Neunuhrzwanzig
Fachübergreifend hatten sich zum ersten mal Wissenschaftler aller Richtungen zu einem Kongress versammelt, um zu versuchen, in neuen Kooperationen bisher ungelöste Probleme der Wissenschaft zu lösen. Physiker und Chemiker, Biologen und Astrophysiker, Atomexperten sowie eine religiöse Ethik-Kommission und noch allerhand Nischenforscher hatten sich im großen Kuppelsaal von Timbuktu versammelt. Jeder einzelne hatte sich verpflichtet, unvoreingenommen den Konkurrenten und Mitgliedern anderer Bereiche zuzuhören, deren Erkenntnisse ernsthaft zu prüfen und anzuerkennen, auch wenn die eigenen Ergebnisse dadurch eventuell revidiert werden müssten. Alle hofften, so die schon lange gesuchte Weltformel zu finden, die alles erklären würde.
Leider waren aber auch nach dem dritten Tag noch keinerlei greifbare Ergebnisse zu erkennen. Erst zu Beginn des vierten Tages kam es zu einem denkwürdigen Ereignis. Gerade hatten sich wieder alle sechsundzwanzigtausendvierhundertachtundsiebzig Teilnehmer nach dem Frühstück im Plenum versammelt, als ein gleißendes Licht den Saal erfüllte. Anweisungen an den Hausmeister, er solle die Beleuchtung dimmen, blieben erfolglos, weil der behauptete, überhaupt kein Licht eingeschaltet zu haben. Das grelle Licht schien von irgendwo oben aus der Kuppel zu kommen. Als sich unter den Wissenschaftlern langsam Nervosität ausbreitete, ertönte eine tiefe, ruheausstrahlende Stimme, die aber nicht aus den Lautsprechern kam, zumal auch niemand am Rednerpult stand. Verwundert die einen, verängstigt die anderen, lauschten sie mehr oder weniger fasziniert der mysteriösen Stimme aus dem Nichts.
„Fürchtet euch nicht…ich bins…“, begann sie, stellte sich dann aber auch nicht weiter vor. In der etwa zweiminütigen Rede versprach sie, den Anwesenden zu helfen und ihnen eine Frage, egal welche und aus welchem Bereich, restlos und umfassend zu beantworten. Alle Anwesenden müssten sich allerdings auf diese eine Frage einigen können und hätten dazu vierundzwanzig Stunden Zeit. Das helle Licht verlosch und ließ die mit großen Augen dasitzenden Wissenschaftler zurück. Sekundenlang herrschte Stille, dann begann ein hektisches Geschnatter. Viele glaubten an einen makaberen Scherz, andere begriffen das Angebot als Chance während sich die religiösen Teilnehmer pausenlos bekreuzigten. Erst gegen Abend waren alle bereit, das Angebot als ernsthaft zu akzeptieren. Allerdings ging nun der Streit darüber los, auf welche Frage man sich einigen sollte. Die direkte Frage nach der Weltformel war vielen zu abstrakt. Sie fürchteten, Teile davon immer noch nicht verstehen zu können. Andere schlugen vor, eine detailliertere Frage, etwa zur Überwindung von Hungersnöten oder der Vermeidung von Kriegen zu stellen. So wurde die ganze Nacht in Arbeitsgruppen und Diskutierzirkeln darüber beraten, welche Frage denn wohl die wichtigste für die gesamte Menschheit sein könnte. Gegen Morgen, es dämmert schon, schien sich die Mehrheit auf eine Frage geeinigt zu haben, und zwar: Die Frage nach dem Sinn des Lebens.
Der Vorsitzende wurde schließlich damit beauftragt, diese Frage vorzutragen. Übermüdet und abgekämpft erwarteten nun alle das Licht. Tatsächlich tauchte das auch nach genau vierundzwanzig Stunden den Saal wieder in gleißende Helligkeit und die Stimme erkundigte sich: „Nun, für welche Frage habt ihr euch entschieden?“
Während sich der Vorsitzende noch würdevoll erhob um die Frage zu formulieren, wandte sich ein Teilnehmer in der ersten Reihe, zwar flüsternd aber wohl doch etwas zu laut, an seinen Nachbarn: „Wie spät ist es eigentlich…?“
„Neunuhrzwanzig…“, antwortete die Stimme und das Licht erlosch.
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Tag der Veröffentlichung: 14.07.2011
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