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Über die Autorin:



Kate Summerscale, geboren 1965, wurde in England bekannt durch ihr Buch The Queen of Whale Cay (deutsch: Kerle wie wir), das ein Nr. 1-Times-Bestseller war und den Somerset-Maugham-Award gewann. Für The Suspicions of Mr Whicher erhielt sie den Samuel Johnson Prize, den wichtigsten Literaturpureis für Non-Fiction Literatur in Großbritannien. Die Autorin lebt mit ihrem kleinen Sohn in London.


Leseprobe:



Als Thomas Benger Savilles Leiche aus dem Abort zog, kippte der Kopf des Jungen nach hinten und entblößte einen sauberen Schnitt am Hals.
„Sein kleiner Kopf ist beinahe abgefallen“, sagte William Nutt, als er vor dem Gericht von Wiltshire seine Aussage über die Ereignisse des Tages machte.
„Man hat ihm die Kehle durchgeschnitten“, sagte Benger, „überall in seinem Gesicht waren Blutspritzer… An seinem Mund und seinen Augen waren dunkle Stellen, aber sah ganz friedlich aus, und seine kleinen Augen waren zu.“
Nutt breitete die Decke auf dem Boden des Aborts aus, und Benger legte den toten Körper darauf. Gemeinsam wickelten sie die Leiche ein, Benger am Kopf, Nutt an den Füßen, und Benger, der Stärkere der beiden, nahm sie auf den Arm und trug sie zum Haus. Urch und Morgan sahen ihn über den Hof gehen. Durch den Korridor trug der Bauer die Leiche des Jungen in die Küche.
Dort legte man Savilles bereits steife Leiche auf den Tisch unter dem Küchenfenster; im ersten Stock war der Abdruck seines schlafenden Körpers immer noch auf dem Laken und dem Kopfkissen der Wiege zu sehen. Mary Ann und Elizabeth Kent, die beiden älteren Schwestern, kamen in die Küche; Elizabeth hielt die zweijährige Eveline auf dem Arm. „Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie entsetzt und fassungslos sie aussahen“, erzählte Nutt. „Ich dachte, die fallen gleich um, und hab sie beide um die Taille gefasst. Ich bin mit ihnen raus in den Flur gegangen.“
Das Kindermädchen befand sich ebenfalls in der Küche. Nutt sagte zu ihr, „sie müsste ziemlich fest geschlafen haben, dass ihr jemand das Kind aus dem Zimmer entführen konnte. Sie hat mir gesagt – und zwar ziemlich ruppig, fand ich –, ich hätte doch keine Ahnung von der Sache.“ Gough behauptete, erst jetzt beim Anblick der Decke, in die Savilles Leiche gewickelt war, habe sie begriffen, dass die Decke aus seinem Bett entfernt worden war. Doch PC Urch, James Morgan und Mrs Kent erklärten, Gough habe ihnen schon vom Verlust der Decke erzählt, ehe man Savilles Leiche gefunden habe. Die wider- sprüchlichen Aussagen des Kindermädchens über die Decke sollten sie später zu einer Tatverdächtigen machen.
Draußen begannen die Dienstboten und eine wachsende Schar Dorfbewohner, nach Spuren des Mörders und der Mordwaffe zu suchen. Daniel Oliver, der Gärtnergehilfe, zeigte PC Urch einige Fußspuren auf dem Rasen in der Nähe der Salonfenster. „Da war jemand.“ Aber Alloway sagte, diese Fußabdrücke habe er am Vorabend hinter- lassen. „Ich habe die Schubkarre benutzt.“
An der Tür des Aborts fand Alloway einen blutigen Fetzen Zeitungspapier, circa dreizehn bis fünfzehn Zentimeter im Quadrat, gefaltet und immer noch feucht. Er sah aus, als hätte jemand ein Messer oder eine Rasierklinge daran abgewischt. Das Datum der Tageszeitung konnte man noch lesen – 9. Juni –, nicht aber den Titel. Edward West, ein Bauer, riet Alloway: „Mach das nicht kaputt; nimm’s und pass drauf auf – damit werden sie was rausfinden.“ Alloway reichte es Stephen Millet, einem Fleischer und Parish Constable, der den Abort untersuchte. Millet schätzte, dass sich auf dem Boden etwa zwei Esslöffel Blut befanden und die Dekce rund 850 Milliliter Blut auf- gesogen hatte. West beschrieb den Blutfleck auf dem Boden als „ungefähr so groß wie eine Männerhand. Als ich es sah, war es schon ziemlich stark geronnen.“
Im ersten Stock frisierte Elizabeth Gough Mrs Kent – zuvor hatte sie als Zofe gearbeitet, und in Road Hill House kümmerte sie sich sowohl um ihre Herrin als auch um die Kinder. Mr Kent hatte Anordnung gegeben, seiner Frau keine Neuigkeiten von ihrem Sohn zu überbringen, daher erzählte Gough ihr nicht, dass man Saville tot aufgefunden hatte. Doch als Mrs Kent sich laut fragte, wo ihr Sohn nur sein könnte, sagte sie: „Ach, Ma’am, das war Rache.“
Sobald Reverend Peacock in Road Hill House ankam, berichtete man ihm, dass man Saville gefunden habe, und zeigte ihm die Leiche in der Küche. Er ging nach Hause, sattelte sein Pferd und ritt Samuel Kent hinterher. In Southwick passierte er Ann Halls Schlagbaum.
„Sir“, sagte Hall zum Pfarrer, „das ist ja eine traurige Sache da in Road.“
„Aber man hat das Kind gefunden“, entgegnete er.
„Wo denn, Sir?“
„Im Garten.“ Peacock erwähnte nicht, dass es tot war.
Peacock holte Kent ein. „Es tut mir leid, aber ich habe schlimme Neuigkeiten“, sagte er. „Man hat den Kleinen ermordet aufgefunden.“
Samuel Kent kehrte um. „Ich war nicht lange fort; ich fuhr so schnell ich konnte.“ Als er den Schlagbaum passierte, fragte Ann Hall ihn nach Saville.
„Dann hat man das Kind also gefunden, Sir?“
„Ja, er wurde ermordet.“ Er hielt nicht an.
Da sein Vater fort war, fiel es William Kent zu, Joshua Parsons, den Arzt der Familie, zu holen. Der Junge eilte das schmale Sträßchen zum Dorf Beckington entlang und traf den Arzt zu Hause in der Goose Street an. Er erzählte ihm, dass man Saville mit durchgeschnittener Kehle im Abort gefunden habe, und Parsons machte sich sofort nach Road Hill House auf. William nahm er in seiner Kutsche mit. Der Arzt erinnerte sich an die Ankunft. „Master William führte mich hinten herum ins Haus, denn er wusste nicht, ob seine Mutter erfahren hatte, was geschehen war; also ging ich in die Bibliothek.“
Mr Kent war inzwischen wieder zu Hause. Er begrüßte Parsons und gab ihm einen Schlüssel zur Waschküche gegenüber der Küche, wohin man Savilles Leiche gebracht hatte. „Ich ging allein hinein“, sagte Parsons. Die Leiche war völlig steif, stellte er fest, was bedeutete, dass der Junge vor mindestens fünf Stunden getötet worden war – d.h., vor drei Uhr morgens. „Die Bettdecke und das Nachthemd waren voller Blut- und Schmutzflecken“ – mit „Schmutz“ meinte er Exkremente. „Die Kehle war mit einem scharfen Werkzeug bis auf den Knochen durchgeschnitten, von links nach rechts; sämtliche Membranen, Blutgefäße, Nerven und die Luftröhre waren durchtrennt.“ Parsons fiel auch eine Stichwunde auf, die durch die Kleidung hindurch zugefügt worden war und die Knorpel zweier Rippen verletzt, jedoch keine starke Blutung ausgelöst hatte.
„Der Mund des Kindes war von schwärzlichem Aussehen, und die Zunge ragte zwischen den Zähnen hervor“, sagte er. „Mein Eindruck war, dass die Schwarzfärbung durch gewaltsamen Druck auf den Mund verursacht wurde, während er noch lebte.“
Mrs Kent saß unten am Frühstückstisch, als ihr Mann hereinkam, um ihr zu sagen, dass ihr Sohn tot sei.
„Jemand aus dem Haus hat das getan“, sagte sie.
Cox, das Hausmädchen, hörte sie. „Ich hab es nicht getan“, sagte sie. „Ich hab es nicht getan.“
Um neun Uhr löschte Kerslake wie üblich das Feuer im Küchenherd.

Superintendent John Foley kam zwischen neun und zehn Uhr aus Trowbridge in Road Hill House an. Man führte ihn in die Bibliothek und dann in die Küche. Cox zeigte ihm das offene Fenster im Salon und Gough die leere Wiege im Kinderzimmer. Das Kindermädchen habe ihm erzählt, sagte er, dass „sie die Decke erst vermisst habe, als man das Kind darin eingewickelt zurückgebracht habe.“ Er habe Samuel Kent gefragt, ob er vom Fehlen der Decke gewusst habe, ehe er sich nach Trowbridge aufgemacht habe. „Gewiss nicht“, erwiderte Mr Kent. Entweder trog Foley seine Erinnerung („Mein Gedächtnis ist nicht so gut wie das manch anderer“, gab er zu), oder Mr Kent log oder war sehr verwirrt, denn seine Frau, die Schlagbaumwärterin und die Frau von PC Heritage bezeugten nämlich, dass er vom Fehlen der Decke gewusst habe, ehe er nach Trowbridge aufgebrochen war, und Samuel Kent selbst auch, wenn andere ihn danach fragen.
Foley suchte mit Hilfe von Parsons, der seine vorläufige Untersuchung der Leiche beendet hatte, sämtliche Räumlichkeiten und das Grundstück ab. Sie nahmen die Kleidung des Haushalts in Augenschein, darunter auch ein Nachthemd auf Constances Bett. „Es waren keine Flecken darauf“, sagte Parsons. „Es war sehr sauber.“ Die Betttücher in Savilles Wiege waren, wie ihm auffiel, „sorgfältig gefaltet, wie von geübter Hand“. In der Küche untersuchte der Arzt die Messer, fand jedoch keinerlei Blutspuren. Er habe ohnehin nicht geglaubt, sagte er, dass dem Kind die Wunden, die er gesehen habe, mit einem dieser Messer beigebracht worden seien.
John Foley ging in die Waschküche, um Savilles Leiche zu untersuchen. Er nahm Henry Heritage mit, den Polizisten, den Kent in Southwick geweckt hatte und der um zehn Uhr in Road Hill House eingetroffen war. Die beiden unter- suchten auch den Abort, in dem man die Leiche gefunden hatte. Als Foley hinab in die Grube unter dem Toilettensitz blickte, meinte er, ein „Wäschestück“ im Unrat liegen zu sehen. „Ich schickte nach einem Haken, den ich an einem Stock befestigte, und zog ein Stück Flanell heraus.“ Das Stück Stoff maß zwischen fünfundzwanzig und dreißig Zentimeter im Quadrat, die Ränder waren ordentlich mit einem schmalen Band eingefasst. Zunächst dachte Foley, es handele sich im ein Männerbrusttuch, doch schließlich identifizierte man es als das „Busentuch“ einer Frau – ein Polster, das man im Korsett befestigte, um die Brust zu kaschieren. Die Bänder an diesem hatte man offenbar abgeschnitten, und der Stoff war klebrig von gerinnendem Blut. „Es war Blut darauf, offenbar noch recht frisch“, sagte Foley. „Es war immer noch flüssig… Das Blut war in den Stoff gesickert, aber es scheint so sachte herabgetropft zu sein, dass es Tropfen für Tropfen gerann.“
Später am Vormittag trafen zwei Bekannte von Samuel Kent aus Trowbridge ein, um ihm ihre Dienste anzubieten: Joseph Stapleton war Arzt und Rowland Rodway Rechts- anwalt. Stapleton, der mit seiner Frau und seinem Bruder im Zentrum von Trowbridge lebte, war Gesundheits- inspektor für mehrere der Fabriken, die Kent beauf- sichtigte. Er prüfte, ob Arbeiter, speziell Kinder, körperlich für die Arbeit in den Spinnereien geeignet waren, und meldete sämtliche Verletzungen, die sie sich zuzogen. (Im folgenden Jahr sollte Stapleton das erste Buch über den Mord in Road Hill House publizieren, das zur Hauptquelle für viele Darstellungen des Falls wurde.) Rodway war Witwer und hatte einen einundzwanzig- jährigen Sohn. Er sagte, er habe Samuel Kent in einem „Zustand der Trauer und des Entsetzens … der Erschütterung und Pein“ angetroffen. Er habe darauf bestanden, sogleich nach einem Londoner Kriminalpolizisten zu telegrafieren, „ehe Spuren des Verbrechens verschwinden oder entfernt werden konnten“. Superintendent Foley trat diesem Vorschlag entgegen – er sagte, dies würde nur zu Schwierigkeiten und Enttäuschungen führen – und ließ stattdessen eine Frau aus Trowbridge holen, die die weiblichen Dienstboten durchsuchen sollte. Rodway zufolge „zögerte er, in die Privatsphäre der Familie einzudringen und die Überwachsungsmaßnahmen zu ergreifen, die der Fall erforderte“. Mr Kent bat Rodway, Foley zu sagen, er habe „völlig freie Hand“.
Dann setzte Foley seine Brille auf, ging auf die Knie und „untersuchte“, wie er sagte, „peinlich genau jede Stufe und jeden Fleck“ zwischen dem Kinderzimmer und der Eingangs- beziehungsweise der Hintertür. „Ich nahm die Pfosten, die Wände an den Treppen vor der Tür sowie die Matte im Eingangsbereich genauestens in Augenschein, aber ich fand nichts.“
Am Nachmittag befragte Foley im Esszimmer Gough in Gegenwart von Stapleton und Roday. Sie habe erschöpft gewirkt, sagte Stapleton, doch ihre Antworten seien schlicht und widerspruchsfrei gewesen. Sie schien eine „durchaus intelligente Person“ zu sein. Auch Rodway fand, dass sie die Fragen „offen und vollständig und ohne Anflug von Verlegenheit“ beantwortet habe. Als Foley sie fragte, ob sie einen Verdacht habe, wer Saville getötet haben könnte, verneinte sie.
Samuel Kent fragte Rodway, ob er ihn in der gerichtlichen Untersuchung der Todesursache vertreten würde. Der Anwalt erwiderte, dies würde unter Umständen keinen guten Eindruck machen, da es darauf hindeuten könne, dass Samuel selbst verdächtig sei. Später gab Mr Kent an, er habe Rodway nicht um seiner selbst willen um Hilfe gebeten, sondern um William zu schützen. „Ich wusste nicht, was uns dort erwartete, denn es hieß, mein Sohn William habe den Mord verübt.“
Benger und eine Gruppe anderer Männer leerten die drei Meter tiefe Grube unter dem Abort. Als das Wasser darin nur noch gut fünfzehn Zentimeter hoch stand, tasteten sie den Boden sorgfältig mit den Händen ab, fanden jedoch nichts. Fricker, der Klempner und Glaser, bot an, die Rohre zu untersuchen und ging in die Küche, um eine Kerze zu holen. Er traf Elizabeth Gough, die von ihm wissen wollte, wozu er die Kerze benötige. Um den Wasserbehälter zu untersuchen, erwiderte er. Sie sagte, sie sei sicher, dort werde er nichts finden.
Diverse weitere Polizisten erschienen im Laufe des Tages in Road Hill House, dazu Eliza Dallimore, die „Durchsucherin“, welche die Polizei beschäftigtem um Leibesvisitationen bei weiblichen Verdächtigen durchzuführen und deren Habe zu durchsuchen. Mrs Dallimore war mit William, einem der Polizisten, die bereits vor Ort waren, verheiratet. Sie ging mit Gough ins Kinderzimmer.
„Was wollen Sie von mir?“, wollte Gough wissen.
„Sie müssen sich ausziehen“, erwiderte Mrs Dallimore.
„Das kann ich nicht“, sagte das Kindermädchen. Mrs Dallimore bestand aber darauf und führte sie ins angrenzende Ankleidezimmer.
„Nun, Mädchen“, sagte die Durchsucherin, während Gough sich entkleidete, „dieser Mord ist wirklich entsetzlich.“
„Ja, das stimmt.“
„Können Sie mir davon erzählen, was meinen Sie?“
Gough berichtete erneut, sie sei um fünf Uhr morgens aufgewacht und habe gesehen, dass Saville fort war. „Ich dachte, er ist bei seiner Mama, weil er meistens morgens zu ihr geht.“ Mrs Dallimore zufolge fügte sie hinzu: „Das wurde aus Eifersucht getan. Der Kleine geht zu seiner Mama ins Zimmer und erzählt ihr alles.“
„Niemand würde ein Kind wegen so etwas ermorden“, sagte Mrs Dallimore. Goughs Charakterisierung des Jungen als Petzer wurde für viele der Schlüssel zu dem Verbrechen.
Eliza Dallimore und Elizabeth Gough gingen hinunter in die Küche. „Das ist eine entsetzliche Sache“, sagte Mrs Dallimore zu den Dienstboten, „und ich glaube, das ganze Haus ist für das Kind verantwortlich.“
Als Fricker, der Klempner, mit seinem Gehilfen aus dem Garten hereinkam, fragte Gough: „Was haben Sie getan, Fricker?“
„Ich habe das Wasserklosett geöffnet“, sagte er.
„Und Sie haben nichts gefunden?“
„Nein.“
„Dann werden Sie auch nichts mehr finden.“ Ihre Worte zum Klempner vor und nach der Überprüfung der Rohre nahm man später als Hinweis darauf, dass sie mehr über das Verbrechen wusste, als sie zugab.
Mrs Dallimore unterzog die weiblichen Dienstboten einer Leibesvisitation, verschonte jedoch entsprechend Foleys Anweisungen die Frauen der Familie Kent. Stattdessen untersuchte sie ihre Nachthemden. Sie fand Blutspuren auf dem Nachthemd von Mary Ann, der ältesten Tochter, daher reichte sie es an die Polizei weiter. Die Polizisten zeigten das Nachthemd Parsons, der die Flecken einer „natürlichen Ursache“ zuschrieb. Stapleton war ebenfalls der Meinung, dass es sich um Menstruationsblut handele. Dennoch gab man das Nachthemd Mrs Dallimore zur Aufbewahrung.
Gegen vier Uhr bat PC Urch zwei Frauen aus dem Dorf – Mary Holcombe und Anna Silcox – das tote Kind zu waschen und aufzubewahren. Mary Holcombe war die Putzfrau, die die Küche geputzt hatte, als Nutt und Benger Savilles Leiche gefunden hatten. Silcox war Witwe und hatte sich früher als Wochenbettschwester in den ersten Wochen nach einer Geburt um Mutter und Säugling gekümmert; sie lebte gleich nebenan bei ihrem Enkel, einem Zimmermann. Parsons befahl den Frauen, „dem armen Jungen die rechte Sorge angedeihen zu lassen“.
Gegen fünf Uhr unterhielt Parsons sich in der Bibliothek mit Samuel Kent, als ein Bote mit der Anweisung eintraf, der Arzt solle eine Autopsie der Leiche vornehmen. Der Coroner hatte, nachdem er von der Polizei über den Kindermord in Kenntnis gesetzt worden war, für den Montag eine Gerichtsverhandlung zur Feststellung der Todesursache anberaumt. Mit Mr Kents Einverständnis bat Parsons Stapleton, ihm bei der Untersuchung der Leiche zur Hand zu gehen.
Als Stapleton die Leiche sah, fiel ihm der „friedvolle Gesichtsausdruck“ des Kindes auf. „Die im Todeskampf ein wenig zurückgezogene Oberlippe war auf den oberen Zähnen steif geworden.“ Die Ärzte öffneten den Magen des Jungen und fanden die Überreste seines Abend- essens, zu dem Reis gehört hatte. Um zu überprüfen, ob der Junge betäubt worden war, schnüffelte Parsons nach Anzeichen von Laudanum oder einem anderen Betäubungsmittel, konnte jedoch nichts feststellen. Die gut zweieinhalb Zentimeter breite Stichwunde in der Brust hatte das Herz verschoben, das Zwerchfell durchstochen und den äußeren Rand des Magens gestreift. „Der Hieb muss mit recht großer Wucht geführt worden sein“, sagte Parsons, „um durch das Nachthemd hindurch so tief in den Körper einzudringen.“ Es handele sich um ein „bemerkenswert gut entwickeltes Kind“, erklärte der Arzt. Aufgrund der Risse in der Kleidung des Jungen und der Schnittwunde mutmaßte Parsons, die Waffe müsse die Form eines Dolches gehabt haben. „Es kann nicht mit einer Rasierklinge getan worden sein“, sagte er. „Es muss, denke ich, ein spitzes, langes, breites und starkes Messer gewesen sein.“ Anfangs glaubte er, die Todesursache sei die durchschnittene Kehle gewesen.
Die Autopsie erbrachte zwei merkwürdige Funde. Der eine war die „schwärzliche Verfärbung um den Mund herum“, die Parsons bereits früher aufgefallen war; der Mund sah aus, „wie man es für gewöhnlich nicht bei Leichen sieht – als wäre etwas fest dagegen gepresst worden“. Möglicherweise habe man dem Kind „mit Gewalt eine Decke in den Mund gesteckt, damit es nicht schreien konnte, es hätte aber auch mit der Hand getan worden sein können.“
Das andere Rätsel war das fehlende Blut. „Es konnte… nicht so viel Blut nachgewiesen werden“, berichtete Parsons, „wie hätte fließen müssen, wäre ihm die Wunde an der Kehle auf dem Abort beigebracht worden, denn dann hätte das Blut aus den Schlagadern deutlich mehr Spritzer auf den Wänden hinterlassen müssen.“ Wenn man dem Jungen die Kehle durchgeschnitten hätte, als er noch am Leben war, „hätte der Pulsschlag wahre Blutfontänen ausgestoßen“. Doch in seinem Körper war das Blut auch nicht mehr: Die innere Organe waren Parsons zufolge vollständig blutleer.
Als die beiden Ärzte zurück in die Bibliothek kamen, trafen sie Samuel Kent in Tränen aufgelöst an. Stapleton tröstete ihn, indem er ihm versicherte, Saville sei rasch gestorben. Parsons bestätigte dies: „Das Kind hat viel weniger gelitten, als Sie leiden werden.“
Superintendent Foley wachte in der Waschküche über die Leiche. Gegen Abend, berichtete er, sei Elizabeth Gough hereingekommen und habe ihrem früheren Schützling die Hand geküsst. Ehe der Superintendent nach Hause ging, bat er um etwas zu essen oder zu trinken. „Ich habe mir den ganzen Tag lang kaum die Lippen befeuchtet oder einen Bissen zu mir genommen.“ Mr Kent goss ihm ein Glas Portwein mit Wasser ein.
Das Leben im Haus ging weiter. Holcombe mähte den Rasen mit dem Rasenmäher. Cox und Kerslake machten die Betten. Wie am Samstagabend üblich, holte Cox ein frisches Nachthemd aus Constances Zimmer und hängte es vor das Fenster in der Küche. Constances Wäsche ließ sich Cox zufolge mühelos von der ihrer Schwester unter- scheiden, denn „der Stoff war sehr grob“. Ihre Nacht- hemden wiesen nur „schlichte Rüschen“ auf, Mary Anns dagegen waren mit Spitze und Elizabeths mit Stickerei geschmückt.
Samstagnacht schliefen die älteren Mädchen getrennt: Elizabeth ging eine Treppe tiefer, um im Bett ihrer Stiefmutter zu schlafen, „da Papa aufblieb“ bis zu Morgen, und Constance schlief bei Mary Ann, „um der Gesellschaft willen“. Elizabeth Gough ging, nachdem sie Mrs Kent und Mary Amelia geholfen hatte, sich bettfertig zu machen, hinauf, um bei Cox und Kerslake im Zimmer zu schlafen. Evelines Wiege rollte man vermutlich ins Elternschlaf- zimmer, wodurch das Kinderzimmer leer blieb; nur William ging allein zu Bett.
Am nächsten Tag wachte Foley erneut über Savilles Leiche. Sämtliche Misses Kent kamen herein, um die Leiche des Jungen zu küssen, ebenso wie Elizabeth Gough. Nachher erzählte das Kindermädchen Mrs Kent, sie habe „das arme Kindchen“ geküsst. Einem Bericht zufolge sagte Mrs Kent, Gough habe „sehr betrübt gewirkt und geweint, weil er tot war“; nach anders lautenden Informationen soll sie jedoch gesagt haben: Gough „sprach häufig voller Trauer und Zuneigung zu ihm, aber ich sah sie nicht weinen“. Die weiblichen Verdächtigen in diesem Fall wurden ständig auf Küsse und Tränen, die Anzeichen ihrer Unschuld, hin beobachtet.
Am Sonntag schlief Constance allein. William schloss „aus Furcht“ seine Tür ab.


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Texte: Berlin Verlag ISBN: 978-3827007780
Tag der Veröffentlichung: 18.12.2009

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