber er braucht nur wenige Schritte, bis er das Mädchen wie ein Kaninchen am Kragen packt und hochzieht. Sie tritt wild um sich, aber der Mann lacht nur. Unsanft zieht er sie über den Boden, der weiße Schnee dringt in ihrem Mund und ihre Ohren. Auf einer kleinen Lichtung zieht er sie hoch, dann hört sie nur noch den Knall der Pistole, die direkt auf sie gerichtet wurde...
Mit einem leisen Schrei wacht Dominique auf, am ganzen Leib zitternd. Sie atmet schwer, und nach einigen Atemzügen reibt sie sich vorsichtig die Schulter, dort, wo die Kugel sie hätte treffen müssen.
Wieder fühlt sie nur die feine Erhebung der Narbe, die sie sich als Kleinkind zugezogen hat. Wieder war der Schmerz und die Angst nicht real, alles nur ein Ergebnis ihrer Fantasie. Der Teenager versucht, sich die Bilder des Traums erneut aufzurufen, aber erneut kann sie sich an keines der Gesichter erinnern. Wie konnte sie ein weiteres Mal zulassen, dass der Traum sie überwältigt? Er verfolgt sie nun schon seit einigen Wochen und wieder hat sie sich so schrecklich klein gefühlt, so hilflos...
Als ob sie so die Nachwirkungen des Albtraumes ablegen könnte schüttelt sie sich und ein Blick auf die Uhr sagt ihr, dass es bereits vier Uhr morgens ist. Zeit zum Aufstehen. Als momentan jüngste Agentin beginnt ihre erste Trainingsstunde an manchen Tagen bereits um fünf, die älteren dürfen noch ein wenig schlafen.
Träge schleppt sie sich in ihr kleines Badezimmer und putzt sich die Zähne. Obwohl sie nun schon seit drei Monaten ausgebildet wird, konnte sie sich an die frühe Stunde immer noch nicht gewöhnen. Früher wäre Dominique in frühestens drei Stunden wach, aber sie kann nicht zurück zu ihrem alten Leben.
Nie wieder.
Manchmal erwischt sie sich dabei, wie sie darüber nachdenkt, was passiert wäre wenn sie mit Tibors und Julius Eltern gegangen wäre. Sie wäre jetzt irgendwo in einem fremden Land mit fremden Agenten und würde ein fast normales Teenager-Dasein führen. Sie würde jetzt für irgendwelche Prüfungen büffeln und hätte die Akademie schon längst vergessen, weil man ihr Gedächtnis gelöscht hätte. Ob das wohl besser gewesen wäre?
Hastig schüttelt sie ihren Kopf, als könne sie so ihre Gedanken verdrängen. Ein wenig Schaum der Zahnpasta tropft auf ihrem Schlafanzug, aber sie ignoriert die kleinen, weißen Flecken einfach. Sie darf nicht an ihr altes Leben denken, sie kann ja doch nichts mehr ändern. Stattdessen versucht sie wieder, an ihrem Traum zu denken. Jetzt, wo sie wieder einigermaßen klar denken kann ärgert sie sich, sich von ihrer eigenen Fantasie so überwältigen zu lassen. Es sind nur die Nachwirkungen der letzten Monate, die Dominiques eigene Fantasie zu einem wirren Konstrukt aus Bildern und Eindrücke gemischt hat. Sie schenkt nichts davon Bedeutung, schließlich ist sie jetzt eine Agentin und darf keine Angst mehr haben.
Leise geht sie aus ihrem Zimmer, obwohl sie genau weiß, dass keine Explosion der Welt die Agenten in den anderen Räumen jetzt wecken könnte. Umso verwundeter ist sie, dass ein schwaches, blaues Leuchten durch den Türspalt gegenüber dringt. Dominique zögert einen Moment, dann öffnet sie vorsichtig die Tür zu Ashleys Zimmer. Die Agentin sitzt tief über ihren Computer gebeugt, bereits fertig angezogen. Sie schaltet schnell den Monitor aus, als sie das junge Mädchen hinter ihr sieht. »Ich konnte einfach nicht mehr schlafen, also habe ich mir ein paar alte Videos angesehen«, erklärt sie, ein müdes Lächeln auf dem Gesicht.
Dominique glaubt ihr nicht, aber fragt nicht weiter nach. Sie wünscht Ashley noch ein paar Stunden Schlaf, dann geht sie zur Kantine, um dort ihr erstes, kleines Frühstück zu nehmen. Scarlett wartet dort bereits auf sie, wie immer merkt man ihr den wenigen Schlaf überhaupt nicht an.
»Guten Morgen. Ich hoffe du bist ausgeschlafen, Schätzchen. Es wartet noch jede Menge Arbeit auf uns.«
Dominique murmelt etwas unverständliches, definitiv unausgeschlafen. Das hält Scarlett aber nicht davon ab, ihr auf dem Weg zum Labor einen langen Vortrag über Feinde der Akademie zu halten, den das Mädchen so gut es geht versucht zu folgen. Seitdem sie ebenfalls ausgebildet wird, müssen nicht zwangsläufig alle Informationen vor ihr geheim gehalten werden und Al und Scarlett waren sich sehr zum Unmut von Robinson einig, dass man Dominique in so viel wie möglich einweihen sollte. So erfuhr der Teenager nicht nur von dem verrückten Professor Dismay, sondern auch von der Null-Liste, dem Projekt und warum Tibor noch vor einem Jahr als riesige Gefahr angesehen wurde. Über zwei Stunden lang erklärt ihr Scarlett alle ihrer kleinen "Spielereien", bis sie das Mädchen endlich erlöst. »Wir sehen uns gleich mit dem anderen beim Training, und vergiss nicht was ich dir gesagt habe!« Glücklich über die kleine Pause geht sie zurück zur Kantine, doch anstatt eines vernünftigen Frühstücks erwarten sie lange Gesichter. »Vergiss deinen Toast. Ashley ist verschwunden.«
Dominique kann einfach nicht glauben, was Julius ihr gerade sagt, aber die ernsten Gesichter der anderen bestätigen ihr, dass er nicht lügt.
»Wie kommt ihr darauf? Ich meine es ist Ashley! Sie verschwindet doch nicht einfach so.«
»Sie ist auch nicht einfach so verschwunden, sondern hat es geplant. Sie hat nur die nötigsten Sachen eingesteckt und ihr Kommunikator funktioniert nicht.«
Tibor sieht das Mädchen feindselig an, als ob sie für das Verschwinden von Ashley verantwortlich wäre. Seine Art, sich Sorgen zu machen.
»Weißt du vielleicht was? Hast du sie heute Morgen noch gesehen?« Delilah ist deutlich freundlicher, aber auch ihr kann man die wachsende Unruhe ansehen.
Dominique braucht nicht lange überlegen. »Sie saß heute Morgen um halb fünf schon vor ihrem Computer und war da schon so komisch. Ich konnte aber nicht mehr sehen, was sie daran gemacht hat.«
»Warum hast du das nicht gleich gesagt, Nervensäge.« Tibor ist zwar immer noch wütend, aber nicht mehr ganz so feindselig wie vorher. Ohne lange zu überlegen rennen er, Delilah, Julius und Dominique zu Ashleys Zimmer. Wie immer liegen Kleidungsstücke auf dem Boden zerstreut, aber keiner interessiert sich dafür. So schnell, dass keiner seinen Fingern folgen kann tippt Julius etwas auf die Tastatur, die wachsende Ungeduld seines Bruders hinter ihm ignorierend. Er ist hoch konzentriert, während er die geschickten Sicherheitsbarrieren umgeht, mit denen die Computerexpertin ihren Rechner geschützt hat. Einige Minuten später schafft er es tatsächlich, sich Zugang zu ihren persönlichen Daten zu verschaffen.
»Wenn Ashley fragt: Ich war es nicht, der sich in ihren Computer gehackt hat, verstanden? Bei den ganzen Barrieren wir sie mich umbringen, wenn sie das erfährt.«
Eine Mail ist geöffnet, anscheinend von ihrem Vater. »Weißt du etwas von Jenny«, liest Delilah laut vor, »Sie ist seit drei Tagen verschwunden!«
Sogar Tibor ist still, als er gebannt auf diese zwei Sätze starrt. Ohne Vorwarnung öffnet sich plötzlich ein neues Fenster, ebenfalls eine Mail.
Deine Schwester ist bei mir. Es geht ihr gut. Noch. Du weißt wo du sie finden kannst und ich warne dich: Komm allein. Darunter steht die Adresse eines Lagerhauses in Deutschland und ein Y.
Mehr nicht.
»Ich weiß wer das ist. Das ist mein alter Auftragsgeber.« Alle starren auf Tibor, der seine Wut nur mit einiger Anstrengung unterdrücken kann.
»Du glaubst doch nicht wirklich dass Ashley so dämlich ist und...«, flüstert Dominique, verstummt aber, als der Agent sie mit einer Eiseskälte ansieht.
»Ashley ist garantiert nicht so dumm, um auf solche Tricks hereinzufallen. Aber wenn es um ihre kleine Schwester geht, war‘s das mit ihrer Vernunft.«
»Und wenn es um Ashley geht halbiert sich auch dein IQ«, stellt Julius fest, »Also wenn mich nicht alles täuscht fliegen wir jetzt nach Deutschland, oder?« Er braucht seinen älteren Bruder nicht einmal anzusehen um zu wissen, dass er damit Recht hat.
»Hey, wo steckt eigentlich Max?« Dominique schaut sich suchend im Zimmer um, was dazu führt, dass Tibor genervt die Augen verdreht.
»Wenn du glaubst dass es uns nicht aufgefallen ist das er weg ist dann täuscht du dich. Er ist auch verschwunden, genauso wie Ashley. Gehe du zurück zum Labor und sage Scarlett Bescheid, wir gehen zu Al.«
Der Teenager wäre am liebsten mit den anderen gegangen, aber es macht jetzt keinen Sinn, sich mit Tibor zu streiten. Wenige Augenblicke später ist sie schon auf den Weg zum Labor, während die restlichen Agenten Al suchen. Wie sie erwartet haben finden sie ihn in der Kantine, ein Brötchen im Mund.
»Was isn los, Mann? Ihr seht ja aus als ob euch euer Müsli fressen würde.«
»Ashley ist verschwunden.« Al verschluckt sich beinahe an seinem letzten Bissen, als Tibor mit verschränkten Armen vor ihn steht. Schlagartig wird der ältere Agent wieder ernst.
»Was ist passiert?« Ohne Umschweife erzählt Delilah von den Mails und der Vermutung, dass Ashley zusammen mit Max nach Deutschland geflogen ist, um ihre Schwester zu retten.
»Ihr müsst ihr folgen, bevor sie sich in noch größere Gefahr bringt. Vielleicht findet ihr jetzt auch mehr über diesen Y raus. Ach ja, und nehmt Dominique mit.«
Während Delilah und Julius Al nur überrascht ansehen, rastet Tibor aus. »Spinnst du jetzt völlig, Al? Wir können doch kein Kind mitnehmen, sie wird nur sich selbst und uns in Gefahr bringen!« Jeder normale Mensch wäre zurückgewichen wenn Tibor schreit, aber Al bleibt gelassen wie immer sitzen. »Sie ist kein Kind mehr, sondern Agentin. Mit fünfzehn waren Delilah und Julius längst schon auf ihren ersten Missionen.«
»Das ist was anderes. Sie waren besser ausgebildet und sie hatten es nicht mit Y zu tun!«
»Ich brauche dir nicht mehr erklären, dass es keine ungefährlichen Missionen gibt.« Al bleibt immer noch freundlich, aber bestimmt. »In den letzten Monaten hat sie so viel gelernt wie andere in drei Jahren. Und es ist mir lieber sie geht zusammen mit euch auf ihre erste Mission als mit jemand anderes.«
Als Argumente zeigen keine Wirkung bei Tibor. »Es reicht schon, dass Ashley in Gefahr ist, dann nicht auch noch Nicky.« Er hat sie seitdem er hier ist nie bei ihrem alten Spitznamen gerufen.
»Sie ist nicht mehr Nicky, Tibor! Sie ist nicht mehr das kleine Mädchen von damals und jetzt hör endlich auf sie mit allen Mitteln beschützen zu wollen! Sie ist ständig in Gefahr, daran kannst du nichts mehr ändern, Mann!«
Tibor bleibt immer noch bei seinem Entschluss, obwohl Al ihn schon beinahe anschreit. Keiner der beiden will jetzt nachgeben, bis Al nach einigen Minuten den Streit abbricht.
»Also gut, Mann! Verschwindet von hier, dann bleibt das Mädchen eben hier. Jetzt los, beeilt euch!«
Er hat noch nie eine Diskussion verloren, aber so wie Tibor ihn anstarrt... Die drei Agenten zögern nicht mehr lange und stürmen aus der Kantine direkt an Dominique vorbei, die den ganzen Streit mit angehört hat.
Sie kann einfach nicht glauben, was sie gerade gehört hat! SIE war also das kleine Mädchen von damals, SIE wurde von Tibor angeschossen und für Tod erklärt! Warum hat nie jemand etwas gesagt? Warum hat man sie in den Glauben gelassen, dass Tibor früher ein Kind erschossen hat? Die Narbe auf ihrer Schulter, die Albträume... Alles fügt sich nun zusammen, aber einen Sinn ergibt es für Dominique immer noch nicht. Warum...
»Hey, hörst du mir überhaupt zu?« Wie von einer Tarantel gestochen setzt sich das Mädchen aufrecht hin, als Scarlett sie für ihre Unaufmerksamkeit tadelt. Sie sitzt schon seit einer Stunde wieder im Unterricht, und wieder kann sie sich nicht auf Scarletts Worte konzentrieren.
»Wenn es dir nicht gut geht sag Bescheid, verstanden? Aber es ist wichtig dass du mir jetzt zuhörst, alles was du lernst kann überlebenswichtig für dich sein.«
Dominique weiß, dass die erfahrene Agentin damit Recht hat, aber ihre Gedanken schweifen immer wieder zu dem Streit zwischen Tibor und Al ab. Sie waren beide so unglaublich wütend und sie hat keinen Zweifel, dass sie gegeneinander gekämpft hätten, wäre Al nicht so einsichtig gewesen. Sie hat sich bisher nicht getraut, Scarlett zu erzählen, dass sie nun die Wahrheit kennt. Was würde man dann mit ihr machen?
Ein Klopfer an der Tür reißt sie wieder aus ihren Tagträumen. Genervt, dass ihr Unterricht wieder unterbrochen wird bittet Scarlett den Neuankömmling hinein, doch als sie sieht, wer der
»Ashley, Max! Was macht ihr denn hier? Ich dachtet ihr wärt in Deutschland!«
»Wie kommst du denn auf die Idee?« Ashley ist verwirrt, dass Scarlett sie wie einen Geist anstarrt. »Wir waren bei der Adresse, an der sich Jenny wenden soll wenn sie Probleme hat, dort war sie aber nicht.«
»Also hast du die andere Mail nicht bekommen?« Was auch immer Scarlett damit meint, Ashley versteht es nicht. »Welche andere Mail? Wo sind die anderen überhaupt?«
»Sie sind los, um euch zu suchen! Sie dachten ihr seid in Deutschland, weil-«
Scarlett zögert mit dem Rest der Antwort, aber Max und Ashley schauen sie so ungeduldig an, dass sie doch widerwillig weiter spricht.
»Jenny wurde entführt, und zwar von der gleichen Person, die Tibor auf die Null-Liste angesetzt hat.« Schlagartig weicht die Ungeduld in ihren Augen purem Entsetzen.
»Was? Warum hat sich keiner bei uns gemeldet? Wir wären...« Plötzlich verstummt Ashley, sie ahnt Schreckliches.
»Ihr habt versucht uns zu erreichen, oder?« Ihr Blick wird düsterer, als Scarlett nickt.
»Und in letzter Zeit sind die Kommunikatoren öfters ausgefallen.« Sie tauscht einen vielsagenden Blick mit Max, auch er weiß jetzt Bescheid.
»Jemand stört die Signalübertragung zwischen den Kommunikatoren. Man will mit aller Gewalt verhindern, dass wir uns verständigen können.«
Scarlett braucht nicht mehr fragen, wer dafür verantwortlich ist, sie weiß auch so, dass die Antwort nur "Projekt" lauten kann. Ohne etwas zu sagen greift sie nach ihrem Telefon. Sie diskutiert eine Weile, dann legt sie auf.
»Ich habe Big Al verständigt. Ihr sollt den Anderen folgen, und zwar schnell. Außerdem sollt ihr Dominique mitnehmen.«
Anders als Tibor nehmen Max und Ashley diese Anweisung so hin. An das Mädchen gewandt fügt Scarlett hinzu: »Halte dich an das, was man dir beigebracht hat und höre auf die Anderen. Keiner von uns will, dass dir etwas passiert, verstanden?«
Dominique nickt bloß, sie befürchtet, dass wenn sie etwas sagt die Agenten ihre Angst heraus hören könnten.
Dann geht es los: Gemeinsam rennen sie zu einen der vielen Jets der Akademie. Ohne Umschweife starten Max und Ashley die Maschine, und einige Minuten später sind sie schon in der Luft.
™Schon einmal geflogen?«, fragt Max Dominique, während er einige der vielen seltsamen Knöpfe und Hebel bedient. »Wenn nicht kannst du hier noch eine Menge lernen, wir werden noch ein Weilchen unterwegs sein.«
Er steht auf und deutet ihr, seinen Platz einzunehmen. »Keine Angst, Ashley zeigt dir alles ganz genau. Wer Tibors Auto fahren kann, kann auch einen Jet in der Luft halten.«
Der Scherz am Ende beruhigt das Mädchen kein bisschen. Nervös starrt sie auf die verwirrenden Anzeigen, während Ashley die Bedeutung der Knöpfe erklärt.
»Kannst du mal den schwarzen Knopf neben dir drücken? Ja, genau der.« Dominique hätte alles erwartet, aber nicht, dass plötzlich Musik einsetzt.
Sie wusste gar nicht, dass Jets ein Radio haben!
Die Musik beruhigt sie ein wenig, und nach einer Weile merkt sie, dass Ashley begonnen hat, manche Lieder mitzusingen. Wie kann sie nur so entspannt sein? Ihre Schwester wurde entführt, ihr Freund ist in größter Gefahr und sie singt hier Lieder mit.
»Ich wusste gar nicht, dass Agenten singen können. Woher kannst du das?«
Ashley grinst das Mädchen an, sichtbar stolz auf das Lob. »Ich habe es von meiner Großmutter geerbt, sie war Sängerin. Ich singe immer, wenn es zu einem Auftrag geht. Es hilft mir, meine Nerven zu beruhigen. Außerdem kann so ein Flug ganz schön langweilig werden.«
So ist das also. Ashley ist doch gar nicht so entspannt, wie sie immer vorgibt zu sein. Sie runzelt die Stirn, als sie sieht, wie das Mädchen neben ihr wieder in ihre eigenen Gedanken vertieft ist.
»Was ist los mit dir? Du bist schon die ganze Zeit so still.«
Dominique zögert, sie weiß nicht ob es eine gute Idee ist, ausgerechnet jetzt darüber zu sprechen. Aber vielleicht wird sie nie wieder die Gelegenheit dazu haben.
»Ich habe heute Morgen erfahren, dass ich das Mädchen von damals bin. Also glaube ich zumindest.«
Wie immer bleibt Ashley ganz ruhig, genauso wie Max, der gerade wieder ins Cockpit gekommen ist. »Wie hast du es erfahren? Tibor hat es dir nicht erzählt, oder?«
Als Antwort schüttelt Dominique den Kopf. »Ich habe gehört, wie er und Al sich gestritten haben. Wieso hat mir keiner etwas gesagt? Ihr hättet es doch nicht ewig vor mir geheim halten können, oder?«
Die beiden anderen tauschen sich einen Blick aus, keiner von ihnen weiß, was man den Mädchen noch verraten sollte.
Schließlich ergreift Maximilian das Wort. »Es ist nicht Tibors Schuld, dass du damals angeschossen wurdest, aber das weißt du, oder?« Als sie nickt, fährt er fort: »Als du ihn damals vor seinen Eltern verteidigt hast war für uns sicher, dass du ihn nie die Schuld geben würdest. Er jedoch befürchtete, dass du deine Meinung ändern würdest, solltest du die Wahrheit erfahren. Das alles hätte er in Kauf genommen, wärst du nur in Sicherheit gewesen. Aber alles, woran du dich wieder erinnern kannst, kann für dich gefährlich werden. Wobei ich sagen muss, dass es für dich schon gar nicht mehr schlimmer kommen kann.«
Diese Antwort hat sie beinahe befürchtet. »Und ihr wusstet alle davon? Also auch Julius?«
Sie weiß nicht warum, aber nachdem, was sie über die Brüder in den letzten Monaten erfahren hat, ist es ihr wichtig, dass Tibor seinem kleinen Bruder nicht noch mehr verheimlicht. Umso erleichterter ist sie, als Max und Ashley mit einem klaren »Ja!« antworten.
Max sagt Dominique, dass sie sich die restlichen Stunden bis zur Landung noch ausruhen soll. Dankbar für diese kurze Pause geht sie nach hinten und starrt aus einem der kleinen Fenster, doch alles was sie sieht sind unzählige Wolken und das blau des Ozeans, der sich endlos unter ihnen erstreckt. In ihrem Kopf geht sie noch alles durch, was Scarlett und die anderen ihr in der letzten Zeit beigebracht hat. An Schlaf ist nicht zu denken, dafür ist sie viel zu nervös.
Sie hat das Gefühl, erst wenige Minuten so zu sitzen, als Max nach ihr sieht.
»Nervös?« Ein gemurmeltes, aber doch deutlich hörbares »Ja« kommt aus ihrem Mund. Anders als erwartet nimmt Max ihr das Geständnis nicht übel.
»Das ist normal, keine Angst. Du darfst nur nicht panisch werden und wenn du das tust, was wir dir sagen wird schon alles gut gehen. Und mehr als umbringen kann man dich auch nicht.«
Trotz des Witzes hört sie die Anspannung aus Maximilians Stimme deutlich heraus. Auch er ist nervös. »Wir sind in einer halben Stunde da, das heißt, wenn mir Ashleys Landung überleben.«
Sie weiß nicht, wie lange sie schon in dieser kleinen Zelle eingesperrt ist, und sie will es auch gar nicht wissen. Es gibt keine Fenster oder Spalten, wodurch das Tageslicht eindringen könnte, nur ihr Wärter kommt alle paar Stunden vorbei, um ihr Essen zu bringen. Sie zählt zurück, und wenn ihr nicht alles täuscht war er bereits neunmal bei ihr. Wenn sie jetzt davon ausgeht dass sie drei Mahlzeiten pro Tag bekommt...
Kann es wirklich sein? Ist Jenny wirklich schon seit über drei Tagen in diesem Loch eingesperrt? Sie möchte sich nicht ausmalen, welche Sorgen sich ihr Vater um sie macht. Auch wenn er sich mehr für seine Arbeit zu interessieren scheint: Er wird sich auch fragen, warum sie schon so lange nicht mehr zu Hause war. Aber nach ihrem heftigen Streit...
Mit einem lauten Quietschen wird die schwere Holztür aufgestoßen, und ein riesiger Kerl kommt rein. Jenny sieht, dass an seiner linken Hand zwei Finger fehlen, aber was sie mehr schockiert ist der sadistische Blick der jungen Frau mit den schwarzen Haaren, die ihm folgt. Sein Gesicht ist zu einer Grimasse verzogen, was wohl ein Lächeln darstellen soll.
»Sieh an, wenn das nicht die kleine Jenny ist. Ich bin eine gute Freundin von deiner Schwester, Ashley.«
Die Frau beugt sich tief zu den Mädchen runter, die immer noch auf ihrer schmutzigen Matratze in der Ecke kauert. Mit ihren langen, dünnen Fingern streicht sie ihr über das Gesicht, einer ihrer Fingernägel hinterlässt einen blutigen Kratzer auf Jennys Wange.
Angewidert starrt sie die junge Frau in die Augen. Die Unbekannte könnte ganz hübsch sein, beinahe schön, würde aus ihren Augen nicht der pure Hass sprechen. Sie lächelt bösartig, als sie den Mann mit einem Fingerschnippen zu sich ruft.
»Nimm das Mädchen, wir brauchen sie noch. Wenn du sie auch verlierst dann verlierst du mehr als nur zwei Finger. Deinen Fehler vom letzten Mal hat der Boss dir immer noch nicht verziehen.«
Jenny hört, wie der Hüne nervös schluckt, dann zehrt er sie grob an ihrem Oberarm nach oben. Er stößt sie den langen, halbdunklen Gang entlang, ohne ihr die Gelegenheit zu lassen, ihre zittrigen Beine unter Kontrolle zu bringen. »Warum will der Boss sie unbedingt jetzt sehen?«
»Nenn ihn nie wieder Boss!«, fährt die Frau ihn an, ihre Missbilligung ist deutlich hörbar.
Jenny wird weiter die Gänge entlang gezogen. Durch ein winziges Fenster, was in der feuchten Wand eingelassen wurde, sieht sie, das es draußen hell ist. Vor einer Tür bleibt ihr Wächter plötzlich stehen und stößt das Mädchen in den Raum dahinter, wo schon zwei weitere Personen auf sie warten. Die jüngere Person erkennt sie als ihren Entführer wieder, die andere trägt eine Maske vor ihrem Gesicht, ist aber eindeutig ebenfalls männlich.
»Hervorragend, Giulia.« Der Mann mit der Maske nickt der jungen Frau zu, doch sie interessiert sich nicht für sein Lob.
»Unsere Gäste sollten gleich hier sein, ich hoffe du hast alle Vorkehrungen getroffen. Tibor wird sich sicher freuen, dich wiederzusehen.« Irgendetwas sagt der Name Tibor Jenny. Ashley hat ihn mal erwähnt, aber wer er genau ist weiß das Mädchen nicht. Der Mann mit der Maske tritt zu ihr, und jetzt sieht sie, dass er trotz der drückenden Hitze im Raum dunkle Lederhandschuhe trägt.
»Keine Angst, du wirst deine geliebte Schwester auch noch wiedersehen. Sie ist schließlich auch Schuld an meiner Lage.«
Jenny versteht nicht, was der Mann damit meint, und er erklärt es auch nicht weiter. Der Hüne mit den abgetrennten Fingern kommt nun wieder in den Raum und flüstert den Mann etwas zu, und trotz der Maske könnte Jenny schwören, dass der Mann lächelt.
»Ah, unsere Gäste sind da. Bring Jenny zurück zu ihrer Zelle und bewach sie.« Durch die Tür am anderen Ende des Raumes tritt er auf eine Art Balkon, und eine riesige Halle mit einem Labyrinth aus leeren Regalen erstreckt sich unter ihn. Von hier oben kann er genau beobachten, wie zehn seiner Männer die drei Agenten am anderen Ende der Halle angreifen.
Vorsichtig schleicht sich Dominique durch die dunklen Gänge, ihren Rücken dicht an die Wand gepresst. Sie hört, wie mehrere Menschen an sie vorbei stürmen, alle rennen zur riesigen Lagerhalle. Sie weiß, dass Tibor, Delilah und Julius gegen sie kämpfen werden, aber sie verdrängt ihre Sorge um die drei Agenten. Ashley und Max würden ihnen helfen, ihre Aufgabe lautet, Jenny zu finden und zu befreien. Eine weit schwierigere Aufgabe als sie angenommen hat, schließlich sind die endlosen Gänge nicht beleuchtet und in ihren Augen sieht alles in ihrer Umgebung gleich aus. Hin und wieder bleibt sie vor einer Tür stehen und lauscht, aber hinter keiner hört sie irgendwelche Stimmen. Sie klettert die rostige Feuerleiter neben ihr hoch und hält die Luft an, als zwei Männer über ihr Diskutieren.
»...Kümmere du dich um das Mädchen, wir brauchen sie noch. Ich sorge dafür, dass es hier gleich schön warm wir« Dominique hört das leise Klicken des Feuerzeuges, mit dem der Mann rumspielt.
»Wieso muss ich mich eigentlich immer um die Gören kümmern? Sie soll doch sowieso sterben, also wieso beseitigen wir sie nicht gleich?»
Angespannt hält Dominique die Luft an. Diese Stimme gehört eindeutig zu dem Mann, der sie vor fast einem halben Jahr in den Bergen töten sollte.
»Sag bloß, du hast seit deinem kleinen Missgeschick die Schnauze voll von kleinen Mädchen? In einer halben Stunde darfst du sie töten, aber dann brennt hier die Bude. Beeil dich jetzt!«
Mit diesen Worten stürmt der Mann dicht an der Feuerleiter vorbei, bemerkt das Mädchen aber nicht. Sie wartet einige Sekunden, bevor sie auch die restlichen Stufen hinauf klettert. Auch die Stimme des anderen Mannes kommt ihr seltsam bekannt vor, aber sie schwört sich, später darüber nachzudenken. Jetzt muss sie den Hünen folgen, der gerade um die nächste Ecke abbiegen möchte. Sie hält genügend Abstand, um von dem Mann nicht wahrgenommen zu werden, hat aber dadurch Mühe, ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Nach einigen Minuten bleibt er an einem langen Gang stehen und setzt sich auf einen Stuhl, der unter dem Gewicht des Hünen beinahe zu bersten scheint.
Hier also muss Jenny irgendwo sein.
Dominique greift in ihrer Tasche und zieht eine kleine Kugel und zwei Atemschutzmasken hervor. Rein körperlich gesehen hat sie keine Chance gegen den Wärter, aber damit sollte er selbst er außer Gefecht gesetzt werden. Geschickt rollt sie die Kugel neben seinen Stuhl, und bevor er weiß wie ihn geschieht, zeigt das Gas seine volle Wirkung und der Mann wird ohnmächtig. Das Mädchen wartet einen Augenblick, dann rennt sie zu ihm und durchsucht seine Taschen nach Schlüsseln. Wie schon beim letzten Mal nimmt sie zur Sicherheit auch all seine Waffen mit, schließlich wird er nicht ewig betäubt bleiben.
Sie rennt durch die Gang, und hinter einen der Türen hört sie das Husten eines Mädchens, denn auch hier hat sich das Gas seinen Weg durch den Türspalt gebahnt. Mit zittriger Hand probiert Dominique die Schlüssel aus, sollte Jenny jetzt ohnmächtig werden, wäre eine Flucht noch schwieriger. Endlich hört sie das leise Klacken des Schlosses, und mit einem lauten Quietschen öffnet sich die Tür. Schnell wirft sie Jenny die zweite Atemmaske zu und zerrt die halb ohnmächtige Teenagerin am Arm nach oben. Nach einigen Sekunden kann Jenny wieder eigenständig stehen.
»Wer bist du, und warum hast du mich gerettet?« Großes Misstrauen liegt in ihrer Stimme, und Dominique muss zugeben, dass sie in ihrer Situation ganz sicher auch niemandem vertrauen würde.
»Dominique. Deine Schwester ist auch hier. Folge mir, ich kenne den Weg raus.«
Zusammen rennen die Mädchen die verschachtelten Gänge entlang, bedacht, keinen der Wächter über den Weg zu laufen. Dominique verirrt sich einige Male, aber schließlich findet sie doch eine Notfalltür, die direkt nach draußen führt. Warme Sonnenstrahlen treffen ihre Köpfe, und nach der Zeit im Dunkeln dauert es ein wenig, bis sich die Teenager an das helle Licht gewöhnt haben. Dominique ist erleichtert, sie hat ihren Teil der Mission erfüllt, aber...
»Verdammt!« Die anderen sind immer noch in der Halle, völlig unwissend, dass sie in nicht mal einer Viertelstunde in Brand stehen wird.
»Jenny, renne weiter und bringe dich in Sicherheit. Weiter hinten...« Plötzlich fällt dem Mädchen auf, wie furchtbar bekannt ihr diese Worte vorkommen. Vor neun Jahren hat Tibor zu ihr etwas ganz ähnliches gesagt, und auf keinen Fall möchte sie, dass sich das noch mal wiederholt. Sie reicht Ashleys Schwester die Waffen, die sie dem Hünen abgenommen hat.
»Bring dich in Sicherheit und falls dich jemand angreift schießt du auf ihn, verstanden? Ich möchte Ashley nicht erklären müssen, dass ihre Schwester getötet wurde.« Ohne ein weiteres Wort rennt sie wieder hinein, sie muss die anderen warnen. Es dauert nicht lange, da findet sie den Weg zur Halle. Erleichtert stellt sie fest, dass Tibor und die anderen unverletzt sind. Sie will zu ihnen rennen und merkt zu spät, wie ein Arm sie von hinten greift.
Sie haben keine zehn Minuten gebraucht um die Agenten im Lager zu überwältigen, und nun stehen sie hier, Tibors alten Auftragsgeber direkt gegenüber.
Von Ashley keine Spur.
»Lass das Mädchen los! Sie hat damit nichts zu tun!«, schreit Tibor dem Mann zu, aber dieser lacht nur auf. »Sie hat damit nichts zu tun, sagst du? Das sehe ich aber anders!« Langsam geht der Mann mit der Maske zu den verwirrten Agenten, Giulia folgt ihn.
»Du erinnerst dich nicht mehr an mich, Tibor? Vielleicht hilft dir das ja auf die Sprünge!« Er stößt Dominique zu Boden und zieht sich die Maske vom Kopf. Sie schreit entsetzt auf, als sie sein Gesicht sieht, oder zumindest das, was davon übrig geblieben ist: Riesige Brandnarben entstellen ihn, auf den rechten Auge ist er blind. »Erkennst du mich immer noch nicht, Tibor? Julius war damals noch ein Kleinkind, aber DU musst dich doch wenigstens erinnern können.«
Diese Stimme...
»Vincent?« Tibor starrt den Mann ungläubig an. Es ist unmöglich, aber diese Stimme gehört eindeutig zu Vincent. »Das kann nicht sein, du bist verbrannt! Ich habe es selbst gesehen!«
»Das haben eure Eltern auch gedacht!« Mit einem boshaften Vergnügen tritt er auf die immer noch am Boden liegende Dominique, und als die anderen ihr zu Hilfe eilen wollen, zielt Giulia mit ihrer Pistole auf Tibor.
»Meine Tochter kennst du bereits, oder?« Falls es Tibor überraschen sollte, dass Vincent und Giulia verwandt sind, so lässt er sich wenigstens nichts anmerken.
»Das erklärt ihren tollen Charakter.« Falls es Tibor überraschen sollte, dass Vincent und Giulia verwandt sind, so lässt er sich wenigstens nichts anmerken.
Unauffällig stößt Delilah ihren Partner an, aber Julius hat bereits die beiden Schattengesehen, die rechts von ihnen durch die Regale huschen. Er muss Zeit gewinnen, irgendwie.
»Was ist hier los? Du bist uns eine Erklärung schuldig, Tibor!« Mit der Frage möchte er Vincent von den Regalen ablenken, und es funktioniert: Er wendet sich nun Julius zu, die letzten Teile seiner Lippen zu einem kranken Lächeln verzogen.
»Sieh an, der junge Chevalier. Glaubst du immer noch, dass deine Eltern die perfekten Menschen sind? Dann lass mich dich aufklären: Sie sind Monster. Aber vielleicht möchte dein Bruder dir die Geschichte lieber erzählen?«
Erst, als Giulia die Waffe von ihm auf Dominique richtet, spricht Tibor. »Er war der Partner von unserem Vater, bis er die Seiten gewechselt hat. Er ist in unserem alten Zuhause eingebrochen um an die Informationen zu kommen, die unsere Eltern über die Verräter gesammelt haben. Als er von Dad erwischt wurde, wurde er von seinen eigenen Leuten angeschossen. Sie steckten unser Haus mit allen Beweisen in Brand, unsere Eltern konnten nur uns retten. Eine Woche später gehörte ich selbst zum Projekt.«
Julius erinnert sich, als Tibor ihn vor einigen Monaten erklärt hat, was man mit der Null-Liste alles anstellen kann. Er hat angedeutet, dass ein wichtiger Kontaktmann erschossen wurde und ein Brand alle Informationen zerstörte, aber erst jetzt erfährt er die ganze Geschichte.
£Eurem Vater war ja anscheinend nichts wichtiger als zwei Gören, sogar seinen alten Partner hat er durch diese Isabelle ersetzt. Er hat mich verbrennen lassen, aber ich werde meine Rache bekommen. Er konnte seine jüngsten Kinder nicht vor mir versteckt halten, auch wenn er deinen Namen so gut geheim gehalten hat, Julius. Ich wusste wo man dich finden kann, und dadurch hat mir dein toller Bruder aus der Hand gefressen. Ich hätte Tibor beinahe dazu gebracht, seinen eigenen Bruder zu töten. Dich hätte der globale Nachrichtendienst ausgeschaltet und eure Eltern hätte ich erledigt. Alle Chevaliers wären nun tot. Beinahe jedenfalls.« Er zieht einen seiner Handschuhe aus und mit seiner ebenfalls verbrannten Hand streicht er Dominique sanft über das Gesicht. »Hast du dich nie gefragt, warum dich Tibor unbedingt beschützen möchte? Oder warum man dir immer verschwiegen hat, wer deine Familie ist? Du hast die Augen deiner Mutter, aber sonst bist du eine typische Chevalier.«
Er will doch nicht etwa sagen... Das kann nicht sein, er lügt!
»Frage deine Brüder, wenn du mir nicht glaubst.«
Aber sie traut sich nicht. Dominique wagt es nicht einmal, einen von ihnen anzusehen, so sehr fürchtet sie sich vor der Antwort.
»Es wäre so schön gewesen«, fährt Vincent fort, »Wenn sich die Chevaliers gegenseitig umgebracht hätten. Es wäre die perfekte Rache gewesen, aber Tibor musste mich ja unbedingt hintergehen. Aber vielleicht kann ich eure Eltern wissen lassen, dass ihre Kinder vor ihrem Tod noch die schlimmsten Qualen erlitten haben. Außerdem sind deine Eltern auch nicht ganz unschuldig.« Er richtet seine Pistole direkt auf Delilahs Kopf, bereit zum Abschuss...
»Das würde ich sein lassen.«
Weder Giulia noch ihr Vater hat bemerkt, wie sich Ashley und Max von hinten angeschlichen haben, beide eine Waffe in der Hand. Aber nicht mal jetzt, wo auf ihn gezielt wird, lässt sich Vincent einschüchtern. »Ich hab mich schon gefragt, wann ihr beiden auftaucht. Umso besser, es wird Tibor gar nicht gefallen, seine besten Freunde sterben zu sehen.«
»Wenn Ihre eigenen Leute Sie angeschossen und verbrannt haben warum wollen Sie sich unbedingt an uns rächen?« Zum ersten Mal spricht Dominique Vincent direkt an. Wild entschlossen, ihn von den anderen abzulenken fährt sie fort: "»Ich meine wenn UNSERE Eltern sie anscheinend im Stich gelassen haben ist das natürlich schlimm genug, aber ich würde mich eher an die Leute rächen wollen, die mich töten wollten. Wäre das nicht nur logisch?«
Die Naivheit des Mädchens belustigt Vincent.
»Glaubst du wirklich, ich werde mich nicht an Montinguez rächen? Glaubst du wirklich, ich arbeite aus Spaß mit ihm zusammen? Er ist noch viel schlimmer dran als deine Eltern.«
Hinter dem Mädchen sieht er die schwarzen Rauchwolken, in wenigen Minuten wird es keine Fluchtmöglichkeit aus dem Lager mehr geben. Er hält die Waffe nun direkt an Dominiques Kopf.
»Keine Sorge, deine Familie wird dir bald folgen. Was ist denn nun schon wieder?« Vincent schreit seine Tochter an, die ihr Handy am Ohr hält. Das Telefonat dauert nur eine Sekunde, dann richtet sie ihre Waffe auch nach vorne.
»Das war Montinguez.«
In dem Moment, indem sie abdrückt, erkennt Vincent seinen Fehler, dann sackt sein Körper zusammen. Seine Hand ist gegen die Brust gepresst, genau dort, wo Giulias Kugel ihn getroffen hat. Seine geladene Waffe rutscht zu Tibor, der ohne zu Zögern nach ihr greift und auf Giulia richtet.
»Wir müssen hier raus, schnell!« Delilah zieht Dominique hinter eines der Regale, während Tibor, Max und Ashley ihnen Schutz vor Giulia und ihren Anhängern bieten, indem sie sie mit Schüssen von ihnen fern halten. Zwei der Gegner sacken ebenfalls zusammen, aber sie schaffen es, sich schwerverletzt zu einem der Ausgänge zu ziehen.
»Hey, kommt hier her!« Julius schreit die anderen zu sich, doch durch den schweren Rauch können sie nicht gleich erkennen, wo er steckt. Delilah zieht Dominique am Arm, während sie der Stimme ihres Partners folgt. Er steht direkt an einem der Notausgänge, die Tür ist bereits geöffnet.
Freiheit!
Delilah und das Mädchen sind bereits draußen, aber es fehlen immer noch Max, Tibor und Ashley. Das Gebäude droht unter den Flammen einzubrechen, doch im letzten Moment stürmen auch die anderen drei Agenten hustend nach draußen.
Er muss sie finden, sonst wird man ihn für sein Versagen bestrafen. Warum musste Aiden dieser Narr unbedingt seine Nase in fremden Angelegenheiten stecken? Vincent würde es lieber vermeiden, seinen langjährigen Partner auszuschalten, aber im Zweifelsfall würde er ihn töten.
Das Haus ist groß und das Arbeitszimmer gut geschützt, aber irgendwie muss er die Beweise vom Projekt finden.
Nicht auszumalen was passieren würde, wenn Aiden sie Al geben würde!
Er hält kurz inne, ein Geräusch hat ihn aufschrecken lassen. Er lauscht, aber als er auch nach einigen Minuten keinen weiteren Laut hört, fährt er fort. Er durchsucht gerade die Schublade von Aidens Schreibtisch, als die Tür aufgestoßen wird.
»Was isn hier los?« Ein Junge, noch keine zehn Jahre alt, schaut Vincent verschlafen an. Ach stimmt ja, Aiden hat ja jetzt Familie. Auch Vincent hat eine Tochter, in etwa das gleiche Alter wie dieser Knabe mit den orangen Haaren.
»Daddy, ich hab dir doch gesagt dass hier jemand ist.« Vincent möchte dem Kind gerade den Mund zu halten, aber schon taucht die Gestalt seines ehemaligen Partners hinter dem Jungen auf.
»Mach dir keine Sorgen, Tibor. Das ist nur ein alter Freund. Geh wieder ins Bett, sonst weckst du noch deinen Bruder auf.«
Widerwillig geht das Kind wieder die Treppe hoch zu seinem Zimmer, er hätte gern mehr über diesen unbekannten Mann erfahren.
Kaum ist sein Sohn weg, packt Aiden Vincent am Kragen. »Was machst du hier? Habe ich dir nicht schon einmal gesagt, dass du dich von meiner Familie fern halten sollst?«
»Netter kleiner Junge, sicher dass er von dir ist?«
Mit einem harten Schlag presst Aiden seinen Gegner gegen die nächste Wand.
»Ich wiederhole mich nur ungern, Vincent: Was machst du hier?«
»Ich bin nicht hinter deiner lächerlichen kleinen Familie her, sondern hinter den Informationen, die ihr und die Devonshires über das Projekt gesammelt habt. Gib sie mir freiwillig oder...«
»Oder was? Du kannst mich nicht besiegen Vincent, und das weißt du genau.«
Trotz der Wut in Aidens Augen verschwindet dieses Grinsen nicht von Vincents Gesicht.
»Dich kann ich nicht verletzen, aber deine Kinder schon.«
Aidens Faust bricht ihn die Nase, der Zorn des Agenten kennt nun keine Grenzen mehr.
»Bist du wirklich so feige, dass du schon Kinder angreifen musst? Und du warst mal mein Partner!«
»Und das könnte ich immer noch sein«, sagt Vincent, während das Blut aus seiner Nase seine Wangen herab läuft, »Wenn du mich nicht durch diese Isabelle ersetzt hättest. Warum bist du mir nicht gefolgt? Du hättest alles haben können, aber du hast dich für eine Familie entschieden.«
»Nicht jeder ist wie du. Ich habe meine Frau nicht mit einem Kind sitzen lassen.« Der Schrei seines dreijährigen Sohnes Julius hält Aiden von einer weiteren Bemerkung ab. Rauch steigt in seine Nase, sie haben doch nicht...
Ein letztes Mal schlägt er Vincent in den Mangen, dann stürmt der die Treppen hoch zu den Kinderzimmern. Isabelle steht schon dort, den weinenden Julius auf den Arm. »Wo ist Tibor?« Sein ältester Sohn ist nicht in seinem Zimmer. So wie Aiden ihn kennt, hat es sich der Achtjährige nicht nehmen lassen, zu lauschen.
Der Knall eines Schusses lässt ihn das Schlimmste vermuten, und zusammen mit seiner Frau und den Kleinen rennt er die Holztreppe herunter, die an einigen Stellen schon Feuer gefangen hat. Durch den Rauch hinweg sieht er Tibor am Boden liegen, sein Kopf blutet stark. Aiden eilt zu seinem Sohn, der zu seiner Erleichterung nur eine Platzwunde davon getragen hat.
Aber für wen war der Schuss bestimmt?
Mit den bewusstlosen Tibor auf den Schulten rennt zurück zum Arbeitszimmer, wo Vincent sich keuchend an seinem Schreibtisch abstützt, seine Hand auf das blutende Loch in seiner Brust gedrückt.
»Hilf mir!«, keucht er hervor, eine riesige Feuerwand trennt ihn von seinem alten Partner. Aiden versucht, Vincent zu erreichen, aber der Rauch und das Feuer hindern ihn daran. Tibor wird den Rauch nicht mehr länger ertragen können.
Mit seinem Sohn rennt der Agent aus seinem alten Zuhause, die Trauer und Schuldgefühle über den Verrat an seinem alten Freund werden Aiden noch sein ganzes Leben lang verfolgen.
»Ich bin also eine Chevalier.« Es fällt Dominique schwer, das laut auszusprechen. Es hört sich seltsam an, beinahe falsch.
»Wir durften es dir nicht sagen, sonst...« Sie möchte die Erklärungen von Julius gar nicht hören, sie kann sich beinahe denken, was er noch sagen möchte.
»Mir ist es jetzt egal, können wir das später klären? Ich meine, wenn hinter uns keine hundert Feuerwehrleute ein Lagerhaus löschen, wo wir noch vor knapp einer Stunde drin waren. Sagt mir lieber, was mit Giulia und den anderen Verrätern ist.«
»Giulia konnte sicher entkommen, aber ich glaube, Max und ich haben zwei ihrer Leute getroffen, vermutlich nur verletzt.« Tibor hört sich beinahe so an, als ob er auch froh ist, über ein anderes Thema zu sprechen.
»Und was ist mit Vincent?« Für sie ist es immer noch unvorstellbar, wie Giulia auf ihren eigenen Vater schießen konnte, und das ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.
Tibor denkt einen kurzen Moment nach, dann antwortet er: »Ich weiß nicht wie er das überlebt haben soll, aber er hat es schon einmal geschafft. Falls er noch leben sollte werden wir es sicher bald erfahren. Wir reden nachher weiter, ich muss noch kurz mit Ashley sprechen.«
Die Agentin hat angekündigt, nicht wieder mit zur Akademie zu fliegen, sondern einige Monate in Deutschland zu bleiben. Es wird Zeit, dass ihr Vater die Wahrheit erfährt. Dominique geht mit ihrem Bruder, so hat sie noch die Gelegenheit, sich von Jenny zu verabschieden.
Einige Meter von sich hört Julius Delilah, wie sie über den Kommunikator mit Al spricht. Sie fasst für ihren Chef die letzten Stunden noch einmal zusammen, einige Ereignisse schocken sogar Al.
»Also hat Giulia eiskalt ihren eigenen Vater verraten, um einen Befehl von Montinguez auszuführen? Das ist wahnsinnig, Mann! Selbst für eine Agentin vom Projekt.«
»Tibor sagt, dass Giulia entkommen konnte. Was machen wir nun?«
»Ihr fliegt jetzt nach Hause und ruht euch aus, um Giulia und Montinguez kümmern wir uns später. Ich bin nur froh, dass ihr noch am Leben seid. Vincent war ein ausgezeichneter Agent und wäre er nicht so besessen von seiner Rache gewesen hätte die Sache auch ganz anders ausgehen können, Mann. Wie hat sich Dominique geschlagen?«
Delilah lächelt, beinahe stolz auf das Mädchen. »Ohne sie wäre Jenny immer noch im Lager. Aber sie kennt jetzt die Wahrheit.«
Über das kleine Display sieht Delilah, wie Al sich an seinem Kopf kratzt. »Das habe ich mir beinahe schon gedacht, Mann. Wie steckt sie es weg?«
Diesmal wendet sich Julius an Al. »Ganz gut soweit, besser als ich damals auf jeden Fall. Tibor und ich werden uns gleich noch in aller Ruhe mit ihr unterhalten.«
»Wo du schon gerade von unterhalten redest: Delilah, hier sind zwei Agenten für dich, die unbedingt mit dir sprechen wollen. Und ich glaube du kannst es kaum erwarten sie wiederzusehen, Mann!«
Tag der Veröffentlichung: 28.07.2013
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Widmung:
Für Jenny, die fast zehn Monate lang mit mir an diesem Buch gearbeitet hat.