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Auf der harten Sitzbank eines Wagens dritter Klasse gab sich Robert de Vries alle Mühe, nicht aufzufallen. Nicht nervös mit dem Fuß klopfen. Andere Fahrgäste nicht zu lange ansehen, Blickkontakt vermeiden, sonst signalisierte man Gesprächsbereitschaft. Dauernde Anstrengung erforderte dieses Unsichtbarsein, dauernde Konzentration. Was für ein Gesicht wird sie machen, wenn ich plötzlich vor ihr stehe – und wann wird das wohl sein? Aus dem Nichts aufgetaucht. Aufregender Gedanke, kurz vor Zwolle.
Ohne all zu offenkundiges Interesse an der Landschaft vor dem staubigen Zugfenster glitt er durch das besetzte Land, von Westen nach Osten, vor allem aber nach Norden; magere Kühe irrten über vergilbte Weiden, ein Bauernhof schien in der Spätnachmittagssonne eingedöst zu sein. Friedlich, fast gelangweilt wirkte das Land. Ein normaler Werktag im Krieg, dieser Tag, an dem er tat, was er schon längst, schon vor drei Monaten hatte tun wollen, ja hätte tun müssen. Dieses Normale, Ruhige passte gut, fand er. Robert de Vries musste sich wie jemand verhalten – nein, korrigierte er sich, jemand sein –, der regelmäßig und entsprechend gleichgültig gegenüber seiner Umgebung nach Assen fuhr, einer Stadt, die genau so gewöhnlich, genau so alltäglich war wie er selbst: Robert de Graaf, Rangierer.
In Gedanken repetierte er noch einmal seine Angaben. Damit er sich, wenn nötig, wie nebenbei vorstellen konnte: Robertdegraaf, als ein Wort ausgesprochen. Routiniert. Wann geboren?
Na? 9. Juni … 1915. Das Jahr musste ein bisschen flotter kommen, verdammt noch mal. Genau drei Jahre älter war er, nicht fünfundzwanzig, sondern achtundzwanzig.
Er sah ein paar aufgeschreckte Kühe über eine Weide rennen und dann diesseits des Stacheldrahts den bellen- den Schäferhund, vor dem sie wohl Reißaus nahmen. Die Sonne schien größer zu werden und in das vertrocknete Gras zu sinken; noch ein paar Augenblicke würde sie ruhig die Dörfer, die wenigen Fabrikhallen, die Nebenstraßen in ihre Glut tauchen. Das Hemd klebte auf seinem Rücken. An einer geschlossenen Schranke sah er einen winzigen Moment zwei Deutsche auf einer Beiwagenmaschine. Die mussten warten, bis sein Zug – ja, bis er! – vorbei war. Er spürte, wie sich seine Mundwinkel kräuselten.
Im Bahnhof Zwolle schien ihm der Zug etwas länger als nötig zu stehen. Seine Augen suchten angestrengt den Bahnsteig ab. Bauchschmerzen bekam man von so etwas und ein Prickeln in Armen und Beinen. »Aufreibend«, flüsterte er und wischte sich mit einer raschen Bewegung die Schweißtropfen von der Oberlippe; als dann der Zug endlich wieder anfuhr, dachte er: Trotzdem kolossal. Das Prickeln verschwand, er brachte sogar ein Gähnen zu Stande.
Meppel war vorübergeglitten, eine träge sich reckende, auch schon gähnende Silhouette; der Horizont war jetzt noch leerer, und allmählich fand er Gefallen an der Sache. Sein vorläufiges Ziel war fast erreicht, bisher hatte es zum Glück keinen Zwischenfall gegeben. Er war glatt durch die Fahrkartenkontrolle gekommen. Und in Amersfoort hatte er – ohne ein Gespräch anzufangen, obwohl sie nicht unansehnlich gewesen war – einer Brünetten mit Kinderwagen beim Umsteigen geholfen. Einer Dame, die ein Stück entfernt saß und ihn ein bisschen zu lange ansah, hatte er dann doch herausfordernd zugenickt, allen Vorsätzen zum Trotz, mit einem Lächeln in den Augen; sie hatte errötend den Blick gesenkt, ihr Haar band zu recht gezupft und nicht mehr aufzusehen gewagt.
Charisma konnte natürlich nicht schaden bei dem, was er vorhatte: je man den aus einem Lager zu befreien. Jemanden? Nein, das war nicht das richtige Wort. Sie. Die einzige Brünette, die wirklich zählte. Den Wunsch, ihren Namen auf die staubige Scheibe zu schreiben, unter- drückte er. Zu auffällig wäre es, und des halb gefährlich. Außerdem kindisch.
Seine Fingerkuppe blieb fast sauber, als er über das Glas strich, um doch wenigstens den Buchstaben H darauf zu hinterlassen. Der Schmutz saß außen.
Hoogeveen – kurzer Halt, Haarband ausgestiegen, einen Kerl in Wehrmachtsuniform gesehen – lag hinter ihm. Noch zwei Stationen.
Er strich seine dunkelblonden Locken zurück, sie wollten sich dauernd aufrichten, aber er glättete sie immer wieder. Jetzt lagen sie erst einmal brav in kleinen Wellen auf seinem Schädel.
Was er in Assen tun würde, ahnte niemand. Nur Eduard Veterman vom Fälschungsbüro Keizersgracht 763 hatte er ins Vertrauen gezogen, seinen besten Freund, den Meisterfälscher – eigentlich Maler, aber mittlerweile fast mit seiner Lupe verwachsen. Der hatte nicht nur einen neuen Personalausweis für ihn angefertigt, auf den ersten Blick perfekt, sondern auch noch ein Rangiererzeugnis auf den gleichen Namen. »Nein«, hatte Rob zu Veterman gesagt, und nur zu ihm, während seine Finger im schwachen Lampenlicht des Souterrains hinter den abgedunkelten Fenstern mit der Stempelsammlung und den Skalpellen spielten, »nein, ich glaub nicht, dass ich so weiter arbeiten kann. Nicht, solange sie dort ist.«
Nur Veterman wusste von dieser Fahrt. Keiner von Luctor et Emergo wäre dafür gewesen. Zu riskant, zu verrückt.
Besonders jetzt. »Wir müssen uns ruhig verhalten«, hieß es, »man beobachtet uns.«
Von plötzlicher Unruhe gepackt, griff er in seine Innen- tasche, gerade noch beherrscht genug. Gott-an-den-er -nicht-mehr-glauben-wollte sei Dank! Die Papiere waren da.
Kaputte Kirchtürme. Ein Stückchen Land. Kahl geschnittene Kopfweiden. Ein Mädchen mit Hund – er drehte sich doch kurz nach ihr um: hmmm, nicht hässlich.
Copyright © Berlin Verlag
Texte: Berlin Verlag
ISBN: 978-3827008824
Tag der Veröffentlichung: 28.06.2010
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