Während vor langer, langer Zeit bei den einfachen Menschen allein die Frage im Vordergrund stand: Wie finde ich täglich etwas zu essen ohne selbst gegessen zu werden, und ihnen dabei völlig gleichgültig war, ob sie auf einem Würfel, einer Pyramide oder einem fliegenden Teppich lebten, waren die Gebildeten davon überzeugt, dass die Erde eine Scheibe sei, mit einer Art Käseglocke darüber, die vor bösen Geistern und Platzregen schützte. Erst sehr viel später und ziemlich langsam setzte sich bei allen Menschen die Erkenntnis durch, dass man auf einer Kugel lebt. Aber trotzdem blieben immer noch viele Fragen offen. Über sich vermutete man zwar die Götter, aber was geschah u n t e r den eigenen Füßen, i n der Kugel?
Anhänger der Kirche hatten schon bald die Erklärung zur Hand, dass dort nur die Hölle sein könnte, weil der Himmel ja schon an Gott vergeben und damit besetzt war. Tief im Innern würde demnach der Teufel hausen, der dort die Seelen der Sünder im ewig flackernden Fegefeuer schmoren ließ. Immerhin würde man ja schon an den dampfenden Vulkanen sehen können, dass irgendwo in der Tiefe gekocht, gebraten oder gegrillt wurde. Kirchenkritiker hielten allerdings dagegen, der Teufel wäre nur eine nicht existierende Kunstfigur der Kirche um die Gläubigen gefügig zu machen.
So mussten erst Jahrhunderte ins Land ziehen, bis endlich die Aufklärung die Oberhand gewann. Wissenschaftler konnten nun der Menschheit mit abschließender absoluter Gewissheit Umgebung und Bestandteile des Heimatplaneten erklären. Seit dieser Zeit gehört zum Allgemeinwissen jedes aufgeklärten Menschen, dass die Erdkugel einen Durchmesser von knapp dreizehntausend Kilometer hat und aus Atmosphäre, Hydrosphäre und Lithosphäre besteht. Letztere setzt sich aus der Erdkruste, dem Erdmantel und dem Erdkern zusammen. Während die starre Erdkruste etwa 100 Kilometer in die Tiefe reicht, besteht der Erdkern überwiegend aus heißem flüssigem Eisen das mit geringen Nickelteilen angereichert ist …
…sagen die Wissenschaftler jedenfalls.
Und was d i e sagen stimmt, heißt es zumindest. Denn wie ihr Name schon vermuten lässt, schaffen sie mit ihrer Arbeit Wissen, das bisher noch niemand wusste. Stellt sich das neue Wissen allerdings später wieder als lücken- oder fehlerhaft heraus, gilt das als peinlicher Rückschlag, der dem strahlenden Ansehen des jeweiligen Wissenschaftlers hässliche dunkle Flecken verpasst.
Also sind Wissenschaftler natürlich darauf bedacht, Rückschläge oder auftauchende Widersprüche nicht unbedingt zu vertuschen, aber ….
…sagen wir mal, sie auch nicht unbedingt mit voller Lautstärke in die hintersten Winkel der Welt hinauszuposaunen. So sind sie denn auch daran interessiert, um bei dem Beispiel mit dem flüssigen Erdkern zu bleiben, dass das Erdinnere auch weiterhin flüssig bleibt. Obwohl …
Hat denn das Innere der Erdkugel wirklich jemals ein Mensch g e s e h e n ?
Außer den Wissenschaftlern könnte es vielleicht aber auch n o c h eine Gruppe geben, die daran interessiert ist, dass das heutige Wissen über den flüssigen Erdkern so erhalten bleibt wie es ist. Womöglich, um nicht entdeckt zu werden und in Ruhe weiter ihrem Alltag nachgehen zu können? Natürlich wissen wir in unserer aufgeklärten Zeit mit absoluter Sicherheit dass es keine Teufel gibt. Ist doch wohl klar.
Teufel …? Haah. Solch ein Unfug. Allerdings …
…falls doch …? Wo könnten die sie sich dann wohl aufhalten?
Ob nicht vielleicht doch die Kirchenfreaks ein kleines bisschen …?
Eigentlich weiß man ja niiiiie ganz genau, vielleicht …hmm.
So g a n z abwegig wäre es natürlich nicht, denn immerhin glaubt ja auch der Papst so ungefähr in diese Richtung. Und der ist doch bekannterweise unfehlbar und hat auch immer recht. Obwohl auch er keine handfesten Beweise liefern kann.
Beweise hatte zwar auch Billbo Heinze nicht, noch nicht jedenfalls, aber im Gegensatz zum Papst sollte er der ganzen Sache bald auf die Schliche kommen. Ähnlich wie der Papst hatte auch Billbo einen unerschütterlichen Glauben. Allerdings beschränkte der sich nur darauf, dass er glaubte den schlechtesten Job auf Erden erwischt zu haben. Bei wissenschaftlichen Tieflochbohrungen hatte er nämlich jahrelang Hilfsarbeiten verrichten müssen. An vorderster Front stehend, musste er die verdreckten abgenutzten Bohrerköpfe austauschen wenn das schwere Gestänge wieder in die Höhe gezogen wurde. Ein rechter Knochenjob. Allerdings hatte der ihm dann auch den jetzigen Job beschert. Aufgrund seiner langjährigen Erfahrung hatte man ihn für eine Bohplattform im Dienste der Wissenschaft angeworben. Etliche Kilometer vor der Küste versuchten Spezialisten mit Probebohrungen Methanhydratablagerungen zu erschließen, die im Festlandsockel entdeckt worden waren. Die Eisklumpen ähnelnden Methanknollen sollten laut Fachleuten der Energielieferant der Zukunft sein und dementsprechend eifrig gingen die Bohrungen voran. Billbo stand auch hier wieder an vorderster Front, brauchte den Bohrerwechsel aber nur noch zu überwachen. Die schwere Arbeit mussten nun andere verrichten. Er war jetzt für die präzisen und rechtzeitigen Wechsel des Werkzeugs zuständig. Und weil die Arbeiten planmäßig vorangingen, die Arbeiter so aufeinander eingespielt waren dass ein Bohrerwechsel zwar immer noch schwere Plackerei aber eben doch nur Routine war, plätscherten die Tage gleichmäßig dahin.
Mittlerweile war die Bohrung schon in eine solche Tiefe vorangetrieben, in der man Ergebnisse erwarten konnte, als das Bohrgestänge gerade mal wieder, mit einem neuen scharfen Kopf versehen, hinabgelassen wurde. Nichts ließ auf Ungewöhnliches schließen, als die kreischend mahlenden Betriebsgeräusche des Bohrers wieder einsetzten und die Plattform durch gleichförmiges Vibrieren zum Zittern brachten. Doch gerade als sich Billbo daraufhin zu einer Zigarettenpause zurückziehen wollte, endete die vermeintliche Routine schlagartig.
Einem kurzen grauenhaften Knirschen folgte unheimliche Stille. Billbo lauschte mit hastig geweiteten Pupillen dem plötzlichen Verstummen der Arbeitsgeräusche und wusste sofort, dass er ein Problem hatte.
Außer dem Wellenschlag und dem jaulenden Wind, der ständig über die Plattform fegte, war nichts mehr zu hören. Zutiefst erschrocken hastete er zum Bohrturm zurück. Dort standen die Arbeiter mit offenen Mündern und bestaunten das runde leere Loch im Boden der Plattform, das dem Bohrgestänge normalerweise als Führung dient. Billbo traute seinen Augen nicht. Das gesamte Gestänge war verschwunden und durch die Öffnung im Boden war nur noch das schäumende Meer zu sehen.
„Was ist los…?“, herrschte er die Arbeiter an.
Die zuckten aber nur mit den Achseln und zeigten ratlos und ziemlich unbeteiligt auf das Loch. Als könnte er dann mehr sehen, ließ sich Billbo überstürzt auf die Knie herab und starrte entsetzt durch die gähnende Öffnung ins brausende Wasser hinab. Weit und breit war aber vom Bohrer nichts mehr zu sehen. Kalkweiß im Gesicht guckte er anklagend von einem zum anderen.
„Was habt ihr gemacht …wo ist der Bohrer …?“
Einer der Arbeiter zog unter dem Gelächter der anderen spöttisch mit spitzen Fingern das Futter aus den Hosentaschen und hielt die Stoffzipfel wie Beweisstücke in die Luft. Ohne wirklich eine Antwort erwartet zu haben überschlugen sich Billbos Gedanken. Er allein war für den ordnungsgemäßen Zustand des Bohrers verantwortlich und nun war das ganze Ding plötzlich nicht mehr da. Wo sollte der denn so schnell hin sein? Solch ein riesiges Gerät konnte doch nicht einfach so verschwinden, wenn es nicht mit dem …
In seinem Ohr meldete sich Sell Berdohf, der Chef aus dem Regieturm.
„He, was ist los, warum habt ihr den Bohrer angehalten …?“
In Billbos Kopf ging es drunter und drüber. Sollte er etwa sagen, dass der Bohrer nicht nur angehalten sondern ganz verschwunden war? Fast hätte er gelacht. Andererseits war es ja aber auch nicht sein persönliches Verschulden dass der Bohrer abhanden gekommen war. Trotzdem wollte er erst mal Zeit gewinnen.
„Kein Grund zur Aufregung Chef …“, hörte er sich zur eigenen Verwunderung in sein Head-Set sprechen, „ …gleich geht’s weiter. Nur ein technischer Stopp …“
„Okay, dann gebt euch Mühe dass wir nicht solange stehen.“
Ein Knacken im Ohr zeigte ihm an, dass er wieder allein, aber nun auch gefordert war. Apathisch erhob er sich, klopfte sich hilflos den Staub von der Hose und sah sich den gelangweilten Gesichtern der Arbeiter gegenüber.
„Tja …ähh …hat vielleicht einer ne Idee, wo der Bohrer sein könnte?“
Die Männer guckten verständnislos. Es handelte sich um Bohrgestänge, das Stück für Stück aufeinander gesteckt verlängert wurde und einige hundert Meter Länge erreichen konnte. Es würde also wohl kaum hier in einer Ecke oder hinter irgendeiner Kiste herumliegen. Einer der Männer deutete mit beiden Zeigefingern nach unten.
„Der gesamte Gestänge wird abgerissen und im Meer versunken sein …was sonst?“
Die anderen nickten mehr oder weniger zustimmend, was Billbo aber nur noch nervöser machte. Trotz seiner Aufregung wusste er zwar auch, dass das die einleuchtendste Erklärung war, allerdings d u r f t e es so nicht sein. Verzweiflung packte ihn und seine Stimmbänder.
„Versunken? …Quatsch. Die Kupplungen haben wir doch heute Morgen überprüft, er k a n n nicht im Meer versunken sein ...und dürfen darf er es schon gar nicht.“
„Dann hat ihn wohl die Bordkatze gefressen.“, sagte einer der Männer neckisch und brachte damit die anderen erneut zum Lachen. Die Spannung schien bei ihnen gelöst. Kein Bohrer bedeutete nämlich auch gleichzeitig für sie, keine Arbeit, und damit erst einmal eine zusätzliche Pause, wenn nicht sogar Feierabend. Billbo selber konnte allerdings nicht mitlachen, er war ja für den reibungslosen Ablauf verantwortlich, und im Moment war überhaupt nicht abzusehen wie und wann es weitergehen würde.
„Wie viel Ersatz haben wir?“, fragte er hastig in die Runde.
„Gestänge haben wir noch einiges, aber keinen scharfen Bohrkopf mehr …“, antwortete einer der Männer, „…und ohne den können wir gar nichts machen.“
Billbo knetete seine Finger und wollte gerade weitere Anweisungen geben, als er von der Seite her Sell Berdohf kommen sah. Dessen Schritte wurden immer langsamer und seine Augen immer größer je dichter er kam.
„Was ist denn hier los? Habt ihr etwa den Bohrer a u s g e b a u t ?“
Auf Billbos Gesicht machte sich ein dümmliches Grinsen breit.
„Ähhh …also nicht selber …nicht so direkt.“
*
Die beiden Gestalten schüttelten sich das Wasser aus dem Pelz. Nach dem unerwarteten Guss sah ihr schwarzes Fell noch struppiger aus als sonst. Mit einem Fingerschnippen hatten sie zwar das entstandene Loch in der Decke sofort wieder verschlossen, aber nun lag hier dieses komische, elendlange Ding und blockierte einen großen Teil des Saals. Ein schneller Kontrollblick hatte zwar gezeigt dass niemand in der Nähe war, der das Malheur hätte bemerken können, aber es konnte nur eine Frage der Zeit sein, bis Ärster erschien um die ihnen aufgetragenen Vorbereitungen für die Abschlussfeier zu kontrollieren.
„Ich habe Dir immer gesagt, dass du deine Aufgaben ernster nehmen solltest …“, sagte Machmanix der etwas Kleinere von beiden vorwurfsvoll, „…das kommt nun von deiner schluderigen Arbeit. So etwas musste ja irgendwann mal passieren.“
Geetnich, der Angesprochene machte einen zerknirschten Eindruck und konnte seine roten Augen kaum von dem langen, stählernen Eindringling abwenden. Er war in diesem Reich für Hoch- und Tiefbau zuständig. Seine Aufgaben beinhalteten unter anderem die statische Überwachung baulicher Anlagen. Bei kontinuierlicher Überwachung hätte also solch ein Deckeneinsturz nie und nimmer stattfinden dürfen. Weil Geetnich aber eine ziemlich lockere Arbeitsauffassung hatte, ließ er ziemlich oft Fünfe gerade sein, frei nach der Devise: Danach ist oft auch noch früh genug.
Jetzt sah es allerdings mehr nach zu spät aus. Mit so einem Einsturz konnte man doch aber auch wirklich nicht rechnen. Und überhaupt, was war denn das für ein komisches langes Ding? Das hatte doch das Unglück scheinbar verursacht.
Zusammen mit seinem Kollegen betrachtete Geetnich den reglos am Boden liegenden Eindringling. Von den Alten hörte man immer wieder, dass weit irgendwo da oben in der Unendlichkeit seltsame Wesen leben und ihr Unwesen treiben würden. Nach ihrem Tod würden deren Seelen dann hier zu ihnen herunter kommen um zur Strafe im ewigen Fegefeuer zu brutzeln. Sollte es sich etwa um solch ein Wesen handeln? Zumindest schien es selber ziemlich verängstigt zu sein, denn es rührte sich keinen Millimeter mehr. Oder sollte es sogar bei dem Absturz ums Leben gekommen sein? Dann hatte es aber selber Schuld.
Obwohl die Sache mit der Unendlichkeit und den Seelen bei vielen hier unten auf Skepsis stieß. Vieles war ja undurchschaubar und wurde nur durch Überlieferung und Erzählung der Alten verbreitet. Manche meinten sogar, die Oberen würden ihnen vieles vorenthalten, anderes verdrehen und vielleicht sogar bewusst die Unwahrheit sagen. Alles Wissen stammte doch sowieso nur aus einem Buch, dem "Großen alten Buch", kurz gesagt, dem GaB. Darin hieß es unter anderem, dass alle Gebote aus dem GaB streng befolgt werden müssten, sonst könnte es irgendwann später mal ziemlichen Ärger geben. Manche glaubten mehr daran, andere weniger. Bisher war jedenfalls noch nichts Dramatisches passiert.
„Wir müssen irgendwas machen, bevor das hier jemand sieht.“, flüsterte Machmanix jetzt in die Stille hinein.
Geetnichs Blick wanderte zum jetzt wieder verschlossenen Loch in der Decke, aus dem der Besuch gekommen war. Ob man den Fremdling dadurch wohl zurückschicken konnte? Denn eigentlich wollte er mit dem so plötzlich Aufgetauchten ja gar nichts zu tun haben. Gerufen hatte er ihn jedenfalls nicht. Obwohl Geetnich natürlich auch so ein gaaanz kleines bisschen vom schlechten Gewissen geplagt wurde. Hätten seine regelmäßigen Kontrollen dieses Unglück vielleicht doch verhüten können?
„Hallo du da...“, versuchte es Machmanix jetzt leise in Richtung des Eindringlings. Doch der blieb stumm. Stand der vielleicht noch unter Schock, war es Unhöflichkeit oder konnte er gar nicht sprechen? Auch ein vorsichtiger Stupser mit dem Fuß brachte keinen weiteren Aufschluss. Hatte der seinen Sturz tatsächlich nicht überlebt?
Jedenfalls würde Geetnich wohl ordentlichen Ärger bekommen, wenn das hier entdeckt werden würde. Obwohl er ja ohnehin als schwarzes Schaf galt. Das heißt, schwarz waren sie ja alle, bis auf Sgibtmichwirklich, ihrem Oberhaupt. Der konnte je nach Tageszeit in verschiedenen Farbvariationen schimmern. Erzählte man sich zumindest, denn von den Jüngeren hatte ihn noch niemand gesehen. Mit dem verhielt es sich nämlich noch mysteriöser als mit den angeblichen Wesen über ihnen. Niemand wusste genau wo er sich befand. Es hieß immer nur, eines Tages würde er wieder erscheinen. Allerdings war dieses „eines Tages“ wohl noch nicht gekommen, denn er war und blieb bisher unsichtbar wie ein Phantom. Genau deshalb gab es unter einigen Jung-Schwarzen auch starke Zweifler, die sogar die gesamte Existenz von Sgibtmichwirklich in Frage stellten. Was sollte man aber auch von jemandem halten der sich nicht blicken ließ und meinte, alles was er zu sagen hatte durch ein Buch mitteilen zu können, das darüber hinaus noch uralt und ziemlich angestaubt war.
Einen Hungernden würde doch auch das schönste Bild eines belegten Brötchens auf Dauer nicht vor dem Verhungern retten. Und so sah es nicht nur Geetnich.
„Nun steh nicht lange rum, wir müssen das Ding endlich wieder loswerden.“
Machmanix trippelte von einem Bein aufs andere und sah sich suchend um, wobei er immer wieder leicht den Kopf schüttelte. Außer den aufgestellten Tischen für die Gäste gab es hier nämlich nichts, wohinter oder worunter man etwas so Großes hätte verstecken können. Geetnich wirkte ebenso ratlos. Wären sie aus fester Materie gewesen, hätte man in diesem Moment einige leere Denkblasen von seinem Kopf aufsteigen sehen können. Machmanix hatte das stumm daliegende Ding eine Weile fixiert, bevor ihm ein erlösendes Jetzthabichs-Grinsen übers Gesicht huschte.
„Wir lassen es einfach für immer verschwinden. Derjenige dem es gehört, hätte eben besser auf seine Sachen aufpassen sollen. Und wenn es hier erst wieder verschwunden ist, wissen w i r jedenfalls von nix.“
Geetnich zauderte weil er sich natürlich betroffener als Machmanix fühlte. Immerhin hatte der seine Aufgaben ja nicht vernachlässigt und konnte leicht daherreden. Andererseits hatte er schon Recht, dass man den Besucher schnell wieder loswerden musste bevor ihn hier noch jemand sah. Ehe er jedoch überhaupt zustimmen oder ablehnen konnte, handelte Machmanix schon. Mit erhobenen Armen stand der jetzt vor dem Eindringling und ließ einen Funkenregen über ihn prasseln. In einem gelblich qualmend, sprühenden Inferno schrumpfte das Ding immer weiter zusammen bis es völlig verschwunden war. Kaum hatte Machmanix seine Arme wieder sinken lassen, versiegte auch der Funkenregen. Zwar dampften seine Hände noch etwas, aber er schien zufrieden.
Von dem komischen Besucher war jedenfalls nichts mehr zu sehen. Ohne auch nur die kleinste Spur auf dem Boden hinterlassen zu haben hatte der sich aufgelöst. Obwohl Geetnich im tiefsten Innern wusste, dass das die beste Lösung war, zeigte er sich über das drastische Ende doch erschreckt.
Ein langgezogenes sparsames „Ooooha“ war allerdings seine einzige Reaktion darauf. Machmanix hatte wirklich keine Sekunde zu früh gehandelt, denn schon im nächsten Augenblick hörten sie Schritte und sahen Ärster durch die Tür kommen. Zwischen den Tischen durchschlendernd kam ihr Vorgesetzter mit prüfendem Blick langsam näher und schien zufrieden. Als er die beiden allerdings sah, die wie ertappte Lausbuben dastanden, wurde er misstrauisch. Sein Blick wanderte von einem zum andern und blieb dann an Machmanix’ immer noch dampfenden Fingerspitzen hängen.
„Habt ihr schon wieder gezaubert? “
Bevor Geetnich überhaupt etwas einfiel womit man sich hätte herausreden können, schüttelte Machmanix schon entschieden den Kopf.
„Natürlich nicht Meister …ohne Grund ist das doch verboten.“
Dazu zog er ein Gesicht, das hätte Steine erweichen können. Ärster starrte aber noch immer auf Machmanix’ Hände. „Und was ist damit …?“
Jetzt war Geetnich schneller und er beeilte sich Machmanix aus der Patsche zu helfen, der jetzt doch noch in Not zu geraten drohte. Vor einigen Jahren hatte Geetnich als Bester die Abschlussprüfung des zweiwöchigen Seminars „Wie dehne ich die Wahrheit unter Zuhilfenahme der Buchstaben L, Ü, G, und E“ mit Auszeichnung bestanden, was ihm seither schon oft hilfreich war.
„Es waren einige Kohlen aus dem Feuer gepurzelt und keine Schaufel zur Hand.“
Nur ganz kurz zog Machmanix ein erstauntes Gesicht, dann nickte er zustimmend.
„Genauso war's …die Schaufel war weg.“
Ärster verzog das Gesicht zu einer schmerzlichen Grimasse und zeigte damit ohne Worte an, dass er an dieser Erklärung doch erhebliche Zweifel hatte. Ohne aber weiter darauf einzugehen sah er sich wieder im Saal um. „Wie weit seid ihr gekommen?“
Machmanix, der sich wieder gefangen hatte, beeilte sich mit der Antwort, um so endgültig von dem peinlichen Thema wegzukommen.
„Soweit alles klar …nur noch ein paar Kleinigkeiten.“
Ärster nickte zufrieden und Geetnich atmete erleichtert auf. Offensichtlich aber zu früh, denn Ärster stutze und guckte mit schief gelegtem Kopf in die Saalecke wo noch die Restlache des durchgebrochenen Wassers schimmerte.
„Und was ist das …?“
Geetnich griff noch einmal auf seine Seminarkenntnisse zurück.
„Ähh... das ist der Rest vom Kühlwasser …,“ sagte er mit leicht stockender Stimme, „…das wir für die Getränke nachher vorbereitet haben.“
Ärster zog die Augenbrauen hoch, was aber kaum zu sehen war, weil sie genauso schwarz und zottig waren wie sein übriges Fell. „Lügen haben kurze Hosen …“
Geetnich stutzte einen Moment und meinte ihn verbessern zu müssen.
„Ach, heißt das nicht …haben kurze B e i n e …?“
Ärster grinste wissend.
„Eben …und kurze Beine brauchen keine langen Hosen.“
Mit einer Siehste-wohl-Miene drehte er um und schlenderte zwischen den Tischen hindurch dem Ausgang zu. Korrigierend zupfte er mal an der einen oder anderen Tischdecke, rückte ein Glas näher zum dazugehörenden Teller und machte im Großen und Ganzen einen zufriedenen Eindruck. Die Inspektion war beendet.
„Wir sehen uns dann in …“
Um nach der Uhrzeit zu sehen, neigte er den Kopf. In der dichten Behaarung seines linken Unterarms hatte ständig eine Gruppe von Glühwürmchen Dienst. Niemand wusste genau, was die in ihrem Leben ausgefressen hatten, um jetzt hier zu diesem Strafdienst verdonnert worden zu sein. Auf alle Fälle saßen sie fast ohne Unterbrechung tagein tagaus zwischen den schwarzen zotteligen Haaren und mussten immer wenn der Meister auf sie blickte, in Windeseile die aktuelle Uhrzeit in Zahlen darstellen. Vier hatten sich jetzt eilig zur Null aufgestellt, sieben zu einer Neun und zwei zu den Trennpunkten. Ärster guckte entgeistert und nahm den Arm höher, weil er nicht glauben konnte was er sah. Was war denn das? Hinter den Trennpunkten waren nur Haare zu sehen?
„Holla …“, rief er verstimmt und schüttelte dazu seinen Arm, „…was ist mit euch? Neun Uhr waaas …?“
Hastiges Rascheln und leises Fluchen war zu hören, dann schurrten Stühle über Holzdielen und schon kräuselten sich die Haare hinter dem Trennpunkt wo sich im nächsten Moment eine flackernde Zwölf bildete. Ärster bedachte sie mit einem strengen Blick.
„Noch einmal verschlafen und der freie Sonntag ist gestrichen …“
Die Zwölf nickte kollektiv, was Ärster wohlwollend aufnahm und sich noch einmal Geetnich und Machmanix zuwendete.
„Also in zwei Stunden, seht zu dass ihr fertig werdet.“
Einer nickte, der andere reckte seinen Daumen wortlos in die Luft und Ärster hob zum Abschied die Hand. Erst als die Tür hinter ihm wieder geschlossen war wich auch die knisternde Spannung. Geetnich atmete erleichtert auf wobei zwei Rauchwölkchen aus seinen Ohren aufstiegen.
„Das ist ja gerade noch mal gut gegangen.“
*
Auch durch noch so lautes Brüllen und Fluchen lassen sich bekanntlich verschwundene Gegenstände nicht wieder herbeischaffen. Vielleicht hatte Billbos Chef davon noch nie etwas gehört, denn er reagierte genau auf diese Art und Weise als er erfuhr dass der Bohrer einfach so mir nix dir nix, und allen anderen erst recht nix, verschwunden war und niemand wusste, wie, wohin und warum. Die Arbeiter hatten nur mit Händen in den Taschen dagestanden und mit den Schultern gezuckt. Ihre Aufgabe war es ja nur, mit dem Bohrer zu a r b e i t e n. Wenn aber kein Bohrer da war, gab’s auch nichts zu arbeiten. So einfach war die Sache für sie. Billbo dagegen hatte den Joker gezogen. Weil er nun mal für die technische Ausrüstung zuständig war, die ja jetzt zum größten Teil nicht mehr anwesend war, musste er sich zuerst das wütende Gebrüll und dann die Drohung seines Chefs anhören, dass der Bohrer unverzüglich, egal wie, wieder zu bohren habe, ansonsten den Zuständigen ein fürchterliches Unglück ereilen würde.
Hatte Billbo zuerst noch gehofft, dass der Verschwundene vielleicht doch wieder noch irgendwie auftauchte, wurde ihm langsam klar, dass sich diese Erwartung nicht erfüllen würde. Was blieb also zu tun? Den Bohrer suchen, aber wo? Da es an Deck und in der Luft ziemlich überschaubar war, bot sich als naheliegendste Möglichkeit tatsächlich nur noch an, unter ihnen im Meer nachzusehen. Was sich darin alles verstecken ließ, hatten vor ihm schon ganz andere entdeckt. Allerdings war das auch der unangenehmste und feuchteste Ort um nach verschwundenen Sachen zu suchen. Dachte er jedoch an seinen wütenden Chef, wurde ihm sofort klar, dass er keine andere Wahl hatte.
In der Gerätekammer zwängte er sich in einen Taucheranzug. Pressluftflaschen und Ausrüstung waren stets einsatzbereit um in Notfällen auch unter Wasser nötige Reparatur- oder Rettungsarbeiten ausführen zu können. Mitleidig grinsend guckten ihm die Arbeiter nach, als er unbeholfen wie ein Astronaut mit den unhandlichen Schwimmflossen, die etwa der Schuhgröße zweiundneunzig entsprachen, zurückkam und über die Plattform tapste. Die Flaschen auf seinem Rücken drückten schwer und zogen ihn fast hinten über. Unter Wasser würde sich das ja ändern, tröstete er sich. Aber auch da sollte er noch eine Überraschung erleben.
Am Rand der Plattform führte eine Leiter zum Wasser hinunter. Weil ihm der Sprung von oben zu gewagt erschien, entschied er sich für den langsamen Abstieg. Vielleicht lag es am eingeschränkten Sichtfeld, vielleicht war er auch nur einen Augenblick unaufmerksam. Auf alle Fälle hatte er gerade mal die dritte Sprosse erreicht, als er nicht mit dem vollen Fuß aufsetzte, eine der Flossen umknickte und ihn abrutschen ließ. Weil das so überraschend kam, gelang es ihm auch nicht mehr sich richtig festzuhalten. Mit den Händen umklammerte er zwar noch den Handlauf beider Seiten, sauste dann aber so, aufrecht stehend und Sprosse für Sprosse mit den Gummiflossen abklatschend, mit einem "Flapp flapp flapp flapp" eilig dem Wasser entgegen. Seinen langgezogenen Schrei deuteten die Arbeiter oben als vermeintliches Triumphgeheul darüber, den Bohrer schon entdeckt zu haben. Alle stürzten zum Rand der Plattform um ihm nachzusehen. Aber nur die ersten bekamen noch mit, wie Kopf und in die Höhe gerissene Arme im schäumenden Meer verschwanden.
Billbo hatte natürlich gehofft, dass die rasante Fahrt spätestens durch das Wasser abgebremst und sich verringern würde, wurde aber gleich enttäuscht. Mit fast dem gleichen Schwung ging es nämlich unter Wasser weiter in die Tiefe. Vorbei an zwei erschreckt ausweichenden U-Booten ohne Hoheitsabzeichen und einem staunenden Makrelenschwarm setzte er seine wilde Fahrt zum Meeresboden fort. Die Luftflaschen fühlten sich dabei auch nicht wie erhofft leichter an, sondern drückten vielmehr ähnlich schwer auf seinen Rücken wie vorher. In der Eile hatte Billbo nämlich zur erstbesten Taucherausrüstung gegriffen ohne zu bemerken, dass die Quassel Dollfuur gehörte, einem der auf der Plattform arbeitenden Männer. Weil der jedoch nicht schwimmen konnte, sich aber trotzdem schon immer gern im Wasser aufhielt war er automatisch zum Unterwassersport gekommen. Inzwischen war er ein begeisterter Speed-Taucher, der in ständig neuen Anläufen versuchte, den Geschwindigkeitsrekord im Hundertmeter-Tieftauchen zu brechen. Obwohl der immer noch von einem zwei Tonnen schweren Granitblock aus Italien mit handgestoppten sechskommasiebenunddreißig Sekunden gehalten wurde, gab Quassel nicht auf. Dank seiner Spezial-Ausrüstung, die komplett, einschließlich der beiden Luftflaschen, Taucherbrille und Hosenträger aus Blei bestand, war er mit Achtkommaelf schon ziemlich nahe dran.
Das alles wusste Billbo aber nicht und konnte sich deshalb auch keinen Reim auf die flotte Schussfahrt machen. Zum geordneten Nachdenken hatte er sowieso keine Zeit, zu viele Gedanken sausten ihm durch den Kopf. Wie sollte er jemals wieder zur Bohrplattform zurückfinden? Wie lange würde der Sauerstoff in den Flaschen reichen? Und wenn er den Bohrer finden würde, wie sollte er ihn allein bergen?
Bevor aber die Verzweiflung total von ihm Besitz ergriff, endete sein schwungvoller Sinkflug und Billbo landete unsanft in einer Korallenbank auf dem Meeresgrund. Etliche Arme des verzweigten Gewächses hatte er dabei abgebrochen und zertrümmert, damit aber auch gleichzeitig seinen Aufprall gemindert. Wäre es um ihn herum nicht so dunkel gewesen, hätte er sogar noch gesehen wie eine ärgerliche und nur leicht verletzte Muräne, die er mit seiner Landung obdachlos gemacht hatte, sich langsam davon trollte. Wie in Zeitlupe erhob er sich aus der geschredderten Korallenbank und fand sich vom aufgewühlten Schlick in düstere Finsternis gehüllt.
Mit den unterschiedlichsten Dunkelheitsabstufungen kannte er sich zwar aus, aber diese feuchte Dunkelheit war ihm nicht geheuer. Allein seine Stirnlampe schickte einen schmalen Lichtstrahl hinaus in die Fremde, der aber kaum ausreichte den Boden auszuleuchten wenn er den Kopf senkte und wohl auch nur eine begrenzte Lebensdauer hatte. Umso interessierter fand er das schwache Leuchten, dass er in einiger Entfernung zu sehen glaubte. Mehrmals zwinkerte er mit den Augen um eine mögliche Täuschung auszuschließen und wischte vorsichtshalber auch noch mal über das Glas der Taucherbrille, aber das diffuse gelbliche Licht blieb wo es war. Billbo ging in die Hocke, spannte seine Muskeln und stieß sich kraftvoll in Richtung des Lichtes ab. Der erwartete weite Satz den man im Wasser hätte erwarten können blieb aber komplett aus und das lag nicht nur an der schweren Ausrüstung, die ihn gleich wieder auf den Boden zog. Vielmehr prallte er mit dem Kopf voran unsanft gegen etwas fürchterlich Hartes und landete erneut auf dem Boden, fast auf der Stelle von der er abgesprungen war.
Wegen dem Sauerstoffventil im Mund konnte er nur leise in sich hineinstöhnen als er mit den Händen nach dem Übeltäter tastete. Anscheinend stand er direkt vor einer der stählernen Stützen mit der die Bohrinsel auf dem Meeresgrund verankert war und hatte diese bei seinem Hechtsprung zielsicher angesprungen. Abgesehen von einer Beule die sich oberhalb seiner Stirn bildete, einem kleinen Sprung im Glas der Taucherbrille und mittlerem Hirnsausen schien der Unfall aber glimpflich abgegangen zu sein. An der gerade angesprungenen Stütze zog er sich hoch auf die Beine und machte sich nach einer Verschnaufpause vorsichtig tappend zu Fuß auf den Weg zum immer noch schimmernden Licht. Je dichter er aber kam um so weniger traute er seinen Augen, denn als er das Ziel erreicht hatte, steckte vor ihm im Meeresboden ein Blitz.
So wie es aussah musste der hier schon vor langer Zeit eingeschlagen und steckengeblieben sein. Mehr als zehn Meter ragte er wohl in die Höhe. Stellenweise war er schon von Algen überwuchert und hatte dadurch viel von seiner Helligkeit eingebüßt. Trotzdem schaffte er es immer noch das Umfeld in etwa drei bis vier Metern gut auszuleuchten. Zum ersten mal sah Billbo solch ein Naturphänomen aus der Nähe. Zögerlich näherte er sich und berührte den Blitz. Noch nie vorher hatte er Licht angefasst und war ganz überrascht wie gut sich das anfühlte.
Im Gegensatz zum Zeitpunkt des Einschlags hatte der Blitz aber auch fast vollständig seine Hitze verloren und Billbo spürte nur noch eine mäßige Wärme sodass er mit seinen Fingern immer wieder staunend darüberstrich. Da man sich im Licht des Blitzes gut orientieren konnte, knipste er seine Stirnlampe aus um den Akku für später zu schonen. Vielleicht ließ sich ja der Blitz zum leuchten nutzen.
Einen der vielen seitlich vom Hauptblitz abstehenden kleineren Zacken griff sich Billbo, wackelte, bog und zog daran. Tatsächlich wurde der immer weicher und ließ sich anschließend sogar ohne große Mühe abbrechen. Er knickte auch alle weiteren Nebenblitze die er erreichen konnte ab und steckte sie sich hinter den Tauchergürtel als Reserve. Mit einem weiteren Zacken, hoch erhoben in der Hand, konnte er nun wie mit einer Fackel bei der Suche nach dem Bohrer wenigstens vernünftig seinen weiteren Weg ausleuchten. Zuerst wollte er aber dorthin zurück wo er gelandet war, denn viel weiter entfernt konnte der Bohrer doch eigentlich auch nicht sein wenn der wirklich im Meer versunken sein sollte. Starke Strömungen gab es hier jedenfalls nicht. Bei seinen weiteren Schritten voran fühlte er sich jetzt schon sicherer, weil er nun sehen konnte was vor ihm lag und er keine Angst mehr zu haben brauchte in irgendwelche Fallen zu tappen oder erneut gegen die Inselstützen zu laufen, dachte er jedenfalls.
Die erste Stütze tauchte nämlich schon wieder im Lichtschein auf und seine Beule pochte gleich ein bisschen mehr als das Blitzlicht auf den rostroten Schutzanstrich fiel. Nur vom Bohrer selbst war nichts zu sehen, was Billbo schon wieder an der Im-Meer-versunken-Theorie zweifeln ließ. Nur wenige Meter vor ihm änderte sich jetzt die Farbe des Meeresbodens und ließ ihn stutzen. Vorsichtig geworden, wollte er das näher untersuchen. Als er stehenblieb und die Zackenfackel höher reckte, fiel das Licht auf einen großen dunklen Fleck, wobei sich nur ganz langsam in seinem Hirn die Erkenntnis formte, dass der Fleck das Bohrloch war. Noch nachträglich stellten sich seine Nackenhaare auf, soweit das der Taucheranzug jedenfalls zuließ. Das hätte wohl sein Ende bedeutet, wenn er statt gegen die Stütze zu laufen in das Bohrloch gestolpert wäre. Aber wie es nun aussah blieb ihm nichts anderes übrig, als in dem Loch nach dem Bohrer zu suchen. In gebührendem Abstand stapfte er erst einmal drum herum, wobei er sich immer mal wieder zu den Seiten umsah. Vom Bohrer war aber auch weiterhin nichts zu sehen. Sollte der wirklich tief im Bohrloch steckengeblieben sein?
Billbo reckte seinen Leuchtzacken so hoch es ging, aber der Lichtschein schaffte es nicht das Dunkel im Loch zu durchdringen. Also musste er noch näher heran. Gleichzeitig fiel ihm aber auch ein, dass zur Taucher-Ausrüstung immer ein Sicherungsseil gehörte, das eigentlich am Gürtel unter den Bleigewichten befestigt war. Tatsächlich wurde er da fündig, allerdings hatte das nur eine Länge von etwa einem Meter. Was sollte man denn damit anfangen? Enttäuscht ließ er sich das kurze Seil durch die Finger gleiten, bis er einen merkwürdigen Knopf daran entdeckte. Über dessen Funktion staunte er nun aber nicht schlecht. Weil Quassel Dollfuur viel im Wasser unterwegs war, vertraute er natürlich nur dem besten Material und verfügte auch stets über die neuesten Neuigkeiten die es auf dem Markt gab. So verwandelte sich die Sicherungsleine jetzt auf Knopfruck nämlich zu einem ausziehbaren Teleskopseil. Das eine Seilende war am Tauchergürtel befestigt, das andere schlang er um die Stütze neben ihm.
So gesichert näherte sich Billbo dem Rand des Bohrlochs. Wenn das Seil arretierte, drückte er den Knopf und konnte so wieder einen weiteren Meter gehen. Unmittelbar vor dem Loch angekommen, sah er, wie vom Rand immer wieder kleinere Stücke des Meeresbodens ausbrachen und in der Tiefe verschwanden. Zwar schauderte es ihm bei diesem Anblick, aber angeseilt fühlte er sich doch genügend abgesichert. Leicht nach hinten geneigt legte er sich ins Seil und näherte sich rückwärts dem Loch, das wohl im Durchmesser etwas größer als ein Straßengully sein mochte. Stück für Stück wollte er sich so wie ein Bergsteiger abseilen und hoffte den Bohrer bald sehen zu können, wenn der denn tatsächlich darin stecken sollte. In den folgenden Minuten drückte er ohne besondere Angst ein ums andere mal den Knopf und gelangte so Meter für Meter ganz sachte immer tiefer in das Bohrloch hinab. Seine im Gürtel steckenden Zackenblitze leuchteten dabei die enge Umgebung gut aus und Billbo war ganz zuversichtlich, den Bohrer bald zu entdecken.
Was er aber nicht wusste war, dass Quassel zwar das neueste Hightech-Seil besaß, dieses aber technisch noch nicht ganz ausgereift war. In diesem Falle stellte sich der klitzekleine Mangel so dar, dass sich das oben festgebundene Seilende automatisch löste, ganz egal wie fest es verknotet war, wenn die Maximallänge des ausziehbaren Seils erreicht war, der Nutzer aber weiter den Knopf betätigte. Das war zwar purer Unsinn, vermittelte dem Nutzer aber eine Zeitlang den beruhigenden Eindruck, er könne mit seinem totschicken Seil unendliche Weiten erreichen. Quassel selber hatte das Seil natürlich noch gar nicht genutzt und deshalb …
Gut und gerne zehn Meter tief hatte sich Billbo schon abgeseilt und drückte erneut den Knopf, als …
Hossa, fast wie vorhin bei der rasanten Fahrt zum Meeresboden, nahm plötzlich die Abwärtsgeschwindigkeit rapide zu. Billbo fühlte sich aber trotzdem weiterhin auf der sicheren Seite weil er das Seil ja fest in Händen hielt. Selbst als ihm das lockere Seilende von oben über die Schulter fiel, schöpfte er noch immer keinen Verdacht. Indem er das Seil noch fester umklammerte dachte er an die alte Bergsteiger-Regel: Seil in der Hand, Gefahr gebannt.
Allein die Tatsache, dass die Sauerstoff-Flaschen jetzt immer öfter an der Wandung anschlugen und ihn dabei ruckartig abbremsten bereitete ihm Sorgen. Wenn er sich hier in
dieser Tiefe verhakeln würde, wäre es aus mit ihm und er käme weder vor noch zurück. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er den Knopf gar nicht mehr drücken brauchte und trotzdem immer tiefer ins Loch hinab geriet. Mit dem Zurück könnte es deshalb vielleicht problematisch werden. Ohne seinen verkrampften Griff zu lockern betrachtete er sich besorgt das Seil das anstatt nach oben in die Dunkelheit zu führen, nur noch lose über seiner Schulter baumelte. Könnte man sich so wieder nach oben ziehen? Per Hebelkraft oder so …? In der Schule war er zwar nicht der Klassenprimus gewesen, hängengeblieben war aber doch, dass der Hebel wenigstens an einem Ende e i n e n festen Punkt haben musste. Ob es jetzt wohl reichte, wenn er das Ende in seinen Händen als den benötigten festen Punkt benannte? Bevor er aber zu einem Ergebnis kam, schrillten in seinem Kopf schon die Alarmglocken und alle Zellen wurden aufgefordert, an einer gleich beginnenden Panik teilzunehmen.
Klare Gedankengänge ließ sein Hirn nun nicht mehr zu und schaltete auf Katastrophen-Modus. Billbo wusste daher auch nicht gleich, was es zu bedeuten hatte als plötzlich ein heftiger Ruck die Talfahrt abrupt stoppte. Unter den rudernden Beinen spürte er noch keinen festen Boden, also konnte er auch noch nicht auf dem Grund des Bohrlochs angekommen sein. Es dauerte eine ganze Weile bis er begriff, dass sich die Luftflaschen auf seinem Rücken wohl irgendwo an der Wandung verhakt hatten und ihn nun wie einen kostümierten Jesus-Darsteller an die Wand genagelt festhielten. Still hing er da und versuchte mit den freien Restkapazitäten seines Hirns eine Lösung zu finden als er vor sich an der Wand eine Bewegung wahrnahm. Keine fünfzig Zentimeter vor ihm lugte aus einem Hohlraum in der Wand ein Wurm heraus. So starr wie der ihn ansah, hätte man meinen können, er wäre Mitglied einer Glaubensgemeinschaft, dem gerade der gekreuzigte Heiland erschienen sei. Von Billbos Luftschlauch stiegen drei dicke Bläschen auf und flüchteten erschreckt in die Höhe. Darüber wiederum schien der Wurm zu erschrecken und zog sich windend in seinen finsteren Gang zurück.
Das ist es, ging es Billbo durch den Kopf: Winden, ich muss mich aus den Trägern der Pressluftflaschen herauswinden. Und mit ähnlichen Bewegungen mit denen sich gerade der Wurm verabschiedet hatte, versuchte er nun selber aus den Trägern zu schlüpfen. Durch die Enge des Bohrlochs in dem er sich befand war das aber eine ziemlich qualvolle Angelegenheit. Nur mühselig kam er voran. Einen Arm hatte er schon hervorgezogen als das Flaschenpaket ruckte und etwas nach unten sackte. Billbo versuchte eine halbe Drehung und zog auch den zweiten Arm heraus. Im gleichen Moment lösten sich die Flaschen aber auch von der Wand und setzten ihren Weg in die Tiefe fort.
Hui, dachte sich der Atemschlauch, da muss ich hinterher. Und schon ruckte es mächtig an Billbos Kopf. Trotz der Enge machte er eine gehockte Rolle rückwärts. Zwar nicht freiwillig, aber die schweren davoneilenden Flaschen ließen ihm keine Wahl und rissen ihn kopfüber weiter mit in die Tiefe.
Zwar hatte er sich noch reflexartig im Mundstück verbissen, hielt das aber nicht lange durch. Sein plombierter Eckzahn begann derart zu schmerzen, dass er sich genötigt sah, den Mund zu öffnen und das Mundstück loszulassen. Im Nu verlangsamte sich seine Sinkgeschwindigkeit, die Zahnschmerzen ließen nach, aber sein Hirn gab dafür eine neue Alarmmeldung heraus: Achtung Achtung …Wassereinbruch im Oberdeck!
Ach richtig, dachte Billbo, ich hätte den Mund zulassen sollen. Im fahlen Licht seiner Zackenblitze waren die Flaschen unter ihm schon weit enteilt und nicht mehr zu sehen. Allein die von unten aufsteigenden, ihn wild umtanzenden Luftbläschen zeigten an, dass sich irgendwo dort unten die dringend benötigte Atemluft befand. Soweit er seine Augen aber auch aufriss, unter ihm und um ihn herum befand sich nur sprudelndes Wasser. In dieses Durcheinander hinein meldete sich auch noch seine Lunge: Hee, uns geht die Luft aus …ich sehe mich in wenigen Sekunden gezwungen die Atmung einzustellen. Dann mach ich aber auch nicht mehr mit, kam nörgelnd die prompte Botschaft des Herzens. Na holla, dann haben wir aber bald ein Problem, meldete sich das Hirn, das sonst ja eigentlich als oberste Vernunftbehörde bekannt war.
„Ach was …“, sagte Billbo und machte den Mund dazu wieder auf, wobei seine Worte gurgelnd und glucksend vom Meerwasser begrüßt wurden.
Ich habe euch jedenfalls gewarnt, hörte er die Lunge noch einmal schimpfen, was aber vom S-O-S-Ruf des Herzens ziemlich übertönt wurde. Billbo selbst wurde immer ruhiger und hatte plötzlich weder Angst noch Eile. Er war sich ganz sicher, am unteren Ende des Bohrlochs seine Luftflaschen wiederzufinden. Ob er die aber überhaupt noch brauchte? So frei und unbeschwert wie im Moment hatte er sich noch nie gefühlt. Auch das Bohrloch war jetzt gar nicht mehr so eng. Selbst die Arme konnte er nun weit ausbreiten ohne irgendwo anzustoßen. Komischerweise drangen sie einfach in die Wand ein. Lachend drehte er übermütig Piouretten und ließ sich zufrieden weiter und weiter hinabgleiten. Fast hatte er den Eindruck, Bewegung und Geschwindigkeit durch seine Gedanken beeinflussen zu können.
Um sich herum alles vergessend hätte er wohl so endlos weiter treiben können, wenn nicht im Schein des Zackenlichts die verlorenen Luftflaschen aufgetaucht wären. Einfach so lagen sie da und blubberten nur noch spärlich vor sich hin, was wohl heißen sollte, dass der Sauerstoffvorrat sich dem Ende zuneigte. Auf alle Fälle aber hatte Billbo offensichtlich die tiefste Stelle des Bohrlochs erreicht. Komischerweise schwebte er jedoch an den Flaschen vorbei und tauchte in eine schwammig-patschige Masse ein. Aber auch die hielt seine Reise nicht auf. Mit gleichem Tempo verschwand er darin und landete, halb plumpsend halb schwebend, Augenblicke später in einen großen Saal. Wasser, das seinen Sturz hätte abfedern können gab es hier plötzlich nicht mehr. Allerdings behütete ihn sein neuer Zustand vor Verletzungen.
Als wäre nichts geschehen, erhob er sich und schob sich verwundert darüber wo er hier wohl gelandet war, die Taucherbrille auf die Stirn. Als er sich umdrehte, erschrak er heftig. Vor ihm standen zwei Gestalten in schwarzem Fell mit rotfunkelnden Augen und starrten ihn an.
*
Mehrere Uniformierte bewachten die Tür des Konferenzsaals. Die zwei sich gegenüberstehenden Tischreihen im schmucklosen Saal dahinter waren für die beiden Verhandlungsdelegationen vorbereitet und einige wenige Teilnehmer der weißen Delegation hatten daran schon Platz genommen. Sie blätterten in ihren Unterlagen wobei sie aber einen ziemlich nervösen Eindruck machten. Immerhin sollte die heutige Verhandlung zu einem endgültigen Ergebnis führen. Zumindest hatte die schwarze Seite darauf bestanden, endlich zu einem Abschluss zu kommen. Für die Weißen stand viel auf dem Spiel weil sie die jährliche Entschädigungssumme, die von den Schwarzen verlangt wurde, kaum noch aufbringen konnten. Und nun forderte die schwarze Seite sogar noch eine drastische Erhöhung. Wenn nicht, dann …
Was das bedeuten könnte, mochte sich von den Weißen noch niemand vorstellen. Es würde womöglich ihr Ende besiegeln.
Fast gleichzeitig betraten Gottlieb und Gottfried, die linker und rechter Stellvertreter von Allmächtiger dem Chef der Weißen waren, den Saal. Mit dicken Aktentaschen beladen suchten sie ihren Platz am Verhandlungstisch auf. Während ihre Delegation damit vollzählig war, fehlten auf der anderen Seite noch viele. Gottlieb rückte seinen Stuhl zurecht und verschaffte sich einen ersten Überblick, dann beugte er sich zu Gottfried.
„Ob tatsächlich alle wichtigen Schwarzen kommen?“
Gottfried verzog nur vielsagend den Mund.
„Wenn es heute abschließende Ergebnisse geben soll, müssten sich ja wohl kompetente Verhandlungspartner blicken lassen.“
Die offene Frage beantwortete sich im nächsten Augenblick aber schon von allein. Nur angeführt vom mittleren Management kamen die restlichen Delegationsmitglieder der Schwarzen fast tänzelnd im Gänsemarsch hereinspaziert, wobei sie angeberisch, wohl nur um zu zeigen dass sie der Zauberei mächtig waren, ihre Akten und Unterlagen vor sich herschweben ließen. Ihre grinsenden Gesichter zeigten deutlich an, wie sie sich in dieser Auseinandersetzung einschätzten, nämlich als die eindeutig Stärkeren. Leise tuschelnd und kichernd nahmen sie Platz um gleich darauf mit teils spöttischen, teils interessierten Blicken ihre Gegenüber zu mustern.
Es kam ja auch nicht so oft vor dass sich beide Seiten so nahe waren. Die Weißen dagegen erwiderten die Blicke nur flüchtig und signalisierten schon durch ihre Körpersprache: Tut uns nichts, und wenn doch, dann wenigstens nicht soviel.
Nachdem sich die Türen geschlossen hatten, erhob sich bei den Schwarzen ohne Umschweife Ichsachmaa, in dessen Fell sich schon etwas Grau zeigte. Er war der Älteste und damit auch der ranghöchste seiner Delegation. Mit knappen Worten begrüßte er die Anwesenden, um nach einem kurzen Abriss des bisherigen Verhandlungsstandes mit einer für die Weißen gefühlten Provokation zu enden.
„Auf alle Fälle sind wir die ewigen Kartoffeln Leid …endgültig. Und deshalb muss sich etwas ändern.“
Bestürzte Blicke der Weißen trafen sich ziemlich in der Mitte des Saals mit den übermütigen Blicken der anderen Seite. Schon seit Jahrhunderten bestand doch der Deal darin, den Schwarzen für ihr Schweigen Kartoffeln zu liefern. Und jetzt so was? Leichte Unruhe machte sich bei den Weißen breit, bis Gottfried das Wort ergriff.
„Aber ihr wart doch bisher immer so zufrieden damit …sie sind handlich …machen satt und überhaupt... mal was anderes als immer nur Kohlen.“
Ichsachmaa schüttelte unwirsch den Kopf.
„Bisher …bisher …die Zeiten ändern sich auch mal. Die Menschheit verfügt über soviel neue Dinge, da sollten w i r es nicht nur bei Kartoffeln belassen.“
Gottfried räusperte sich.
„Und an was habt ihr gedacht?“
Auf der schwarzen Seite stieg die Stimmung weil ihre Erwartungen sich auf den Weg machten in Erfüllung zu gehen.
Ichsachmaa verzog schmunzelnd den Mund.
„Nun ja …man hört immer wieder von Champagner und solchen Sachen …Kaviar, Hummer, Austern und so …“
Den Weißen verschlug es kollektiv die Sprache. Irritiert wechselten sie fragende Blicke, tuschelten untereinander und sahen immer mal wieder verstohlen zu dem Redner. Gehört hatten sie von solchen Dingen auch schon, wussten aber nichts Genaues darüber, nur dass sich gelangweilte dekadente Menschen gern mit diesen Dingen umgaben. Sollten man sich diese Provokation nun also gefallen lassen? Was waren denn das für Sprünge, von Kartoffeln zu Austern und Champagner?
„Aber Champagner …ist doch irgendwie …ähhh …größer und auch viel mehr wert als Kartoffeln.“
Ichsachmaa zuckte nur wortlos mit den Schultern ohne sein selbstgefälliges Grinsen abzustellen und deutete damit an, auf eine aussagekräftigere Antwort zu warten. Gottfried schluckte.
„Ihr habt doch aber damals selbst gesagt, dass gerade die F o r m der Kartoffel bestens dazu geeignet wäre …“, dabei bildete er mit Daumen und Zeigefinger einen nicht ganz runden Kreis, „…sie vor den Arbeitern eures Volkes zu Seelen von verstorbenen Menschen zu verklären.“
Das Grinsen des schwarzen Redners wurde noch breiter.
„Sie haben uns das ja auch geglaubt. Warum sollten Seelen denn aber nicht unterschiedlich geformt sein und auch mal die Größe von Champagner erreichen. Woher sollten denn die Arbeiter überhaupt wissen wie die Seelen aussehen?“
Gottfried und Gottlieb sahen sich an und berieten in einer kurzen, hektischen Flüsterrunde, während sie in ihrem „Buch der unbekannten Dinge“ nachschlugen. Jetzt erfuhren sie auch etwas mehr über Champagner und die Form seiner Verpackung. Mit neuen Argumenten bewaffnet versuchte Gottfried anschließend die Unverschämtheiten doch noch abzuwehren.
„Champagner gibt es aber nur in diesen harten Dingern …die F l a s c h e n heißen, und die kann man nicht so gut ins Fegefeuer werfen. Die dürfen auch nicht erhitzt, sondern müssen gekühlt werden. Was wollt ihr denn dann euren Arbeitern sagen?“
„Dann sollen sie sie eben in den Kühlschrank stellen, warmer Champagner soll ja sowieso nicht schmecken habe ich gehört. Und ewige Eiseskälte hört sich doch ähnlich schlimm an wie Fegefeuer. W i e und w a s wir unseren Arbeitern erzählen, darum macht ihr euch man keine Sorgen.“
Gottfried und Gottlieb berieten sich erneut im Flüsterton. Ihre Strategie kam ins Schlingern und sämtliche vorbereiteten Argumente waren plötzlich wie Seifenblasen zerplatzt. Auch von den restlichen Delegationsmitgliedern, die jetzt ihre Köpfe dazusteckten, kamen keine zündenden Ideen. Und so wie man bei einem angeschlagenen Boxer nachsetzt um ihm den endgültigen Knockout zu versetzen, meldete sich Ichsachmaa gleich wieder zu Wort.
„Eigentlich müsste euch das doch entgegen kommen. Ihr habt doch selber schon gejammert dass ihr nicht mehr soviel Kartoffeln besorgen könnt.“
Gottfried zog ein entschuldigendes Gesicht.
„Na ja die eine oder andere Missernte mehr kann man den Menschen schon vorgaukeln, aber ob und wo man bei ihnen Champagnerflaschen in d e n Mengen abzweigen kann …hmm …das weiß ich nicht.“
Ichsachmaa, der diese edlen Dinge ja nur vom Hörensagen kannte, guckte ehrlich verdutzt bevor er antwortete.
„Sind denn bei Champagnerflaschen keine Missernten möglich?“
Nun sahen sich die Weißen untereinander belustigt an und kicherten über die scheinbar etwas unterbelichteten Provinzler auf der anderen Seite des Tisches. Obwohl sie ja gerade selber erst aus dem „Buch der unbekannten Dinge" erfahren hatten, dass es sich bei Champagner um eine Flüssigkeit handelte, die in Flaschen aufbewahrt wurde.
Argwöhnisch registrierte Ichsachmaa diese Reaktion. Ausgelacht zu werden war für ihn schlimmer als über ein frisch gestrichenes Kruzifix zu stolpern. Auf seiner Stirn bildeten sich drei Zornesfalten, die den Weißen aber verborgen blieben. Vergnüglich lachten die immer noch ausgelassen, wobei sie sich vorstellten, wie Menschen auf Leitern stehend die Champagnerflaschen vom Baum pflückten, oder per Spaten aus der Erde wühlten. So hatten sie sich ja schon lange nicht mehr amüsiert.
Über das nicht enden wollende Gelächter wurde Ichsachmaa aber immer ungehaltener und bockig versuchte er eine andere Strategie.
„Ach …sollten wir vielleicht doch den Menschen einen Tipp geben, dass ihre Seelen gar nicht ins Fegefeuer kommen …und ihnen auch verraten, wohin ihre Kartoffeln verschwinden …und dass i h r es mit der Wahrheit nicht immer so ganz genau nehmt?“
Schlagartig war das Gelächter verstummt, und Ichsachmaa schrieb sich im Stillen auf seinem imaginären Kriegs-Konto einen weiteren Punkt gut. Gottfried wischte sich verlegen die letzte Lachträne aus dem Auge und wurde wieder Ernst.
„Natürlich sind wir an einer Einigung interessiert …nur eben diese Mengen?“
Ichsachmaa wurde wieder gelassener als er sah dass er genau an der richtigen Stelle angesetzt und nun einen Fuß in der Tür hatte.
„Wir können ja erst mal klein anfangen. Sagen wir mal …zu jedem Sack Kartoffeln gibt’s eine Kiste Champagner.“
Die Weißen bekamen große Augen und die Schwarzen neben Ichsachmaa rieben sich erwartungsvoll die haarigen Hände. Zwischen ihrem glucksenden Gekicher waren immer wieder Wortfetzen zu hören.
„Genau, zum nachspülen …das fetzt …endlich wird’s mal lustig …“
Gottfried, der die auf Antwort wartenden Blicke von Ichsachmaa auf sich gerichtet sah, knabberte auf seiner Unterlippe bevor er langsam mit dem Kopf schüttelte.
„Das schaffen wir nicht …das ist zuviel.“
„Z w e i Säcke und eine Kiste …“, kam Ichsachmaas verbessertes Angebot wie aus der Pistole geschossen.
Gottfried, der als Gewerkschafts-Mitglied in anderen Sphären lange der Tarikkommission angehört hatte, kannte dieses Prozedere aus vielen Verhandlungen nur zu gut. Er beugte sich zur Seite und beriet sich einen Moment flüsternd mit Gottlieb bevor er wieder zu Ichsachmaa sah. „Wir beantragen eine Beratungspause.“
Zufrieden über die verunsicherten Weißen nickte Ichsachmaa generös. Auch die anderen Schwarzen sahen die Verhandlung auf einem guten Weg. Während die weiße Delegation auszog um in einem der kleineren abhörsicheren Nebenräume über das Angebot zu beraten, wurde auf der anderen Seite eine Zigarettenpause ausgerufen. Die Stimmung bei den Schwarzen war gut, bestand doch die Aussicht, dass das Leben bald viel bunter würde. Kartoffeln waren ja nicht schlecht, aber irgendwann wurden eben auch die leckersten Aufläufe, mit Käse überbackenen Gratins, Folienkartoffeln oder sonst irgendwie kreativ angerichteten Kartoffelgerichte langweilig. Und da die Weißen ja offensichtlich seeehr an der weiteren Verschwiegenheit der Schwarzen interessiert waren, mussten sie eben auch umfassendere Zugeständnisse machen. Warum also sollte es nicht möglich sein, sich zu beiderseitiger Zufriedenheit zu einigen.
Bei den Weißen sah es dagegen eher düster aus. Einige waren dafür, diesen zwar unverschämten Forderungen trotzdem nachzugeben um wieder Ruhe einkehren zu lassen. Andere dagegen forderten, die Verhandlungen abzubrechen und es einfach drauf ankommen zu lassen um die schwarzen Erpresser ein für allemal loszuwerden. Auch auf die Gefahr hin, dass der Menschheit dann bekannt würde, dass statt der Seelen nur ihre Kartoffeln ins Fegefeuer wanderten.
„Aber wenn keine Strafen mehr drohen wird auch niemand mehr zu uns beten. Unsere jetzt schon immer kleiner werdende Schar der Anhänger wird weiter schrumpfen bis wir alle in Vergessenheit geraten. Niemand wird uns mehr brauchen …“
Der Schriftführer der Weißen hatte das mit besorgter Stimme vorgetragen. Bevor aber jemand antworten konnte, hob Gottfried die Hand und mahnte zur Stille. In seinem Kopf meldete sich die Stimme von Allmächtiger.
Alle Götter haben ja die Möglichkeit untereinander auch über sehr weite Entfernungen per DLMVHZH (Direkte lautlose Mitteilung von Hirn zu Hirn) zu kommunizieren. Diese Methode hatte mehrere Vorteile. Zum einen benötigte man keine Geräte, dessen Akkus in entscheidenden Momenten sowieso immer leer waren, und zum anderen brauchte niemand Angst vor ungebetenen Mithörern zu haben, da diese Übertragungstechnik mit Flüsterfaktor zwölf arbeitete. Wurde jedoch gewünscht, andere mithören zu lassen, konnte bei Empfang auch die Lautstärke geregelt werden. In diesem Fall funktionierten dann die Ohrmuscheln des Empfängers ähnlich wie der Schalltrichter beim Megaphon. Diese Funktion wählte Gottfried nun um alle Beteiligten an der Nachricht teilhaben zu lassen. Weil aber aus seinen Ohren auch Haare wuchsen, klangen Allmächtigers Worte wie durch dichtes Unterholz kletternde Mäuse, raschelnd und besorgt.
„Ich habe die Verhandlung mit angehört …nehmt die Bedingungen an, uns bleibt keine andere Wahl. Beendet das unwürdige Geschacher.“
Ein Knacken folgte, dann waren nur noch leise Schritte zu hören, die wohl von Gottfrieds Gedanken kamen, die im Gehirn wundernd auf- und abgingen. Eilig schaltete er den Außenempfang ab um sich bei seiner Verwirrung nicht zuhören zu lassen, sah dann aber gehorsam in die Runde.
„Ihr habt es gehört …es gibt nichts mehr zu beraten.“
Betroffenes Schweigen wurde von resigniertem Nicken begleitet. Zögerlich packten sie ihre Unterlagen zusammen und gingen mit dem bitteren Gefühl einer Niederlage in den Verhandlungssaal zurück. Gottfried versuchte zwar noch durch taktisches Geplänkel Zeit zu gewinnen und alles so erscheinen zu lassen, als würde man hart weiterverhandeln wollen, stimmte dann aber letztendlich den Forderungen zu.
Am Ende sah der neue Vertrag vor, dass erst einmal zehn Kisten Champagner geliefert und zur Probe verkostet werden sollten. Bei Gefallen würden anschließend im Jahr zweitausend Kisten fällig, wobei sich die Menge der Kartoffeln aber um fünf Prozent verringern würde. Vom darauffolgenden Jahr an kämen dann noch probeweise für ein Vierteljahr hundert Austern pro Monat dazu, die bei guter Verträglichkeit automatisch zum festen Vertragsbestandteil werden sollten.
Während die Schwarzen auf einer kurzen Dauer des Vertrages bestanden, um dann bald wieder neue, noch höhere Forderungen stellen zu können, gelang es den Weißen aber die Laufzeit, und damit die Dauer des weiteren Schweigens, auf erst einmal beruhigende neunundneunzig Jahre festzuschreiben.
*
Pastor Fromm Binnichs Kopf ruckte hoch. Er war an seinem Tisch wohl ein bisschen eingenickt und durch das anschwellende Stimmengewirr vor seiner Tür aufgeschreckt. Für einen Moment wusste er gar nicht wo er war. Auf dem Flur näherten sich Schritte. Erst als er auf der schäbigen Tischplatte vor sich die halbvolle Flasche Weißwein stehen sah, kehrte die Erinnerung zurück. Das leere Glas hielt er sogar noch in der Hand.
Weil heute sein Geburtstag war, alle anderen aber noch arbeiten mussten, hatte er schon mal allein mit der Feier begonnen. Das hatte er nämlich schon öfter gemacht. Obwohl er noch keine Fünfzig war, hatte er schon hundertemale seinen Geburtstag gefeiert. Denn während andere Menschen an einem sechsten, elften oder auch neunzehnten des jeweiligen Monats Geburtstag haben, war Binnich an einem Mittwoch geboren und kam nach dieser eigenwilligen Zeitrechnung auf ziemlich zweiundfünfzig Geburtstage pro Jahr. Irgendwie musste er sich ja auch trösten, denn seine Karriere als Geistlicher hatte er sich ganz anders vorgestellt.
Wegen eines billigen Formfehlers wurde er schon nach wenigen Wochen wieder aus dem Kirchendienst entfernt, nur weil er sich während seines ersten selbstgestalteten Gottesdienstes zusammen mit jedem Abendmahlsteilnehmer auch einen ordentlichen Schluck Wein gegönnt hatte. Na gut, danach konnte der Gottesdienst nicht mehr fortgesetzt werden weil er während der anschließenden Predigt von der Kanzel gefallen war, die große Kerze umgerissen und damit seinen Kittel und den Altar in Brand gesetzt hatte. Aber hat denn nicht jeder mal klein angefangen?
Nun war er hier für die Arbeiter auf der Bohrplattform als Seelsorger eingesetzt, was ihn aber auch nicht recht befriedigte. Eigentlich hatte er ja beschlossen, sich selbstständig zu machen und eine eigene Religion zu gründen. Schon seit langem schrieb er deshalb in jeder freien Minute an einer eigenen Bibel, was ihm zuerst auch leicht von der Hand ging. Doch als er bereits mehrere Seiten fertig hatte, tauchten plötzlich unerwartete Probleme auf und er kam nicht recht weiter. Nach großem Vorbild wollte er nämlich ebenfalls zehn Gebote zur Kernaussage seiner Religion machen, hing aber noch immer beim ersten Gebot fest, das bisher lautete: „Du sollst nicht…“ Egal wie er sich auch sein Denkorgan zermarterte, es fiel ihm wochenlang nichts ein was man nicht sollte.
Zu dem in seinem Hirn immer wieder hartnäckig auftauchenden Vorschlag „Ihr sollt keine Reichtümer anstreben. Falls ihr aber doch zu etwas kommt, könnt ihr es ja bei mir abgeben“ konnte er sich jedenfalls nicht durchringen, weil ihm das doch etwas zu plump und vordergründig erschien. Trotzdem hielt er die Grundidee für ausbaufähig, dass bei Befolgung dieser Gebote durch die noch zu findenden neuen Gläubigen sein persönliches Auskommen gewährleistet wäre. Über all diese Grübeleien hatte er dann aber schon wieder Geburtstag und die Arbeit stockte erneut.
Mit einem Ruck flog jetzt die Tür auf und zwei der Arbeiter guckten herein.
„Wir haben einen Toten zu beklagen, Herr Pastor, wenn sie mal kommen könnten …“
Solche Momente mochte Binnich ganz und gar nicht. Gerade saß man noch gemütlich da, und sollte schon im nächsten Augenblick einem Dahingeschiedenen mit blumigen Worten den Weg in die Ewigkeit bahnen und auch den Zurückgebliebenen noch Trost spenden. Leise seufzend erhob er sich nickend. Er wartete ab, bis die Arbeiter wieder gegangen waren um noch schnell einen doppelten Pfefferminzschnaps hinunterzukippen, wegen des frischeren Atems. Dann warf er sich seinen gefütterten Talar für Außeneinsätze über und machte sich auf den Weg hinaus in die Kälte.
Am Rand der Bohrplattform herrschte Betroffenheit. Wasserschlieren schlängelten sich über den Taucheranzug des aufgebahrten Billbo und tropften in regelmäßigen Abständen in die kleine Pfütze die sich unter ihm gebildet hatte. Die gesamte Besatzung der Bohrinsel stand stumm um den leblosen Körper versammelt. Mit dem Schlimmsten rechnend, hatte man, nachdem Billbo selbst nach einer Stunde nicht wieder nach oben kam, einen Tauchroboter hinabgelassen um nach dem Vermissten zu suchen. Der tauchte schließlich in das Bohrloch hinab und lieferte den Männern auf der Plattform schon bald über die installierte Kamera Bilder vom am Boden verdreht daliegenden reglosen Körper des Gesuchten. Nachdem sich der Roboter vorschriftsmäßig bekreuzigt hatte, hakte er sich am Gürtel des Gefundenen ein und tauchte zusammen mit dem schlaffen Bündel wieder auf. Hier konnte dann aber auch nur noch der Tod festgestellt werden.
Obwohl Billbo sich anderen gegenüber manchmal ziemlich kauzig gezeigt hatte, war er doch bei der Mannschaft sehr beliebt. Keiner konnte es richtig fassen. Gerade hatten sie noch über ihn gefeixt und nun sollte er tot sein? Alle waren betreten, auch Sell Berdohf, der Chef des Unternehmens.
„Der arme Kerl …“, versuchte er sich an einer kleinen Trauerrede, „…er hatte doch noch nicht mal hundert Betriebsstunden auf dem Buckel.“
Auf die verwirrten, fragenden Blicke der Arbeiter reagierte er mit einem verlegenen Räuspern und merkte erst jetzt, dass seine Trauer vielmehr dem verschwundenen Bohrer als dem Verunglückten galt. Tatsächlich hatte er sich gewünscht, der Tauchroboter hätte statt des leblosen Billbos, mit dem man ja nun so direkt nichts mehr anfangen konnte, lieber den Bohrer mit heraufgebracht. Mit dem hätte die Arbeit nun weitergehen können. Ein Toter hingegen erforderte umfangreiche Trauerrituale, die sämtliche Arbeiten erst recht noch weiter verzögerten.
Zum Glück kam in diesem peinlichen Moment Pastor Binnich auf das Deck. Mit vor der Brust verschränkten Armen trat er mit würdevollen Schritten vor den Aufgebahrten und murmelte gesenkten Hauptes unverständliche Worte. Unverständlich waren sie deshalb, weil er sie absichtlich vernuschelte und es sonst aufgefallen wäre, dass er die offiziellen Floskeln für solche Momente vergessen hatte. Die Arbeiter fielen mit gefalteten Händen in das Gemurmel ein, blieben aber ebenso undeutlich, weil auch sie keine Ahnung hatten was man in solchen Momenten sagen sollte. Andererseits wollte sich aber auch niemand als herzloser Banause outen, und so schloss sich einer nach dem anderen mit gesenktem Kopf dem Gemeinschaftsgemurmel an.
Binnich der das dumpfe, anschwellende Pseudogebet mit misstrauischen Seitenblicken unter den Augenbrauen hervor beobachtete, fragte sich zweifelnd, ob die Arbeiter mehr wussten als er. Grübelnd überlegte er deshalb wann und wie er diese Situation beenden könnte. Er wollte die tief ins Gebet versunkenen Arbeiter natürlich nicht unterbrechen und nuschelte deshalb einfach weiter. Die Arbeiter fragten sich allerdings insgeheim ebenfalls, wann wohl das Gebet des Pastors beendet sei und sie selbst wieder aufhören könnten. Immer mehr verstohlene Blicke wanderten so in der Runde herum, trafen sich mit anderen und huschten, ertappt, eilig wieder davon. Selbst der Wind kam gegen das kollektive Gemurmel nicht mehr an.
So hätte die akustische Gebetsattrappe wohl bis zum nächsten Winter angehalten wenn Binnich nicht eine Idee gekommen wäre. Für seine neue Religion hatte er sich ja auch schon einige Rituale und Zeremonien ausgedacht, wie etwa die Taufzeremonie. Dabei müsste der Täufling künftig bis zu seiner Volljährigkeit warten und bekäme das Weihwasser dann nicht mehr auf den Kopf geträufelt, sondern in einem Glas serviert, um sich die Religion sozusagen wahrhaftig einzuverleiben. Das Weihwasser könnte dabei dann auch wahlweise durch schärfere Getränke ersetzt werden.
Durch solch innovative Ideen erhoffte sich Binnich regen Zulauf für seine neue Religion. Dummerweise hatte er sich zu Beerdigungen aber bisher nur lockere Gedanken gemacht und musste nun für den Moment improvisieren. Irgendetwas körperlich Theatralisches mit erhobenen Händen schwebte ihm vor. So wollte er die gespenstisch anmutende Murmelrunde erst einmal beenden.
„…sei es wie es sei …so sprach der Herr …nun ist es gut.“, sagte er jetzt laut und deutlich, wobei er die Arme zum Himmel streckte. Das Gemurmel der Arbeiter verstummte daraufhin und vereinzelte erleichterte Seufzer waren zu hören. Binnich trat nun dicht vor den Aufgebahrten. Um sich auf alle Fälle von den bekannten kirchlichen Ritualen abzusetzen, nahm er beide Hände zu einer großen Faust zusammen, bewegte sie über dem leblosen Körper im Kreis und gab dazu herzzerreißende Klagelaute ab.
Für außen stehende sah es so aus, als würde ein Koch der sich gerade die Finger verbrannt hat trotzdem tapfer weiter im Suppentopf rühren. Irritiert über diese ungewohnte Performance sahen ihm die Arbeiter dabei zu. Binnich merkte sofort, dass diese Trauer-Zeremonie nicht besonders ankam und wechselte zu einer anderen Variante. Seine Rührbewegungen brach er ab und versuchte mit strengem Tonfall das aufgekommene leise Gekicher zu unterbinden.
„Denn höret, so sprach der Herr …ich habe es gegeben …aber nun will ich es auch wiederhaben.“
Das Kichern war zwar verstummt, die irritierten Blicke blieben jedoch. Als wollte er dem Toten seinen Segen erteilen streckte er beide Arme über ihm aus und verlieh seiner Stimme einen feierlichen Klang.
„Denn jeder Mensch, der lebt, der muss … auch einmal gehen, dann ist Schluss…“
Das sofort wieder einsetzende leise Gekicher versuchte Binnich zu unterbinden indem er lauter fortfuhr.
„Drum Herr erbarme dich und schau …nimm zu dir diese arme …äääh …Seele.“
Im letzten Moment hatte er noch die Kurve gekriegt. Einfach so aus dem Stegreif zu moderieren war wohl doch etwas zu gewagt und er hatte nun alle Mühe die langsam ausufernde Stimmung wieder einzufangen. Einige der Arbeiter grinsten ihn offen an, andere versuchten mehr oder weniger erfolgreich ihre Lachanfälle zu unterdrücken. Um der Trauerfeier ihre Würde zurückzugeben entschied sich Binnich für ein ziemlich barsches „Amen“. Weil die Unruhe sich aber auch danach nicht restlos legte, setze er im Kasernenhofton nach. „Aaaamen habe ich gesagt…“
Die Arbeiter zuckten zusammen und antworteten ebenfalls mit einem braven „Amen“. Noch einen Moment guckte Binnich tadelnd in die Runde der jetzt wieder mit demütig gesenkten Köpfen dastehenden Trauergemeinde und beschloss dabei die feierliche Handlung doch erst noch einmal auf herkömmliche Weise abzuschließen. Gänzlich neue Zeremonien müssten anscheinend besser durchdacht und genauer vorbereitet werden. Er bekreuzigte sich, segnete die Anwesenden und lud dann zu einem besinnlichen Gedenken in den Gemeinschaftsraum. Mit wehendem Talar eilte er zurück in seine Unterkunft.
*
Billbo knipste mit den Augen, aber die beiden schwarzen Gesellen verschwanden nicht. Im Gegenteil, sie guckten und verhielten sich so, als wenn sie genau dorthin gehörten wo sie momentan standen. Und tatsächlich hatten sie ja auch recht. Obwohl er nicht mit Absicht hierher gekommen war, musste er sich doch eingestehen, dass er hier der Eindringling war. Die Schwarzen tuschelten und schienen sich auch nicht so recht wohlzufühlen. Billbo sah sich derweilen verstohlen um, ließ dafür aber vorsichtshalber nur seine Pupillen in den Augenhöhlen herumwandern. Sein Körper stand bewegungslos da und wunderte sich. Wohin sie hier geraten waren konnte sich keine der Milliarden Billbo-Zellen erklären, zumal sie sich auch fühlten, als wären sie nur noch eine Kopie ihrer selbst. Mitten in das Wundern hinein raschelte es in seinem Kopf und er hörte jemand sprechen. Eine tiefe ruhige Stimme summte ihm durch den Kopf und schien nicht nur durch Überreichweiten irrtümlich empfangener Funkverkehr zu sein, sondern sich genau an ihn zu richten.
„Hallo …leider habe ich mich etwas verspätet und kann dich erst jetzt begrüßen. Willkommen, ich bin dein Router der dir auf deinen neuen Wegen behilflich sein wird. Wenn du Fragen hast, kannst du …“
Mit einem unwirschen „Schttt“ versuchte Billbo die Stimme zu vertreiben oder wenigstens zum Schweigen zu bringen. Mit seiner inneren Stimme, die so ähnlich wie die Stummschaltung am Telefon funktionierte und für Außenstehende nicht zu hören war, antwortete er dem ungebetenen Redner unwirsch.
„Ich habe niemanden um Hilfe gebeten …und außerdem ist das m e i n Kopf.“
Die Stimme wollte wohl gerade antworten, was Billbo anhand der eingeatmeten Luft hörte, wurde aber sofort von ihm unterbrochen.
„Ich denke ich war deutlich genug …ich brauche keine Stimmen in meinem Kopf, die verwirren nur. Wenn du jetzt also gehen würdest …danke.“
Ein kurzes Geräusch das sich wie ein „Tss“ anhörte huschte noch durch seinen Kopf, dann entfernten sich Schritte, eine Tür klappte und es herrschte wieder Stille.
Die Schwarzen hatten ihn die ganze Zeit über beäugt. Das „Scht“ hatte sie zwar kurz erschreckt, wurde dann aber als Betriebsgeräusch, wie etwa die arbeitenden Druckluftbremsen beim LKW, abgetan. Und weil er sich die ganze Zeit nicht geregt hatte, gingen sie jetzt neugierig einige Schritte auf den Erschienenen zu. Geetnich fand als erster die Sprache wieder. Zwar nur flüsternd aber immerhin mit ordentlich aneinander gereihten Worten wendete er sich an Machmanix. „Soll das einer von uns sein?“
Machmanix zog ein zweifelndes Gesicht und antwortete im ebenso leisen Flüsterton.
„Die Farbe stimmt ja, aber …sein Fell ist so glatt.“
Vorsichtig deutete er dann auf die im Gürtel steckenden Blitze.
„Und jede Menge Orden scheint er auch zu haben.“
Weil sich Billbo noch immer nicht von der Stelle rührte und wie eine Wachsfigur dastand, wurden beide mutiger und kamen näher. Geetnich, der todesmutig einen gaaaanz langen Arm machte um dann mit einem Finger über Billbos noch glänzenden Taucheranzug zu streichen, nickte zustimmend.
„Tatsächlich …nicht ein einziges Haar.“
Machmanix fuhr plötzlich der Schreck in die Glieder. Er packte Geetnich am Arm und zog ihn einige Schritte mit zurück. Der sah seinen Kollegen fragend an und versuchte sich zu befreien. Vor dem reglos glänzenden Schwärzling hatte er keine Angst mehr und wollte ihn näher untersuchen. Machmanix hielt ihn aber umso fester am Arm zurück, wobei er ihm ehrfürchtig zuflüsterte. „Womöglich ist e r das …“
Auch Geetnich zog diese Möglichkeit jetzt in Betracht und jeglicher forsche Entdeckertrieb fiel von ihm ab. Wie zwei ängstliche Kinder hielten sie sich nun an den Händen während ihnen hektische Gedanken durch den Kopf jagten. Sollte ihnen hier tatsächlich das Oberhaupt aller Schwarzen erschienen sein? Der, den alle nur vom Hörensagen oder aber aus dem Buch der Prophezeiungen kannten. Wollte er sie prüfen? Sollten sie sich glücklich schätzen oder doch eher ängstigen? Waren sie womöglich Auserwählte und ahnten es nicht? Machmanix sank auf die Knie und zog Geetnich mit hinunter. Etwas Unterwürfigkeit könnte ja vielleicht nicht schaden. Wer weiß wofür es gut war…..
Ab sofort ist die ganze Story als e-Book und Print-Ausgabe bei Amazon und Co. unter dem Titel HÖLLE VS HIMMEL erhältlich
Texte: reiner nawrot
Bildmaterialien: reiner nawrot
Cover: reiner nawrot
Tag der Veröffentlichung: 27.02.2018
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