Antje Wagner:
Unland
Für Jugendliche ab 14 Jahren.
Zur Autorin:
Antje Wagner, geboren 1974 in Lutherstadt Wittenberg, studierte Deutsche und Amerikanische Literatur- und Kulturwissenschaften in Potsdam und Manchester. Sie schreibt Romane und Erzählungen und übersetzt auch aus dem Englischen. Zuletzt erschien von ihr der Roman "Hinter dem Schlaf" (KiWi 2005).
2009 erhielt sie den Mannheimer Feuergriffel für Kinder- und Jugendliteratur.
Leseprobe:
Nach ein paar Minuten lösten sich die Zwerge aus unserer Mitte und begannen, auf dem Platz hin und her zu rennen, sich hinter den Buden zu verstecken und Fangen zu spielen. Sie standen den Aufbauern im Weg herum, aber da waren noch mehr Kinder, die genau dasselbe machten, und die Aufbauer lachten und schienen das gewohnt zu sein.
Lizzie lehnte im Schatten einer Bude, die morgen Zuckerwatte verkaufen würde, wie die glitzernden, flamingofarbenen Buchstaben verrieten. Der Typ war jetzt dabei, einen großen Maikäfer in das Kinderkarussell einzupassen. Dann sah er zu Lizzie herüber, stocjte, fuhr sich nervös durchs Haar, Lizzie schaute ebenfalls, und die Luft schien plötzlich zu brutzeln.
„Oh, oh“, sagte Ann. „Ich höre Amors Pfeil heranschwirren.“ Lizzie ging aber seltsamerweise nicht näher an das Karussell, sondern zog sich tiefer in den Schatten der Bude zurück. Der Junge machte weiter, sah aber immer wieder zu Lizzie hin.
Jemand stellte riesige Boxen auf, ein anderer schraubte Lautsprecher an die Buden und Karussells. Ein paar Jungs aus der Achten beschwerten sich, dass die Autoscooterbahn viel zu klein sei. Schließlich waren die Karussells fertig aufgebaut. Die Buden standen. Vor den Buden parkten Jeeps mit Anhängern, und Männer mit Cowboyhüten schoben Kartons und Kisten über die Budentheken. In der Mitte des Sportplatzes wurde jetzt ein Pfahl errichtet, der höher als alles, höher sogar als das kleine Riesenrad war und von dem aus lauter lange Schnüre mit Hunderten Glühlampen in alle Richtungen gespannt wurden. Wenn man die alle anmachte, würde der Platz so aussehen als hätte er ein Dach aus farbigem Licht. Erst jetzt merkte ich, dass die Dämmerung längst gekommen war.
„Es wäre echt cool, wenn sie die Beleuchtung oder die Musik testen würden!“
Und als hätte irgendwer mich gehört, passierte es.
Es klang, als würde jemand einen riesigen Schalter umlegen. Es knirschte, knarzte, rauschte in den Boxen und Lautsprechern, dann flammten alle Lichter auf, blau, rot, grün, gelb, und nicht nur die ganz kleinen Kinder schrien begeistert auf. Die Musik sprang an. SEPTEMBER brüllte „Cry for you“ über den Platz in die Lichter und in die Dunkelheit dahinter, in die dichten Bäume, und ich fühlte, wie mir der Rhythmus direkt in die Füße schoss, meine Zehen zum Zucken brachte und die Mundwinkel anhob, und hatte doch zugleich ein unangenehmes Schule-Gefühl, so als würde DJane Cindy wieder auflegen. Das brachte mich zum Grinsen. Nie hätte ich gedacht, dass Musik mich mal an Schule denken lassen würde. SEPTEMBER war jetzt beim ersten Refrain angekommen, die Lampen leuchteten, die Autoscooterbahn gab ein Heulen von sich, und ich fing gerade an, wie Ann und all die anderen um uns herum mitzubrüllen, „You never see me agaaaaaaiiiin…“, als sich plötzlich das Licht veränderte, merkwürdig hell wurde, und alle nach oben sahen, in diese bunten Lampen, die den ganzen Platz überstrahlten und heller wurden, immer heller, viel zu –
Dann gab es einen Knall, und SEPTEMBERs Stimme erstarb, als hätte jemand sie erschossen. Im selben Augenblick war es finster. Nicht einfach nur abenddunkel, wie sonst auch, nein, stockfinster – denn die Straßenlampen waren ebenfalls erloschen.
Einen – wie mir vorkam – unendlich langen Moment war es erschreckend still, so als hätten alle um uns herum den Atem angehalten. Und dann schrie ein kleines Mädchen: „Stromausfall! Es ist Stromausfall!“ Es klang aber eher, als würde sie schreien: „Lauft! Lauft um euer Leben!“
Ich wollte gerade was Witziges zu Ann sagen, als ich das Getrppel hörte. Hektisches Getrappel von Füßen um uns herum. Taschenlampen und Handylichter wurden hastig angeschaltet. Und dann fingen die Waldburgener an, sich beim Namen zu rufen. Sie riefen ihre Familien zusammen, Geschwister und Freunde. Sie griffen sich fest an den Händen und rannten los. Um nicht zu sagen: Sie stoben davon. Es dauerte nur Sekunden. Dann war der Platz leer. Nur ein paar Fahrräder lagen noch da, wie ich im Schein meines Handylichts erkannte. Es war geradezu gespenstisch.
Außer der Rummelcrew und uns war niemand mehr da. Und da kroch auf einmal ein unangenehmes Gefühl in mir hoch. Im selben Moment klingelte ein Handy, und ich hörte, wie Ann antwortete: „Ja, ja, wir sind schon unterwegs. Nein, es fehlt keiner. Mach dir keine Sorgen! Wir sind in drei Minuten da.“
„Wo sind die Zwerge?“, fragte Lizzie. „Wir müssen nach Hause.“
„Aber…“, wollte ich protestieren.
„Sofort!“, sagte jetzt auch Ann, und ihr Tonfall duldete keinen Widerspruch. „Denise, Axel?“, rief sie. „Kommt zu mir! – Franka, leuchte mich an!“ Ich richtete das Handylicht auf Anns Gesicht, und dann hörten wir, wie Denise und Axel aus dem Dunkel angetrippelt kamen. Eine kleine Hand griff nach meiner und hielt sich an mir fest, und ich brauchte das Licht nicht nach unten zu richten, um zu sehen, dass es Axel war.
„Okay“, sagte Lizzie. „Sind wir vollzählig?“
„Alle da“, sagte Ann. „Gebt mir eure Handys“, sagte sie zu Lizzie und mir! - Franka, du bist stärker als ich, du trägst Axel. Lizzie und ich werden uns abwechseln, Denise zu tragen. Ich leuchte uns erst mal den Weg. – Denise, pass auf, hab keine Angst, wir werden dich jetzt anfassen und hochheben, ja?“ Denise nickte.
„Sie können doch selber laufen“, wagte ich einzuwerfen. „Es sind doch keine Babys mehr.“
„Wir müssen so schnell wie möglich nach Hause!“, schnitt Lizzie mir das Wort ab.
„Was ist denn bloß mit euch los? Hier ist es doch viel interessanter!“
Ich hörte, wie die Aufbauer leise miteinander redeten. Ich schnappte das Wort „Stromüberlastung“ auf und hatte absolut keine Lust, jetzt nach Hause zu gehen.
„Hast du Axel?“, wollte Lizzie wissen.
„Eye, eye, Käpt’n“, sagte ich und hob den kleinen Racker hoch, so dass er auf meiner Hüfte saß und sich an meinem Hals festhalten konnte.
„Dann los“, sagte Ann und stürmte davon. Die zwei zitternden Lichtkreise entfernten sich immer schneller.
Ich hatte nicht gewusst, dass wir rennen würden. Aber als auch Lizzie lospreschte, umfasste ich Axel fester, flüsterte ihm noch mal ins Ohr: „Halt dich gut fest, okay? Ich bin jetzt dein Rennpferd!“, und dann stürzte ich hinterher.
Mir war in Berlin nie so richtig aufgefallen, wie dunkel Dunkelheit eigentlich sein konnte. Es war so finster wie in einem Kino, wenn der Film gerissen war. Nein, sogar noch viel dunkler, denn im Kino gab es wenigstens noch das wabernde grüne Licht der Notlampen.
Hier gab es nichts. Nur die schwärzeste Schwärze. Ich musste aufpassen, dass ich nicht mit dem Fuß in einer dieser Wurzeln hängen blieb. Auch die Häuser waren alle finster. Nirgendwo eine Lampe, nicht mal das bläuliche Flimmern eines Fernsehers. Ich war mir nicht sicher, ob ich alleine in dieser Finsternis bis zum Haus Eulenruh finden würde.
Es war etwas Seltsames an dieser Dunkelheit. Etwas, was mir ganz und gar nicht gefiel. Vielleicht war es diese eigenartige Stille. Das Einzige, was man hören konnte, waren unsere Schritte und unser Atem. Und dennoch war da noch etwas. Es war ganz deutlich. Etwas, was noch dunkler war als die Finsternis.
Ich zog Axel dichter an mich heran und flüsterte: „Hab bloß keine Angst! Wir kommen schon gut zu Hause an“, und merkte im gleichen Moment zwei Dinge: Dass ich Haus Eulenruh als Zuhause bezeichnet hatte. Und dass ich eigentlich nicht Axel beruhigen wollte, sondern mich.
Wir bogen vom Großen Streng in den Dreieulenweg ein. Als wir durch den riesigen Eisbecher hindurchrannten und auf unserem Grundstück waren, als ich hörte, wie Fussel neben uns hersprang und ich mich gerade beruhigen wollte, als wir durch das ganze Grün zur Haustür liefen, streifte mich auf einmal etwas am Arm, und ich machte einen Sprung zur Seite und stieß einen kleinen Schrei aus.
Und dann hetzte ich richtig. Es war nur ein der Klettergewächse gewesen, sagte ich mir, nur eine Pflanze. Knöterich. Klematis. Und wilder Wein. Sonst nichts. Sonst nichts!
Aber das stimmte nicht.
Wir standen japsend vor dem Haus und drückten auf den Klingelknopf. Der Schlüssel drehte sich im Schloss, und die Tür ging auf. Andreas Kämpf stand mit einem Kerzenleuchter in der Hand da und rief: „Gott sei Dank!“
Wir sagten nichts, stürmten nur ins Haus. Andreas Kämpf schlug die Tür zu und drehte den Schlüssel wieder herum. Als hätte er Angst.
Wir standen drin und keuchten. Ich presste Axel immer noch an mich. Ich starrte auf die geschlossene Tür.
Nicht „etwas“ hatte mich da draußen gestreift. Sondern jemand. Jemand hatte gerade versucht, nach meinem Oberarm zu greifen.
Tag der Veröffentlichung: 11.11.2009
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