Zur Autorin:
Celia Rees wuchs in den West Midlands in England auf. Nach dem Studium der Geschichte und Politik an der Warwick University war sie 17 Jahre lang Englischlehrerin. Ihr erstes Buch, den Jugendthriller "Every Step you take", veröffentlichte sie 1993. Auf Deutsch erschien zuletzt der Bestseller "Piraten!" (Bloomsbury K&J 2003).
Celia Rees lebt mit ihrer Familie in Leamington Spa, England.
Leseprobe:
Mai 1794
Sovay ritt los, als der Morgentau noch auf den Wiesen lag. Die Pferdeknechte schliefen noch, während sie sich unbemerkt aus den Stallungen davonstahl, und auf der Brücke über dem See legten sich dünne Nebelschwaden wie Fetzen abgelegten Musselins um die Beine ihres Pferdes. Sobald sie die Gebäude hinter sich gelassen hatte, gab sie dem Hengst die Sporen, beugte sich tief über seinen Hals und galoppierte den alten Waldweg zur Wiese hinauf. Dort ging sie in der Nähe der Kreuzung zwischen den jungen Birken in Stellung und wartete auf die Kutsche aus London, in der er sitzen musste. Gleich würde sie ein für alle Mal beweisen, dass er tatsächlich der lüsterne, falsche, verachtungswerte feige kleine Betrüger war, als den sie ihn erkannt hatte.
Sie waren verlobt, und er hatte sie mit einem Zimmer- mädchen betrogen. Allein der Gedanke an ihn brachte sie zur Weißglut.
„Nicht das erste Mal, dass er eine entehrt“, hatte Lydia, ihre Zofe, mit einem prüfenden Seitenblick auf Sovay gesagt. Da Sovays Mutter verstorben war und ihre Tante schon sehr gebrechlich, hatte Lydia es sich zur Aufgabe gemacht, Sovay in moralischen Fragen zu beraten. Aber in dieser Angelegenheit musste sich die Zofe keine Sorgen machen. Ganz so dumm war Sovay nun auch wieder nicht gewesen.
Wut mischte sich mit rastloser Ungeduld. Wo blieb die Kutsche? Sie wollte es hinter sich bringen. Ihr Pferd spürte ihre Erregung, stampfte und scharrte geräuschvoll. Um es zu beruhigen, tätschelte sie ihm den Hals und flüsterte ihm ins Ohr. Die Luft war vom süßen Duft des Ginsters erfüllt. „Ist der Ginster verblüht, vergeht auch die Liebe“. Das hatte ihre Mutter ihr einst gesagt. Wie lang war das schon her… Während sie einen Ginsterzweig abbrach und ihn sich an den Hut steckte – der eigentlich ihrem Bruder gehörte –, kehrten ihre Gedanken zu der bevorstehenden Rache zurück. Er sollte betteln und vor ihr auf Knien kriechend um sein Leben flehen. Sollte er die Prüfung, vor die sie ihn gleich stellen würde, nicht bestehen, würde sie ihn erschießen.
Peitschenknallen, das Rufen und Fluchen eines Kutschers, das Knirschen von Wagenrädern und angestrengtes Pferdeschnauben rissen sie aus ihren Gedanken. Sie spähte durch den Vorhang aus tanzenden Blättern. Bis auf die Kutsche war die Landstraße leer. Sie zog sich die schwarze Maske, die sie letzten Winter zum Ball getragen hatte, über die Augen und verhüllte die untere Gesichts- hälfte mit einem grünseidenen Halstuch. Auf der Kuppe des steilen Hügels kam der knarrende Wagen beinahe zum Stehen. Als der Kutsche gerade wieder mit der Peitsche ausholte, um die Tiere weiterzutreiben, zog Sovay die Pistolen und ritt auf ihn zu.
„Hände hoch und Geld her!“
Der peitschende Wind fegte ihre Worte davon. Sie wiederholte die Forderung mit tieferer, drohenderer Stimme. Da nahm der Mann, der als Begleitschutz mitfuhr, die Hände hoch. Der Kutscher zügelte die Pferde und senkte die Peitsche. Als sie sah, dass man ihr gehorchte, pochte ihr Herz. Eine der Pistolen hielt sie auf die zwei Männer gerichtet, mit der anderen schlug sie an die Wagentür.
„Allesamt raus da!“
Zwei Fahrgäste entstiegen der Kutsche: James, blass und verängstigt, und noch ein weiterer junger Mann. Er war gut gebaut, hatte eine gesunde Gesichtsfarbe und war etwas älter als ihr Bruder, etwa vierundzwanzig. Er ließ sich beim Aussteigen Zeit und zeigte sich angesichts dieser Unterbrechung seiner Reise weder besorgt noch irritiert. Seine Selbstsicherheit machte Sovay nervös. Sie richtete die andere Pistole auf ihn, verlangte, dass die beiden sich von ihren Wertsachen trennten und warf ihnen eine Satteltasche zu.
James folgte der Aufforderung, so schnell er konnte, doch der andere war weniger bereitwillig. Dennoch hatte Sovay sie bald um Taschenuhren und Gold erleichtert.
„Da ist noch etwas“, sagte sie James. „Dein Brillantring, der funkelt so schön. Gib ihn her, und ich lasse dich gehen.“
Bis jetzt war ihre Hand ruhig geblieben, nun zitterte sie. Das war die Probe. Der Ring war ein Zeichen ihrer Liebe gewesen. Er hatte geschworen, eher sein Leben zu geben, als sich von dem Ring zu trennen. Gab er ihn ihr, waren alle ihre Zweifel bestätigt, all die Gerüchte, die sie gehört hatte, wahr.
James zögerte keinen Moment: Verzweifelt versuchte er, den Ring vom Finger zu ziehen, und spuckte sogar darauf, um sich davon zu befreien. Sie richtete die Pistole auf ihn. Ihre Hand zitterte nicht mehr. Sie musste sich gar nicht bemühen, um James zum Betteln und Kriechen zu bringen. Das tat er ganz von selbst. Er warf sich auf die Knie, und aus seinen zusammengepressten Lidern traten Tränen. Mit gefalteten Händen flehte er um sein Leben.
„Halt ein, Straßenräuber“, sagte der blonde junge Mann, als Sovay den Finger auf den Abzug legte.
Er nahm James den Ring ab und brachte ihr die Sattel- tasche. Sie steckte eine der Pistolen weg, so dass er den Ring in ihre ausgestreckte Hand fallen lassen konnte. Der Edelstein glitzerte in der Sonne.
„Er hat Ihnen gegeben, was er besaß. Was wollen Sie noch von ihm?“ Der junge Mann blickte nun zu ihr auf. „Ziemlich kleine Hände für einen Räuber“, fügte er hinzu und lächelte, als kenne er ihr Geheimnis.
Er war schnell. Blitzartig erkannte er, was sie vorhatte, und drückte ihren Arm hoch – genau in dem Augenblick, als sie schoss. James schrie, aber die Kugel hatte ihn verfehlt. Die Pferde scheuten und bäumten sich auf, so dass der Kutscher sie kaum zu halten vermochte. Sie waren kurz davor, loszustürmen und die Kutsche umzuwerfen. Sovay nutzte die Gunst des Augenblicks und verschwand. Sie wurde zu Hause erwartet.
Sovay unterdrückte einen ungeduldigen Seufzer, als sich der Maler erneut seiner minutiösen Arbeit zuwandte. Sie bemühte sich, still zu sitzen, wie er es schon hundertmal verlangt hatte, aber sie glühte vor gespannter Erwartung. James und sie hatten sich zu einem Rendezvous an der üblichen Stelle im Garten verabredet. Er müsste bald dort sein und hatte noch keine Ahnung, dass sie der Räuber war, der ihn überfallen hatte. Vielleicht würde er den Vorfall nicht einmal erwähnen und es vorziehen, die Demütigung für sich zu behalten. Sie könnte ihn eine Weile lügen lassen, ja, das würde sie tun, bevor ihr dann ganz plötzlich das Fehlen des Ringes auffallen würde. Beim Gedanken daran erschauerte sie, und Jonathan Trenton machte ein ungeduldiges Gesicht.
„Wie oft muss ich es denn noch sagen?“, rügte er sie, ohne den Blick von den winzigen Pinselstrichen zu wenden.
Sovay murmelte eine Entschuldigung und starrte an dem Maler vorbei in den Garten. Sie hatte nie für dieses Portrait Modell stehen wollen. Es war Vaters Idee gewesen, und er hatte auch den Maler ausgesucht, einen jungen, aufstrebenden Künstler, Schüler des kürzlich verstorbenen Joshua Reynolds. Vater unterstützte oft Künstler am Anfang ihrer Karriere, aber mit Trenton konnte Sovay nichts anfangen. Er sprach mit einer hohen, schrillen Stimme, war penibel und arrogant. Sie spürte, dass die Abneigung gegenseitig war, obwohl er nur wenig von sich gab.
Das Portrait war fast fertig, und er war froh darüber. Es war ein guter Auftrag, mit Vorausbezahlung, aber er hatte aus der Stadt anreisen müssen, und es waren gefährliche Zeiten. Überall trieben Straßenräuber ihr Unwesen und fielen über jedermann her, selbst über arme Maler, und in den Städten wie auf dem Land waren angesichts der schrecklichen Ereignisse in Frankreich Unruhen entbrannt. Er war kein Feigling und hätte die Gefahren bereitwillig auf sich genommen, wenn die Arbeit ihm Freude gemacht hätte. Doch dieses junge Mädchen hatte sich nicht als besonders umgängliches Modell erwiesen. Sie war zwar von einer dunklen Schönheit, die einzufangen eine Herausforderung gewesen war, doch sie trug ihre missmutige Miene wie eine Maske, die nichts verriet.
Aber heute war sie verändert. Ihre Gesichtsfarbe war frischer, die Wangen gerötet. Er trug einen Hauch Rosa auf. Irgendetwas hatte ihre steinerne Gleichgültigkeit in rastlose Lebhaftigkeit verwandelt. Er nahm einen anderen Pinsel zur Hand, um kleine Funken, weiß und ulrtamarin, in die schiefergrauen Augen zu tupfen. Entweder stand sie so unbeweglich da, dass es ihm schwer fiel, sie nicht wie eine Staue aussehen zu lassen, oder sie konnte überhaupt nicht still halten. Heute neigte sie zum Zappeln. Sie hielt etwas in der Hand. Unaufhörlich fummelte sie daran herum. Es war golden und rund.
„Was haben Sie da in der Hand?“ Er wies sie diesmal zwar nicht zurecht, aber sie wusste genau, dass es ihr nicht erlaubt war, neue Accessoires in die Sitzung mitzubringen.
„Eine Taschenuhr.“ Sie hielt sie ihm hin.
Mit einem Seufzer verwarf er seine Idee. Eine Uhr würde wohl kaum zu seiner Darstellung vor ihr passen. Da erregte plötzlich ein weiterer Gegenstand seine Aufmerksamkeit. Sie trug einen Ring am Mittelfinger der linken Hand. Was hatte sie nur auf diese Idee gebracht?
Sie bewegte die Hand, und der Diamant glitzerte in den Strahlen der Nachmittagssonne, die durch die Terrassentür ins Zimmer fielen. Sie drehte den Kopf leicht und schien an ihm vorbeiblicken zu wollen, durch die geblähten Vor- hänge hindurch. Da draußen wartet jemand auf sie. Ihr Liebster, vermutete Trenton. Der Grund für ihre Unruhe? Ein weiterer Pinselstrich Wangenrot deutete auf die Antwort hin.
„Sie können jetzt gehen.“
Sie löste sich aus der Pose und ging auf ihn zu.
„Ist es fertig?“
„Ein bisschen ist noch zu“, antwortete er achselzuckend, „aber eigentlich schon.“ Sie wollte an ihm vorbeigehen, war mit den Gedanken bereits draußen im Garten. „Möchten Sie es nicht sehen?“
Sie blieb stehen und blickte ihn an. Ein unverwandter Blick, herausfordernd und frech, als wäre sie ein junger Mann.
„Eigentlich nicht. Ich betrachte mich nicht gern.“
Der Maler lachte. „Alle Frauen sehen sich gerne an, ob jung oder alt.“
„Glauben Sie mir, Mr Trenton, ich tue es nicht. Dieses Portrait war nicht meine Idee. Ich habe Ihnen nur Modell gestanden, um meinem Vater eine Freude zu machen.“
„Könnten Sie nicht dennoch…“ Er ärgerte sich, dass er sie so bitten, ja schon fast anflehen musste. Auf einmal war es ihm erstaunlich wichtig, dass sie seine Arbeit guthieß.
Sie ging an ihm vorbei, um ihr Portrait zu betrachten. Er schmunzelte erwartungsvoll. Gewiss würde der Zauber ihrer Schönheit, derart kunstfertig auf die Leinwand gebannt, sie sogleich gefangen nehmen; diese Reaktion hatte er schon bei vielen Modellen beobachtet. Das Kleid, das sie bei den Sitzungen getragen hatte, schimmerte auf ihrer Haut. Der feine weiße Musselin war eine Heraus- forderung gewesen, aber er fand, dass er die hauchdünne Leichtigkeit gut getroffen hatte. Das Mädchen war siebzehn Jahre alt, aber das Kleid, von ihrem Vater ausgesucht, war ein fließendes, weites Gewand und passte eher zu einem kleinen Kind. Das scharlachrote Tuch, das Sovay sich um die Taille gewunden hatte, nahm ihr den Eindruck von Unschuld. Trenton trat einen Schritt zurück und begutachtete sein Werk. Das Spiel von Weiß und Rot brachte ihre dunkle Schönheit sehr gut zur Geltung. Er hatte sie am Scheidepunkt dargestellt, im Augenblick des Übergangs vom Mädchen zur Frau. Selbst ohne den griesgrämigen Blcik könnte sie nicht bezaubernde aussehen…
„Wie ich sehe, sind Sie ein großer Verehrer Ihres Werkes.“
Diese ironische Bemerkung brachte nun ihn zum Erröten.
„Jeder Künstler ist nur so gut wie sein Modell“, antwortete er mit einer Verbeugung.
„Gut gekontert.“ Sie lächelte, und ihr ganzer Ausdruck veränderte sich. Er wünschte, sie könnten noch einmal von vorne anfangen.
„Wie finden Sie es?“ Jetzt musste er es wissen.
„Eine vortreffliche Arbeit. Sie sind ein guter Maler. Aber…“
„Aber?“
„Wie schon gesagt, ich betrachte mich nicht gern. Und jetzt müssen sie mich wirklich entschuldigen.“
Mit diesen Worten verließ sie ihn, um zu ihrem Rendezvous zu eilen. Sie lief schnell wie die göttliche Diana, die antike Figur, die er für sie ausgewählt hatte. Er ging zum Fenster und spähte durch die Vorhänge. Er hoffte, einen Blick auf den jungen Mann zu erhaschen, der ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen schien, doch da verschwand sie schon hinter der großen Zeder in einem Laubengang. Die jungen Blätter waren auf dem Höhepunkt ihrer Schönheit: Vor dem dunklen Glanz der immer grünen Bäume verschmolz das kräftige Purpur der Blutbuchen mit sanften Goldtönen und blassem Hellgrün.
Er drehte sich um und verwahrte die Farbe in seiner Erinnerung, die Utensilien in der Tasche. Das Portrait würde er in seinem Atelier in Covent Garden fertig stellen. Er wollte sie in ländlicher Gegend darstellen, mit einem Hauch Wildheit: vor Wäldern im Frühsommer, vielleicht an einem See, mit Bergen im Hintergrund. Er gab seinen Bildern gern etwas Sinnbildliches. Für junge Mädchen wählte er am liebsten Flora, die Göttin der Blumen und der Jugend, des Frühlings und der Fruchtbarkeit, doch in diesem Fall passte sie nun gar nicht. Sovay war eindeutig Diana, die Jägerin. Er würde ihr einen Bogen geben und einen Hund als Begleiter, dazu vielleicht ein Hirsch im Dickicht. Er seufzte zufrieden. So würde er es machen – zu Hause im sicheren London.
Von Wut getrieben, rannte Sovay an der großen Terrasse vorbei durch den Garten. Sie war spät dran, aber das war gut so, sollte er nur warten. Sie hatte den Diamantring mit dem Stein nach innen gedreht, die Taschenuhr hielt sie fest in der Faust. Er hatte Glück, dass sie diesmal unbewaffnet war; sie würde sonst erledigen, was sie schon längst hätte tun sollen.
Als sie den Pavillon, ihren üblichen Treffpunkt, erreichte, war James noch nicht einmal da. Sie wollte sich auf keinen Fall auf die Bank setzen, die sich in dem Gebäude befand. Wenn sie das täte, würde sie unweigerlich die ineinander verschlungenen Buchstaben sehen, die in den runden Tisch geschnitzt und von einem Herzen gerahmt waren. Allein beim Anblick der Bank wurde ihr schon ganz schlecht. Manchmal, wenn sie ganz ungestört sein wollten, waren sie die steinerne Wendeltreppe hinauf zur Aussichtsplattform gegangen. Sovay kämpfte gegen Wut und das Gefühl der Erniedrigung. Dort würden sie nie wieder hinaufsteigen.
Sie ging rasch auf und ab, ihr Kleid fegte über das Gras. Sie würde ihm Uhr und Ring vor die Nase halten und ich zur Rede stellen. Doch zuerst wollte sie ihn etwas zappeln lassen – er sollte für den Betrug bezahlen. Sie ließ das Diebesgut in ihre Tasche gleiten. Sie würde es genießen, zu sehen, wie er sich wand.
Als er ankam, entschuldigte er sich wortreich und erzählte von einer Schurkenbande, die ihn auf dem Weg überfallen habe. Er sei zum Kämpfen bereit, sein Reisebegleiter jedoch so ein Feigling gewesen, dass sie ihre gesamten Wertsachen verloren hätten.
„Sogar den Ring, den ich dir geschenkt habe?“
„Auch den.“ Er hielt ihr mit gespreizten Fingern die Hand hin. „Das siehst du ja selbst. Ich habe versucht mit den Schurken zu reden, aber sie hätten mich sonst getötet.“
„Er war ein Zeichen meiner Liebe.“ Ihre großen Augen blickten ihn verletzt und vorwurfsvoll an. „Du hast geschworen, eher dein Leben zu geben, als dich von dem Ring zu trennen.“
„Ich habe dir doch gesagt, dass ich überfallen worden bin!“ Er ging auf sie zu, als wolle er sie küssen. „Na komm schon, wir wollen uns nicht streiten.“
Sovay wandte ihr Gesicht ab. „Und dennoch…“
Sie zog sich von ihm zurück. Mit bittendem Gesichts- ausdruck kam er ihr nach. Er war eher hübsch als gut aussehend, das bemerkte sie jetzt, und hatte eines dieser lieblich-süßen Gesichter, die junge Mädchen den Kopf verdrehten. Doch die blassblauen Augen standen sehr eng beieinander, das Kinn war fliehend und der Mund verdrießlich verzogen. Wie hatte sie ihn jemals anziehend finden können? Er sah nicht wie neunzehn aus. Seine blütenglatten Wangen konnten noch mit keinem Rasiermesser in Berührung gekommen sein, und die gepuderten Locken waren weich wie die eines Kindes.
Sie drehte sich zu ihm um und nahm die Hand aus der Tasche. Seine Augen weiteten sich und das Blut schoss ihm ins Gesicht, als er seine Taschenuhr in ihrer Faust sah, seinen Ring an ihrem Finger. Die Goldmünzen warf sie ihm vor die Füße. Mit erhobenen Händen trat er einen Schritt zurück, als blendeten ihn die Münzen.
„Du warst es!“, rief er mit hochrotem Kopf, doch dann wurde sein Blick eiskalt, und er hatte sich wieder gefangen.
Es war sein Vater, der für ihre Verbindung gewesen war. Das beträchtliche Vermögen der Mutter würde an die Tochter übergehen. „Das gibt einen wahren Goldregen, wenn sie volljährig wird“, hatte Sir Royston mit leuchtenden Augen gesagt, als habe er die Münzen schon vor sich sehen können. Aber die Umstände hatten sich geändert. James hatte Neuigkeiten, mit denen er von der Erniedrigung ablenken konnte. Dieser Ehe im letzten Moment noch zu entgehen, war ein Glück. Da gab es Geschichten… Besonders über die Familie der Mutter, deren Reichtum aus Piratengold stammen sollte. Es hatte sich gelohnt, derartige Gerüchte zu ignorieren. Bisher. Doch die ganze Familie befand sich im Niedergang. Sovays heutiges Verhalten hatte das bewiesen. Ein Mädchen, das sich als Räuber verkleidete und am helllichten Tag eine Kutsche überfiel, wer wollte so eine schon heiraten?
„Die Taschenuhr hätte ich gern zurück“, sagte er, „aber den Ring kannst du behalten. Ich habe dafür keine Verwendung mehr. Das war eigentlich alles, was ich dir sagen wollte.“ Er blickte gen Himmel, als wolle er sich der Rede erinnern, die er einstudiert hatte. „Es ist aus, Sovay. Die Verlobung wird aufgelöst werden müssen. Dein Vater ist als dreckiger Spion des Jakobinerklubs enttarnt worden und man wird ihn bald festnehmen. Meine Familie wünscht keine Verbindung zu Subjekten, deren Loyalität zum König zweifelhaft ist.“
Sovay starrte ihn nur an und versuchte zu begreifen, was er da eigentlich sagte.
„Sieh’s doch ein, Sovay!“, rief er schließlich, durch ihr anhaltendes Schweigen verunsichert. „Dein Vater hat in meiner Gegenwart unzählige Male zum Aufstand gerufen, Worte gegen König und Regierung gerichtet. Das kannst du nicht leugnen.“
„Und ob ich das tue!“, entgegnete sie wütend. „Niemals hat er das Wort gegen den König erhoben! Er ist für Reformen, sicher, aber das ist etwas ganz anderes.“
„Ich habe es an seinem eigenen Tisch und mit eigenen Ohren gehört! Hör doch auf, ihn zu verteidigen. Und was deinen Bruder in Oxford angeht…“ James schüttelte den Kopf. „Ich habe noch nie so verrücktes Zeug gehört wie bei seinem letzten Besuch. Das reicht für einen Haftbefehl, wenn nicht sogar eine Verurteilung.“ Er hakte die Daumen in die Westentaschen, seine Unsicherheit hatte er offensichtlich überwunden. „Deine Familie wird in Schande enden. Das gibt einen Skandal. Nun“, beschloss er seine Anklage, „hast du denn gar nichts zu sagen?“
Sovay schüttelte den Kopf. Tränen des Zorns traten ihr in die Augen und auf ihre Stimme war kein Verlass mehr. Er sprach genau wie sein Vater, Sir Royston. Wie hatte sie ihn nur für ihrer würdig halten können, dieses… dieses dressierte Schoßhündchen!
„Wenn das so ist…“ Er tastete nach seiner Uhr, die aber nicht mehr in der Tasche seiner eleganten Weste steckte. Sovay, die Nähen auf den Tod nicht ausstehen konnte, hatte sich die Finger zerlöchert, um die taubengraue Seide mit kleinen rosafarbenen Blüten zu besticken. Ein Liebes- bekenntnis. Einer ihrer wenigen Versuche, sich mit den Dingen zu beschäftigen, denen sich andere Mädchen zuwandten. Und jetzt war alles umsonst gewesen! Sie drehte sich weg und versuchte, sich unter Kontrolle zu bekommen, sonst würde er ihre Tränen am Ende noch falsch interpretieren.
Wie hatte sie je etwas für ihn empfinden können? Seine Zuwendung hatte ihr geschmeichelt, das war es doch gewesen. Er war äußerst beliebt, galt als guter Fang, und Sovay hatte es genossen, sich den anderen Mädchen überlegen zu fühlen. Sie hatte sich wahre Liebe vorgegaukelt. Jetzt war ihr klar, dass sie sich ein gigantisches Luftschloss gebaut hatte, das nun jämmerlich ich sich zusammenfiel. Ihr Bruder Hugh hatte James Gilmore immer für einen oberflächlichen, feigen Kerl gehalten, der seinem Vater hörig war. Es war ihr Vater gewesen, der sie von der Verbindung überzeugt hatte. Obwohl er seinen aufgeblasenen Nachbarn nicht mochte, hatte er sich von einer Ehe positive Auswirkungen erhofft. Wenn sie einmal verheiratet waren, so hatte er sich gedacht, könnte Sovay ihrem Mann und dessen Vater neue, aufgeklärte Denkweisen beibringen. Als ob die auf sie hören würden!
Sovay liebte ihren Vater und respektierte ihn, aber manchmal ließ er sich von seinen Idealen mitreißen. Sie hatte das ungute Gefühl, Teil einer seiner Weltver- besserungspläne geworden zu sein. Er hatte sich James gegenüber verhalten, als sei dieser schon sein Schwiegersohn, und viele Stunden mit ihm diskutiert: über neue Methoden in der Landwirtschaft und der Verwaltung von Ländereien sowie über Wissenschaft, Philosophie und Politik. James hatte aufmerksam zugehört, ihn bestärkt und dazu verführt, immer radikalere Aussagen zu machen. Ihr Vater hatte mitgemacht, er war ja so vertrauensvoll und sah nur das Gute im Menschen. Sovay erkannte jetzt, dass dahinter nur ein Gedanke gesteckt hatte: ihren Vater dazu zu bewegen, sich zu kompromittieren. Wer war hier der Spion? Sie drehte sich um und sollte ihm all das an den Kopf werfen, aber James hatte sich schon zum Gehen gewandt.
„Das Geld kannst du behalten“, sagte er über die Schulter. „Wenn es stimmt, was man hört“, fügte er mit unheilvoller, kalter Stimme hinzu, „wirst du es wohl bald brauchen.“
Er ließ seine Münzen liegen, und sie würde sich hüten, sie auch nur anzufassen. Die Münzen blieben, wo Sovay sie hingeworfen hatte. Da würde sich irgendein glücklicher Finder freuen.
Sie schaute ihm nach und stellte sich vor, wie er mit durchgedrücktem Rücken die Hände hochriss, wie er fiel und sich dunkelrotes Blut auf der perlweißen Seide seiner Brokatjacke ausbreitete. Hätte sie eine Pistole dabei, so wäre er jetzt tot.
Texte: Bloomsbury Verlag
ISBN: 978-3827053343
Tag der Veröffentlichung: 16.11.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
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