Cover




Trenton Lee Stewart:
Die geheime Benedict-Gesellschaft


Teil 1.


Für Kinder/Jugendliche ab 10 Jahren.


ACHTUNG!!!
5 Exemplare von TEIL 2 dieses spannenden Buches verlosen wir im Dezember 2009 auf bookrix!!!
Teilnehmen!


Die Presse über das Buch:



"Der Roman ist so spannend, dass sich die Seiten wie von alleine umblättern. Die Figuren wachsen einem sofort ans Herz."
Children's Book World

"Diese Geschichte fliegt nur so vorbei, so spannend ist sie."
The Horn Book


Der Autor:



Trenton Lee Stewart ist Dozent für Kreatives Schreiben. "Die geheime Benedict-Gesellschaft" ist sein erstes Kinderbuch. Inspiriert hat ihn seine Überzeugung, dass Kinder zwar oft gesehen, aber selten gehört und immer unterschätzt werden.
Trenton Lee Stewart lebt mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen in Arkansas.


Leseprobe:



In einer Stadt namens Stonetown mit einem Hafen namens Stonetown Harbour bereitete sich ein Junge auf eine wichtige Prüfung vor. Der Junge hieß Reynie Muldoon, und es war schon seine zweite Prüfung an diesem Tag, die erste hatte er in einem Büro auf der anderen Seite der Stadt absolviert. Danach hatten sie ihn hergeschickt, in das Monk-Gebäude in der 3. Straße. Bis spätestens ein Uhr müsse er da sein, hatten sie gesagt, und er dürfe nichts anderes mitbringen als einen einzigen Bleistift und einen einzigen Radiergummi. Wenn er zu spät komme, zwei Bleistifte dabeihabe, seinen Radiergummi vergesse oder sonst eine der Regeln nicht befolge, werde er gar nicht erst zur Prüfung zugelassen. Eine zweite Chance gebe es nicht. Reynie wollte die Prüfung unbedingt machen, und so befolgte er alles ganz genau, wobei es seltsamerweise sonst keine Anweisungen gab. Zum Beispiel wurde ihm nicht gesagt, wie er überhaupt zum Monk-Gebäude kommen sollte, und er musste sich zur nächsten Bushaltestelle durchfragen. Dort bat er einen Busfahrer um einen Fahrplan, wofür der Mann ihm Geld abknöpfen wollte, obwohl doch nichts kostete. Drei Blocks musste er laufen, um den Bus zur 3. Straße zu erwischen. Aber nichts von alldem war ein Problem für Reynie Muldoon. Er war zwar erst elf Jahre alt, aber er war es gewohnt, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen.
Irgendwo in der Stadt schlug eine Kirchenglocke zur halben Stunde. Halb eins. Er musste noch etwas warten. Als er um zwölf schon hatte hineingehen wollen, waren die Türen des Monk-Gebäudes noch verschlossen gewesen, also hatte sich Reynie an einem Imbissstand ein Sandwich gekauft und sich damit auf eine Parkbank gesetzt. In so einem großen Gebäude mitten in Stonetowns geschäftigstem Viertel muss es doch jede Menge Büros geben, dachte er. Selbst am Wochenende schien es da etwas sonderbar, dass die Türen mittags um zwölf verschlossen waren. Aber war überhaupt etwas an dieser ganzen Geschichte nicht sonderbar?
Da war zunächst einmal die Anzeige in der Zeitung, auf die sie ein paar Tage zuvor beim Frühstück im Stonetowner Waisenhaus gestoßen waren. Wie immer hatte sich Reynie die Zeitung mit Miss Perumal geteilt. Miss Perumal war seine Tutorin. (Weil Reynie bereits mit allen Schulbüchern durch war, selbst mit denen für die Oberschüler, hatte ihn die Waisenhausleitung vom Unterricht freigestellt und ihm eine spezielle „Tutorin“, eine persönliche Lehrerin, zugeteilt. Miss Perumal wusste zwar auch nicht wirklich, was sie mit Reynie noch durchnehmen sollte, aber sie war intelligent und nett, und die beiden hatten sich daran gewöhnt, morgens beim Frühstückstee gemeinsam Zeitung zu lesen.)
Die Zeitung war voll mit den gewohnten Schlagzeilen gewesen, von denen sich etliche mit dem sogenannten „Notstand“ beschäftigten: Dingen, die fürchterlich außer Kontrolle geraten waren, wie die Zeitung zu berichten wusste. Es ging um die Schulen, den Staatshaushalt, die Umweltverschmutzung, Verbrechen und Wetter…, eigentlich um alles. Das Chaos schien komplett, und so verlangten die Bürger nach einem Wechsel – einem dramatischen Wechsel – in der Regierungspolitik. „Für den Wechsel! JETZT!“ war der Spruch (es war ein sehr alter Spruch), der auf allen Plakatwänden der Stadt zu lesen war, und obwohl Reynie nur selten fernsah, wusste er, dass der Notstand auch die Fernsehnachrichten beherrschte, und das schon seit Jahren. Natürlich hatten Reynie und Miss Perumal den Notstand anfangs ausführlich besprochen. Da sich die beiden aber in Sachen Politik in allem ziemlich einig waren, wurde ihnen die Diskussion schon bald langweilig, und sie beschlossen, nicht länger darüber zu reden. Stattdessen wandten sie sich den Ereignissen zu, die tatsächlich neu waren, und amüsierten sich über die Anzeigen. So war es auch an diesem speziellen Morgen, als Reynies Leben eine so plötzliche Wende nehmen sollte.
„Möchtest du noch etwas Honig?“, fragte Miss Perumal, und zwar auf Tamilisch, was sie Reynie im Moment beibrachte. Aber bevor Reynie noch antworten konnte, dass er natürlich noch Honig wolle, fiel Miss Perumals Blick auf die Anzeige, und sie rief: „Reynie! Sieh dir das an! Könnte dich das nicht interessieren?“
Miss Perumal saß ihm am Tisch gegenüber, und Reynie, der keine Schwierigkeiten hatte, Worte auch über Kopf zu lesen, sah schnell, was da in dicken Buchstaben auf der Zeitungsseite stand, die Miss Perumal vor sich auf dem Tisch ausgebreitet hatte: „BIST DU EIN BEGABTES KIND; DAS NACH BESONDEREN MÖGLICHKEITEN SUCHT?“ Merkwürdig, dachte er. Die Anzeige richtet sich direkt an Kinder und nicht an ihre Eltern. Reynie hatte seine Eltern nie gekannt. Sie waren gestorben, als er noch ein Baby war, und es gefiel ihm, dass da jemand diese Möglichkeit mit in Betracht zog. Trotzdem, es war merkwürdig. Wie viele Kinder lasen überhaupt Zeitung? Reynie tat es, gewiss, aber da war er eine große Ausnahme, und die anderen hielten ihn nicht zuletzt auch deshalb für einen ziemlichen Sonderling. Wenn Miss Perumal nicht wäre, hätte er es vielleicht wieder aufgegeben, um den Sticheleien ein Ende zu machen.
„Ich glaube schon, dass mich das interessieren könnte“, sagte er zu Miss Perumal. „Wenn Sie meinen, dass ich dafür infrage komme?“
Miss Perumal verzog das Gesicht. „Versuche nicht, mich auf den Arm zu nehmen, Reynie Muldoon. Wenn du nicht das begabteste Kind bist, das ich kenne, dann kenne ich überhaupt keins.“
Es gab verschiedene Prüfungstermine über das ganze Wochenende, und sie beschlossen, dass Reynie gleich zum ersten gehen sollte. Unglücklicherweise wurde dann aber Miss Perumals Mutter krank, so dass Miss Perumal ihn am Samstagmorgen nicht hinbringen konnte. Reynie war sehr enttäuscht, und das nicht nur, weil sich nun alles verschieben würde. Er war gern mit Miss Perumal zusammen. Er mochte ihr Lachen, ihre Grimassen und die Geschichten, die sie ihm (oft auf Tamilisch) über ihre Kindheit in Indien erzählte. Er mochte sogar die Seufzer, die sie ausstieß, wenn sie dachte, er bemerke es nicht. Sie waren sanft und melodiös, und Reynie liebte sie trotz der Melancholie, die in ihnen zu spüren war. Er wusste, Miss Perumal seufzte, weil sie Mitleid mit ihm empfand, wenn die anderen Kinder ihn aufzogen, oder sie daran denken musste, dass der arme Junge keine Eltern mehr hatte. Reynie wünschte, er würde ihr keine Sorgen machen, aber es gefiel ihm auch zu sehen, dass er ihr wichtig war. Da war sie die Einzige (wenn man Seymour nicht mitrechnete, die Waisenhauskatze, die oft den ganzen Tag bei Reynie im Lesezimmer verbrachte und ständig gekrault werden wollte). So neugierig er auf die Prüfung war, sosehr vermisste er Miss Perumal.
Wie freute er sich da, als sie abends anrief und Mr Rutger, dem Direktor des Waisenhauses, sagte, dass es ihrer Mutter bereits erheblich besser gehe. Reynie saß da wieder im Lesezimmer, dem einzigen Ort im Waisenhaus, wo er seine Ruhe hatte (sonst verirrte sich niemand dorthin) und nicht mit den Nachstellungen der anderen rechnen musste. Beim Abendessen hatte ihn Vic Morgeroff damit aufgezogen, dass er das Wort „unterhaltsam“ benutzt hatte, um ein Buch zu beschreiben, das er gerade las. Für Vic klang das zu gestelzt, und er brachte den ganzen Tisch dazu, mit gekünstelter Stimme „unterhaltsam“ zu säuseln, bis Reynie es nicht mehr aushielt, auf seinen Nachtisch verzichtete und ins Lesezimmer flüchtete.
„Ja, es geht ihr viel, viel besser“, sagte Mr. Rutger, den Mund voller Käsekuchen. Er war ein dünner Mann mit einem schmalen Gesicht, und der Käsekuchen blähte ihm die Backen auf. „Miss Perumal wollte eigentlich dich sprechen, aber du warst im Speisesaal nicht zu finden, und ich war gerade beim Essen, also habe ich die Nachricht für dich entgegengenommen.“
„Danke“, sagte Reynie mit einer Mischung aus Erleichterung und Enttäuschung. Käsekuchen war sein Lieblingsnachtisch. „Ich bin froh, das zu hören.“
„Es geht wirklich nichts über die Gesundheit. Absolut nichts. Etwas Wertvolleres gibt es nicht“, sagte Mr Rutger und hielt kurz mit dem Kauen inne, ganz so, als glaubte er, da stecke ein Käfer oder Wurm im Kuchen. Endlich schluckte er, wischte sich die Krümel von der Weste uns sagte: „Aber hör mal, Reynie, Miss Perumal hat etwas von einer Prüfung und ‚besonderen Möglichkeiten’ gesagt. Was hat das zu bedeuten? Da geht es doch wohl nicht um eine höhere Schule?“
Das Thema kannte Reynie zur Genüge. Er hatte verschiedentlich um Erlaubnis gebeten, sich an einer anderen Schule bewerben zu dürfen, aber Mr Rutger hatte darauf bestanden, dass es ihm hier weit besser gehe als an einer höheren Schule. Er müsse nur noch einen Tutor für ihn finden. „Hier fühlst du dich wohl“, hatte Mr Rutger mehr als einmal gesagt, und mehr als einmal hatte Reynie gedacht: Hier bin ich allein. Aber es half nichts, am Ende setzte sich Mr Rutger durch, und Miss Perumal wurde eingestellt. Das war ein Segen gewesen, und Reynie würde sich niemals über Miss Perumal beklagen. Dennoch fragte er sich manchmal, wie sein Leben wohl an einer anderen Schule aussähe, wo es Schüler gab, die ihn für normal hielten.
„Ich weiß es nicht, Sir“, sagte Reynie, und seine Hoffnung wandelte sich in Niedergeschlagenheit. Hätte Miss Perumal doch bloß nichts von der Prüfung erzählt! Aber natürlich hatte sie sich dazu verpflichtet gefühlt. „Wir wollten nur einmal sehen, um was es da geht.“
Mr Rutger überlegte. „Nun, schaden kann es nicht, nehme ich an. Ich würde es auch gern wissen. Warum schreibst du mir nicht einen kleinen Bericht, wenn du zurück bist? Sagen wir, zehn Seiten? Nur keine Eile, es reicht, wenn ich ihn morgen Abend bekomme.“
„Morgen Abend?“, sagte Reynie. „Heißt das, ich darf an der Prüfung teilnehmen?“
„Hatte ich das nicht schon gesagt?“, sagte Mr Rutger und legte die Stirn in Falten. „Miss Perumal holt dich in aller Frühe ab.“ Er zog ein besticktes Taschentuch hervor und schnäuzte sich lautstark. „Und jetzt, Reynie, überlasse ich dich wieder deiner Lektüre. Der Staub in diesem Raum bekommt meinen Nebenhöhlen nicht. Sei so gut und fahre kurz mit dem Staubwedel über die Regale, bevor du gehst. Einverstanden?“
Nach diese Neuigkeit konnte sich Reynie kaum mehr auf sein Buch konzentrieren, und so griff er nach dem Staubwedel, tat, wie ihm geheißen, und ging anschließend gleich ins Bett, als würde es dadurch schneller Morgen. Stattdessen aber wurde die Nacht nur länger, denn er war viel zu ungeduldig und aufgeregt, um schlafen zu können. Besondere Möglichkeiten, dachte er immer wieder, und dass er schon überglücklich wäre, wenn er es mit altmodischen normalen Möglichkeiten zu tun bekäme, von besonderen gar nicht zu reden.
Kurz bevor es hell wurde, stand er auf und zog sich an. Das Licht ließ er ausgeschaltet, weil er seine Zimmergenossen nicht aufwecken wollte (die knurrten ihn oft schon an, weil er abends im Bett noch las, obwohl er sich doch die Decke über den Kopf zog und nur eine winzige Taschenlampe benutzte). Er beeilte sich, hinunter in die Küche zu kommen, wo Miss Perumal bereits auf ihn wartete. Auch sie war zu aufgeregt gewesen, um richtig schlafen zu können. Der Wasserkessel auf dem Herd fing gerade an zu pfeifen, und Miss Perumal stellte Tassen und Teller auf den Tisch. Sie stand mit dem Rücken zu ihm.
„Guten Morgen, Miss Perumal“, sagte er mit kratziger Stimme. Er räusperte sich. „Ich freue mich, dass es ihrer Mutter besser geht.“
„Danke, Reynie. Würdest du bitte…“ Miss Perumal drehte sich zu ihm um, musterte ihn und sagte: „Ich fürchte, so wirst du keinen guten Eindruck machen. Gestreifte Hosen und ein kariertes Hemd, das passt nicht zusammen. Im Übrigen glaube ich, dass du die Sachen von jemand anderem angezogen hast. Das ist ja alles mindestens eine Nummer zu groß – und sieh nur: Einer deiner Strümpfe ist blau und der andere violett.“
Reynie sah erstaunt an sich herunter. Gewöhnlich war er der unscheinbarste von allen: Er war durchschnittlich groß, durchschnittlich blass, sein braunes Haar war durchschnittlich lang und seine Sachen waren ebenfalls absoluter Durchschnitt. Heute Morgen jedoch würde er aus jeder Gruppe herausstechen, es sei denn, es wäre eine Gruppe Clowns. Er grinste. „Ich habe mich so angezogen, damit ich Glück habe.“
„Glücklicherweise brauchst du kein Glück“, sagte Miss Perumal und nahm den Kessel vom Herd. „Und jetzt zieh dich bitte um und mach dabei das Licht an, damit du mehr Erfolg bei der Auswahl deiner Kleidung hast. Stör dich nicht daran, wenn die anderen schimpfen.“
Als Reynie zurückkam, erklärte ihm Miss Perumal, dass sie heute viel zu erledigen habe. Der Arzt habe ihrer Mutter ein neues Medikament und eine spezielle Diät verschrieben, und sie müsse alles Nötige dafür besorgen. Also beschloss sie, dass Miss Perumal Reynie zur Prüfung bringen und, wenn alles vorbei war, wieder abholen würde. Nach einem kleinen Frühstück (beide wollten nicht mehr als etwas Toast) und noch lange, bevor sonst noch jemand im Waisenhaus aufstand, fuhr ihn Miss Perumal durch die schläfrige Stadt zu einem Bürogebäude in der Nähe der Bucht von Stonetown. Vor dem Eingang stand bereits eine lange Schlange Kinder, alle waren sie mit ihren Eltern gekommen und alle zappelten sie nervös herum.
Als Miss Perumal mit aus dem Auto stieg, sagte Reynie: „Ich dachte, Sie wollten mich nur absetzen?“
„Du glaubst doch wohl nicht, ich lasse dich hier zurück, ohne mich vorher zu vergewissern, ob das alles seine Richtigkeit hat, oder?“, antwortete Miss Perumal. „In der Anzeige stand nicht einmal eine Telefonnummer. Das ist schon etwas ungewöhnlich, findest du nicht?“
Reynie stellte sich also hinten an der Schlange an, und Miss Perumal ging hinein, um mit jemandem zu sprechen. Es war eine lange Schlange, und Reynie fragte sich, wie viele besondere Möglichkeiten es wohl gab. Vielleicht nur sehr wenige, und vielleicht waren sie alle schon vergeben, bevor er überhaupt die Tür erreichte. Der Gedanke machte ihm Sorgen, aber da drehte sich ein freundlicher Mann vor ihm um und sagte: „Keine Angst, Junge. Wir werden nicht lange warten müssen. Die Kinder gehen in ein paar Minuten gemeinsam rein. Das haben sie eben bekannt gegeben.“
Reynie bedanke sich herzlich und stellte dabei fest, dass einige Eltern in der Schlange dem Mann ärgerliche Blick zuwarfen. Offenbar mochten sie nicht, dass da jemand zu einem Konkurrenten freundlich war. Die Blicke brachten den Mann in Verlegenheit, und er wandte sich ab und sagte nichts weiter.
„Sehr gut“, sagte Miss Perumal, als sie wieder herauskam. „Es ist alles geregelt. Du kannst mich von ihrem Telefon aus anrufen, wenn die Prüfung vorbei ist. Hier ist meine Nummer. Sollte ich noch nicht wieder zu Hause sein, bestell ein Taxi. Mr Rutger im Waisenhaus wird es bezahlen. Und heute Nachmittag erzählst du mir alles.“
„Ich danke Ihnen so sehr, Miss Perumal“, sagte Reynie und griff mit ernster Miene nach ihrer Hand.
„Oh, Reynie, du dummes Kind, sieh mich nicht so dankbar an“, sagte Miss Perumal. Reynie war überrascht, Tränen auf ihren Wangen zu sehen. „Das ist doch nichts. Und jetzt drück deine arme Tutorin noch einmal an dich. Ich denke, nach dieser Prüfung werden meine Dienste nicht mehr gebraucht werden.“
„Ich habe die Prüfung längst noch nicht bestanden, Miss Perumal!“
„Oh, rede nicht so“, sagte sie und umarmte ihn heftig. Dann tupfte sie sich die Augen mit ihrem Taschentuch trocken, lief entschlossen zu ihrem Auto und fuhr genau in dem Augenblick davon, als die Kinder in das Gebäude geführt wurden.
Es war eine sonderbare Prüfung. Der erste Teil entsprach ziemlich genau dem, was Reynie erwartet hatte. Es gab ein, zwei Fragen zu Acht- und Zehnecken, eine andere, in der es um Scheffel hiervon und Kilogramm davon ging, und schließlich eine, in der auszurechnen war, in welcher Zeit zwei aufeinander zurasende Züge zusammenstoßen würden. (Diese letzte Frage beantwortete Reynie mit einem nachdenklichen Stirnrunzeln und vermerkte in einer Notiz neben seiner Rechnung, da sich die Züge einander auf freier Strecke näherten, sei es wahrscheinlich, dass die beiden Zugführer das bevorstehende Unglück erkennen, die Bremsen betätigen und damit den Zusammenprall womöglich ganz verhindern würden.) Reynie brauchte nicht lange zur Beantwortung dieser und noch vieler anderer Fragen, die ganz ähnlich waren. Dann kam der zweite Teil, und die erste Frage lautete: „Siehst du gern fern?“
Damit hatte Reynie nicht gerechnet. Plötzlich ging es um Vorlieben. Und natürlich sah er gerne fern, alle sahen gerne fern. Als er die Antwort ankreuzen wollte, zögerte er jedoch. Stimmte das wirklich? Je mehr er darüber nachdachte, desto bewusster wurde ihm, dass er Fernsehen eigentlich nicht mochte. Ich bin tatsächlich ein Sonderling, dachte er und spürte Enttäuschung in sich. Dennoch beantwortete er die Frage wahrheitsgemäß: „Nein.“
Die nächste Frage lautete: „Hörst du gerne Radio?“ Und wieder begriff Reynie, dass er es nicht tat, obwohl er sicher war, dass er auch damit alleine stand. Mit einem wachsenden Gefühl von Anderssein antwortete er: „Nein.“
Die dritte Frage war Gott sei Dank weniger gefühlsabhängig. Da stand: „Was stimmt mit dieser Feststellung nicht?“ Wie komisch, dachte Reynie und fühlte sich leicht aufgemuntert, als er die Antwort aufschrieb. „Es ist keine Feststellung“, notierte er, „sondern eine Frage.“
Auf der nächsten Seite war ein Schachbrett abgebildet. Ale Figuren standen in ihrer Ausgangsstellung, nur ein schwarzer Bauer war zwei Felder vorgerückt. Die Frage unter dem Bild lautete: „Ist diese Position nach den Schachregeln möglich?“ Reynie betrachtete das Schachbrett eine Weile, kratzte sich am Kopf und schrieb: „Ja.“
Nach ein paar weiteren Seiten mit Fragen, bei denen Reynie ein gutes Gefühl hatte, kam er schließlich zur letzten Frage der Prüfung: „Bist du tapfer und unerschrocken?“
Schon diese Worte zu lesen ließ Reynies Herz schneller schlagen. War er tapfer? Unerschrocken? Er hatte beides nie sein müssen, wie also sollte er auf die Frage antworten? Miss Perumal würde sicher sagen, dass er tapfer sei: Sie würde darauf hinweisen, wie gut gelaunt er zu sein versuche, obwohl er sich doch einsam fühle, wie geduldig er auf die Angriffe der anderen Kinder reagiere und wie glücklich er über neue Herausforderungen sei. Aber war das Tapferkeit? War das Unerschrockenheit? Er glaubte es nicht. Am Ende gab er es auf, nach einer eindeutigen Antwort zu suchen, sondern schrieb einfach: „Ich hoffe es.“
Er legte seinen Bleistift hin und sah sich um. Die meisten anderen Kinder kamen auch gerade zum Ende. Vorne im Raum kaute die Prüfungsaufsicht ziemlich laut auf einem Apfel und passte genau auf, dass niemand mogelte. Es war eine dünne Frau in einem senfgelben Kostüm. Sie hatte gelbliche Haut, kurzes rostrotes Haar und eine steife Haltung. Reynie kam sie vor wie ein lebender Bleistift.
„Die Bleistifte!“, rief die Frau, als hätte sie seine Gedanken gelesen. „Die Prüfung ist vorbei.“
„Aber ich bin noch nicht fertig!“, rief ein Kind. „Das ist nicht fair!“
„Ich will mehr Zeit!“, weinte ein anderes.
Die Augen der Frau verengten sich. „Es tut mir leid, wenn ihr noch nicht fertig seid, Kinder, aber die Prüfung ist vorbei. Bitte gebt eure Bögen nach vorn und bleibt sitzen, während sie ausgewertet werden. Keine Angst, es dauert nicht lange.“
Die Blätter wurden nach vorne gegeben, und Reynie konnte den Jungen hinter sich kichern und zu seinem Nachbarn sagen hören: „Wer die Prüfung nicht fertig bekommen hat, hätte gleich zu Hause bleiben sollen. Zum Beispiel die Schachfrage: Wer kann das nicht kapiert haben?“ Und der Nachbar hörte sich genauso überheblich an: „Die wollten uns austricksen: Bauern können jedes Mal nur ein Feld vorrücken, also war die Position natürlich nicht möglich. Ich wette, ein paar von den Schwachsinnigen hier wussten das nicht!“
„Ha! Da hast du selbst nur Glück gehabt! Natürlich können Bauern zwei Felder vorrücken, wenigstens beim ersten Zug. Aber darum ging es nicht. Weißt du nicht, dass Weiß immer den ersten Zug hat? Der schwarze Bauer war noch nicht an der Reihe! So eine einfache Frage. Die Prüfung war was für Babys.“
„Nennst du mich ein Baby?“, knurrte der andere.
„Ihr dahinten!“, fuhr die Bleistiftfrau dazwischen. „Hört auf zu reden!“
Reynie wurde plötzlich unsicher. Hatte er einen Fehler gemacht? Und was war mit den anderen Fragen? Abgesehen vom etwas sonderbaren zweiten Teil zu Fernsehen, Tapferkeit und so weiter war ihm alles einfach vorgekommen. Aber vielleicht war er so ein seltsamer Vogel, dass er alles falsch verstanden hatte. Er schüttelte den Kopf und versuchte, sich keine Sorgen zu machen. Wenn er sich als tapfer und unerschrocken erweisen wollte, hörte er besser mit der Grübelei auf, und falls es heute nicht klappte, hatte er immer noch Miss Perumal. Was machte es schon, dass er anders als die anderen Kinder war? Jeder wurde von Zeit zu Zeit mal geärgert. Was das anging, war er wie alle anderen.
Reynie sagte sich das alles, aber sein besorgtes Gefühl wollte nicht weichen.
Als alle Bögen eingesammelt waren, ging die Bleistiftdame damit hinaus und überließ die Kinder sich selbst. An ihren Nägeln kauend, starrten sie auf die Uhr. Es dauerte jedoch nur ein paar Minuten, bis die Bleistiftfrau zurückkam und verkündete: „Ich werde nun die Namen der Kinder verlesen, die zum zweiten Teil der Prüfung zugelassen sind.“
Die Kinder begannen zu murmeln. Ein zweiter Teil? In der Anzeige hatte nichts von zwei Teilen gestanden.
Die Frau fuhr fort: „Wenn euer Name aufgerufen wird, habt ihr bis spätestens ein Uhr im Monk-Gebäude in der 3. Straße zu erscheinen. Dort werdet ihr mit den Kindern von den anderen Terminen zusammentreffen, die ebenfalls den ersten Teil bestanden haben.“ Sie fuhr fort, indem sie die Regeln erklärte, was Bleistifte, Radiergummis und Ausschlussgründe betraf. Dann warf sie sich eine Handvoll Erdnüsse in den Mund und begann so wild darauf herumzukauen, als wäre sie am Verhungern.
Reynie hob die Hand.
„Hmm – ja?“, sagte die Frau und schluckte.
„Entschuldigen Sie. Sie sagten, wir dürfen nur einen Bleistift mitbringen, aber was ist, wenn er abbricht? Gibt es dort einen Spitzer?“
Wieder kicherte der Junge hinter Reynie. „Wieso ist der so sicher, dass er weiter dabei sei wird?“, flüsterte er. „Schließlich hat sie die Namen noch nicht aufgerufen!“
Das stimmte. Er hätte warten sollen, bis sie die Namen aufgerufen hatte. Er musste sehr überheblich wirken. Mit brennenden Wangen senkte er den Kopf.
Die Bleistiftfrau antwortete: „Ja, wer einen Spitzer braucht, wird einen bekommen. Niemand darf selbst einen mitbringen. Verstanden?“ Alle nickten mit den Köpfen, und die Frau wischte sich die Erdnusskrümel von den Händen, zog ein Blatt hervor und fuhr fort: „Sehr gut, wenn es keine anderen fragen mehr gibt, lese ich jetzt die Liste vor.“
Es wurde sehr still im Raum.
„Reynard Muldoon!“, rief die Frau, und Reynies Herz tat einen Sprung.
Aus der Bank hinter ihm konnte er ein unzufriedenes Grummeln hören. Als es verstummte, war es im Raum wieder sehr ruhig. Mit angehaltenem Atem warteten die Kinder darauf, dass auch die anderen Namen verlesen würden. Die Frau sah von ihrem Blatt auf.
„Das ist alles“, sagte sie beiläufig, faltete das Blatt zusammen und steckte es ein. „Alle anderen sind entlassen.“
Mit einem Mal war der Raum voller Geschrei und Lärm. Zorn und Verzweiflung machten sich breit. „Entlassen?“, sagte der Junge hinter Reynie. „Entlassen?“
Die Kinder drängten aus der Tür. Einige weinten, andere waren sprachlos und wieder andere beklagten sich jammernd. Reynie ging vor zu der Frau. „Entschuldigen Sie, Miss? Darf ich einmal Ihr Telefon benutzen? Meine Tutorin hat gesagt…“
„Es tut mir leid, Reynard“, unterbrach ihn die Frau, während sie ohne Erfolg ein Fenster zu öffnen versuchte. „Es gibt hier leider kein Telefon.“
„Aber Miss Perumal…“
„Reynard“, sagte die Frau mit einem Lächeln, „ich bin sicher, du kommst auch ohne Telefon aus, nicht wahr? Wenn du mich jetzt bitte entschuldigen würdest, ich muss mich durch die Hintertür davonmachen. Die Fenster scheinen mit Farbe verklebt zu sein.“
„Davonmachen? Aber warum?“
„Ich habe da meine Erfahrungen. Gleich werden einige der Eltern hier hereingestürmt kommen und Erklärungen verlangen. Unglücklicherweise kann ich ihnen keine geben. Deshalb verschwinde ich. Bis heute Mittag. Komm nicht zu spät!“
Und damit war sie auch schon durch die Tür.

Das alles war äußerst merkwürdig, und Reynie hatte den Verdacht, dass es noch merkwürdiger werden würde. Als die Kirchenglocke zur Viertelstunde schlug, hatte er sein Sandwich gegessen und stand von der Parkbank auf. Wenn die Türen des Monk-Gebäudes immer noch nicht auf waren, wollte er nach einem anderen Weg hinein suchen. Mittlerweile würde er sich nicht einmal mehr wundern, wenn er herausfände, dass er durch ein Kellerfenster klettern müsste.
Als er die Stufen zum großen Platz vor dem Monk-Gebäude hinaufstieg, sah er zwei Mädchen vor sich, die nebeneinander auf den Eingang zugingen. Er nahm an, dass die beiden ebenfalls zur Prüfung wollten. Eines der Mädchen schien grünes Haar zu haben, aber vielleicht spielte Reynie auch nur das Licht einen Streich. Die Sonne brannte heute blendend hell vom Himmel. Sorglos warf das Mädchen ihren Bleistift vor sich in die Luft und fing ihn wieder auf. Das würde ich nicht tun, dachte Reynie. Und richtig, während der Gedanke ihm noch durch den Kopf ging, fiel der Stift der Grünhaarigen auf den Boden und verschwand zwischen den Stäben eines Abwasserrosts.
Einen Moment lang zögerte die Freundin der Grünhaarigen und schien ihr helfen zu wollen. Dann aber sah sie auf die Uhr. In ein paar Minuten war es eins. „Tut mir leid wegen des Bleistifts, wie schade“, sagte sie, aber das Mitleid auf ihrem Gesicht verblasste bereits. Man konnte sehen, wie sie überlegte, dass es ohne ihre Freundin weniger Konkurrenz bei der Prüfung geben würde. Mit einem immer breiter werdenden Lächeln auf dem Gesicht eilte sie über den Platz auf den Eingang des Monk-Gebäudes zu, der endlich geöffnet worden war.
Der Metallrost bedeckte einen Abwasserkanal, der unter dem Platz hindurchführte, und die Unglückliche starrte hinunter in die Dunkelheit. Reynie trat neben sie. Sie sah umwerfend aus und sehr außergewöhnlich. Sie hatte pechschwarze Haut, und ihr Haar war so lang, dass sie es sich um den Bauch hätte knoten können (es war tatsächlich grün). Dazu trug sie ein so aufgeplustertes weißes Kleid, dass man glauben konnte, sie stünde in einer Wolke.
„So ein verflixtes Pech“, sagte Reynie. „Dass dir dein Bleistift gerade hier herunterfallen musste.“
Das Mädchen sah ihn mit hoffnungsvollen Augen an. „Du hast nicht zufällig einen zweiten bei dir, oder?“
„Tut mir leid. Sie haben gesagt, wie sollen…“
„Ich weiß, ich weiß“, unterbrach sie ihn. „…nur einen mitbringen. Aber meiner liegt jetzt da unten im Abfluss, und da nützt er mir gar nichts.“ Sehnsüchtig blickte sie durch den Rost und dann wieder zu Reynie auf, als wäre sie erstaunt, dass er immer noch bei ihr stand. „Worauf wartest du? Die Prüfung fängt jede Minute an.“
„Ich lass dich doch hier nicht ohne Bleistift zurück“, sagte Reynie. „Komisch, dass deine Freundin dich so im Stich lässt.“
„Freundin? Ach, das andere Mädchen. Das war nicht meine Freundin – wir sind einfach unten an den Stufen zusammengetroffen. Ich kenne nicht mal ihren Namen, und deinen kenne ich auch nicht.“
„Reynard Muldoon. Du kannst Reynie zu mir sagen.“
„Okay, Reynie, schön, dich kennenzulernen. Ich bin Rhonda Kazembe. Also, jetzt wo wir Freunde sind, wie willst du meinen Bleistift da wieder heraufholen? Wir sollten uns besser beeilen. Noch eine Minute, und wir brauchen gar nicht erst anzutreten.“
Reynie holte seinen eigenen Bleistift heraus, einen neuen gelben Nr. 2, den er am Morgen sorgfältig gespitzt hatte. „Wir teilen uns einfach den hier“, sagte er, brach den Stift entzwei und gab ihr das angespitzte Ende. „Ich spitze mein Ende neu an, und dann haben wir beide einen. Hast du einen Radiergummi?“
Rhonda starrte ihre Hälfte des Bleistifts mit einer Mischung aus Dankbarkeit und Überraschung an. „Darauf wäre ich nie gekommen“, sagte sie, „den Bleistift einfach so durchzubrechen. Was hast du gesagt? Ja, ich habe einen Radiergummi.“
„Dann lass uns hineingehen, wir haben nur noch eine Minute“, drängte Reynie.
Rhonda blieb noch stehen. „Einen Moment, Reynie. Ich habe dir noch nicht richtig gedankt.“
„Schon gut“, sagte er ungeduldig. „Lass uns jetzt bitte gehen!“
Immer noch bewegte sie sich nicht. „Nein, ich will dir wirklich danken. Ohne dich könnte ich die Prüfung nicht machen, und weißt du was?“ Sie sah sich um, als wolle sie sich versichern, dass sie alleine waren. „Ich habe die Antworten“, flüsterte sie. „Ich bekomme die volle Punkzahl.“
„Was? Wie?“
„Keine Zeit für Erklärungen, Reynie. Aber wenn du dich direkt hinter mich setzt, kannst du mir über die Schulter sehen. Ich halte meinen Bogen hoch, damit du es leichter hast.“
Reynie war verblüfft. Wo um alles in der Welt konnte das Mädchen die Antworten herhaben? Und jetzt bot sie ihm auch noch an, ihm beim Mogeln zu helfen! Für einen Augenblick war er versucht, ihr Angebot anzunehmen. Er wünschte sich so sehr, mehr über die besonderen Möglichkeiten herauszufinden. Aber als er sich vorstellte, wie er zurück zu Miss Perumal käme und ihr von seinem Erfolg erzählte, dabei aber verschweigen müsste, dass er gemogelt hätte – nein, das ging nicht.
„Nein danke“, sagte er. „Lieber nicht.“
Rhonda Kazembe wirkte erstaunt, und wieder spürte Reynie das Gewicht des Alleinseins auf seinen Schultern. Das Gefühl, anders zu sein als die übrigen Kinder im Waisenhaus von Stonetown, war schon nicht sehr schön, aber dass ihn jetzt auch noch ein grünhaariges Mädchen, das seine eigene Nebelbank dabeihatte, für einen Sonderling hielt, das war wirklich schlimm.
„Okay, wie du willst“, sagte Rhonda, als die beiden auf den Eingang zuliefen. „Ich hoffe, du weißt, was auf dich zukommt.“
Reynie hatte es zu eilig, um ihr zu antworten. Natürlich wusste er nicht, was auf ihn zukam, deshalb wollte er es ja herausfinden.



ACHTUNG!!!
5 Exemplare von TEIL 2 dieses spannenden Buches verlosen wir im Dezember 2009 auf bookrix!!!
Teilnehmen!

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 12.11.2009

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /