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Nasrin Siege:
Die Piraten von Libertalia

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Für Jugendliche ab 14 Jahren.


Zur Autorin:

Nasrin Siege, geboren in Teheran, ist die Autorin zahlreicher Afrika-Jugendbücher und Sammlerin afrikanischer Märchen. Im Alter von neun Jahren zof sie mit ihren Eltern nach Deutschland, wo sie später Psychologie studierte und als Psychotherapeutin arbeitete. Mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern lebte sie viele Jahre in Sambia, Tansania und Madagaskar. Gerade ist sie mit ihrem Mann nach Äthiopien gezogen. Neben dem Schreiben arbeitet Nasrin Siege als Entwicklungshelferin in Kinderhilfsprojekten, die sie mit dem von ihr gegründeten Verein "Hilfe für Afrika e.V." finanziell unterstützt.


Leseprobe:



Draußen liegen unsere großen Dreimaster, die Victoire und die Bijoux, die nicht nur durch den Sturm und das letzte Seegefecht, sondern auch durch die lange Fahrt gelitten haben und dringend Reparaturen benötigen. Auf dem Rumpf der Schiffe hat sich eine dicke Schicht von Algen und Muscheln festgesetzt, die wir in stundenlanger Arbeit abschaben, während der Schreiner die beschädigten Planken gegen neues Holz austauscht, das er unter Deck der Victoire gelagert hatte. Der Segelmacher ist seit Tagen mit dem Flicken der Segel beschäftigt, und der Kalfaterer versiegelt die Fugen zwischen den Planken mit Teer. Schichtweise rudert die Mannschaft von der Insel Anjouan hinüber und fasst mit an. Abends jedoch legen wir unser Handwerkszeug zur Seite, setzen uns an den Strand um das Feuer, trinken Rum, singen, tanzen, grillen Fische und Krebse und essen diese zusammen mit dem reichlichen Essen, das uns die Dorffrauen bringen.

Als uns vor fünf Tagen die ersten Anjouani mit ihren kleinen Auslegerboten entgegenkamen, sahen wir, dass sie uns nicht feindlich gesinnt waren, denn sie hatten Frauen und Kinder dabei, die fröhlich winkten und uns mit den Worten „good morning“, „welcome“ und „how are you?“ begrüßten. Die Engländer hatten also nicht übertrieben. Die Menschen hier waren nicht nur freundlich, sondern konnten auch wirklich etwas Englisch sprechen.
An Land erwartete uns eine große Menschenmenge. Ein älterer Mann, bekleidet mit einem langen Umhang, kam lächelnd auf unsere Kapitäne zu, und nach einem kurzen Gespräch wurden wir alle zum Palast der Königin geleitet. Während Misson, Caraccioli und die anderen Ratsmitglieder im Schloss speisten, wurden wir draußen in der großen Gartenanlage bei Musik und Tanz bewirtet.
So verging unser erster Tag in Anjouan. Wir wurden mit Herzlichkeit aufgenommen, und fast schien es uns, als hätten die Menschen hier uns erwartet.

Anjouan ist eine schöne Insel. Am Fuße von grünen Hügeln und in tiefen Tälern liegen kleine Dörfer, Felder und See, die von Bächen mit frischem Wasser gespeist werden. Der Wald ist dicht, und an manchen Stellen setzen wir unseren Weg auf allen vieren kriechend fort. Schon nach kurzer Zeit haben wir festgestellt, dass es hier keine großen Wildtiere gibt. Tim hat Angst vor giftigen Schlangen. Doch während unseres gesamten Aufenthalts haben wir keine einzige gesehen. Dafür wimmelt es hier von winzigen bunten Vögeln, die laut zwitschernd von Ast zu Ast flattern.
Die Anjouani sind freundlich zu uns. Wenn wir auf unseren Erkundungsgängen an einem Dorf vorbeikommen, bekommen Chola, Msafiri, Tim, Frederick und ich von ihnen zu essen und zu trinken.
Ein bisschen erinnern mich die Menschen hier an meine Leute. Auch bei uns im Safwaland war es Brauch, fremde Besucher aufzunehmen und mit ihnen das Mahl zu teilen. Wir fühlten uns sicher, denn Inoro, der Opferstein der Ahnen, beschützte uns vor unseren Feinden.
Die Anjouani sehen jedoch anders aus. Sie sind im Gegensatz zu uns kleiner, zierlicher gebaut, und sie haben eine hellere Haut. Ihre Frauen haben lange schwarze Haare, die sie entweder offen oder zu langen Zöpfen gebunden tragen.
Unsere Streifzüge auf der Insel erinnern mich an das Jahr, in dem ich mit Mandaka und den anderen Jungen meines Alters, weit weg von unseren Dörfern und Müttern, lernen musste, im Wald von Wild, Früchten und Blättern zu leben. Das sind schöne Erinnerungen.
Dann wieder will ich mich nicht erinnern, wünsche mir, dass ich das Vergangene nur geträumt habe. Doch wenn ich das große Feuer am Strand sehe, die sich fröhlich darumlagernden Männer, die inzwischen so etwas wie eine Familie für mich geworden sind, und Tim, der langsam auf mich zukommt, weiß ich, dass das alles so wirklich ist wie die Bilder von meinem früheren Leben und der gewaltsamen Trennung von den Meinen.

Ich weiß noch, wie ich zum ersten Mal den Ozean gesehen habe. Trotz der Ketten, den Schmerzen in meinen Gliedern, meiner Müdigkeit und der Trauer, die mich auf dem langen Marsch durch den Busch bis zu dieser kleinen Stadt am Meer begleitet hatte, spürte ich wieder Leben in mir, ein Staunen über die Weite dieses großen Wassers, das ich zunächst für einen riesigen See hielt.
Als ich Tim einmal davon erzählte, lachten wir über den Jungen, der bis dahin nur den See seiner Heimat kannte und nichts von den Weltmeeren wusste.

Ich war mit Gewalt aus meiner Heimat fortgerissen worden, und zusammengekettet mit den anderen aus meinem Dorf und den Nachbardörfern wurde ich für Wochen durch den dichten Busch bis zu der Stadt am Meer getrieben. Nach all den Strapazen des langen Marsches durften wir uns hier satt essen und unseren Durst löschen, konnten wir uns erholen. Und so nannten wir diesen Ort Bagamoyo, „Leg nieder dein Herz“.

„Muro, was ist los mit dir?“ Tim reißt mich aus meinen Gedanken heraus. „Kannst du dich nicht auch einfach einmal darüber freuen, dass du lebst?“
Als ich nicht darauf antworte, legt er sich neben mich in den Sand, und bald höre ich ihn leise schnarchen.

In der Nacht, bevor das geschah, was unsere Welt veränderte, müssen wir so sorglos geschlafen haben wie Tim: Um die Jahreszeiten waren die Nächte kalt. Ich war mit dem ersten Hahnenschrei aufgestanden, hatte das am Abend zuvor gesammelte Holz aufgeschichtet und das Feuer in der Küchenhütte entfacht. Vater hatte sich unter dem großen Mangobaum in der Mitte des Dorfplatzes gesetzt. Auch hier lag aufgeschichtetes Holz, das bald vor sich hin loderte, und mein Onkel und mein Großvater setzten sich dazu, um die Arbeit des Tages zu besprechen, während die Frauen uns Maisbrei kochten.
Als plötzlich unsere Hunde und die der umliegenden Hütten anfingen zu bellen, horchten wir auf, mutmaßten, was ihr Gebell zu bedeuten hatte. Vielleicht hatten sie Elefanten in der Nähe der Felder gewittert? Einige der Männer standen alarmiert auf, doch als der Lärm aufhörte, setzten sie sich wieder hin und fuhren fort, ihr Mahl zu sich zu nehmen.

Eine merkwürdige Stille hatte sich über das Dorf und seine Umgebung gelegt. Immer wieder horchten wir auf, wie auf der Suche nach einem vertrauten Laut. Doch nicht einer der vor wenigen Augenblicken lärmenden Hunde bellte, die Vögel waren verstummt, und auch wir sprachen mit gedämpften Stimmen.
Plötzlich kam ein kalter Wind auf, der Staub in unsere Augen wirbelte und die Bäume rauschen ließ. Der Himmel hatte sich innerhalb von wenigen Augenblicken mit dunklen Wolken bezogen.
Heute denke ich, dass die Ahneneltern uns warnten und dass wir ihre Zeichen nicht erkannten.

Nach dem Frühstück machte Mutter sich mit Vater, dem Baby Mwari und meinen älteren Brüdern zu unseren Feldern auf. Der Mais stand hoch, und obwohl jede Hand für die Ernete gebraucht wurde, sollte ich an diesem Morgen mit Mandaka, meinem jüngeren Onkel, zum See gehen und dort die Netze überprüfen.

Unten am See beschlossen Mandaka und ich, erst einmal zu baden. Wir waren gute Schwimmer, und obwohl wir die Gefahr durch die Krokodile kannten, hielten wir uns für unverwundbar und tobten ausgelassen im Wasser herum.
Es war nicht der Sturm, es war kein Blitz und kein Donner und auch kein Krokodil, das uns aus unserem Spiel aufschreckte.
Nie werde ich den Lärm der fremden Stimmen, die Schreie meiner Leute und die Schüsse vergessen. Mandaka und ich liefen so schnell wir konnten zum Dorf zurück, und von unserem Versteck hinter einem Busch sahen wir weiße und schwarze Männer, die unsere Familien über den Dorfplatz trieben. Mutter, meine Tanten, die Kleinkinder und die jungen Mädchen mussten in einer Ecke des Dorfplatzes hocken, während die Männer und Jungen unter Schlägen und Gebrüll unter den Schattenbaum getrieben wurden.
Die drei Weißen hatten lange schwarze Bärte, und auf ihren Köpfen trugen sie zusammengewickelte Tücher. Ich erinnerte mich an die Geschichten, in denen Männer mit diesen Kopfbedeckungen geschildert wurden. Sie kamen aus fernen Ländern, und es wurde erzählt, dass sie Jagd auf Menschen wie uns machten, die sie dann auf Märkten verkauften.
Alle Eindringlinge waren mit laut knallenden Feuerstöcken, Säbeln und Messern bewaffnet. Es gab kein Entkommen vor ihnen. Sie durchsuchten jeden Winkel des Dorfes, zerrten alle heraus, die sich in den Hütten versteckt hielten, und warfen brennendes Holz auf die Dächer, die sich sofort in lodernde Fackeln verwandelten.
Plötzlich liefen zwei meiner jüngeren Cousinen schreiend und mit brennenden Haaren aus ihrer Hütte. Unter dem johlenden Gelächter der Männer wälzten sie sich im Sand. Als ihnen ihre Mutter zu Hilfe eilen wollte, schossen sie in den Boden und stießen sie wieder zurück. Die Mädchen schrien vor Schmerzen, und alle Frauen und Kinder stimmten mit ein. Die Eindringlinge brüllten in einer fremden Sprache. Einer von ihnen schoss in die Gruppe, und ich sah, wie meine Tante in sich zusammensank. Schimpfend schlug einer der Schwarzen mit seinem Stock auf die Köpfe der Frauen ein, die ihren Kindern die Münder zuhielten.

Ich sah in den Gesichtern unserer Männer Entsetzen, Wut und Ohnmacht. Sie waren zwar in der Mehrzahl, hatten aber keine Waffen, und mit denen, die sie in den Hütten zurückgelassen hatten, hätten sie nichts gegen die Feuerstöcke der Eindringlinge ausrichten können.

Ich stellte fest, dass mein Vater nicht unter ihnen war.
‚Er wird Hilfe holen!’ Mein Herz machte einen Freudenschrei. ‚Vielleicht ist er schon da, mit den Männern aus den Nachbardörfern, und sie verstecken sich, so wie Mandaka und ich, um den richtigen Augenblick für einen Angriff abzuwarten. Vater ist klug und stark’, beruhigte ich mich. ‚Er wird sie bekämpfen und töten.’

Mein Vater war ein guter Jäger und gleichzeitig ein Medizinmann. Die Leute nannten ihn Großer Elefant, denn die Elefantenahnen schützten ihn auf der Jagd. Sie würden ihm auch diesmal zur Seite stehen. Davon war ich überzeugt. Konnte er sich nicht mit seinen Zaubermitteln unsichtbar machen? Hatte er das nicht oft genug bewiesen? Nie hatte er den Zorn der Ahnen heraufbeschworen. Vor und nach jeder Jagd hatte er sie um Beistand und Vergebung gebeten und ihnen einen Teil seiner Beute geopfert. Sie halfen ihm, damit er uns ernähren konnte, und als Dank hatte er sich niemals an einer Elefantenjagd beteiligt und auch nie das Fleisch des Elefanten gegessen.
‚Steht ihm bei’, flüsterte ich. ‚Gebt ihm die Kraft des Elefanten, damit er diese bösen Männer bekämpfen kann.’

Hatte mein Gebet Vater gerufen? Mein Herz bebte, als ich ihn plötzlich am Waldrand auftauchen sah. Mit wilden stürmte der „Große Elefant“ auf einen der Weißen zu und rammte ihm seinen Speer in den Bauch. Mit einem Schrei brach der Mann zusammen. Sofort danach griff Vater den nächststehenden Mann an. Doch dieser Angriff kam nicht mehr überraschend. Der „Große Elefant“ hätte ihn aufgespießt, wären nicht die anderen Fremden dazugekommen. Aus einem der Feuerstöcke donnerte es, und mein Vater brach zusammen.
Lachend scharten sich die Eindringlinge um ihn, stießen den noch zuckenden Körper mit den Füßen an. Dann bückte sich einer von ihnen, und als er sich wieder aufrichtete, schwenkte er laut johlend den Kopf meines Vaters hin und her.

Mir wurde schwarz vor Augen, und hätte Mandaka nicht seine Hand auf meinen Mund gedrückt, hätte mein Schrei uns verraten.

Der Himmel verdunkelte sich, denn der „Große Elefant“ war besiegt.
Ich war noch da, ich spürte meinen Körper und Mandakas Arme, die mich umklammerten. Doch da war sonst nichts mehr. Es war, als sei auch ich gestorben. Erst als ich wie aus weiter Ferne das verhaltene Schluchzen der Frauen hörte, kam ich wieder zu Sinnen.
Die Mütter hielten ihre Kinder fest an sich gedrückt, und die Väter hielten die Köpfe gesenkt.

Mandaka und ich blieben in unserem Versteck. Vor Angst wie gelähmt, Hass in unseren Herzen und auf ein Wunder hoffend, das uns von diesem Albtraum befreien würde.
Immer wieder sah und sehe ich das narbenübersäte bärtige Gesicht des Mannes vor mir, der lachend meinen Vater enthauptete.

Auf dem Dorfplatz lag der Körper meines Vaters, und nicht weit von ihm lag der von ihm Getötete. Meine Cousinen wimmerten leise vor sich hin.
Immer noch suchten die Eindringlinge überall nach sich versteckenden Dorfbewohnern. Als sie meinen Onkel und seinen Jüngsten hinter einem Busch fanden, trieben sie sie vor sich her, schlugen den Älteren, stießen ihn zu den anderen Männern und lachten johlend über den Kleinen, der sich schreiend in die Arme seiner Mutter flüchtete.
Gewarnt durch die Entdeckung der beiden, krochen Mandaka und ich in ein dichtes Gebüsch, das sich weiter weg befand.

Als die Sonne hoch stand, hörten wir neue Geräusche aus dem Dorf. Es wurde gehämmert, aber nicht auf Holz, sondern auf Metall. Wir verließen unser sicheres Versteck, krochen leise näher heran und sahen, dass sie den Männern, Frauen und jungen Leuten Ketten um Hände und Hälse legten. Dabei rissen sie den Müttern ihre Säuglinge aus den Armen und warfen sie den Alten zu. Als sie meine kleine Schwester Mwari von Mutter trennen wollten, warf sie sich ihnen flehend vor die Füße und bettelte. Derselbe Narbengesichtige lachte grob, schlug mit einem Stock auf Mutter ein und als sie endlich Mwari losließ, nahm er sie auf und lachte wie ein guter Mensch. Doch ich wusste, dass er ein böser Mann war. Er hatte ein Mitleid mit dem schreienden Kind, das er plötzlich in die Luft warf. Es wäre am Boden zerschmettert, wenn nicht einer der schwarzen Männer es aufgefangen und in die sich ihm entgegenstreckenden Arme von Großmutter gelegt hätte.

Sie nahmen die Alten und die kleinen Kinder nicht mit. So blieb auch Mwari zurück. Was aus ihr und den anderen geworden ist, werde ich wohl nie erfahren.

Als sie alle ihre Gefangenen aneinander gebunden hatten, trieben sie sie aus dem Dorf und beantworteten das Klagen und Weinen der Männer und Frauen mit Peitschenhieben.

Mandaka und ich schlichen hinterher. Unterwegs stießen andere Gefangenentruppen dazu, die aus den umliegenden Dörfern stammten. Einige der Weißen ritten auf Eseln. Sie waren wild aufs Jagen, schossen auf jedes Tier, das sie sahen, und manchmal auch auf Bäume und Büsche, die sich im wind bewegten. Abends ließen sie sich das frische Fleisch über dem Feuer rösten. Ihren Gefangenen warfen sie die Knochen zu, und manchmal gaben sie ihnen etwas Mais und Wasser.
Die Gefangenen mussten schwere Lasten auf ihren Köpfen tragen; darunter waren acht riesige Elfenbeinzähne, das Fleisch der erlegten Tiere, Bündel mit Kochgeschirr, Stoffen und dem Diebesgut aus den Dörfern. Jede Schwäche wurde sofort mit Schlägen beantwortet. Als eine Frau zusammenbrach und sich auch trotz der Fußtritte und Peitschenhiebe nicht mehr aufrichtete, schoss einer der Männer auf sie. Danach löste er fluchend die Ketten vor ihrem Hals und den Händen, und der Zug setzte seinen Marsch fort.

Als wir sie nicht mehr hörten, liefen Mandaka und ich zu dem leblosen Körper. Wir kannten sie. Seit der Hochzeit meines Onkels hatten wir sie, die Schwester seiner Frau, nicht mehr gesehen. Sie stammte aus einem Dorf nördlich unseres Sees. Zusammen mit anderen Angehörigen hatte sie damals die Braut in unser Dorf begleitet. Ich erinnerte mich an ihr fröhliches Lachen beim Tanzen.
Um ihren Leichnam vor Hyänen und Löwen zu schützen, bedeckten wir ihn mit großen Steinen.

Mandaka und ich hielten uns in sicherem Abstand. Wir dämpften unseren Hunger mit essbaren Früchten und Raupen und den Durst mit dem Morgentau, der sich in den Blättern gesammelt hatte. Immer wieder sprachen wir darüber, wie wir die Gefangenen befreien könnten. Wir machten Pläne und verwarfen sie wieder. Unsere Leute waren gefesselt. Wie sollten wir ihre Ketten mit den bloßen Händen zerbrechen? Wir wussten, dass wir gegen die Waffen unserer Gegner machtlos waren.

Verzweifelt über die Aussichtslosigkeit unserer Lage, voller Hass, hungrig und durstig schliche wir der Sklavenkarawane tagelang hinterher. Dabei beobachteten wir, dass die Fremden jeden Abend vor Beginn der Dämmerung einige Gefangene von den Ketten lösten, damit diese Feuerholz sammeln, Wasser holen und das Lager für die Nacht herrichten konnten. Um diese Stunde gingen einige der Aufseher auf die Jagd. Doch auch die zurückgelassenen Wächter jagten gern. Als wir ein paar Mal beobachteten, dass sie angesichts einer vorbeiziehenden Elefantenkuh oder eines anderen Tieres ihre Aufgabe vergaßen und dem Wild nachpirschten, fassten wir einen Plan.
Um ihren Jagdtrieb zu wecken, sollte Mandaka das tiefe Grollen eines Löwen nachahmen. Er war immer gut darin gewesen, so gut, dass er nicht nur uns, sondern auch die umliegenden Dörfer mehrmals zu Tode erschreckt hatte. Schließlich hatten ihm die Dorfältesten verboten, den Ruf des Löwen nachzuahmen.

Wir hofften, dass die Wächter dann, so wie die anderen Male, die Gefangenengruppe allein zurücklassen und dem Ruf der großen Katze folgen würden. Mein Schrei, der eines Pavians, sollte unseren Leute das Zeichen für die Flucht geben.

An diesem Abend schlugen sie ihr Lager an einem Fluss auf. Ich war noch nie so weit von unserem Dorf entfernt gewesen, hatte aber von den heimtückischen Stromschnellen und von den gefährlichen Ungeheuern gehört, die in diesem Wasser leben sollten. Doch ich hatte keine Angst vor ihnen, denn kein Monster konnte bösartiger sein als diese Fremden.

Von dem langen Marsch erschöpft, hatten sich die Gefangenen auf den Boden sinken lassen. Aber ihre Peiniger ließen ihnen keine Zeit zum Ausruhen. Laut schimpfend, traten sie mit den Füßen, schlugen mit den Gewehrstöcken auf sie ein und befahlen ihnen, sich wieder hinzustellen. Dann, wie erwartet, wurden einigen Männern und Frauen die Ketten abgenommen. Ich hatte mich so nah wie möglich an das Lager herangeschlichen und wartete auf die Gelegenheit, einem unserer Leute von dem Plan zu erzählen. Mandakas älterer Bruder bewegte sich beim Holzsammeln auf mich zu. Mir klopfte das Herz bis zum Hals. Ich wusste, dass der leiseste Laut mich verraten würde. Als wir uns fast berühren konnten, flüsterte ich durch das schützende hohe Gras seinen Namen. Ich sah ihn in seiner Bewegung verharren. Doch dann nahm er den vor ihm liegenden trockenen Ast, brach ihn mit langsamen Bewegungen und hörte mir zu. Flüsternd erklärte ich ihm unser Vorhaben. Mit einem unmerklichen Nicken entfernte er sich zu einem der anderen Gefangenen. So erfuhren alle, dass Mandaka und ich ihnen gefolgt waren, und sie kannten nun das verabredete Zeichen für ihre Flucht.

Von meinem Versteck in den hohen Zweigen des hohen Tamarinenbaums konnte ich den Platz am Fluss gut überschauen. Das Lager befand sich etwas weiter weg, auf einer mit Kurzgras bewachsenen Ebene. Dort waren die meisten Gefangenen, bewacht von vierzehn Männern. Wie an den Abenden zuvor mussten einige der Frauen die Schlafplätze für die Fremden herrichten, Feuer machen und in großen Töpfen das Essen zubereiten. Auch Mutter befand sich unter ihnen. Würde sie fortlaufen, wenn die Zeit dafür gekommen war?

Eine andere Gruppe hatte bereits viel Holz gesammelt und Wasser in große Behälter geschöpft. Sie wurde von vier Männern bewacht, die sie mit lauten Stimmen zur Eile drängten. Plötzlich ertönte aus der Nähe das tiefe, bedrohlich wirkende Brüllen eines Löwen, das sogar mir kalte Schauer über den Rücken jagte. Alle schauten gebannt in die Richtung, aus der der Laut gekommen war. Ein plötzlicher kalter Wind kam Mandaka zu Hilfe, bewegte die hohen Bäume, und ein unheimliches Rauschen erfüllte die Luft, gefolgt von einem erneuten Löwengebrüll, das aus größerer Nähe zu kommen schien. Ich sah, wie die vier Bewacher sich mit gedämpften Stimmen berieten. Aus dem Hauptlager ertönten laute Rufe. Bald danach stießen zwei andere Männer zu der Gruppe am Fluss. Wie von uns angenommen, hatten sie ihre Gefangenen vergessen, horchten nur noch in den Wald und als das Brüllen zum dritten Mal ertönte, liefen sie alle, bis auf einen, die Gewehre im Anschlag, gemeinsam in geduckter Haltung in die Richtung, wo sie den Löwen vermuteten. Doch auch der letzte Wächter schien abgelenkt zu sein. Als das große Katzentier wieder brüllte, vergaß er seine Aufgabe und folgte den anderen.

Der Pavian konnte nicht mehr warten. Der Pavian schrie: „Hier bin ich! Lauft! Lauft! Lauft um euer Leben!“
Ich hatte ihn schon so oft geübt, den Schrei des Pavians, hatte mit ihm andere verblüfft.
Von meinem Hochsitz aus sah ich schnelle Bewegungen. Ich sah die flüchtenden Männer und Frauen, meinen Onkel und Mpoli, seinen ältesten Sohn, hörte das Gebrüll der Fremden. Ein Schuss fiel und dann noch einer. Als mein Onkel mit einem Schmerzensschrei auf den Boden stürzte, sprang ich von meinem Baum herunter, packte ihn zusammen mit Mpoli, und gemeinsam zogen wir ihn mit uns fort. Unsere Verfolger waren dicht hinter uns. Ein weiterer Schuss, und auch Mpoli brach zusammen.

So kam es, dass auch ich in die Gefangenschaft geriet.

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Tag der Veröffentlichung: 17.11.2009

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