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DAS PANAMA HOTEL
(1986)



Der alte Henry Lee stand wie gebannt da und verfolgte das Hin und Her vor dem Panama Hotel. Zunächst hatten nur ein paar Neugierige das Nachrichten-Team des Fern- sehens dabei beobachtet, wie es sich dort für Dreharbeiten vorbereitete, aber mittlerweile war daraus eine kleine, friedliche Ansammlung von Einkaufenden, Touristen und ein paar Straßenkindern geworden, und alle fragten sich, um was es da wohl ging. Mit in vorderster Reihe stand Henry, links und rechts mit Einkaufstaschen behängt, und fühlte sich, als wachte er aus einem lange vergessenen Traum auf. Einem Traum, den er als Junge einmal geträumt hatte.
Das erste Mal war er mit zwölf zu dem altbekannten Seattler Hotel gekommen, damals, 1942, in den »Kriegs- jahren«, wie er die Zeit gerne nannte. Schon da war das alte »Junggesellen«-Hotel eine Art Scheidepunkt zwischen Seattles Chinesenviertel und Nihonmachi gewesen, dem Viertel der Japaner. China town und Nihonmachi, das waren die Außenposten eines uralten Konflikts. Chinesische und japanische Einwanderer sprachen kaum miteinander, auch wenn ihre in Amerika geborenen Kinder manchmal eine alte Dose aus dem Müll holten und damit gemeinsam auf der Straße Fußball spielten. Das Hotel war ein perfekter Treffpunkt. Auch für ihn und die Liebe seines Lebens, damals, 1942. Und heute stand er wieder hier, 1986, gut vierzig Jahre später.
Er hatte aufgehört, die Jahre zu zählen, die zur Erinnerung wurden. Ein ganzes Leben lag zwischen damals und heute. Eine Ehe. Die Geburt eines undankbaren Sohnes. Krebs, ein Begräbnis.
Er vermisste seine Frau Ethel. Sechs Monate waren seit ihrem Tod nun vergangen. Aber er vermisste sie nicht so sehr, wie man hätte denken können, es war nicht so schlimm, wie es klang. Tatsächlich war ihr Tod so etwas wie eine Erleichterung gewesen, nach langer, schwerer Krankheit. Der Krebs in ihren Knochen war absolut vernichtend, für uns beide, dachte er.
Die letzten sieben Jahre hatte Henry sie gefüttert, gebadet, ihr auf die Toilette geholfen, wenn sie musste, und wieder herunter, wenn sie fertig war. Tag und Nacht war er für sie da gewesen, rund um die Uhr, sieben Tage die Woche, wie man so sagt. Marty, ihr Sohn, dachte, seine Mutter sollte besser in ein Heim, aber Henry wollte nichts davon hören. »Nicht, so lange ich lebe«, sagte er. Nicht nur, weil er Chinese war, wobei das natürlich zu seinem Widerstand beitrug. Die konfuzianische Idee des Respekts, der Achtung und Ehrerbietung für die Eltern war ein kulturelles Erbe, das Henrys Generation noch sehr bestimmte. Er war dazu erzogen worden, dass man in der Familie persönlich füreinander sorgte. Je man den in ein Heim zu geben,
war undenkbar. Sein Sohn Marty begriff nicht, dass es tief in Henrys Leben eine Ethelförmige Leere gab, durch die der kalte, bittere Wind der Einsamkeit wehte. Die Jahre flossen dahin wie das Blut einer Wunde, die niemals heilt.
Als sie gestorben war, musste sie beerdigt werden, auf die althergebrachte chinesische Weise, dachte Henry, in schützende Tücher gehüllt, mit Essensgaben und tage- langen Gebetszeremonien, trotz Martys Anfall, sie doch unbedingt einzuäschern.
Marty war so modern. Er war zu einer Beratung gegangen und hatte den Tod seiner Mutter mit Hilfe einer »On line-Selbsthilfegruppe« zu verarbeiten versucht. Was immer das war. Online zu gehen, das klang, wie niemanden zum Reden zu haben, womit Henry sich auskannte, im wirklichen Leben. Das war eine so einsame Sache. Fast so einsam wie der Lake-View-Friedhof, auf dem Ethel jetzt begraben lag. Sie hatte einen wunderbaren Blick über den See und war von chinesischer Prominenz Seattles wie
Bruce Lee und dessen Sohn Brandon umgeben. Aber natürlich lagen sie alle allein in ihrem Grab. Für immer allein. Da war es egal, wer ihre Nachbarn waren. Sie antworteten nicht.
Abends bei Einbruch der Dämmerung redete Henry mit seiner Frau und fragte sie, wie ihr Tag gewesen sei. Nicht, dass er sie noch hätte hören können.
»Ich bin nicht verrückt oder so«, sagte Henry in die Leere vor sich, »nur aufgeschlossen. Man weiß nie, wer einem zuhört.«
Dann machte er sich daran, die braunen Blätter von der chinesischen Palme und dem Immergrün zu schneiden, die genau wie die an deren Hauspflanzen Zeugnis monate- langer Vernachlässigung ablegten. Endlich hatte er wieder Zeit. Zeit für etwas, das zur Abwechslung einmal wachsen und stärker werden würde. Gelegentlich jedoch kamen ihm statistische Überlegungen.
Nicht zur Sterblichkeitsrate durch den Krebs, dem Ethel erlegen war. Nein, er dachte über sich selbst nach und die Zeit, die ihm noch blieb, folgte man den Tabellen der Lebensversicherungen.
Er war erst sechs und fünfzig, ein junger Mann nach seinen eigenen Maßstäben. Aber er hatte in News week einen Artikel über den unvermeidbaren gesundheitlichen Niedergang hinterbliebener Ehepartner in seinem Alter gelesen. Vielleicht tickte die Uhr tatsächlich schon? Er war sich nicht sicher, denn mit Ethels Tod hatte die Zeit zu schleichen begonnen. Ticken hin oder her.
Er hatte sich auf einen Handel mit Boeing Field einge- lassen, früher in Rente zu gehen, und war daher ganz ohne Verpflichtungen, hatte aber niemanden, mit dem er seine Stunden und Tage teilen konnte. Niemanden, mit dem er hinunter zur Mon-Hei-Bäckerei gehen konnte, um an kühlen Herbstabenden ping pei, Karotten-Mohnkuchen, zu kaufen. Stattdessen stand er nun hier in dieser Menge fremder Menschen ein weiteres Mal vor der Tür des Panama Hotel. Ein Mann zwischen den Lebensaltern. Er stieg die rissigen weißen Marmorstufen hinauf, die das Hotel wie ein Art-déco-Freigängerhaus wirken ließen, genau wie Henry zwischen zwei Welten gefangen. Nervös und erregt fühlte er sich, wie damals als Junge, wenn er hier vorbeigekommen war. Auf dem Markt hatte er vom Hotel reden hören, und so war er von der Videothek an der South Jackson herspaziert und hatte der wachsenden Größe der Menschenansammlung entsprechend erst einen Unfall vermutet.
Aber dann hörte er nichts, keine Sirenen, kein Jammern. Sah keine zuckenden Lichter. Nur Menschen, die auf das Hotel zutrieben, als zöge das Meer an ihren Füßen, spüle sie weiter und weiter, Schritt für Schritt.
Henry trat näher, sah das Nachrichten-Team seine Ausrüstung nehmen und folgte ihm nach drinnen. Die Menge teilte sich, die kamerascheu en Schaulustigen traten zur Seite und machten den Weg frei. Henry ging direkt hinter den Fernsehleuten her, schob die Füße vorsichtig voran, um niemanden zu treten oder selbst getreten zu werden, und spürte, wie die Menge hinter ihm herdrängte. Vorne in der Lobby stand die neue Eigen- tümerin des Hotels und verkündete: »Wir haben etwas im Keller gefunden.«
Was gefunden? Eine Leiche vielleicht? Oder eine Art Drogenlabor? Nein, wäre das Hotel Ort eines Verbrechens geworden, wäre längst die Polizei hier und würde alles absperren.
Die neue Eigentümerin hatte das Hotel erst vor Kurzem übernommen. Seit dem Krieg war es mit Brettern vernagelt gewesen, und während es seinen Dornröschenschlaf gehalten hatte, war Chinatown zum Ghetto und zum Schlupfwinkel der »Tongs« geworden, Banden aus Hongkong und Macao. Tagsüber boten die Wohnblöcke südlich der King Street ein reizend kitschiges Bild, und der Müll auf den Bürgersteigen wurde von den Touristen normalerweise übersehen, wenn sie zu den Eierstab- Ornamenten einer früheren Epoche aufblickten. Kinder auf Exkursionen, gekleidet in farbenfrohe Mäntel und Mützen, hielten sich bei den Händen, während sie ihren Nasen folgend zu den in den Fenstern hängenden Grillenten gelangten, die ihnen das Wasser im Mund zusammenlaufen ließen, da hängende rote Stifte, die in der Sonne schmolzen. Aber bei Nacht waren Straßen und Gassen in der Hand von Drogendealern und knochigen, ältlichen Huren, die ihre Dienste für eine Handvoll Kleingeld versahen. Der Gedanke, dass diese Welt seiner Kindheit zu einem nur mehr notdürftig zusammenhaltenden Crack-Haus wurde, erfüllte Henry mit einer Melancholie, wie er sie nicht mehr verspürt hatte, seit er Ethels Hand gehalten und sie zum letzten Mal hatte ausatmen sehen, langsam und gedehnt. Wertvolle Dinge scheinen einfach zu verschwinden, um nie wieder zukommen.
Während er seinen Hut abnahm und sich mit der abgewetzten Krempe Luft zuzufächeln begann, drängte die Menge von hinten weiter vor. Blitzlichter flackerten auf. Henry stellte sich auf die Zehenspitzen und blickte über die Schulter eines großen Nachrichtenmannes vor ihm.
Die neue Hoteleigentümerin, eine schlanke weiße Frau, die etwas jünger war als Henry, verschwand kurz im Keller und hielt bei ihrer Rückkehr was in Händen? Einen Schirm? Als sie ihn aufspannte,schlug Henrys Herz schneller. Es war ein japanischer Sonnenschirm aus Bambus, leuchtend rot und weiß mit einem orangefarbenen Koi darauf, einem Karpfen, der wie ein riesiger Goldfisch aussah. Vom Schirm wirbelte eine dünne Staubschicht auf, die einen Moment lang in der Luft hing, als die Hoteleigentümerin den zerbrechlich wirkenden Gegenstand für die Kameras in Drehung versetzte. Zwei Männer brachten einen großen Überseekoffer mit Aufklebern von ausländischen Häfen und der zwischen Seattle und Yokohama verkehren den Admiral Oriental Line herauf. Auf der Seite des Koffers stand der Name »Shimizu«, hand geschrieben in großen weißen Buchstaben. Der Koffer wurde für die neugierige Menge geöffnet. Darin waren Kleidungsstücke, Fotoalben und ein alter elektrischer Reiskocher.
Die neue Hoteleigentümerin erklärte, dass sie unten im Keller die Besitztümer von mehr als dreißig japanischen Familien gefunden hätten, von denen sie annehme, dass man sie im Krieg damals verfolgt und eingesperrt habe. Ihre Besitztümer hätten sie offenbar vorher noch hier unterbringen können, jedoch nie wieder abgeholt. Dort unten im Keller lagerte eine Zeitkapsel aus den »Kriegs- jahren«.
Henry verfolgte stumm, wie sich ein kleiner Korso hölzerner Kisten und lederner Koffer die Treppe herauf bewegte und die Menge über die ehemals wertvollen Dinge darin staunte: ein weißes Kommunionskleid, angelaufene silberne Kerzenständer, einen Picknickkorb. Dinge, die über vierzig Jahre unberührt geblieben waren und Staub angesetzt hatten. Gerettet für glücklichere Zeiten, die nie gekommen waren.
Je länger Henry den schäbigen alten Kram, die vergesse- nen Schätze vergangener Zeiten, betrachtete, desto stärker wurde die Frage in ihm, ob dort unten wohl auch sein eigenes gebrochenes Herz zu finden sei, versteckt zwischen den herrenlosen Besitztümern einer anderen Zeit. Verbarrikadiert im Keller eines abbruchreifen Hotels. Verloren, aber unvergessen.



MARTY LEE
(1986)



Henry ließ die Menge beim Panama Hotel hinter sich und ging hinauf zu seinem Haus auf dem Beacon Hill. Es lag nicht so weit oben, dass er die Rainier Avenue ganz im Blick gehabt hätte, trotzdem war es eine der vernünfti- geren Gegenden, gleich die Straße von Chinatown hoch. Es war ein bescheidenes Haus mit drei Zimmern und einem Keller, der nach all den Jahren immer noch nicht ganz fertig war. Als sein Sohn Marty aufs College ging und zuhause auszog, hatte Henry letzte Hand anlegen wollen, aber dann verschlimmerte sich Ethels Zustand, und das Geld, das sie für schlechtere Zeiten auf die Seite gelegt hatten, wurde von einem Schwall Arztrechnungen weggeschwemmt.
Fast zehn Jahre hielt das Unwetter an. Zum Ende hin hatte Medicaid, die Bedürftigenkasse, geholfen und hätte sogar ein Pflegeheim bezahlt, aber Henry hielt sein Versprechen, für seine Frau zu sor gen, in guten wie in schlechten Zeiten. Wer wollte seine letzten Tage schon in einer staatlichen Einrichtung verbringen, die wie ein Gefängnis aussah, mit einer langen Reihe Todeszellen?
Bevor er seine eigene Frage beantworten konnte, klopfte es zweimal an der Tür. Henrys Sohn Marty kam mit einem beiläufigen »Wie geht’s, Pops?« herein und steuerte gleich auf die Küche zu.
»Ich komme sofort, bleib sitzen, ich muss nur erst was trinken. Ich bin den ganzen Weg von Capitol Hill zu Fuß hergekommen. Bewegung, weißt du. Du solltest auch mal über ein bisschen Sport nachdenken. Ich glaube, du hast seit Moms Tod zugenommen.«
Henry sah auf seinen Bauch und drückte die Stummtaste des Fernsehers. Er hatte die Nachrichten eingeschaltet, um zu hören, was sie über die Entdeckung im Panama Hotel sagten, aber es war nichts gekommen. Musste ein hektischer Nachrichtentag gewesen sein. Auf seinem Schoß hielt er einen Stapel alter Fotoalben und ein paar fleckige, nach Schimmel riechende Jahrbücher aus seiner Schulzeit. Auf den kalten Betonwänden in Henrys ewig unvollendetem Keller schlug sich die Feuchtigkeit der Seattler Luft nieder.
Er und Marty hatten seit der Beerdigung nicht viel miteinander geredet. Marty studierte Chemie und hatte für seinen Abschluss an der Universität der Stadt viel zu lernen. Das war gut, denn so kam er nicht auf dumme Gedanken. Aber die Lernerei hielt ihn auch von Henry fern, was in Ordnung gewesen war, solange Ethel noch lebte, aber mittlerweile war das Loch in Henrys Leben kaum mehr zu übersehen. Als stünde er am Rande einer Schlucht, riefe laut und wartete auf ein Echo, das niemals kam. Und wenn Marty ihn doch einmal besuchte, schien er nur seine Wäsche waschen, das Auto polieren oder ihn um Geld bitten zu wollen, das er immer bekam, ohne dass Henry Verdruss darüber gezeigt hätte.
Marty bei den Kosten für das College zu helfen, war Henrys zweite Sorge gewesen, Ethel seine erste. Trotz eines kleinen Stipendiums brauchte Marty noch ein Studien- darlehen, um seine Ausbildung zu bezahlen. Henry hatte das Frühverrentungsangebot von Boeing angenommen, um sich ganz um Ethel kümmern zu können. Den Zahlen nach hatten sie damals eine Menge Geld besessen, hatten gerade zu wohlhabend gewirkt.
Für die Darlehensgeber kam Marty aus einer Familie mit einem soliden Bankkonto, aber wer zahlte die Arzt- rechnungen? Als Ethel schließlich starb, war gerade noch genug Geld für ein ordentliches Begräbnis da, auch wenn Marty die Ausgabe für unnötig hielt.
Henry hatte Marty nie von der zweiten Hypothek erzählt, die er aufnehmen musste, um ihn durchs College zu bekommen, als es kein Studiendarlehen mehr gab. Warum ihn damit belasten?
Warum sollte er ihn unter Druck setzen? Das Studieren war auch so schon schwer genug, und wie je der gute Vater wollte er das Beste für seinen Sohn, selbst wenn sie nicht viel miteinander redeten.
Henry starrte weiter auf die Fotoalben, die verblichenen Erinnerungsstücke seiner eigenen Schulzeit, in denen er nach jemandem suchte, den er nie finden würde. Ich gebe mir Mühe, nicht in der Vergangenheit zu leben, dachte er, aber wer weiß, manch mal lebt die Vergangenheit in mir. Er hob den Blick von den Fotos und sah seinen Sohn mit einem großen Glas grünem Eistee hereinschlendern. Marty setzte sich einen Moment lang aufs Sofa und ging dann hinüber zu dem mit rissigem Kunstleder bezogenen Ruhesessel seiner Mutter, direkt gegenüber von Henry, dem es guttat, jemanden, irgend jemanden, auf Ethels Platz sitzen zu sehen.
»War das der letzte Rest Eistee?«, fragte Henry.
»Genau«, antwortete Marty, »und das Glas habe ich für dich mitgebracht, Pops.« Er stellte es auf einen Jadeuntersetzer vor seinen Vater hin. Henry wurde bewusst, wie alt und zynisch er seit Ethels Beerdigung geworden war, ohne sich dagegen zu wehren.
Es war nicht Marty. Er selbst war es. Er musste mehr aus dem Haus kommen. Das heute war ein guter Anfang gewesen.
Trotzdem gelang Henry nur ein gebrummeltes »Danke«.
»Tut mir leid, dass ich schon so lange nicht mehr hier war. Die Prüfungen waren irre schwer, und ich will nicht all das hart verdiente Geld verschwenden, das ihr, du und Ma, gezahlt habt, damit ich überhaupt aufs College konnte.«
Henry spürte, wie sein Gesicht vor Scham rot anlief. Drüben in der Küche stellte sich die laute Heizung ab und ließ das Haus abkühlen.
»Ich habe dir übrigens einen bescheidenen Beweis meiner Dankbarkeit mitgebracht.«
Marty gab ihm einen kleinen laisee-Umschlag, hell rot und vorne mit einer glänzenden, geprägten Goldfolie.
Henry hielt das Geschenk mit beiden Händen.
»Ein Glücksgeld-Umschlag. Willst du unser Geld zurück zahlen?«
Sein Sohn lächelte und hob die Brauen. »In gewisser Weise.«
Es war nicht wichtig, was es war. Henry fühlte sich ganz klein angesichts der Aufmerksamkeit seines Sohnes. Er berührte das goldene Siegel. Darin eingeprägt war das kantonesische Zeichen für Wohlstand. Im Umschlag selbst steckte ein zusammengefaltetes Stück Papier, Martys Zeugnis.
»Ich habe meinen Abschluss mit einem summa cum laude gemacht. Besser geht es nicht.«
Stille trat ein, allein das elektrische Summen des stumm geschalteten Fernsehapparats war zu hören.
»Ist alles in Ordnung, Pops?«
Henry rieb sich die Augenwinkel mit dem Rücken seiner schwieligen Hand.
»Vielleicht bin ich es, der sich bald einmal Geld von dir leiht.«
»Wenn du einmal deinen Collegeabschluss nachmachen willst, Pops, strecke ich dir gerne das Geld dafür vor. Ich gebe dir ein Stipendium.«
Ein Stipendium. Das Wort hatte eine besondere Bedeutung für Henry, und das nicht nur, weil er seinen Abschluss nicht gemacht hatte – wenn es auch damit zu tun haben mochte. 1949 hatte Henry sein Studium an der Washing- toner Universität abgebrochen, um eine Lehre als technischer Zeichner zu machen.
Das Programm, das Boeing damals anbot, war eine tolle Gelegenheit, wenn er tief in seinem Inneren auch um den wirklichen Grund für seinen Studienabbruch wusste. Den schmerzvollen Grund. Er hatte Schwierigkeiten sich einzufügen. Dazu zu gehören. Selbst nach all den Jahren verspürte er noch die Isolation. Nicht einfach nur Gruppen- druck. Eher kollektive Ablehnung.
Ein Blick auf das Jahrbuch der sechsten Klasse erinnerte ihn an alles, was er an der Schule gehasst und geliebt hatte. Fremde Gesichter tanzten durch seine Gedanken, wieder und wieder, wie von einem alten Kinematografen in seinen Kopf hinein projiziert. Die unfreundlichen Blicke seiner Schulhof-Feinde, der scharfe Kontrast zur lächelnden Unschuld der Jahrbuchbilder.
In der Spalte neben dem riesigen Klassenfoto war eine Liste mit den Namen derer abgedruckt, die »nicht auf dem Foto vertreten« waren. Henry fand auch seinen Namen dort. Er war tatsächlich nicht unter all den lächelnden Kindern zu finden. Obwohl er an jenem Tag in der Schule gewesen war. Von Beginn bis Ende.



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Texte: Berlin Verlag ISBN: 978-3827008411
Tag der Veröffentlichung: 15.07.2010

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