Tatjana de Rosnay:
Bumerang
Über die Autorin:
Tatjana de Rosnay wuchs in Paris und Boston auf udn verbrachte einige Jahre in England. Seit 1984 lebt sie wieder in Paris. Sie ist die Autorin des Weltbestsellers "Sarahs Schlüssel" (Bloomsbury Berlin 2007. Bvt 2008, Bloomsbury K & J Tb 2008), der zur Zeit unter der Regie von Gilles Paquet-Brenner verfilmt wird.
Leseprobe:
Ich werde in einen kleinen, tristen Raum geführt, werde aufgefordert, mich zu setzen und zu warten. Sechs leere braune Plastikstühle stehen auf abgenutztem Linoleumboden. In der Ecke eine künstliche Zimmerpflanze, die glänzenden Blätter verstaubt. Ich tue, was man mir sagt. Ich setze mich. Mir zittern die Knie. Ich habe feuchte Hände, eine trockene Kehle. In meinem Kopf ein hemmender Schmerz. Ich denke: Ich sollte jetzt unseren Vater anrufen, ich sollte ihn anrufen, bevor es zu spät ist. Aber meine Hände machen keine Anstalten, nach dem Telefon in meiner Hosentasche zu greifen. Unseren Vater anrufen und ihm was sagen? Und wie?
Das Licht ist kalt, Neonröhren an der Decke. Die Wände sind gelblich verfärbt und rissig. Ich sitze da wie betäubt. Hilflos. Verloren. Ich sehne mich nach einer Zigarette. Ich fühle mich, als müsse ich mich gleich übergeben, als kämen der bittere Kaffee und die zähe brioche, die ich vor zwei Stunden zu mir genommen habe, wieder hoch.
Ich höre noch immer das Kreischen der Reifen, spüre das plötzliche Schlingern des Wagens, als er scharf nach rechts ausbricht und in die Leitplanken kracht. Und ihren Schrei. Ich höre noch immer ihren Schrei.
Wie viele Menschen haben hier schon gewartet? Wie viele haben hier schon gesessen, wo ich jetzt sitze, und auf Nachricht über einen geliebten Menschen gewartet? Ich muss die ganze Zeit daran denken, was diese vergilbten Wände schon alles gesehen haben. Was sie wissen. Woran sie sich erinnern. Tränen, Schrecken oder Erleichterung. Hoffnung, Schmerz oder Freude.
Die Minuten ticken dahin. Ich starre auf das schmuddelige Ziffernblatt der Uhr über der Tür. Ich kann nichts tun außer warten.
Nach etwa einer halben Stunde kommt eine Schwester herein. Sie hat ein längliches Gesicht, dünne weiße Arme.
„Monsieur Rey?“
„Ja“, sag ich, und das Herz schlägt mir bis zum Hals.
„Sie müssen diese Papiere ausfüllen. Wir brauchen ein paar persönliche Angaben.“
Sie reicht mir verschiedene Formulare und einen Stift.
„Geht es ihr gut?“, murmele ich. Meine Stimme klingt dünn und gepresst.
Sie sieht mich flüchtig aus wässrigen, wimperlosen Augen an. „Das wird Ihnen die Ärztin sagen. Sie kommt gleich.“
Sie geht wieder. Sie hat einen armseligen flachen Hintern.
Ich staple mit zittrigen Fingern die Formulare auf meinen Knien.
Name, Geburtsdatum und –ort, Familienstand, Adresse, Sozialversicherungsnummer, Krankenversicherungsnummer. Meine Hand zittert noch immer, als ich in Druckbuchstaben schreibe: Mélanie Rey; geboren 15. August 1967 in Boulogne-Billancourt; ledig; 49 Rue de la Roquette, Paris 75011.
Ich habe keine Ahnung, wie die Sozialversicherungsnummer meiner Schwester lautet. Oder die Krankenversicherungsnummer. Ihre Papiere müssen in ihrer Handtasche sein. Doch wo ist die? Ich kann mich nicht erinnern, was mit ihrer Tasche passiert ist. Nur daran, wie ihr Oberkörper nach vorn sackte, als man sie aus dem Wagen zog. Wie ihre Arme schlaff von der Trage baumelten. Und ich stand da, kein Haar gekrümmt, nicht einen Kratzer abgekriegt, obwohl ich direkt neben ihr gesessen hatte. Ich schaudere. Ich denke dauernd: Gleich werde ich aufwachen.
Die Schwester kommt mit einem Glas Wasser zurück. Ich stürze es hinunter. Es hat einen metallischen, schalen Geschmack. Ich bedanke mich bei ihr. Ich sage, dass ich Mélanies Sozialversicherungsnummer nicht weiß. Sie nickt, nimmt die Formulare und geht.
Die Minuten schleichen dahin. Im Raum ist es vollkommen still. Es ist ein kleines Krankenhaus. Eine kleine Stadt, nehme ich an. In der Umgebung von Nantes. Ich weiß nicht genau, wo. Ich stinke. Keine Klimaanlage. Ich kann den Schweiß riechen, der aus meinen Achseln rinnt, sich in meinen Leisten sammelt. Der scharfe Geruch von Verzweiflung und Panik. Mein Kopf hämmert noch immer. Ich versuche, ruhig zu atmen. Ein paar Minuten lang gelingt es mir. Dann packen mich wieder Hilflosigkeit und Entsetzen.
Paris ist mehr als drei Autostunden entfernt. Ich überlege erneut, ob ich meinen Vater anrufen soll. Vielleicht sollte ich noch warten. Ich weiß nicht einmal, was die Ärztin mir zu sagen hat. Ich sehe auf die Uhr. Zweiundzwanzig Uhr dreißig. Wo unser Vater jetzt wohl ist? Bei einer Dinnerparty? Oder vorm Fernseher in seinem Arbeitszimmer, während Régine im Zimmer nebenan telefoniert und sich dabei die Nägel lackiert?
Ich beschließe, noch zu warten. Ich würde jetzt gerne meine Exfrau anrufen. Astrid ist noch immer der erste Mensch, der mir in Momenten von Stress und Verzweiflung einfällt. Aber der Gedanke an sie mit Serge in Malakoff, in unserem alten Haus, in unserem alten Bett, mit ihm, der grundsätzlich ans Telefon geht, sogar an ihr Handy, verdammt noch mal – „O hallo, Antoine, was gibt’s, Mann?“ –, das ist einfach zu viel. Also rufe ich Astrid nicht an, obwohl ich es gern täte.
Ich harre weiter in dem kleinen, muffigen Raum aus und versuche erneut, mich zur Ruhe zu zwingen. Versuche, gegen die aufsteigende Panik anzukämpfen. Ich denke an meine Kinder. Arno, auf dem Höhepunkt pubertärer Rebellion. Margaux, ein mysteriöses Geschöpf mit ihren vierzehn Jahren. Lucas, mit elf noch immer ein Baby, verglichen mit den beiden anderen und ihren tobenden Hormonen. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, ihnen zu sagen: Eure Tante ist tot. Mélanie ist tot. Meine Schwester ist tot. Die Worte ergeben keinen Sinn. Ich dränge sie weg.
Eine weitere Stunde schleicht vorüber. Ich sitze nur da, den Kopf in die Hände gestützt. Ich versuche, Ordnung in das Chaos zu bringen, das meinen Kopf ausfüllt. Ich beginne, an die Abgabetermine zu denken, die ich einhalten muss; morgen ist Montag, und nach dem langen Wochenende müssen etliche Dinge dringend erledigt werden, zum Beispiel dieser unerfreuliche Rabagny mit seiner grässlichen Tagesstätte, auf die ich mich nie hätte einlassen sollen, und Florence, diese hoffnungslose Assistentin, die ich unbedingt feuern muss. Aber wie kann ich jetzt überhaupt an so etwas denken, frage ich mich im selben Augenblick entsetzt, wie kann ich an meinen Job denken, während Mélanie zwischen Leben und Tod schwebt? Warum Mélanie? Warum nicht ich? Diese Reise war meine Idee gewesen. Mein Geburtstagsgeschenk. Zu ihrem vierzigsten Geburtstag, vor dem sie sich so gefürchtet hatte.
Schließlich betritt eine Frau in meinem Alter den Raum. Grüner OP-Kittel und eine dieser komischen kleinen Papiermützen, die Chirurgen tragen. Wache haselnussbraune Augen, kurzes kastanienfarbenes Haar mit silbernen Strähnen. Sie lächelt. Mein Herz macht einen Sprung. Ich springe auf.
„Das war knapp, Monsieur Rey“, sagt sie.
Ich entdecke kleine braune Flecken an der Vorderseite ihres Kittels. Mélanies Blut?
„Ihre Schwester wird durchkommen.“
Zu meinem Entsetzen verzieht sich mein Gesicht, mir quellen Tränen aus den Augen. Meine Nase läuft. Es ist mir schrecklich peinlich, in Gegenwart dieser Frau zu weinen, aber ich kann nichts dagegen tun.
„Ist schon gut“, sagt die Ärztin. Sie fasst meinen Arm. Sie hat kleine, kräftige Hände. Sie drückt mich zurück auf den Stuhl, setzt sich neben mich. Ich heule wie früher als kleiner Junge mit heftigen Schluchzern, die von tief innen kommen.
„Sie ist gefahren, oder?“
Ich nicke und versuche, mir die laufende Nase mit dem Handrücken abzuwischen.
„Wir wissen, dass sie nichts getrunken hatte Das haben wir untersucht. Können Sie mir erzählen, was passiert ist?“
Ich wiederhole, was ich zuvor schon der Polizei und den Sanitätern erzählt habe. Dass meine Schwester die restliche Strecke nach Hause fahren wollte. Dass sie eine gute Fahrerin ist. Dass ich mich nie unwohl neben ihr am Steuer gefühlt habe.
„Ist sie bewusstlos geworden?“, fragt die Ärztin. Auf ihrem Namensschild steht: Dr. Bénédicte Besson.
„Nein.“
Und dann erinnere ich mich an etwas. Etwas, das ich den Sanitätern nicht erzählt habe, weil es mir erst in diesem Augenblick wieder einfällt.
Ich schaue hinunter auf das sonnengebräunte Gesicht der Ärztin. Mein eigenes ist noch immer vom Weinen verzerrt. Mir stockt der Atem.
„Meine Schwester wollte mir gerade etwas erzählen… sie hat sich zu mir umgedreht. Und dann ist es passiert. Der Wagen kam von der Straße ab. Es ging alles so schnell.“
„Was hat sie gesagt?“
Mélanies Blick. Ihre Hände umklammern das Steuer. „Antoine, es gibt da etwas, das ich dir sagen muss. Ich habe es den ganzen Tag hinausgeschoben. Letzte Nacht im Hotel, da ist mir etwas eingefallen. Etwas über…“ Ihr Blick beunruhigt, verängstigt. Und dann gerät der Wagen ins Schleudern.
Tag der Veröffentlichung: 17.12.2009
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