Marion Ruggieri:
Heute Abend nicht, ich geh mit meinem Vater essen
Leseprobe:
Das Problem mit den Eltern heutzutage ist, dass sie nie sterben. Oder dass man sie zu sehr liebt.
„Wir sehen uns ziemlich ähnlich, hm?“, sagt er und betrachtet mich im Spiegel.
Bloß dass sein Kopf zweigeteilt ist: ein Auge kindlich, das andere verrucht. Wie ich aussehe, weiß ich nicht. Über ihn kann ich nur sagen, dass er im Gegensatz zu vielen anderen Männern seines Alters nicht am Bauch zugelegt hat, was am Hintern verloren gegangen ist. Diese verräterischen kommunizierenden Gefäße sorgen dafür, dass der Mensch eines Tages nur noch mäßiges Interesse am anderen Geschlecht zeigt und sich dem Essen oder der Gartenarbeit zuwendet. Und weil alles auf der Welt seinen Sinn hat – ich habe mal irgendwo gelesen, dass wir unser Affenfell verloren haben, um unsere erogenen Zonen auszuweiten und so unsere Überlebenschancen zu optimieren –, lässt der liebe Gott den Mann genau dann wie eine schwangere alte Frau aussehen, wenn er sich nicht mehr fortzupflanzen braucht. Aber bei ihm ist das nicht der Fall.
„Nicht schlecht für einen Kerl in meinem Alter, was? Da, fass mal an!“
Ich schlage die Augen nieder und blicke auf seine nassen Fußabdrücke, die sich dunkel vom Parkett abheben. Er trägt ein weißes Handtuch, hastig um die Hüften geschlungen. Sein schwarzes Haar glänzt im Licht, das zur Tür hereinfällt. Seine Lippen sind bräunlich. Ein übergroßer Mund, genau wie die Stirn, der Brauenbogen und die Nase. Er hat kräftige Gesichtszüge, eine anmutige Gestalt und eine unruhige Art. Ein romantisches Äußeres. Ein Freund sagte einmal, als es um seine siebzehnjährige Tochter ging: „Ich trau mich kaum noch, sie anzusehen.“
Schon seit Jahren traute ich mich kaum noch, ihn anzusehen, und schon seit Jahren zwingt er mich dazu. Ich tippe also verstohlen mit den Fingerspitzen seinen gebräunten, noch feuchten Arm an. Wie ein Arzt bei der Untersuchung, oder wie beim Fangenspielen. Der Muskel ist hart, aber die Haut, zarter als meine, ist nicht so straff.
„Hmm…“
„Komm rein, du kannst mir gleich mal beim Eincremen helfen.“
Ich schließe die Tür und folge ihm durch den dunklen Flur, von dem nacheinander die Küche, das einzige Schlafzimmer und das Wohnzimmer abgehen. Er hat einfach auf eigene Faust alle Trennwände herausreißen lassen. Hat eine kleine, spießige Familienwohnung in eine geräumige Single-Bude verwandelt.
Mein Vater gehört der Generation an, die es sich unter dem Vorwand, mitten im Krieg oder kurz danach geboren zu sein, zur Lebensaufgabe gemacht hat, nicht zu sterben. Nicht zu sterben und demzufolge auch nicht zu altern. Die Zeit anzuhalten. Am Anfang glaubte ich, es hätte nur ihn erwischt. Und dann sah ich noch andere Fälle, auf der Straße, im Fernsehen, im direkten Umfeld, kam manchmal mit ihnen in Kontakt: mit den falschen Jugendlichen. Ich spielte ihr Spiel sogar mit. Zuerst dachte ich, das Syndrom trete nur bei Männern in seinem Alter auf, bei den ewigen Babyboomern, aber dann merkte ich, dass die Generationen nach ihm noch schlimmer ist. Die sind schon mit vierzig gefakte Zwanzigjährige. Ich erkenne sie auf den ersten Blick: ein T-Shirt, eine pubertierende Freundin und eine Playlist. Am Anfang nahm ich schließlich an, es sei eine örtlich begrenzte Epidemie, bis zu dieser Geburtstagsparty eines Chinesen aus Los Angeles. Kein Mensch hätte sein Alter erraten, vierundfünfzig. Seine Klamotten, seine Frisur, sein Auftreten: Er lief einfach genauso herum wie ein Mann der westlichen Welt, der nicht sterben will. Das ist das Problem. Die Leute wollen nicht mehr sterben. Also stehlen sie das Leben ihrer Kinder. Sie sind Menschenfresser.
Ich soll ihm den Rücken eincremen. Den Rest kann er selber. Er reicht mir die Tube, ein pharmazeutisches Zeugs mit einem Namen, an dem man sich beinahe die Zunge bricht. Ich mache ein paar weiße Kleckse auf seine vor Sommersprossen braunen Schulterblätter – es klatscht hörbar. Mit der flachen Hand verteile ich die Lotion wie mit der Maurerkelle, überall bleibt etwas zurück. Genau wie wenn sich ein Mann mit Sonnenmilch eincremt, die in seinen Augenbrauen, im Bart und an der Nase hängen bleibt – als würde es irgendwie schwul wirken, sie ordentlich zu verreiben, oder als warte er auf eine gute Seele, eine Mutter, die sein Werk zu Ende bringt.
„Vergiss nicht die Schultern, ja? Du solltest Dich auch ein bisschen eincremen, Big. Der Arzt meinte, meine Haut ist so elastisch wie bei einem Dreißigjährigen.“
Ich habe eine Krokodilshaut, geschmeidig wie die einer Bettlägerigen, und das gefällt mir.
Natürlich bin ich zu feige, meinem Vater zu sagen, dass er mein Leben auffrisst und dass ich nur noch an einem seidenen Faden hänge. Ich lasse alles so laufen, und wenn er wüsste, dass er mich umbringt, würde er weinen. Obwohl… Ich habe ihn nur ein einziges Mal weinen sehen. Wir wohnten noch zu dritt. Er stand mit Tränen in den Augen am Fenster. Meine Mutter war im Nebenzimmer. Sie liebte ihn nicht mehr, das spürte ich. Mein Vater betrog sie, aber was sie tat, war noch schlimmer: Sie interessierte sich nicht mehr für ihn. Zum ersten Mal in meinem Kinderleben spürte ich den Schmerz eines anderen stärker als meinen eigenen. Und trotzdem verbrachte ich Stunden damit, mir im Spiegel beim Weinen zuzusehen. Mir mit würdevoller, trauriger Miene vorzustellen, meine Eltern wären tot, und zu beobachten, wie meine Augenfarbe von braun zu grün überging. Aber damals hätte ich meine Mutter am liebsten umgebracht. Ich wusste, dass die endlosen Streitereien der beiden keinen Sinn mehr hatten. Es war vorbei. Zwanzig Jahre später hat er sich kein bisschen verändert. Als hätte ihn die Zeit dort festgehalten, erstarrt hinter seinem Fenster. Viele Leute versteinern auf diese Weise, nach einem Schock oder umgekehrt nach einem Lebensabschnitt, den sie für den Höhepunkt ihres Lebens halten.
Manchmal wünschte ich mir, er würde Haarausfall bekommen, Kordhosen tragen, klassische Musik hören, seinen Sommerurlaub planen oder Karten für Luchini besorgen; manchmal frage ich mich, warum er nicht sein kann wie die Väter von einigen meiner Freundinnen, ein Mann seines Alters, mit aufgeräumten Einbauschränken, im Ruhestand und von Arthritis geplagt, oder wie meine Mutter, irgendeine Mutter, mit Röcken bis übers Knie, Würde bis zum Abwinken und vor allem ohne ein Sexleben, jedenfalls ohne ein mir bekanntes. Ich habe den Eindruck, dass sich die Erzeuger früher bis auf einige Ausnahmen irgendwann zurückzogen. Nicht unbedingt freiwillig, aber was blieb ihnen schon anderes übrig: Sie waren alt, etwas verkalkt und bald tot. So war das nun mal. Man warf sie raus. Und das war normal, weil kein Platz für zwei war. Man kann sich nicht übereinander legen. Das ist obszön. Einer von beiden muss das Feld räumen. Im Moment bin ich das.
Übrigens sehe ich vor dem Spiegel nach nichts aus. Ich existiere nicht. Ich wurde zusammengestaucht, zusammengedrückt durch die Beschleunigung der Geschichte. Mit fast dreißig bin ich eine falsche Jugendliche. Während ich mir mit dreizehn große Mühe gab, mich wie eine Nutte anzuziehen, verkleide ich mich jetzt, wo ich es problemlos könnte, als rotziger Teeny. Ich bin voll ausgestattet: Jeans, Turnschuhe und T-Shirt. An meinem dreißigsten Geburtstag trenne ich mich von meinem alten Rucksack, habe ich beschlossen. Der Betrug fällt weniger aus als bei meinem Vater oder bei den Vierzigern, die, enthemmt durch die Kritik an der vorhergehenden Generation, noch karikaturartiger und ungenierter sind als die Älteren. Aber trotzdem, ich bin vom Alter her eine Frau, die Rouge und Highheels tragen könnte, aber stattdessen…
„Versuchen Sie, nicht so sehr auf jung zu machen“, hatte mir einmal die Frau eines bekannten französischen Philosophen hinterher gerufen, eine besondere Spezialistin für Visagenverschandelung, als ich mit meinem Pferdeschwanz und meinem Rucksack davontrottete. Sie hatte meinen Zustand erkannt und mich mit ihrem merkwürdigen Aussehen höflich daran erinnert.
Ich wollte schon sehr früh jünger aussehen. Mit einundzwanzig, glaube ich. Von dem Tag an, als ich mit einem älteren Mann ausging. Wenn ich so darüber nachdenke, habe ich von allen Mädchen der Menschheitsgeschichte vielleicht am frühesten damit angefangen, jünger wirken zu wollen. Aber in einer Welt, in der man immer länger lebt, wird man nun mal in immer jüngeren Jahren alt, Frische ist Mangelware. So kann man das ganze Leben lang mit der Grausamkeit des Fortschritts hadern, bis man sich schließlich im Altersheim wieder findet, wie ein aus dem Nest gefallener Kuckuck mit verklebten Augen, zerzaustem Haar und einer Heidenangst, und sich fragt, wo man eigentlich ist. Um zu verschwinden, essen manche nichts mehr. Ich trinke nicht – ich könnte eine Doktorarbeit darüber schreiben, wie suspekt das macht –, , ich rauche nicht, nehme keine Drogen, pflanze mich nicht fort und schminke mich nicht. Ich bin nicht zu greifen. Transparent. Reiner Geist. Mit den Mädchen, die sich hier die Klinke in die Hand geben, habe ich nichts zu tun. Ich will hier keine Analyse ausbreiten, von der alle bloß gelangweilt wären und ich selbst sowieso (ich hab ja auch gar nichts analysiert), aber vielleicht so viel: Nur indem ich eine Jugendliche blieb, konnte ich den Raum zwischen mir und meinem Vater bewahren, diese lebenswichtige Distanz, diese abertausend Jahre Geschichte, die er beschlossen hatte auszulöschen, um sich selbst zehn oder zwanzig Jahre mehr zu gönnen. Und so kralle ich mich mit meinen abgekauten Nägeln an der Kindheit fest und warte, bis er den ersten Schritt macht. Er will nicht älter werden? Ich auch nicht. Wir werden ja sehen, wer länger durchhält.
„Ganz ehrlich, Big, ich kann deiner Großmutter und dem lieben Gott nicht genug dafür danken, dass sie so einen hübschen Kerl aus mir gemacht haben!“
Die Leier kenne ich schon auswendig.
„Denn was die Frauen angeht, Big, da habe ich mehr als nur mein Stück vom Kuchen abbekommen, da hatte ich den Kuchen, das Gebäck…“
---und die Bäckerin, ich weiß. Während er im Badezimmer weiterplappert, wo immer noch alles beschlagen ist, schnüffele ich in der Küche herum, meinem Lieblingsraum und dem einzigen, der möbliert ist. Auf dem langen Holztisch stehen prall gefüllte Tüten mit den Einkäufen für das Abendessen. Vielleicht zu viel. Aber das stört mich überhaupt nicht. Ich hasse leere Kühlschränke, Mahlzeiten, bei denen man nicht satt wird, und Leute, die auf meinem Teller herumstochern. Kurz: Beim Essen und bei meinen Eltern verstehe ich keinen Spaß. Heute wird mein Vater fünfundfünfzig, und auch wenn man ihm sein Alter nicht ansieht, werden wir das feiern, ganz romantisch zu zweit. Ich breche das Ende eines Baguettes ab, alte Gewohnheit, und flitze in Richtung Wohnzimmer, das Stück Brot im Mund wie eine alte Kippe. Auf Höhe des Schlafzimmers wende ich den Blick ab – zu spät, ich sehe flüchtig das Bett, das den ganzen Raum ausfüllt, die zerwühlten Laken und die Decke, die halb auf dem Boden liegt. Das Wohnzimmer weiter hinten ist leer, oder so gut wie. Die wenigen Möbel, Restbestände der Scheidung, stehen in Habachtstellung an den kahlen Wänden, dazwischen Bücherstapel, DVD-Reihen, zerfledderte Zeitschriften, eine Stereoanlage, der Fernseher, Vorhänge, die noch nie auf- oder zugezogen, ja nicht einmal losgebunden wurden, und ein einzelnes rotes Sofa, auf das ich mich nur ungern setze. Mein Vater kommt zum ersten Mal herein, das Handtuch um die Hüften geknotet, und sucht auf Zehenspitzen seine Hose, die da liegt, wo er sie mit Sicherheit ausgezogen hat: vor dem Sofa. Er lächelt mich an.
„Sexy wie immer, Big, soweit ich das sehen.“
Dann zum zweiten Mal, auf der Suche nach seinen Socken: „Aber pass bloß auf, dass du dich nicht zu sehr aufbrezelst, meine Big.“
Dann ein drittes Mal, wegen seiner Turnschuhe: „Man kann ja nie wissen, womöglich ziehst du noch Blicke auf dich…“
Ich lächle zurück, gebe mich geschlagen. Er trägt nie eine Unterhose, zu spießig, genau wie die Trennwände.
„Welches Hemd soll ich anziehen, Big?“
(…)
„Magst du mal bitte kommen und schauen?“
Nein, mag ich nicht. Dann muss ich das Schlafzimmer betreten, in dem der Schrank steht, das Bett ignorieren, wegen dem ich schon einmal fast umgekippt wäre, und über Laken und Kissen steigen, und all das nur, um zwischen einem weißen Hemd und einem anderen weißen Hemd zu entscheiden. Ich rühre mich nicht vom Fleck und schaue wie gebannt auf die Mauer des Kaufhauses, das draußen auf der anderen Seite des Gartens die Sicht auf den Horizont versperrt.
„Biiiiig.“
Macht der das mit Absicht?
Widerwillig wie eine Pubertierende stehe ich auf, schlurfe ich Richtung Schlafzimmer und schnappe mir im letzten Moment noch eine Zeitung, die bei „Vermischtes“ aufgeschlagen ist und mir vielleicht Gelegenheit zu einem Themenwechsel gibt. „Big?“ Aber es nützt alles nichts. Ich betrete das Zimmer und würdige das Bett keines Blickes, was mir, wie gesagt, nicht leicht fällt. Und dann – ich glaube, ich sehe nicht richtig.
„Was ist denn das für ein Ding?“
Über dem Bett thront ein riesiges Kruzifix. Ich trete näher, aber tatsächlich: Es ist ein Kreuz mit Jesus darauf, der ebenfalls einen Lendenschutz um die Hüften trägt. Er hat dieselbe halb vergehende Haltung wie mein Vater, als er zwanzig Jahre zuvor im Fensterrahmen lehnte und ihn ein sanftes Licht in meinem Herzen für immer unsterblich machte. Bloß dass mein Vater seit seiner Erstkommunion außer zu touristischen Zwecken nie wieder einen Fuß in eine Kirche oder Ähnliches gesetzt hat. Er, der sonst so schnell auf jeden Modezug aufspringt, hat sogar die Buddhismus-Welle ausgelassen und ist offenbar kein bisschen neugierig auf das Leben nach dem Tod – sonst wären wir ja nicht an diesem Punkt –, sondern nutzt viel lieber das im Hier und Jetzt. Und trotzdem muss jemand auf dieses Bett gestiegen sein und das Kruzifix an die Wand gehängt haben, noch dazu mit Hammer und Nagel – zwei Gegenstände, die in der näheren Umgebung nirgends zu finden sind, selbst im ganzen Stadtviertel nicht, seit das Kaufhaus nebenan die Heimwerkerabteilung im Untergeschoss dicht gemacht hat und dort Plüschtiere, Geschenkbücher und DVDs verkauft. Also? Ich kann mir nur schlecht vorstellen, wie er jeden Abend seine Sünden büßt, auf dem Boden kniend, mit dem Ellbogen auf dem Kopfkissen. Genauso wenig kann ich mir vorstellen, wie er dieses Schmuckstück beim Trödler um die Ecke entdeckt. „Mensch, dieses rustikale Kruzifix würde sich wunderbar bei mir über dem Bett machen.“ Und wenn es zu irgendwelchen Sexspielchen dient, WILL ICH ES NICHT WISSEN. Also?
„Ach das, das ist das Kruzifix von Fallen, meiner neuen Freundin. Sie ist praktizierende Katholikin, musst du wissen. Aber du kannst sie gleich kennen lernen, sie kommt zum Abendessen.“
Tag der Veröffentlichung: 04.11.2009
Alle Rechte vorbehalten