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LISA

ALLES WIE GEWOHNT. Der Gedanke rettete Lisa in dieser Nacht. Alles ging irgendwie weiter, ohne sich äußerlich verändert zu haben. Wenn jemand in die Küche kommen würde, so würde er sie so dasitzen sehen wie alle Abende zuvor. Er würde nicht wissen, dass sie diesmal nicht auf ihren Onkel aufpasste

, sondern auf ihre Schwester Tanja wartete, die im ersten Stock versuchte, ihre Mutter zu trösten. Er würde sie nur wieder auf ihrem gewohnten Platz im Korbsessel thronen sehen, den sie an die Wand neben das Fenster geschoben hatte.
Zur Rechten überblickte sie die Küche. Geradeaus lag dunkel und verschwommen der Flur, schräg hinter ihr erstreckte sich der Garten, in dem sich ein verfrühter Frühling schon zu regen begann. Es war die letzten Tage ungewöhnlich warm gewesen, und die zwei Hortensienbüsche an der Mauer, die auf eine kleine Einfahrt führte, fingen schon an, vorsichtig ihre Knospen zu öffnen und einen zarten, blauen Flaum zu entfalten. Er würde sie also so dasitzen sehen, mit dem Frühling und einem nun fast dunklen Himmel im Rücken, mit einer Tasse Tee auf den Knien. Und wie all die Tage zuvor lief der Fernseher, den sie vor ein paar Monaten vom Wohnzimmer in die Küche getragen hatten, ohne Ton. Lisa schaute zum Bildschirm hinüber, schaute gar nicht richtig hin, nippte an ihrem Tee und folgte geistesabwesend den Bildern. Es war ein Dokumentarfilm über Jazz, vielleicht auch ein Film über New York oder über die Sechziger, so sicher war sich Lisa nicht. Sie hatte ein Geschick dafür entwickelt, sich von dem Sinn nicht behelligen zu lassen, und dass sie nach einer guten halben Stunde immer noch nicht herausgefunden hatte, worum es eigentlich ging, bereitete ihr Vergnügen.
Seit ihr Onkel krank geworden war, hatte sie das Interesse am Weltgeschehen verloren. Sie, Lisa Bergmann, die fleißige Onlinepetition-Unterschreiberin, die ihre Stimme regelmäßig gegen Hunger und Armut, Neonazi-Kundgebung, zu hohe Studiengebühren oder genmanipuliertes Speiseöl erhob, die, soweit sie zurückdenken konnte, wütend durchs Leben ging, brachte nun weder die nötige Geduld, noch die erforderliche Anteilnahme auf, um sich von den vielen Schreckensbildern erschüttern zu lassen. Genau genommen sah sie gar nicht mehr
richtig hin, wenn sie in der Küche sitzend den Fernseher anschaltete und sich wahllos Filme, Nachrichten oder irgend- welche schwachsinnigen Unterhaltungssendungen reinzog, um nicht einzuschlafen. Der Trubel da draußen interessierte sie nicht. Die Verstrickungen, Hintergrundinformationen, die nötig gewesen wären, um aus all den flimmernden Formen etwas Zusammenhängendes, Kohärentes zu machen, etwas, was auch sie anging und bewegte, all das erschöpfte sie schon im Voraus.
Was da draußen geschah, hatte nichts mit der Situation im Haus zu tun. Nichts mit dieser kleinen, ganz und gar durchorganisierten Welt. Nichts mit der Stille, die sie besonders abends umgab und die eine feste, zähe Konsistenz hatte. Und natürlich hatte es nichts mit der Krankheit ihres Onkels zu tun und daher auch nichts mit ihrer Mutter, mit Tanja und mit ihr. Sie ließ sich von den Bildern einlullen, thronte auf ihrem Platz, nippte an ihrer Kräutertee- mischung und dachte an Onkel Paul.

Er war gestorben, wie er es sich gewünscht hatte – in seinem Haus. Zwar nicht in seinem ehemaligen Zimmer im ersten Stock, aber doch in dem Haus, in dem er aufgewachsen war.
»Bring mich heim«, hatte er im Krankenhaus ihre Mutter gebeten und damit nicht die Wohnung gemeint, in der er seit vierund- dreißig Jahren mit Anne, seiner Frau, zusammenlebte, sondern das Haus. Er hatte diesen Entschluss in einer schmerzfreien Stunde gefasst, hatte er ihnen später im Auto erklärt, als er aufstehen, sich waschen und zur Toilette hatte gehen können. Und in Ruhe darüber hatte nachdenken können, was er wirklich wollte. Nicht, was sie alle, die Ärzte, die Pfleger und die Familie, für sein Bestes hielten, sondern was er, Paul Bergmann, als Nächstes zu tun gedachte. Er hatte also entschieden, in sein Elternhaus zurückzukehren, und diese Resolution sogleich in die Tat umgesetzt, hatte sich rasiert und sein grünes Krankenhausnachthemd gegen den mittlerweile zu weit gewordenen dunklen Anzug getauscht, hatte gepackt, sich angezogen ins Bett gelegt und auf ihre Muttergewartet.
Und als sie dann ins Zimmer gekommen waren, hatte er nur kurz die Augen geöffnet und seine Schwester anvisiert.
»Bring mich heim«, hatte er gesagt, die Ruhe selbst, dann die Augen wieder geschlossen.
Sie hatte ungläubig auf ihren Onkel gestarrt, auf ihre Mutter, den roten Trolley, den er am Fußende des Bettes so platziert hatte, dass er leicht hinausgerollt werden konnte. Auf die durchsichtige Tragetasche mit seinem aufblasbaren blauen Nackenkissen, seinem Transistorradio, seinem Reisewecker, seinen Haus- schuhen und den Büchern. Alles stand zur Abreise bereit. Ordentlich zusammengepackt. Widerrede zwecklos.
Natürlich hatte ihre Mutter dennoch versucht, es ihm auszureden. Sein

Heim – ihr

Haus? Seit wann, bitte schön? Und was mit seiner Frau sei? Seinen Freunden?
Seinen Nachbarn? All den Menschen, die ihn ein Leben lang begleitet haben? Und was mit all dem sei, was er sich aufgebaut, erstanden und gesammelt habe? Seine französischen Weine im Keller? Seine Kunstdrucke an den Wänden? Seine maßgeschneiderten Hemden und Anzüge im Schrank? Sollte das alles plötzlich bedeutungslos geworden sein? Ihre Mutter hatte ihn beschworen.
Er könne vierunddreißig Jahre Ehe nicht einfach so auslöschen, aus einer Laune heraus seine Frau verleugnen.
Mehr als ein Vierteljahrhundert, mein Gott. Merke er nicht, was er Anne antue? Selbstredend hatte auch Lisa etwas zur Diskussion beigesteuert. Jeder wolle irgendwann einmal in die Kindheit zurück, hatte sie mit ihrer ruhigen Therapeutinnenstimme gesagt. Dies sei jedoch nichts anderes als ein regressiver Wunsch. Ja, gut, das würde sie ihm gerne zugestehen, ein verständlicher Wunsch, aber leider nicht zu erfüllen.
Er hatte gar nicht einmal versucht, sie beide zu unterbrechen, hatte sich alle ausgefeilten Argumente, die sie abwechselnd ins Feld geführt hatten, einfach nur angehört.
Ohne ein Wort zu sagen. Ohne die Miene zu verziehen. Ohne vor allen Dingen etwas zu erklären. Aber er erklärte ja nie etwas. Natürlich wusste er, was er seiner Frau antat, und natürlich war es ihm egal. Einsilbig, ruhig hatte er ihre Mutter taxiert. Ein Blick, mehr war nicht nötig gewesen, um ihr klarzumachen, wer trotz der Krankheit immer noch das Sagen hatte. Er hatte also wieder einmal gesiegt und seinen Willen durchgesetzt, trotz all der triftigen Gründe, die sie beide gefunden hatten und die er beschlossen hatte einfach zu ignorieren.
»Vergiss die Tasche mit der Nackenrolle nicht, gut, Schatz?«, hatte er sie gebeten, als sie schon in der Tür standen.
Das war seine Antwort auf all das gewesen, was sie vorgebracht hatten. Sie hatten über Takt gefaselt, Anstand, seine Frau, seine Freunde, Zugehörigkeit, und er hatte mit seiner Nackenrolle gekontert, ohne die er schlecht schlafen könne.
Er war also in das Haus seiner Schwester gezogen, in das Haus, in dem er und seine Schwester aufgewachsen waren. Das er – nicht sie – nach dem Tod ihrer Eltern geerbt hatte. Das er seiner Schwester nach ihrer Scheidung überlassen hatte, als sie plötzlich mit zwei kleinen Töchtern auf der Straße stand. Ohne mit der Wimper zu zucken hatte er damals den Mietern gekündigt und sich um eine kleine, adrette Summe gebracht, hatte das Haus für sie renoviert und ihnen beim Umzug geholfen.
Er war also in das Haus gezogen, das er seiner Schwester nach seinem eigenen Tod zu vermachen gedachte.
Nicht zu seiner Frau Anne. Nicht in ein Hospiz, in das die Ärzte vorgeschlagen hatten ihn einzuweisen. In sein Haus. Dahin, wo er seines Erachtens hingehörte – Anstand hin, Anstand her –, um da zu sterben, wo er zur Welt gekommen war.

Es hatte nur einen einzigen Tag benötigt, um das Haus zu verwandeln. Es zu konfiszieren und ihre eigenen Erinnerungen daraus auszuradieren. Ihre Jugend, die ihrer Schwester Tanja, kaum hatte sich ihr Onkel niedergelassen, existierte das alles nicht mehr. Selbst die Zimmer wurden umgestaltet. Das Wohnzimmer wurde sein Krankenzimmer, die Küche der Aufenthaltsraum, der Flur mit all seinen Stöcken, Krücken, Gehhilfen eine Art Abstellkammer. Er und seine Krankheit hatten jeden Quadratmeter des Hauses beschlagnahmt. Davor war seine Krankheit etwas Abstraktes gewesen. Etwas, was man wegschieben konnte. Höchstens etwas, was von einem Bataillon weiß bekittelter Spezialisten für sie im Zaum gehalten wurde. Die Krankheit gehörte den Ärzten.

Jedem seine Domäne. Sie hatten über die Krankheit diskutiert, das schon. Vor allen Dingen Anne und ihre Mutter hatten oft darüber gestritten, wie die Krankheit einzudämmen, zu beschränken sei, welche Therapie ihn, wenn auch nicht retten, so doch so lange wie nur möglich schmerzfrei am Leben halten könne. Aber was bedeutete schmerzfrei? Wer entschied, welche Schmerzen, und seien sie noch so klein, zu ertragen seien? Und warum sollte er Schmerzen nicht als Herausforderung nehmen? Sie waren unentwegt aneinandergeraten, während Tanja zwischen den beiden Frauen zu moderieren versucht und sie, Lisa, gegoogelt, grünen Tee getrunken und Informationen über die Bauchspeicheldrüse gesammelt hatte. Nächtelang hatte sie jenem kleinen, zuvor ignorierten, nun befallenen Organ, das hinter dem Magen eingebettet lag, ihre ganze Aufmerksamkeit geschenkt. Hatte Fachausdrücke mit gelbem Textmarker unterstrichen, um vor dem Chefarzt und seinem Schweif an Ober-, Stations- und Assistenzärzten nicht als Trottel dazustehen, um Fragen stellen und sogar auch noch die Antworten verstehen zu können. Sie hatte gehofft, gehadert, und manchmal hatte sie auch aus Wut geweint. Aber daneben gab es das Leben, blieben ihr die Liebschaften, die Arbeit, Freunde, Männer, Abende im Theater oder im Restaurant. Als ihr Onkel jedoch ins Haus gezogen war, war mit ihm auch die Krankheit eingezogen, und mit ihr im Schlepptau all ihre Attribute: Tabletten, Pillen, Ampullen, Spritzen, Kompressen und das ewige Gerede über seinen Stuhlgang. Ob er gut, weich, hart oder gar nicht geschissen hatte, wurde eines der Hauptgesprächsthemen der Familie. Sie hätte nie geahnt, dass sie sich eines Tages mit ihrer Mutter über so etwas unterhalten würde. Und ebenfalls hätte sie nie vermutet, mit was für einer Wucht die Krankheit sie alle überrollen, in welchem Ausmaß sie von ihnen Besitz ergreifen würde. Drei Monate hatte ihre Mutter gegen die Krankheit angekämpft, hatte aufgepasst, dass er seine Enzympräparate zu allen Mahlzeiten einnahm, dass er genug frische Luft und Bewegung und kein Völlegefühl, Durchfall oder Schmerzen hatte. Alles war auf ihn eingestellt, alles nach ihm ausgerichtet. Keine einzige Nacht hatte ihre Mutter richtig geschlafen und hatte sich am Ende nicht einmal mehr Zeit genommen, sich anständig zu ernähren. Alles hopp, hopp, hopp, im Stehen.
Wenn überhaupt, hatte ihre Mutter schnell irgendetwas hinuntergeschlungen. Meistens waren es Fertiggerichte gewesen. Tiefkühlkost, die sie in die Mikrowelle geschoben und aufgewärmt hatte. Aber selbst dann hatte sie immer nur ein paar Bissen gegessen. Und auch nur, wenn Corinna, die Pflegerin, sie ermahnt hatte. Corinna musste schon drohen, damit sich ihre Mutter für eine tiefgekühlte, halb aufgetaute Vogelportion Zeit nahm.
Drei Monate gab es nur ihn. Ihn und seinen Stuhlgang, ihn und seine Schmerzen, ihn und seine Ängste, ihn und seine schlechte Laune, ihn und seine schlaflosen Nächte, ihn und seine kleinen, hässlichen Geschwüre.
Und dann war er gestorben. Ohne Vorwarnung. Ohne dass einer von ihnen darauf vorbereitet gewesen wäre. Ohne dass auch nur einer von ihnen überhaupt verstanden hätte, was hier geschah. Selbstverständlich hatten sie alle mit seinem Tod gerechnet. Und selbstverständlich hatte er sie alle überrascht. Der Tod, die natürliche Konsequenz jedes Lebens. Und gerade darum monströs, unheimlich und anstößig.
Wie hätte sie sich seinen Tod so schlicht vorstellen können? So beiläufig. Und wie hätte sie sich auch nur eine Sekunde vorstellen können, dass sie in der Küche
sitzend auf den Tod ihres Onkels warten würde? Er war kurz nach elf Uhr gestorben. Ihre Mutter war an seinem Bett geblieben, und sie und Corinna hatten das Zimmer verlassen, nachdem sich ihre Mutter zu ihnen umgedreht und gesagt hatte: »Bitte lasst mich jetzt mit ihm allein.«
Sie hätte natürlich kontern können, schließlich hatte er sie großgezogen, aber entgegen ihre Gewohnheit hatte sie sich dem Wunsch ihrer Mutter nicht widersetzt, hatte sie nichts erwidert, kein einziges Wort, hatte nur genickt, sich umgedreht und war in die Küche marschiert.
»Warum denn nicht?«, hatte sie sich später vor ihrem Freund zu rechtfertigen versucht.
»Warum denn nicht?«, hatte er ungläubig wiederholt.
»Warum soll ich ihr das nicht zugestehen dürfen?«
Schließlich war ihre Mutter drei Monate nicht von seiner Seite gewichen, hatte nachts in seinem Zimmer geschlafen, hatte sich bis an den Rand der Erschöpfung um ihn gekümmert. Wer von ihnen hatte sich denn wirklich mit seiner Krankheit auseinandergesetzt? Doch nur ihre Mutter. Warum sollte sie ihr das also nicht zubilligen?
Es hatte sich nichtsdestotrotz befremdlich angefühlt, geradezu abstrus, in der Küche zu sitzen und auf seinen Tod zu warten. Sie war zwar erleichtert gewesen, als die Pflegerin sie sanft und bestimmt hinausgeführt hatte – alles besser, als dem Schauspiel seines Todes beiwohnen –, aber als sie dann in der Küche war, wo noch sein Brei auf dem Herd abkühlte, und auch das Frühstücksgeschirr in der Spüle bemerkte und auf die hellblaue Tischdecke mit den Kaffeeringen und Marmeladeflecken blickte, als sie alles so daliegen sah in seiner ganzen Vertrautheit und Alltäglichkeit, da hatte sie sich gefragt, was, zum Teufel, mache ich hier.
Sie war hin- und hergetippelt. Flur, Küche, Flur. Sie hatte sich hinzusetzen versucht, jedoch kaum saß sie, war sie auch schon wieder aufgesprungen, hatte sie die Warterei in den Flur getrieben. Sie wollte hinaus, in den Garten, irgendwohin, wo sie hätte nachdenken und begreifen können, was sich hier überhaupt abspielte, aber sie hatte Angst gehabt, es

zu verpassen. Flur, Küche, Flur, ein paar Schritte in Richtung Krankenzimmer, wieder zurück in die Küche, dann wieder in den Flur hinein, an seine

Türschwelle und wieder zurück. Und das alles unter den Blicken der Pflegerin, die sie angeschaut hatte, als hätte sie dies alles schon etliche Male erlebt.
So war es Lisa jedenfalls vorgekommen, und fast hätte sie gefragt, wie man sich in solchen Fällen zu verhalten, was man zu machen, was man zu sagen, an was man zu denken habe.

Sie, sie hatte an Nebensächliches gedacht. Hatte auf ihre Schuhspitze hinuntergeblickt, auf Staub, auf die vergilbten Ecken neben dem Herd und sich daran erinnert, dass sie ihrer Mutter versprochen hatte, die Wand dort zu streichen. Mein Gott, solche Belanglosigkeiten waren ihr tatsächlich durch den Kopf gegangen.
Wie viel Liter Farbe sie für dreißig Quadratmeter Fläche bräuchte? Und ob sie nicht gleich die ganze Küche in Angriff nehmen solle? Natürlich hatte sie auch an Onkel Paul denken müssen. Wie er ihr das Fahrradfahren beigebracht hatte, wie sie ein paar Jahre später im Sommer zusammen zur italienischen Eisdiele geradelt waren, wie er ihr bei ihrer ersten Theaterrolle, Adriana in der
Komödie der Irrungen

, zuversichtlich zugenickt hatte.
Sie war im zweiten Aufzug in der erste Szene mit einer beunruhigend schlechten Lucinda auf die Bühne getreten und hatte ihn gesucht und in der ersten Reihe links entdeckt. Er hatte ihr zugelächelt, erst dann hatte sie mit einer Stimme wie aus weiter Entfernung ansetzen können.
»Mein Mann kommt nicht zurück, auch nicht der Diener, den ich so eilig sandt’, ihn aufzusuchen.«
So viele Erinnerungsbilder waren ihr durch den Kopf gezogen. Und natürlich war auch wieder der Streit aufgetaucht, und die Sinnlosigkeit dieser Auseinandersetzung war ihr schmerzhaft bewusst geworden. All die hässlichen Worte, die sie ihm an den Kopf geschmissen hatte, standen nun wieder im Raum, unversehrt.
Und während die Pflegerin sich Tee gemacht, mit automatischen Handbewegungen Wasser aufgesetzt, einen Schrank geöffnet, eine Tasse und einen Teebeutel hervorgezogen hatte – eine Tasse mit Rosenmotiv, das hatte sich eingeprägt –, hatte sie ihn wieder gesehen, wie er mit hochrotem Kopf und der kleinen, an der Schläfe pochenden Ader auf sie eingeschrien hatte, in eben dieser Küche. Er hatte eins seiner blau-weiß gestreiften Hemden getragen, hatte vor ihr gestanden und ihr fuchtelnd den Zeigefinger entgegengestreckt. Sie hatte ihm verkündet, die Schauspielerei an den Nagel hängen zu wollen, und er war explodiert. Sie hatte gerade diesen Kurs in Dramatherapie belegt. Und hatte ihm davon erzählt, und er war regelrecht ausgerastet.
»Warum?«, hatte er geschrien, und sein Zeigefinger hatte den Takt seiner Worte angegeben. Warum? Doch nur aus Trotz, doch nur, um sich ihm zu widersetzen.
»Antworte«, hatte er geschrien.
Und sie hatte geschwiegen.
Er hatte getobt und ihr vor lauter Aufregung Speicheltröpfchen ins Gesicht gespuckt. Zwei, drei, vier, die sie mit einer diskreten Handbewegung weggewischt hatte.
Dann war er zur nächsten Taktik übergegangen, hatte sie mit eindringlicher Stimme zu überzeugen versucht, wie früher, jedes Wort ein Keil, den er in ihren Widerstand trieb. Das Theater hier, das Theater dort, hatte er referiert.
Das Theater seine heilige Kuh. Aber diesmal hatte sie nicht nachgegeben, hatte sie auf diese vor ihr stehende, referierende Gestalt geblickt und an all die Minijobs in den TV-Produktionen gedacht, die ihr angeboten wurden und von denen sie nicht leben konnte.
»Wie lange«, hatte sie gefragt, »soll ich denn deiner Ansicht nach noch auf die große Rolle warten? Fünf? Zehn? Zwanzig Jahre? Ein ganzes Leben?«
Sie hatte keine Lust, sich für eine Idee aufzuopfern, hatte sie ihm erklärt.
»Warum soll ich mein Leben lang herumkrebsen?
Für eine Idee? Ja? Für deine

Idee? Na, dann werde ich eben keine große Charakterschauspielerin. Na und? Na, dann werde ich halt eine von diesen Mittelklasseangestellten. Na und?«
Sie würde lieber in einer hübschen Wohnung wohnen, hatte sie gesagt. Und sich öfter mal etwas gönnen.
Es machte sie fertig, sich um ihre Zukunft Sorgen machen zu müssen. Nicht zu wissen, ob sie morgen eine Rolle kriegen würde oder nicht. Wieso verstand er das denn nicht? Er, der sich über solche Dinge nicht den Kopf zerbrechen musste. Na, dann hatte sie ihn und seine Erwartungen halt enttäuscht, hatte sie gesagt. Na und. Na und. Na und.

Sie richtete sich auf, blickte auf die Uhr, es war kurz nach neun. Ihre Schwester war seit einer guten Stunde oben. Tanja war geradewegs zu ihrer Mutter in den ersten Stock geeilt, hatte nicht zuvor im Krankenzimmer Halt gemacht. Sie hatte gesagt, sie wolle zuerst einmal sehen, wie es ihrer Mutter ginge. Eine ziemlich lahme Ausrede, was sonst. Lisa schaute aus dem Fenster auf die Kastanie, durch deren Geäst der Wind fuhr, der seit einigen Tagen immer abends aufzukommen schien, dann wieder auf den Fernsehbildschirm. Ein breites Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen. Eine Frau ging durch eine Menschenmenge, ihr schilfgrünes Kleid wippte bei jedem Schritt. Sie sah, wie es sich durch das Dickicht der Menschen einen Weg bahnte. Grün blitzte es hier und dort auf. Grün zwischen Blau und Schwarz und Rot und Grau. Eine Mücke sirrte nah an Lisas Ohr, aber sie war zu müde, um etwas anderes zu tun, als es mit Missmut zu registrieren.



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Texte: ISBN: 978-3827010179
Tag der Veröffentlichung: 20.09.2011

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