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Elizabeth Diamond:
Aus dem Nichts

Leseprobe:



In nur einem Augenblick kann sich das ganze Leben ändern. Und dann wird man verfolgt von dem, was wäre, wenn. Was, wenn ich an dem Abend nicht ins Pub gegangen wäre, was, wenn ich einen anderen Weg genommen, wenn es nicht geregnet hätte? Was, wenn ich gar nicht dort gewesen wäre, sondern jemand anderes mit einem anderen Namen und einem anderen Leben?
„Sie kam aus dem Nichts“, sagte ich dem Coroner. Aus dem grauen Regen, dem dunklen Schatten hinter dem roten Bus. Eine verschwommene Gestalt in einer königsblauen Schuluniform, die hinter dem Bus auf die Straße rannte.
Ich habe sie nicht gesehen. Ich konnte nicht mehr bremsen.
„Warum hatten Sie Ihre Scheinwerfer nicht eingeschaltet?“, fragte er. Er hatte ein hageres, kantiges Gesicht, zusammengewachsene Augenbrauen, schütteres graues Haar.
Ich konnte ihm nichts von dem Licht im November erzählen. Wie leicht es war, die ersten Zeichen der Dämmerung zu übersehen. Wenn die Formen plötzlich ihre Umrisse verlieren und ein Mädchen, das im Dämmerlicht, im bleiernen Novembergrau, im Regen auf die Straße rennt, auch ein Geist sein könnte, eine Gestalt aus der Unterwelt, ein Gespinst meiner eigenen Phantasie.
„Das hätte nichts geändert“, sagte ich. „Ich hätte nicht mehr bremsen können.“ Sie kam wie aus dem Nichts auf mich zu.
„Wie können Sie sich da so sicher sein“, sagte er, die Lippen missbilligend und schmal. „Selbst eine Sekunde kann manchmal entscheidend sein.“
Er hatte natürlich Recht. Ich kann mir nicht sicher sein. Über nichts kann ich mir mehr sicher sein.
Das mit der Zeit konnte ich ihm auch nicht erzählen; dass es zwei Arten von Zeit gibt. Zum einen die Zeit, bei der die Sekunden zu Minuten werden und die Minuten zu Stunden. Bei der auf die Nacht der Tag folgt und aus Wochen Monate werden und aus Monaten ein Jahr und die Jahre sich auf den Gesichtern der Menschen abzeichnen, auf ihren breiteren Hüften. Die Zeit, in der die meisten von uns leben.
Dann gibt es noch die andere Zeit. Sie kennt keine Grenzen. Sie wirbelt einen ohne Vorwarnung in die Vergangenheit, und plötzlich ist man wieder jung. Sie wird durch alles Mögliche ausgelöst: eine Melodie, einen Geruch. Oder ein Kind, das in einer blauen Schuluniform durch den Regen rennt. Sie greift nach einem, wenn man träumt, oder kurz bevor man einschläft, aber auch in wachen Momenten, wenn man sich sicher fühlt.
Ein Kind rannte plötzlich hinter einem Bus hervor, eine verschwommene Gestalt im Regen, bewegte sich aus der einen nach vorne gerichteten Zeit der Stunden und Sekunden in die andere, in der sie verharrt wie ein Blatt in einem Wasserstrudel. Ich habe sie tausendmal gesehen. Wie sie durch die grauen Schatten im Nebel läuft, und plötzlich wird sie aufgehalten, durch quietschende Reifen und meinen Schrei. Durch das plötzliche Trommeln meines Herzschlags.

Ihr Name war Laura. Ich erfuhr es später auf der Wache. Bob Lees hatte in der Nacht Dienst. Er führte mich in den Verhörraum, brachte mir einen Kaffee und gab mir eine Zigarette. Ich hatte seit Monaten nicht mehr geraucht, aber das war egal – mein altes Leben gab es nicht mehr, weggewischt wie ein Fleck auf einem Glas. Meine Hand zitterte, als ich die Zigarette nahm und sie zum Mund führte. Bob gab mir Feuer, ich zog. Der Geschmack war bitter. Ich war froh darüber, brauchte die Bitterkeit.
„Jack, du weißt, dass Laura tot ist.“
Es war mehr eine Aussage als eine Frage. Er sprach ihren Namen sehr sanft aus. Als spräche er von jemandem, den ich seit langem kannte, jemandem, den ich liebte. Durch seine Stimme klang ihr Name vertraut. Laura. Von Laurel, Lorbeer, das heißt Sieg.
Als ich mich auf der Straße über sie beugte, lag sie da, reglos wie eine Puppe, ihr bleiches Gesicht war wie Wachs, nicht ein Flecken war drauf. In ihrem Mundwinkel hatte sich etwas Spucke gesammelt. Ich berührte sie vorsichtig, strich ihr mit der Hand über den Kopf. Sie hätte mein eigenes Kind sein können, wie sie dort auf der Straße lag, der blaue Schulrock ein wenig über ihre dünnen Knie gerutscht, die Bücher aus ihrer Schultasche lagen neben ihren Füßen verstreut. Die Hand, mit der ich ihren Kopf hielt, fühlte sich feucht an. Als ich sie wegzog, waren meine Finger rot vom Blut.
Ich habe schon öfters Tote gesehen. Im Leichenschauhaus, in der Pathologie. Es gehört zu meinem Job. Verpackt in Plastikfolie wie ein Stück Fleisch. Der Reißverschluss wird nach unten gezogen, und dann riecht man den Tod, modrig wie verfaulte Blätter. Ein Leichnam hat keinen Namen, auch wenn auf den Akten der Name steht, Nachname zuerst. Aber es ist nur ein Wort; er hat keinen Klang, keine Essenz.
Ich habe auch schon Verkehrsopfer gesehen. Oft war ich als Erster am Unfallort, habe auf den Krankenwagen gewartet, habe getan, was in solchen Momenten nötig ist. Geschaut, ob sie bei Bewusstsein waren, die Atmung geprüft, den Pults.
„Können Sie mich hören?“, habe ich gesagt. „Können Sie meine Stimme hören?“
Ich habe mich über ihre Nasenflügel gebeugt in der Hoffnung, ihren warmen Atem an meinem Ohr zu spüren, sah auf ihren Brustkorb, ob er sich hob und senkte. Einmal musste ich sogar Mund-zu-Mund-Beatmung machen. Es war ein alter Mann, sehr heruntergekommen. Er starb, die Flasche noch in der Hand. Ich schmeckte seinen Schnurrbart in meinem Mund. Es nützte nichts; er war bereits tot. Aber man muss es versuchen.
Wenn einer plötzlich stirbt, innerhalb von Sekunden oder Minuten, ist er nicht wie die Körper im Leichenschauhaus. Auf den Wangen liegt noch ein wenig Farbe, es ist noch Licht in den Augen, als wäre die Seele – wenn man an so etwas glaubt – nicht ganz sicher, wohin sie soll.
Wusste ich, dass Laura gestorben war? Ja. Aber sie war noch nicht tot, als sie dort auf der kiesbestreuten Teerstraße lag. Der Nieselregen benetzte ihr Gesicht. Ich sah, wie sich ihre Lippen bewegten, ein kleiner Seufzer, ein schwaches Stöhnen, als sie ausatmete.
Ich beugte mich über sie und hörte auf ihren Atem, ich spürte ihn schwach und warm auf meiner Wange.
„Schätzchen“, sagte ich, als wäre sie mein eigenes Kind und ich liebte sie. „Alles wird wieder gut.“

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Tag der Veröffentlichung: 04.11.2009

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