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Jennifer Lynn Barnes:
Tattoo


Ab 14 Jahren.


Zur Autorin:

Jennifer Lynn Barnes wuchs in Oklahoma auf und studierte an den Universitäten von Yale und Cambridge. Mit 19 Jahren schrieb sie ihren ersten Roman "Golden" (Bloomsbury K&J 2007), 2009 folgte "Platin" (Bloomsbury K&J)
Jennifer Lynn Barnes lebt in New Haven, Conneticut.


Leseprobe:

Wir übernachteten eigentlich jeden Freitag zusammen, aber dieser fiel trotzdem aus dem Rahmen, denn statt wie sonst als Erste oder Zweite wegzuschlummern, lag ich zwischen den anderen in meinem Schlafsack und starrte an die Decke. Was war, wenn diese näher kommende Gefahr auftauchte, während wir schliefen? Oder wenn ich einen Albtraum bekam und damit das Haus abfackelte? Oder, wo wir schon dabei waren, vielleicht würde Delia das ganze Haus mit uns darin in eine riesige Jimmy-Choo-Boutique verwandeln. Wer konnte das schon sagen? Vielleicht war die neben mir auf dem Boden schlummernde Annabelle gerade jetzt dabei, ungewollt die ganze Nachbarschaft in Zombies zu verwandeln, die mit schleppenden Stimmen sprachen und auf ihre Schuhe starrten.
„Ist das nicht hinreißend?“, murmelte Delia in ihr Kissen. Sie war dafür berüchtigt, im Schlaf zu brabbeln. „Très chic.“
Meine Lider wurden schwerer, und ich rollte mich auf die Seite, wobei ich mir streng befahl, die Augen offen zu halten. Solange ich keine Kontrolle über diese Feuersache hatte, war ich entschlossen, wach zu bleiben.
Natürlich war ich dreißig Sekunden später eingeschlafen.



Ich hörte den Wasserfall, bevor ich etwas sah. Die Luft vibrierte vom Rauschen des Wassers, das auf Felsen traf, der Klang erfüllte den ansonsten stillen Raum. Ich öffnete die Augen – obwohl ich mich nicht erinnern konnte, sie überhaupt geschlossen zu haben – und starrte an die Decke. Meine Zimmerdecke war das nicht. Wasser strömte an ihr entlang von einer Seite zur anderen und floss die Wände hinunter bis zum Boden. Meine Hände griffen nach dem Schlafsack, um ihn mir über die Augen zu ziehen, aber berührten stattdessen kalten Fels. Ich setzte mich auf und stellte fest, dass ich mich nicht länger im Schlafsack befand und dass mich diese Tatsache angesichts des freakigen, über Kopf strömenden Wasserfalls nicht hätte überraschen sollen. Ich fuhr mit der Hand über den Steinboden, auf dem ich saß. Er war glatt, aber hier und da berührten meine Finger Einkerbungen. Ich brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass etwas in den Fels hineingemeißelt war. Schnell stand ich auf und trat zurück, denn ich wollte unbedingt einen Blick auf das Gesamtbild werfen. Was ich sah, war eine runde Plattform, die ein bisschen höher war als der Rest des Bodens. Als ich weiter zurücktrat, fühlte ich Gras unter den Füßen; nasses Gras an einem angenehm warmen Sommertag.
„Hier herrscht immer Sommer, wenn wir es so wünschen.“
Diese Stimme. Ich kannte diese Stimme. Weiblich, leise, sanft, aber dennoch so unglaublich machtvoll. So alt.
Die Besitzerin der Stimme lachte. „Keine Lady hört gerne, dass sie alt ist, mein Kind“, tadelte sie.
Ich presste die Augen zusammen. Das hier konnte nicht wirklich passieren.
„Selbst eine unsterbliche Lady nicht“, fügte eine zweite Stimme hinzu, die voll und tief klang, aber nicht weniger schrecklich oder wundervoll war als die erste.
„Unsterblich?“, quiekte ich und ärgerte mich sofort über mich selbst. Hier stand ich mit geschlossenen Augen, versuchte mich zu überzeugen, dass nichts von alldem passierte, und dann fing ich ein Gespräch mit den beiden an? Brilliante Idee.
„Schau uns an, Kind.“
Ich wollte ihr nicht gehorchen, aber die Stimme war so wunderschön und fürchterlich zugleich, dass ich nicht dagegen ankam. Langsam drehte ich mich um, atmete tief durch und öffnete die Augen.
Fast hielt ich das Haar der Frau für schwarz, aber es war ein sehr dunkles Rot. In dicken, schimmernden Wellen fiel es über ihre Schultern bis zur Hüfte. Wäre der ganze Raum stockdunkel gewesen, hätte allein der Glanz ihres Haares ausgereicht, um ihn zu erleuchten.
Ein ähnliches Licht strahlten ihre Augen aus, die so blau waren, dass ich es kaum ertragen konnte, hineinzuschauen.
Der Mann an ihrer Seite hatte schwarzes Haar, das bläulich glänzte, du die gleichen atemberaubenden blauen Augen.
„Unsterblich?“, wiederholte ich, während mir einer Million anderer, besserer Fragen durch den Kopf schwirrten. Wo war ich? Weshalb war ich hier? Warum hatte ich die ganze Zeit ihre Stimmen gehört? Was wollten sie von mir?
„Beruhige dich, Kind“, sagte die Frau und pflückte mit Leichtigkeit alle Ängste und Fragen aus meinem Kopf. „Wir sind nicht hier, um dir Leid anzutun. An diesem Ort bist du in Sicherheit. Seit Tausenden von euren Jahren ist er rein geblieben, unbefleckt von Gewalt. Noch ist er sicher.“
Sie zeigte mit einer Geste auf die runde, behauene Steinfläche im Boden.
„Das Siegel“, sagte sie kaum hörbar. „Es beschützt diesen Platz vor jenen, die ihm und deiner Welt Leid antun wollen.“
Mit ihrem ständigen Gerede über „Leid antun“ machte die Lady mich ziemlich nervös.
Sie trat vor und nahm meine Hand. Ihre Haut war weich und so kühl wie das steinerne Siegel selbst. „Ich heiße Aldea“, sagte sie. „Er heißt Valgius. Uns bleibt zum Reden nicht viel Zeit. Wir können aus unserer Welt nur kurz deine Träume berühren. Lass mich deine Frage beantworten: Wir sind nicht unsterblich. Eines Tages, in Hunderttausenden eurer Jahre, werden wir gealtert sein. Schon vorher könnten wir sterben, wenn großes Leid uns befällt, wenn das Gleichgewicht zerstört wird und mit ihm das Siegel. Zwar haben wir bereits Zehntausende eurer Jahre gelebt und mögen die daher unsterblich erscheinen, aber das ist nur ein Wort für eine sehr lange Zeit. Du bist hier, weil wir dich hergerufen haben und weil du es selbst so wolltest. Du bist hier wegen des Blutes.“
„Blut der Sídhe“, stieß ich hervor und erinnerte mich an ihre Stimme in meinem Kopf, als ich die Tattoos zum ersten Mal gesehen hatte.
„Wir sind Sídhe“, sagte der Mann schlicht, „und wir brauchen deine Hilfe.“



Da hörte der Traum plötzlich auf, einfach so, und ich starrte wieder an meine Zimmerdecke. Der Schweiß lief mir über die Stirn, und das Tattoo auf meinem Rücken pochte, als hätte jemand ein Messer hineingestoßen.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 11.11.2009

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