Sue Halpern:
Das ganz normale Leben der Sasha Abramowitz
Für Kinder/Jugendliche ab 10 Jahren.
Zur Autorin:
Sue Halpern hat mehrere Sachbücher und einen Roman veröffentlicht. Sie lebt mit ihrem Mann, dem Autor Bill McKibben, ihrer Tochter und einem vierbeinigen Hund in Vermont, USA. "Das ganz normale Leben der Sasha Abramowitz" ist ihr erstes Jugendbuch.
Leseprobe:
Nennt mich… Sasha. Sasha Abramowitz. Das ist so ziemlich mein Name. Offiziell heiße ich Sasha Marie Curie Abramowitz, aber ich find’s seltsam, dass da zwischen meinem eigenen Namen noch der einer wildfremden Person steht, selbst wenn es der Name der ersten Frau ist, die den Nobelpreis gewann, übrigens der einzige Mensch, der ihn zweimal gewann. (Und das müsst ihr euch mal vorstellen: Marie Curie war mit einem Mann verheiratet, der ebenfalls den Nobelpreis gewann, und sie hatten eine Tochter, die ebenfalls den Nobelpreis gewann, und diese Tochter heiratete einen Mann, der ebenfalls den Nobelpreis gewann. Fragt man sich, wie sich ihr anderes Kind, das einzige Familienmitglied, das keinen Nobelpreis gewann, gefühlt haben muss. Ich möchte wetten, dass ihr Name nie bei jemandem eingeparkt wurde.)
Meine Eltern dachten, es wäre inspirierend, Marie Curies Namen in meinen einzubauen, als würde ihre Größe irgendwie auf mich abfärben. Wenn ich mich früher manchmal beschwerte, schüttelte mein Vater bedauernd den Kopf und sagte: „Tja, Sasha, wir waren drauf und dran, dir auch noch ihren Mädchennamen zu geben, aber auf der Geburtsurkunde war einfach kein Platz mehr.“ Man soll sich ja bekanntlich über die kleinen Dinge des Lebens freuen. Zum Beispiel, dass man nicht Sasha Marie Slodowska Curie Abramowitz heißt.
Auch wenn’s vielleicht noch zu früh ist, um es ganz genau zu wissen, glaube ich nicht, dass ihre Rechnung aufgeht, denn obwohl ich erst elf bin, habe ich irgendwie meine Zweifel, dass ich später mal Physikerin (Marie Curie Nobelpreis Nr. 1) oder Chemikerin werde (Marie Curie Nobelpreis Nr. 2). Ich will Schriftstellerin werden. Das, und vielleicht noch Konditorin. Ich persönlich finde, man hätte dem Entdecker des Fudge Brownie den Nobelpreis geben sollen. Aber ohne Nüsse. Brownies mit Nüssen waren eine sehr schlechte Idee, du ich will ja jetzt nicht gemein sein, aber ich hoffe ehrlich, dass derjenige, der sich das ausgedacht hat, ausreichend dafür bestraft wurde.
Ob ihr’s glaubt oder nicht, meine Mutter findet Nüsse total lecker – vor allem Walnüsse. Sie sagt, von der Seite sähen sie ein bisschen so aus wie der Hippocampus, und das findet sie auch toll. Als ich noch ganz klein war, dachte ich immer, der Hippocampus wäre ein großes Säugetier, das in Afrika lebt (wie das gleichzeitig wie eine Walnuss aussehen soll, fragte ich mich nicht). Wie sich herausstellte, ist der Hippocampus aber ein Teil des Gehirns, und genau das erforscht sie – die Teile des Gehirns, die mit dem Gedächtnis zu tun haben. (Ihr solltet mal ihr Labor sehen. Eklig.) Mama und Papa lehren beide am Krieger College, und da wohnen wir auch, in einem Studentenwohnheim. Sie sind die Hauseltern, und das bedeutet, wenn die beknackte Caroline Fleck sich mal wieder ausgesperrt hat oder der lahmarschige Tommy Mendoza von seiner Freundin den Laufpass gekriegt hat (ebenfalls mal wieder, obwohl ich das bestimmt eigentlich gar nicht wissen darf), oder wenn’s ganz danach aussieht, als würde Jillian Kramer mit ihren supertollen Haaren und ihrer supertollen Haut und ihren supertollen Klamotten durch ihre Spanischklausur rasseln, versuchen meine Eltern, diesen Leuten zu helfen. Sie schließen Caroline die Zimmertür auf, sie nehmen Tommy in den Arm und stellen ihm ein Glas Kakao hin, und sie besorgen Jillian einen Nachhilfelehrer. Tag und Nacht hämmern irgendwelche Studenten bei uns an die Tür, vor allem aber nachts, wovon jedes Mal unser Hund Dreibein zu jaulen beginnt, mit einer Ausnahme: wenn sie wittert, dass Frank Benjamin kommt. Dreibei weiß immer, dass er es ist, und macht Platz, rollt sich auf den Rücken und strampelt wie verrückt mit ihren drei Beinen in der Luft, bevor Frank Benjamin auch nur mit einem Fingerknöchel das Holz berührt hat. (Fakt: Was mit dem anderen Bein passiert ist, weiß man nicht. Als ich auf der Bildfläche erschien, war es einfach nicht mehr da.) Frank will für sein Semester-Abschlussprojekt ein viertes Bein für Dreibein basteln, das richtig funktioniert und genauso aussieht wie ein normales Bein, aber eigentlich ein kleiner Computer ist. Das Dumme ist nur, sage ich ihm immer wieder, dass Dreibein dann nicht mehr Dreibein heißen kann, weil sie dann kein dreibeiniger Hund mehr sein wird.
„Nimm doch nicht alles so wörtlich, Sasha“, sagt mein Vater. „Auf dieser Welt ist genug Platz für einen Vierbeiner namens Dreibein.“
Das ist typisch für meinen Vater, der Dichter ist. Jeden Tag sitzt er zwei Stunden beim Herrenfriseur in der Stadt und schreibt Gedichte. Die haben sogar einen Stuhl für ihn reserviert. Er sagt, der Friseur sei der optimale Ort zum Schreiben, wegen der „Atmosphäre“. Er sagt, sein Büro an der Uni, wo er Englisch lehrt, sei zu öde. „Kein gutes Medium, um die kreativen Säfte zur Gärung zu bringen“, sagt er immer. Klingt für mich eher, als würde er Apfelsaft herstellen.
Mein Vater mag Wörter. Er mag die Tatsache, dass es manchmal auf der ganzen Welt nur ein einziges Wort gibt, mit dem man das, was gesagt werden muss, sagen kann – und dass Wörter manchmal verschwimmen wie Wasserfarben. Seit ich klein bin, spielen wir das Wie-Spiel, bei dem es nicht darum geht, wie lecker ich etwas finde (Fudge Brownies, wie gesagt), sondern darum, aus Wörtern Bilder zu machen. Am Anfang kamen Wolken dran: „Die Wolke da sieht aus wie… ein Delfin. Die Wolke da sieht aus wie… ein Pfirsich. Die Wolke da sieht aus wie… ein Berg.“ Dann Bäume und Büsche. „Der Baum da sieht aus wie ein paar Hände, die sich zu Gott hochstrecken. Der Baum da sieht aus wie ein Pfeil. Der Busch da sieht aus wie eine alte Frau im Schürzenkittel.“ Alles gilt: „Die Oliven da starren mich an wie zwei Augen mit leerem Blick“, sagte Papa eines Abends, als wir gerade dabei waren, für eine College-Party Gemüsesticks und Dips rauszustellen. „Der Wind heult vor der Tür wie ein ungeduldiger Wolf“, sagte ich zu ihm während eines schlimmen Gewitters.
Das ist ein gutes Spiel. Wir spielen es ganz oft im Auto, vor allem, wenn wir nach Massachusetts fahren, um meinen Bruder zu besuchen. Das muss man nämlich auch noch über mich wissen. Ich habe einen Bruder. Er heißt Daniel. Er ist sechs Jahre älter als ich und geht auf eine besondere Schule für Kinder, die krank sind. Nicht krank im Sinne von „mir ist schlecht“, sondern krank in dem Sinne, dass bei ihnen was im Kopf nicht stimmt. Das wär’s also, was ihr über mich wissen müsst, zumindest vorerst: Ich habe einen Bruder, und der hat „Probleme“.
Tag der Veröffentlichung: 10.11.2009
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