Donnernd prasselt der Regen auf die verlassenen Straßen, doch der Mann achtet weder auf den Lärm noch auf die Dunkelheit, die ihn umgibt. Ganz im Gegenteil: Wenn es nach ihn gehen würde, könnte es gar nicht dunkel genug sein. Seine Verfolger sind ihm dicht auf den Fersen, er weiß es einfach. Mit einem Hechtsprung versteckt sich der Mann hinter einem parkenden Auto und hält kurz inne. Er lauscht nach verdächtigen Geräuschen, aber der Regen, der auf die umstehenden Autos und Müllcontainern schlägt, stört seine Konzentration.
Sein Herz rast, ob vor Anstrengung oder Aufregung weiß er nicht.
Klopf. Klopf Klopf.
Ruhe. Er muss ruhig bleiben. Er war schon öfters in Lebensgefahr, so neu ist die Situation nicht. Es gibt nur einen Unterschied: Diesmal geht es nicht nur um SEIN Leben, sondern um IHRS. Jeder seiner Fehler, und ist er auch noch so klein, könnte ihr Leben beenden.
Die Kälte, die durch seine nasse Kleidung dringt lässt ihn frösteln, sein Atem geht immer schneller. Wie sehr liebte er früher diesen Adrenalin-Schub, dieses Gefühl, diesen Nervenkitzel? Erst jetzt weiß er, wie unglaublich dumm und kindisch er damals war. Er ist nicht mehr der einzige Mensch, um den er sich sorgen muss.
Rufe und Schritte schallen durch die Gasse. Wie weit sind sie entfernt? Fünfzig, hundert Meter? Schwer zu sagen in dieser Dunkelheit. Alles, was er je gelernt hat, was er erreicht hat und jeder andere Gedanke scheinen aus seinem Kopf zu verschwinden. Einen Fluchtplan hat er nicht.
Sie werden ihn finden.
Endstation.
Nein, das darf nicht sein! Er darf nicht aufgeben, nicht heute und auch sonst nicht. Er muss kämpfen, nicht für sich selbst, sondern für sie. Ihre Sicherheit zählt, auch wenn er selber diese Nacht überleben sollte: Er hat geschworen, immer auf seine kleine Schwester aufzupassen. Nur noch sie kreist durch seinem Kopf, gibt ihn Mut, gibt ihn Hoffnung.
Wie ein Mantra flüstert er immer wieder den Namen des Mädchens, was er in den letzten acht Jahren viel zu wenig gesehen und an was er viel zu wenig gedacht hat.
Eden.
Nur noch sie lässt ihn weiter laufen, lässt ihn kämpfen.
Zwecklos.
Der Mann blickt in das verhüllte Gesicht der Person, die binnen weniger Augenblicke vor seinem geschundenen Körper steht.
„Wo ist das Mädchen?“
Er schweigt. Mit einem kräftigen Tritt ins Gesicht wirft die Person den Mann zu Boden.
„Nochmal: Wo ist das Mädchen?“
Er schweigt. Wieder tritt die Person auf den Mann ein. Blut quillt aus seiner Nase, doch er scheint den Schmerz zu ignorieren.
Nein, er darf keine Angst zeigen, keine Schmerzen, keine Hoffnungslosigkeit. So lange er nichts sagt ist Eden in Sicherheit, zumindest für die erste Zeit.
Weitere Personen kommen hinzu, auch sie treten und schlagen auf den schon am Boden liegenden Mann ein.
Doch er schweigt.
Seine Schmerzen müssen für andere Menschen unerträglich sein, doch er wurde genau hierfür ausgebildet. Er spürt, wie sein Geist seinen Körper verlassen will, aber er darf auf keinen Fall ohnmächtig werden. Nur noch der Gedanke an sie lässt ihn bei Bewusstsein, wie ein Anker hält ihr Gesicht seinen Geist in seinem Körper.
Die Schläge hören auf, grob ziehen zwei seiner Angreifer seinen Oberkörper hoch.
Sein erster Angreifer zückt eine Waffe und richtet sie auf seine Schläfe.
„Ich wiederhole mich nicht noch mal: Wo ist das Mädchen?“
Er schweigt.
Klick.
Immer noch müde öffnet die junge Frau ihren Kühlschrank. Sie hat verschlafen, mal wieder. Sie flucht leise als sie feststellt, dass sie am Tag zuvor wieder vergessen hat, Milch zu kaufen. Das wars wohl mit einer leckeren Schüssel Müsli zum Frühstück.
Seit fast drei Jahren lebt sie schon in ihrer kleinen Wohnung nahe der Universität, an der die Zwanzigjährige seit einem Semester studiert. Sie verließ das Haus ihrer Pflegeeltern schon sehr früh, obwohl sie sich immer sehr liebevoll um das Mädchen und ihren älteren Bruder gekümmert haben. Sie wollte unbedingt auf eigenen Beinen stehen und selbst für sich verantwortlich sein.
Tja, das hat sie nun davon. Ihr bleibt nichts anderes übrig als eines der trockenen Brötchen vom Vortag zu essen. Ungeduldig knabbert sie an ihrem Brötchen, während ihr Computer hochfährt. Dieses Ding ist älter als ihre Großmutter, aber einen Neueren kann sie sich als Studentin einfach nicht leisten. Große Sprünge kann sie sich sowieso nicht erlauben, als Kellnerin verdient sie gerade genug, ihre Miete und ihr Studium zu bezahlen.
Zehn Uhr.
In nur einer Stunde beginnt ihre Schicht im Café, wenn sie sich beeilt kann sie wenigstens ihre E-Mails checken.
Fünf neue Nachrichten.
Drei davon löscht sie direkt, wieder nur Werbung für irgendwelche Gewinnspiele. Die vierte kommt von ihrer besten Freundin, die gerade zusammen mit ihrem Freund Urlaub auf den Kanaren macht. Sehnsüchtig schaut sich das Mädchen die Fotos an, die ihre Freundin grundsätzlich lachend und mit Sonnenbrille am Strand zeigt. Auch sie würde jetzt liebend gern dem kalten und nassen Wetter in der Heimat entfliehen. Sie überlegt kurz, was sie antworten soll, aber alles was sie tippt löscht sie gleich wieder. Erst nach mehreren Versuchen schafft sie es, eine zufriedenstellende Antwort zu verfassen.
Letzte Mail.
Der Absender überrascht sie ein wenig.
Hi Eden!
Wie geht es dir? Ich hab gehört du studierst jetzt, ich bin sehr stolz auf mein kleines
Schwesterchen. Nächste Woche bin ich wieder in der Stadt, wir müssen uns unbedingt
treffen.
-Josh
Ps. Ich hoffe du vergisst nicht wieder einzukaufen!
Ein wenig verwundert ist Eden schon. Seit Joshua vor acht Jahren ausgezogen ist, hat er sich kaum bei seiner kleinen Schwester gemeldet. Sein Verhältnis zu ihren Pflegeeltern war schon damals vor siebzehn Jahren angespannt, als sie das dreijährige Mädchen und ihren sieben Jahre älteren Bruder aufgenommen haben. Ihre Zieheltern entschuldigten sein abweisendes Verhalten damit, dass die ganze Situation für ihn besonders schwer sein muss, weil er sich an seine leiblichen Eltern erinnern kann und nun als der „Große“ für seine Schwester eine besondere Verantwortung übernehmen muss. Für Eden waren immer Phil und Mary ihre Eltern, wenn sie Josh fragte, wer ihre richtigen Eltern waren und warum sie ihre Kinder abgeben mussten, wurde er immer sehr abweisend und still.
Entsetzt schaut Eden auf ihre Uhr. Sie hat völlig die Zeit vergessen, ihre Schicht beginnt bereits in zwanzig Minuten! Schnell schaltet sie mit ihrem Fuß den Computer aus und flitzt ins Badezimmer. Mit schnellen, hektischen Handbewegungen versucht sie ihre widerspenstigen langen, braunen Haare zu bändigen und in einem Zopf zu binden. Mehr oder weniger zufrieden mit dem Ergebnis rennt sie auf den Flur und zieht sich ihre Stiefel und Mantel an. Noch einmal kontrolliert sie, ob sie das Licht wirklich überall ausgeschaltet hat und der Kühlschrank verschlossen ist. Auf Joshs Mail wird sie später antworten, zumindest wenn sie es nicht wieder vergisst. Sie greift nach ihrem Wohnungsschlüssel und verschließt die Tür, bevor sie auf die nassen Straßen tritt. In der letzten Nacht hat es wie aus allen Wolken geschüttet, und auch am Morgen schweben noch triste, dunkle Regenwolken über der Stadt, so als würden sie die Bewohner mit Regen drohen wollen.
Fluchend muss Eden feststellen, dass sie ihren Regenschirm in ihrer Wohnung vergessen hat. Zum Umkehren ist es zu spät, also zieht sie den Kragen ihres Mantels hoch bis zum Kinn und läuft so schnell wie möglich Richtung Café.
Wie erwartet kommt Eden wiedermal einige Minuten zu spät, was ihre Chefin glücklicherweise nicht zu bemerken scheint. Trotz des schlechten Wetters ist das Café relativ gut besucht, vor allem viele Angestellte der umliegenden Firmen und Banken treffen sich hier, um zusammen einen Kaffee zu trinken oder ein belegtes Brötchen zu essen.
Hastig bringt Eden Kuchen zu zwei älteren Damen, die sich über ihre Enkelkinder unterhalten. Obwohl die Arbeit sehr anstrengend ist, friert Eden. Eine Gänsehaut überzieht ihre nackten Arme, denn trotz der Kälte muss sie das T-Shirt mit dem Logo des Cafés tragen. Sie hört, wie sich ihre Chefin sich wieder über ihre Tollpatschigkeit aufregt, aber sie überhört die spitzen Bemerkungen einfach. Eden weiß selbst, dass sie für diesen Job denkbar ungeeignet ist, aber was soll sie machen? Sie braucht das Geld!
Sehnsüchtig schaut sie auf die Uhr, während sie den Tisch der letzten Kunden reinigt. Noch eine Stunde, dann hat sie es endlich geschafft. Ein kurzer Blick durch die Glastüren verrät ihr, dass es nun wieder wie aus Eimern schüttet.
Verfluchtes Mistwetter!
Sie will sich gerade wieder ihrem Tisch widmen, als zwei dunkle gekleidete Männer das Café betreten. Es scheint ihnen wenig zu stören, dass ihre schwarzen Anzüge durch den Regen durchnässt sind. Sie setzen sich an einem Tisch abseits der anderen Gäste, doch anstelle sich zu unterhalten, wie die meisten Gäste es für gewöhnlich tun, schauen sie Eden an.
Nein, sie starren sie an.
Etwas unwohl geht Eden zu den Neuankömmlingen, um ihre Bestellung aufzunehmen. Wie immer versucht sie höfflich zu bleiben, doch als sie in die Augen des Kleineren schaut, stockt ihr der Atem. Es ist nicht die Narbe, die sich über das rechte Auge zieht, nein, es sind diese giftgrünen Augen, die Eden einen Schauer über den Rücken jagen.
Woher kennt sie diese Augen nur? Für einen kurzen Moment vergisst sie die Menschen in ihrer Umgebung, es gibt nur sie und diese Augen, die sie bedrohlich anstarren.
Eine heruntergefallende Tasse reißt sie aus ihrer Trance. Peinlich berührt versucht Eden, sich ihren kurzen Aussetzer nicht anmerken zu lassen. Sie nimmt den Rest der Bestellung auf und läuft so ruhig wie möglich zurück zu den Tresen. Sie ist verwirrt. Eden ist sich sicher, dass diese beiden Männer nicht zu ihren üblichen Gästen gehören und trotzdem: Diese Augen hat sie schon mal gesehen, nur weiß sie nicht wo und wann. Es ist etwas, was sich tief in ihr Gedächtnis gebrannt hat, nur leider kann sie ihre Erinnerungen nicht mehr abrufen. Eine seltsame Bedrohung und Gefahr gehen von diesen Augen aus, Eden muss sich regelrecht zwingen, nicht weiter über diesen Mann nachzudenken. Doch noch während sie durch den Regen nach Hause läuft, tauschen die beiden Männer immer wieder in ihren Gedanken auf.
Schon von Weiten sieht Eden das Chaos: Die Tür ihrer Wohnung wurde aufgebrochen, sämtliche Bücher und Zettel liegen auf den Boden zerstreut.
Obwohl: So sieht es eigentlich immer bei ihr aus. Aber die heruntergerissenen Gardinen und der am Boden liegende Monitor hat sie sicher nicht so zurück gelassen.
Jemand ist hier eingebrochen, aber was wollte er? Geld oder sonstige wertvolle Gegenstände besitzt sie kaum, und das was sie hat wurde nicht gestohlen. Hastig sucht Eden nach ihrem Telefon, was unter ihr Sofa gerutscht ist. Mit zittrigen Händen wählt sie die Nummer der Polizei, die keine fünf Minuten später eintrifft. Die Beamten machen Fotos vom Tatort und nehmen ihre Personalien auf. Mehr können sie leider nicht für sie tun, sagen sie. Enttäuscht lässt sich Eden auf ihr Sofa fallen. Sie weiß nicht genau, was sie erwartet hat, aber ein wenig mehr Unterstützung hätte sie sich schon gewünscht. Keine fünf Minuten später lassen die Polizisten die junge Frau wieder alleine, mit den Worten, wenigstens für diese Nacht bei einem Freund unterzukommen. Es wäre zwar unwahrscheinlich, dass die Einbrecher nochmal auftauchen, aber sicher ist sicher.
Fieberhaft überlegt Eden, wen sie jetzt noch erreichen könnte. Ihre Freundin ist auf den Kanaren und ihre Pflegeeltern wohnen 500 Kilometer entfernt. Josh ist doch in der Stadt, oder? Ein Blick auf ihren Monitor sagt ihr jedoch, dass ihr Steinzeit-PC nie wieder einen Ton von sich geben wird.
Egal.
Ein Internet-Café hat hier ganz in der Nähe geöffnet, sie kann dort hingehen. Außerdem muss sie sowieso noch ein wenig für ihr Studium recherchieren.
Wieder packt Eden ihre sieben Sachen zusammen und verlässt ihre Wohnung, diesmal vergisst sie ihren Regenschirm nicht. Immer schneller läuft sie den Bürgersteig entlang, wobei sie aus Versehen mit ihrem Regenschirm einige Passanten anstößt. Nach wenigen Minuten erreicht sie das Internet-Café und hat Glück, dass gerade einer der Rechner frei geworden ist. Die Verbindung hier ist um einiges schneller, trotzdem dauert es Ewigkeiten, bis sie auf ihr E-Mail-Postfach zugreifen kann. Sie öffnet die Mail von Joshua und möchte seinen Text löschen, um ihn antworten zu können. Doch als sie den Text markiert, passiert etwas Seltsames: Zwischen den Zeilen taucht ein anderer Text auf!
Wenn du diesen Text liest bin ich wahrscheinlich schon tot, aber zumindest bist du in Sicherheit. Zumindest im Moment. Du musst fliehen, und zwar schnell! Es sind Menschen hinter dir her, die keine Rücksicht auf menschliches Leben nehmen. Sie töten alles und jeden, der sich ihnen in den Weg stellt. DU bist ihr Ziel. Vertraue absolut Niemandem, nicht mal der Polizei. Leugne immer, dass du mich kennst, verstanden? Ich habe in meinem Leben Fehler begangen, die ich nicht mehr rückgängig machen kann aber du sollst nicht dafür büßen. In deinem PC befinden sich weitere Informationen. Flieh so schnell du kannst.
Josh
Soll das ein Scherz sein? Was hat ihr Bruder nur angestellt? Warum ist sie in Gefahr? Unzählige Fragen schießen durch Edens Kopf, auf keine weiß sie eine logische Antwort.
Nur eine: Josh macht niemals Scherze. Ist er wirklich tot? Nein, nicht Josh! Er ist clever, er ist bestimmt entkommen. Oder nicht? Schnell speichert Eden die Mail auf einen ihrer USB-Sticks und löscht sie aus ihrem Postfach. Sicher ist sicher. Wie in Trance reicht sie den Café-Mitarbeiter ihr Geld und geht zurück zu ihrer Wohnung. Ihr Studium scheint nur noch eine kleine Nebensache zu sein, jetzt interessiert nur noch Josh. Was meinte ihr Bruder mit: Auf deinem PC befinden sich weitere Informationen? Wie soll das funktionieren, er hat schließlich sie seit mindestens zwei Jahren nicht mehr besucht. Ist er etwa bei ihr eingebrochen, ohne dass sie etwas davon gemerkt hat?
Wie ein Schlag trifft Eden die Erkenntnis.
Wenn Josh schon Informationen auf ihren PC heimlich speichern konnte, dann können sich seine Feinde auch garantiert in ihrem E-Mail-Konto hacken.
Wurde deswegen bei ihr eingebrochen? Es wurde nichts gestohlen, aber etwas, wovon sie nicht mal wusste dass es existiert kann auch nicht gestohlen werden.
Ohne weiter zu zögern rennt Eden los, als ob jede verlorene Sekunde über ihr Leben entscheiden könnte.
So ist es wahrscheinlich auch.
Ihre Hände zittern vor Aufregung, als sie versucht, ihre Wohnungstür zu öffnen. Kaum hat sie es geschafft sprintet sie schon zu ihrem PC, nur um daran erinnert zu werden, dass ihr Monitor völlig zerstört wurde.
Nein!
Wütend über ihre eigene Dummheit tritt sie kräftig gegen den Tower, nur um schmerzhaft festzustellen, dass ihre Füße zerbrechlicher sind als dieses Steinzeit-Ding. Ein pochender Schmerz zieht sich durch ihren Fuß, aber viel schlimmer ist ihre Enttäuschung.
Was hat sie erwartet? Joshs Mörder haben garantiert schon alle Informationen die sie brauchen, garantiert ist sie als Nächste dran.
Bittere Tränen rennen über ihr Gesicht. Es ist ihre Schuld. Wäre sie früher aufgestanden hätte sie Joshs Mail noch beantworten können und nach den Informationen suchen können.
Nein, hätte sie nicht.
Josh weiß ganz genau, dass sie mit einem PC nicht umgehen kann. Selbst wenn sie früher gewusst hätte, dass wichtige Informationen auf ihrem alten Computer abgespeichert wurden: Sie hätte nicht nach ihnen suchen können. Nein, sie ist absolut nutzlos und unbrauchbar.
Aber wenn Josh wusste, dass sie so wenig von Computers versteht, wieso hat er die Informationen ausgerechnet so versteckt? Nein, er hat sich was ausgedacht, aber was? Im sichtbaren Text schrieb er noch, dass sie nicht vergessen soll einzukaufen, aber was meint er damit? In Gedanken versunken geht Eden in ihre Küche. Aber nicht mal, als sie ihre letzten Einkäufe genauer begutachtet weiß sie, was er damit meinte. Nun muss sie sogar feststellen, dass sie die Milch, die sie am Morgen so fieberhaft gesucht hat, am Abend zuvor auf ihrem Kühlschrank hat stehen lassen.
Sie ist wirklich zu nichts zu gebrauchen.
Sie stellt sich auf die Zehenspitzen und greift nach ihrer Müsli-Packung hoch oben im Vorratsregal, als ihr ein seltsamer länglicher Gegenstand in die Hand rollt. Richtig, hier bewahrt sie ja immer ihren kleinen Schraubenzieher auf, weil sie ihn immer wieder als Dosenöffner missbraucht. Moment: Schraubenzieher?
Nein, Josh hat die Informationen nicht AUF den PC versteckt, sondern IM PC! Ein kurzes, aber herzhaftes Lachen dringt aus Edens Kehle.
Ja, das ist ihr Bruder!
Mit dem Schraubenzieher in der Hand läuft sie zu ihrem Tower und beginnt, vorsichtig die kleinen Schrauben herauszudrehen. Ihre Hände sind seltsam ruhig, ihr Kopf ist leer.
Was wird sie nun erwarten?
Endlich fällt die Abdeckung herunter, doch auf den ersten Blick ist nichts zu erkennen. Doch, oben an der Decke klebt etwas, aber was ist es? Vorsichtig löst das Mädchen einen Zettel von der Abdeckung.
Liebe Eden!
Jahre lang hast du mich nach unseren Eltern gefragt, nie konnte ich dir eine Antwort geben. Ich war gerade erst zehn, als sie uns verlassen haben. Ich gab mir die Schuld, dass sie uns an Phil und Mary abgaben. Nie habe ich verstanden, warum sie es taten. Heute weiß ich es.
Sie wollten uns beschützen, Eden. Vor fast zwanzig Jahren sind sie in etwas hinein geraten, was weder du noch ich verstehen können. Vielleicht wussten sie selbst nicht, an was für Monster sie geraten sind. Diese Menschen kennen nichts anderes außer Geld und Macht, Menschenleben interessiert sie nicht.
Und sie haben Macht.
Sie bringen Menschen dazu, ihre eigene Familie und alles, wofür sie je gekämpft haben, zu verraten. Keiner ist vor ihnen sicher, sie haben ihre Spione sogar innerhalb der Polizei. Aber unsere Eltern waren stark, sie konnten sie nicht bedrohen.
Doch auch sie hatten eine Schwachstelle: Uns. Sie mussten uns abgeben, um unseren eigenen Schutz zu garantieren und um nicht selbst angreifbar zu werden. Aus diesem Grund musste ich dich auch verlassen. Man hat mich jahrelang in einer Organisation ausgebildet, die gegen diese Menschen kämpfen. Dort gab man mir auch die Informationen über unsere Eltern. Aber auch hier waren wir vor Spitzeln nicht sicher. Dutzende unserer Agenten wurden getötet, ich bin vermutlich als Nächster dran. Sie wollen Informationen über dich, Eden. Ich weiß nicht warum, aber ich lass mich lieber töten als dass meiner kleinen Schwester etwas geschieht. Ich habe geschworen, immer auf dich aufzupassen, und nun ist es an der Zeit, sich an dieses Versprechen zu halten. Du musst fliehen. Mach dir keine Sorgen um unsere Pflegeeltern, sie werden dann auch sicherer sein.
Hab ich dir schon mal gesagt, wie stolz ich auf dich bin?
Sei immer stolz darauf, eine Mc Sullen zu sein.
Dein Joshua
Tränen laufen Eden über ihr Gesicht. Er ist tot, jetzt ist sie sich ganz sicher. Warum nur? Hoffnungslosigkeit überfällt sie. Sie hat keine Kraft mehr, um zu fliehen, und sie will es auch nicht. Warum auch? Es macht keinen Sinn mehr, Josh ist tot und sie wird man auch töten.
Aber was wird aus Phil und Mary?
Nein, sie darf auch nicht aufgeben. Sie muss gehen, und wenn sie es auch nur tut, um sie zu schützen. Lange muss sie nicht überlegen um zu wissen, was sie auf ihre Flucht mitnimmt.
Nichts. Nur die Halskette, die sie als Dreijährige von ihrer leiblichen Mutter erhalten hat soll sie begleiten. Ohne sich noch einmal umzudrehen verlässt sie die Wohnung, sie macht sich nicht mal die Mühe, die Tür wieder zu verschließen. Ein freudloses Lachen entflieht ihr. Noch vor wenigen Stunden war ihr größtes Problem die Milch, und nun macht sie sich bereit zu sterben.
Sterben wird sie, und zwar heute.
Immer weiter läuft sie über die lange Brücke, die Dunkelheit stört sie kaum. Nicht mal die Stimme, die von hinten nach ihr ruft, überrascht sie.
Darauf hat sie gewartet.
Ein Mann mit langem Mantel kommt auf sie zu, scheinbar in friedlicher Absicht.
„Sie sind doch Eden, oder? Ich bin Polizist, meine Kollegen sagten mir, ich solle noch mal bei Ihnen vorbei schauen weil doch heute bei Ihnen eingebrochen wurde.“
Sie antwortet nicht. Nur mit ausdruckslosen Augen schaut sie ihn an. Freundlich fragt der Mann erneut.
„Sie sind doch Eden Mc Sullen, oder?“
Sie lacht kurz.
„Sie sind ja ein toller Polizist. Ja, der Name meiner Eltern und meines Bruders ist Mc Sullen, aber ich nahm den Nachnamen meiner Pflegeeltern an, und zwar Adams. Haben ihre „Kollegen“ Ihnen das etwa nicht erzählt?“
Volltreffer. Der angebliche Polizist kneift seine Augen zusammen, nun gar nicht mehr so freundlich.
„Ich sehe wir verstehen uns, du Miststück. Ich mach es dir einfach: Du gibst mir jetzt was ich haben will, sonst…“
Mit seiner Hand deutet der Mann auf Eine Pistole, die er gut unter seinem langen Mantel versteckt hat. Eine kalte Stimme tönt vom anderen Ende der Brücke.
„Aber, aber John. Wir wollen das kleine Mädchen doch nicht erschrecken, oder? Jetzt lass mich lieber mit das süße Ding sprechen, wir kennen uns bereits.“
Eden erschrickt. Diese kalte, schleimige Stimme. Sie hat sie schon mal gehört, und obwohl sie diese Person heute nur gesehen hat, weiß sie ganz genau, zu wem sie gehört.
Gelassen nähert sich der Mann mit den grünen Augen Eden. Panik macht sich in das Mädchen breit, aber eine Flucht ist absolut aussichtslos.
„Na Eden, erinnerst du dich an mich? Du hast mir diese tolle Narbe verpasst, weißt du noch?“
Natürlich, jetzt weiß Eden wieder! Der Mann, der sie damals ihre Eltern bedroht hat. Ihre Pflegeeltern und Josh behaupteten immer, es sei nur ein schlimmer Alptraum gewesen aber jetzt weiß Eden, dass es real war. Damals hat sie dem Mann mit einem spitzen Gegenstand ins Gesicht gestochen, als er versucht hat, sie zu fassen. Ihr leiblicher Vater hat sie damals auf den Arm wegetragen, die einzige Erinnerung an sein Gesicht, die ihr geblieben ist.
„Nun Eden, ich nimm es dir nicht übel, du warst ja schließlich noch ein kleiner Hosenscheißer. Aber wie ich sehe, bist du groß geworden. Und außerordentlich hübsch noch dazu.“
Mit seinen in Lederhandschuhen verhüllten Händen greift er nach ihr Kinn, doch Eden zieht ihr Gesicht weg.
Jetzt wird der Mann ernst.
„Du bist bockig, was? Aber ich sag dir was: Wenn du mir gibt’s was mir gehört, lass ich dich in Ruhe, verstanden?“
Niemals. Eine volle Verachtung liegt in Edens Blick, die sogar die Angst in ihren Augen überdeckt. Der Mann lacht amüsiert.
„Nicht nur bockig, sondern auch mutig. Ganz der Bruder, aber auch ihn konnte seine störrische Art vor einer Kugel im Kopf schützen. Ach, du wusstest noch gar nicht, dass dein Bruder tot ist? Das tut mir aber leid.“
Das reicht. Eden wehrt sich gegen den Griff von John und schafft es, ihn in die Weichteile zu treten, aber der Mann mit den grünen Augen schafft es, ihr seine Pistole gegen die Schläfe zu drücken.
„Genug gespielt für heute. Ich bekomme auch so, was ich haben will. Dein Bruder hat sich nicht gewehrt, aber du kannst ihn gleich Gesellschaft leisten.“
Klick.
Blut spritzt auf Eden, aber es ist nicht ihr eigenes.
Die grünen Augen des Angreifers weiten sich überrascht, dann torkelt er Richtung Brückengeländer. Er selbst hat nicht abgedrückt, auch John, der immer noch vor Schmerzen am Boden liegt, kann es nicht gewesen sein.
„Komm her Eden, schnell!“ Dort, wo noch vor wenigen Augenblicken der grünäugige Mann stand, steht ein weiterer Kerl, die Waffe immer noch bereit zum Schuss. Ohne zu überlegen rennt die Frau zu ihn, keine Sekunde zu früh, wie es scheint: John richtet bereits seine Pistole auf das Mädchen, aber bevor er auch nur einen Schuss abgeben kann, durchlöchern drei Schüsse von Edens unbekannten Retter seinen Oberkörper.
Tot kippt er nach vorn. Der Retter sieht sich schnell nach weiteren Angreifern um, dann schaut er Eden besorgt ins Gesicht.
„Ist alles in Ordnung mit dir? Ist dir nichts passiert?“
Das Mädchen nickt nur. Erleichtert atmet der Mann auf.
„Gott sei Dank, ich dachte schon, ich hätte dich auch verloren.“
Eden ist kaum fähig zu sprechen, dennoch schafft sie es, eine Frage zu flüstern. „Was wollten sie von mir?“
„Sie wollen deine Kette, die du von deiner Mutter erhalten hast. In ihr befindet sich ein kleiner Chip mit sämtlichen Informationen über die Organisation und ihre Mitglieder. Nun können wir jeden Spitzel stellen und unschädlich machen, es ist vorbei.“
Vorbei? Sie darf ihm nicht trauen, auch wenn er sie gerettet hat. „Wer sagt mir, dass Sie mich nicht auch töten wollen?“
Mit einem warmen und seltsam vertrauten Lächeln sieht der Mann sie an.
„Dein Vater.“
Tag der Veröffentlichung: 23.01.2013
Alle Rechte vorbehalten