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Der Weg zu Onkel Montagues Haus führte durch einen kleinen Wald. Wie eine Schlange, die sich im Unterholz versteckt, wand sich der schmale Pfad durch die Bäume, und obwohl es nicht sehr weit war und der Wald auch nicht besonders groß, schien mir dieser Teil des Weges doch immer unendlich lang.
Ich hatte mir angewöhnt, in den Schulferien meinen Onkel zu besuchen. Ich war ein Einzelkind, und meine Eltern wussten mit Kindern nicht viel anzufangen. Mein Vater versuchte sein Bestes, legte mir hier und da die Hand auf die Schulter und beugte sich zu mir herunter, um mir etwas zu zeigen, doch als er nicht mehr wusste, was er mir zeigen sollte, wurde er seltsam melancholisch, verließ das Haus und zog stundenlang alleine auf die Jagd. Meine Mutter, die von sehr nervöser Natur war, konnte sich in meiner Gegenwart nicht eine Minute entspannen. Jedes Mal, wenn ich mich bewegte, sprang sie mit einem kleinen Schrei auf und wischte alles ab, was ich auch nur berührt hatte.
»Was für ein komischer Kauz«, sagte mein Vater eines Morgens beim Frühstück.
»Wer?«, fragte meine Mutter.
»Onkel Montague«, antwortete er.
»Ja«, stimmte sie ihm zu. »Was macht ihr beide eigentlich den ganzen Nachmittag, wenn du ihn besuchst, Edgar?«
»Er erzählt mir Geschichten«, sagte ich.
»Du lieber Gott«, sagte mein Vater. »Geschichten, sagst du? Ich kenn da auch eine Geschichte.«
»Ja, Vater?«, fragte ich gespannt.
Mein Vater zog die Stirn in Falten und sah auf seinen Teller.
»Nein«, sagte er. »Ich hab sie vergessen.«
»Mach dir nichts draus«, sagte meine Mutter. »Sie war bestimmt ganz wunderbar.«
»Oh ja, das war sie«, sagte er und lachte vor sich hin. »Wirklich ganz wunderbar.«
Onkel Montague lebte in einem Haus nicht weit von unserem entfernt. Genau genommen war er nicht mein Onkel, sondern eher eine Art Groß- oder Urgroßonkel. Aber da sich meine Eltern nie darauf einigen konnten, wie viele »Urs« es denn nun waren, beschloss ich, ihn einfach »Onkel« zu nennen.
Ich kann mich nicht erinnern, dass die Bäume in dem Wald zwischen unseren Häusern je Laub getragen haben. In meiner Erinnerung herrschten auf dem Weg immer Eis und Schnee, und die einzigen Blätter, die ich zu sehen bekam, verwesten auf dem Waldboden. Am Ende des Waldes stand eine Mauer mit einem kleinen Schwingtor. Eines dieser Gatter, das immer nur eine Person durchlässt und bei dem ein besonderer Klappmechanismus dafür sorgt, dass keine Schafe entweichen können. Ich weiß allerdings nicht, warum der Wald oder die dahinter liegende Weide ein solches Tor benötigten, denn ich habe nie Tiere darauf gesehen und auch sonst nirgendwo auf dem Anwesen meines Onkels, zumindest keine, die man als Nutztiere bezeichnen konnte.
Ich mochte das Schwingtor nicht besonders. Die Feder bewegte sich nur schwer, mein Onkel ließ sie offensichtlich nicht besonders oft ölen, und es verging kein einziges Mal, ohne dass mich eine seltsame Furcht überkommen hätte, darin festzustecken. In diesem merkwürdigen Zustand hatte ich immer das Gefühl, verfolgt zu werden.
Natürlich hatte ich das knarrende Tor im Nu geöffnet, schob mich schnell hindurch und warf jenseits der niedrigen Mauer (durch die ich gerade gekommen war) jedes Mal einen erleichterten Blick zurück auf den Wald, der sich nicht verändert hatte. Auf der Weide drehte ich mich, kindlich wie ich war, noch einmal neugierig um, wahrscheinlich aber eher furchtsam, ob ich nicht doch jemanden – oder etwas – hinter mir entdeckte. Das tat ich aber nie. Und doch war ich auf dem Weg nicht immer allein.
Wenn ich die Pforte hinter mir schloss, blickte ich noch einmal zurück. Mein Elternhaus war nun ganz hinter dem Wald verschwunden, und auch sonst schien es mir in der merkwürdigen Stille des Ortes, als gäbe es für Meilen ringsum nicht eine lebende Seele.
Auf dem Weg durch den Vorgarten zur Haustür meines Onkels musste ich an einer Gruppe von Büschen vorbei, mächtigen Eiben, die früher einmal kunstvoll in Kegel- und Vogelform gestutzt worden waren, doch lag dies bereits Jahre zurück. Jetzt standen die wild wuchernden Büsche bedrohlich vor dem Haus, und ich glaubte in den verzer- rten Formen Klauen und Fledermausflügel oder gar ein dunkles Auge zu sehen.
Ich wusste natürlich, dass es nur Büsche waren, doch offen gestanden beeilte ich mich auf dem Weg durch den Garten immer sehr und sah mich auch nie mehr um, nachdem ich den großen Türklopfer betätigt hatte, einen Ring aus mattem, ungeputztem Messing, der, wie ich erwähnen möchte, einem höchst seltsamen Wesen aus dem Maul hing, dessen Gesichtszüge verwirrend zwischen Löwe und Mensch changierten.
Nach einer, wie mir schien, unendlich langen Zeit – meist wollte ich den Türklopfer noch einmal anheben – wurde die Tür geöffnet, und Onkel Montague stand im Flur, wie immer hielt er eine Kerze in der Hand, lächelte mich an und bat mich einzutreten.
»Steh nicht da draußen in der Kälte, Edgar«, sagte er.
»Komm herein, Junge. Komm herein.«
Erleichtert trat ich in den Flur, doch was die Kälte anging, war kaum ein Unterschied zwischen Garten und Haus zu spüren. Wenn überhaupt, schien mir der Garten sogar noch wärmer, denn ehrlich gesagt, war mir in meinem ganzen Leben in keinem Gebäude je so kalt wie im Haus meines Onkels, und ich könnte schwören, einmal sah ich sogar Eiskristalle auf dem Treppengeländer glitzern.
Mein Onkel ging durch den langen steingefliesten Flur voraus, und ich blieb dicht hinter ihm und der flackernden Kerze. Obwohl es meinem Onkel offensichtlich nicht an Geld fehlte, gehörte es zu seinen vielen Exzentrizitäten, dass er sich nicht für elektrisches Licht begeistern konnte – ja, nicht einmal für Gas. Neben ein oder zwei Petroleum- lampen benutzte er im Haus ausschließlich Kerzenlicht, und das auch noch ziemlich spärlich. Der Weg in sein Arbeitszimmer war für mich immer leicht beunruhigend, denn auch wenn ich im Haus meines Onkels war und mir sicher nichts passieren konnte, mochte ich doch nicht im Dunkeln allein gelassen werden und beeilte mich immer sehr, mit ihm und dem Licht Schritt zu halten.
Genau genommen vergrößerte das Kerzenlicht sogar noch meine Angst, während ich meinem Onkel durch das zugige Haus folgte. Die flackernde Flamme warf alle möglichen grotesken Schatten an die Wand, die tanzend hin und her sprangen und beunruhigend lebendig aussahen. Sie hasteten über die Wände, versteckten sich unter Möbeln oder huschten zur Decke hinauf, wo sie sich in die Ecken kauerten.
Nachdem wir länger gegangen waren, als mir bei der Größe des Hauses von außen betrachtet möglich schien, erreichten wir das Arbeitszimmer meines Onkels: ein großes Zimmer, ringsum mit Regalen versehen, auf denen Bücher und vielerlei Erinnerungsstücke von den Reisen des alten Mannes standen. Die Wände waren mit Drucken und Gemälden bedeckt, und vor den bleiverglasten Fenstern hingen schwere Vorhänge. Auch wenn es draußen erst Nachmittag war – das Arbeitszimmer war lichtlos wie eine Höhle. Auf dem Boden lag ein schwerer Perserteppich, der vornehmlich in leuchtendem Rot, der Farbe der Wände und Damastvorhänge, gehalten war. Ein großes Feuer brannte im Kamin und brachte das Rot zum Leuchten, das im Rhythmus der Flammen zu pulsieren schien, als wäre das Zimmer das schlagende Herz des Hauses.
Es war der einzige Ort im Haus, den ich als gemütlich bezeichnen würde, auch wenn ich anmerken muss, dass es der einzige Raum war (von der Toilette einmal abgesehen), in dem ich mich je aufgehalten hatte, und das, obwohl ich schon viele Male im Haus meines Onkels zu Besuch gewesen war.
Das mag vielleicht merkwürdig klingen, aber damals dachte ich nicht weiter darüber nach. Die Treffen mit Onkel Montague waren weniger familiär als vielmehr eine Art Geschäftstreffen. Mein Onkel und ich mochten uns auf unsere Art, aber wir beide wussten, was mich wirklich zu ihm führte: mein Hunger nach Geschichten.
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Texte: Berlin Verlag
ISBN: 978-3827053718
Tag der Veröffentlichung: 29.06.2010
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