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Marjolijn Hof:
Mutter Nummer Null.


Für Kinder/Jugendliche ab 10 Jahren.


Zur Autorin:

Marjolijn Hof wurde 1956 in Amsterdam geboren. Sie arbeitete lange Zeit als Bibliothekarin, bevor sie schließlich begann, selbst Bücher zu schreiben.

Marjolijn Hofs Debütroman "Tote Maus für Papas Leben" wurde mit den wichtigsten Kinderbuchpreisen in den Niederlanden und Belgien ausgezeichnet udn war dieses Jahr nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis. Auch ihr zweites Buch erhielt bereits großes Lob. "Mutter Nummer Null" beruht auf Marjolijn Hofs eigenen Erfahrungen als Adoptivkind.


Leseprobe:

Einzeln betrachtet, sind wir nicht so auffällig. Aber wer uns zusammen sieht, weiß sofort, dass da etwas nicht stimmt. Meine Mutter ist blond und hat blaue Augen. Mein Vater hat graue Augen, rötliche Borsten und eine kahle Stelle am Hinterkopf. Meine Schwester ist Chinesin. Sie hat dunkle Augen und schwarzes, glattes Haar. Und dann bin da noch ich. Meine Haare sind braun und zerrupft. Meine Mutter sagt immer, ich hätte Honig-Augen. Aber das klingt ziemlich übertrieben. Meine Augen sind braun, aber nicht braun genug. Als wäre die Augenfarbe so gut wie aufgebraucht gewesen, als ich gemacht wurde.
Bei uns zu Hause sieht niemand dem anderen ähnlich. Das ist nicht weiter schlimm. Das war schon immer so, also bin ich daran gewöhnt. Aber unsere Namen, die sind schlimm. Meiner ist einfach unpraktisch: Fejzo. Niemand weiß, wie man das aussprechen muss. Darum nennen mich alle Fee. Aber das hilft mir auch nicht wirklich, denn Fee ist ein Mädchenname.
Der Name meiner Schwester ist eine Katastrophe. Sie heißt An Bing Wa. Selbst Chinesen finden das seltsam. An Bing Wa bedeutet so viel wie Friedliches Eisbaby. Meine Schwester wurde im Januar draußen in der Eiseskälte irgendwo in China gefunden. Sie wurde in ein Waisenhaus gebracht, und dort hat man ihr den Namen Eisbaby gegeben. Alle nennen sie An, aber ich sage immer Bing zu ihr. Und wenn ich sie ärgern will, nenne ich sie Eisbaby.
„Ihr hättet uns neue Namen geben sollen“, sagte Bind einmal zu meinen Eltern.
„Das wollten wir nicht“, sagte meine Mutter.
„Warum nicht?“, fragte Bing.
„Weil die Namen zu euch gehörten“ sagte mein Vater.
„Weil ihr nur einen Namen hattet und sonst fast nichts“, sagte meine Mutter.
„Aber wir hatten doch etwas dabei“, sagte ich.
„Du weißt doch“, sagte sie. „ihr hattet eure Kleidung. Und An hatte eine Kuscheldecke und du ein Quietschtier, Fee.“
„Erzähl noch mal, was mit meiner Decke passiert ist“, sagte Bing.
„Meine Mutter schüttelte leicht den Kopf.
„Das war ein Drama“, sagte mein Vater.
„Die Decke war ganz schmutzig“, sagte sie. „Ich habe sie in die Waschmaschine gesteckt, und dann fiel sie auseinander.“
„Habe ich geweint?“, fragte Bing.
„Nein“, sagte mein Vater. „Ich glaube nicht, dass du sie vermisst hast.“
„Aber ich habe geweint“, sagte meine Mutter. „Ich fand es so furchtbar. Das war deine Decke, und ich habe sie ruiniert.“
„Sie hörte eine Woche lang nicht auf zu jammern“, sagte mein Vater. Er machte ihre Stimme nach: „Oh, die Decke! Die arme Decke!“
Nach meinem Quietschtier brauchte ich nicht zu fragen. Das war noch ganz und lag in der Schublade unter meinem Bett. Wenn man genau hinsah, konnte man erkennen, dass es ein Hund war. Vom vielen Hineinkneifen war er völlig verbeult.

Als ich in der dritten Klasse war, sprachen wir über das Kinderkriegen und über Mütter. Darüber, was eine Großmutter, eine Urgroßmutter und eine Ururgroßmutter ist. Ich hatte eine Tabelle mit leeren Kästchen bekommen und sollte alle irgendwo eintragen. Das fand ich prima. Mir machte es Spaß, Dinge zu ordnen. Ich fing mit mir selbst an. Danach ging ich zum Kästchen für meine Mutter. Ich wusste nicht weiter.
„Ich bin adoptiert“, sagte ich zur Lehrerin.
„Das macht nichts“, sagte sie. „Dann machen wir einfach noch ein Kästchen dazu.“
Meine Tabelle bekam zwei Mutter-Kästchen. In das eine schrieb ich: „Mutter 1“, das war meine erste Mutter. In das andere schrieb ich: „Mutter 2“, das war meine jetzige Mutter. Das tat mir sofort leid. Meine jetzige Mutter war plötzlich Nummer zwei geworden. Schnell, bevor die Lehrerin es lesen konnte, radierte ich alles wieder weg und füllte die Kästchen erneut aus. In das erste Kästchen schrieb ich: „Mutter 0“. In das zweite: „Mutter 1“.
„Gehöre ich zu dir oder eigentlich doch nicht?“, fragte ich meine Mutter, als ich aus der Schule kam.
„Du bist mein Sohn“, antwortete sie. „Für immer! Du kommst nur aus dem Bauch von jemand anderem.“
Ich war froh, dass sie Mutter Nummer eins war. Wenn mich jemand danach fragte, wie es war, adoptiert zu sein, dann erklärte ich das auf ihre Art und Weise. Ich sagte, dass ich aus einem anderen Bauch kam. Natürlich war ich ab und zu neugierig auf Mutter Nummer Null. Aber nie sehr doll. Ich gehörte zu meiner Mutter und meinem Vater von jetzt. Auch wenn ich irgendwo anders zur Welt gekommen war.
Ich glaube, dass Bing von Anfang an neugieriger war. In ihrem Zimmer hing ein chinesischer Sonnenschirm an der Decke und sie hatte einen chinesischen Schlafanzug.
„Warum lässt du dir nicht ein chinesisches Tattoo machen?“, fragte ich sie.
Sie zeigte auf ihren Hintern. „Hier?“
„Nein!“, sagte meine Mutter.
„Ja, da“, sagte ich. „Vielleicht einen Drachen?“
„Aber dann schon einen großen“, sagte Bing. „Von so einem kleinen Drachen hat man nichts, der fällt nicht auf.“
„Groß und in Farbe“, stimmte ich zu. „Das fällt auf: rot, grün und blau.“
„Und gelb“, sagte Bing.
Meine Mutter guckte erleichtert. „Jetzt übertreibt ihr. Jetzt glaube ich euch kein Wort mehr.“
„Übertreiben? Das ist mein Hintern, und ich kann damit machen, was ich will!“
„Mir gehört er auch ein bisschen“, sagte meine Mutter. „Schließlich habe ich ihn jahrelang sauber gemacht.“
„Das machen alle Mütter“, sagte Bing. „Das ist überhaupt nichts Besonderes.“

Bing ist die Älteste. Kurz vor ihrem ersten Geburtstag stiegen meine Eltern ins Flugzeug, um sie aus China zu holen. Im Waisenhaus sangen sie „Hoch soll sie leben!“, worauf Bing anfing, wie eine Irre zu kreischen. Meine Mutter hat das schon über hundertmal erzählt. Nicht alle Geschichten, die sie erzählt, sind wahr, aber diese schon. Wenn man meine Mutter singen hört, begreift man, warum.
Ich kam später. Meine Eltern mussten dazu nicht verreisen: Ich bin in den Niederlanden geboren. Trotzdem komme ich wie Bing aus dem Ausland. Meine Mutter Nummer Null wohnte in Bosnien, als ich in ihrem Bauch war. Mutter Nummer Null wollte kein Baby, da sie nicht für mich sorgen konnte. Darum hat sie mich weggegeben, zum Glück an niemanden im eigenen Land. Denn dort herrschte Krieg und es gab viel zu viele Probleme. Sie war so klug, hierherzukommen und mich in ihrem Bauch mitzunehmen.
Manchmal dachte ich darüber nach, wie es hätte sein können. Dann stellte ich mir ein Land mit zerschossenen Häusern vor. Wenn meine Mutter in Bosnien geblieben wäre, hätte ich vielleicht in so einem Haus gewohnt. Aber meistens waren diese Gedanken irgendwo tief in meinem Kopf verborgen. Alle Kinder kamen aus einem Bauch, und niemand konnte sich daran erinnern. Was machte es dann aus, ob es der eine Bauch war oder der andere? Oder der eine Ort oder der andere?

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Tag der Veröffentlichung: 10.11.2009

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