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Leseprobe




Es herrschte Nebel an dem Morgen, ein eisiger Nebel. Die Pflastersteine vor der Tür waren dunkel und glatt. Ich werde meine Mutter immer mit Nebel in Verbindung bringen. Einmal, ich kann nicht älter als sechs gewesen sein, fuhr sie während eines der letzten großen Smogs nach London und kehrte erst spätabends mit dem Zug zurück. Sie kam mit dem Auto vom Bahnhof, trat dann im hellen Schein der Flurbeleuchtung ins Haus und erzählte mir davon, und als sie ihr seidenes Kopftuch abnahm, dachte ich, einen letzten Rest Nebel aus dem Kopftuch weichen zu sehen, ein grauer Dunst, der sich von der glänzenden Seide löste. Es war wie in einem Horrorfilm.
Er sei da, sagte ich. Der Smog. Sie hätte ihn mit nach Hause gebracht.
Meine Mutter blickte prüfend in den Spiegel und richtete sich mit einem strahlenden Lächeln das Haar, das unter dem Tuch ein wenig flach gedrückt worden war.
»Siehst du? Alles weg.«

Der Smog in London hatte eine gelbgrüne Farbe, weil er so giftig war. Deshalb bekamen die Leute auch solchen Husten, wenn sie keine Masken trugen, und schwache Menschen starben sogar daran. Der Smog war berühmt, weshalb ich es mir merkte, wenn Leute davon sprachen.
Der Nebel zu Hause war ein einfacher grauer Landnebel, der nach nassem Laub und Kühen roch, und man hörte die dumpfen Melkgeräusche vom Bauernhof gegenüber. Kein Gift darin, sondern Taubheit, eine Taubheit, die ich von anderen vergessenen Tagen kannte, die in das Gras und das Holz und den Stein und die Haut eindrang, bis alles irgendwie gleich schien und mit der Sicht auch alles Gefühl verschwunden war. Als wäre das Dorf und das Tal
und die Hügel, als wäre das alles nicht mehr da, als gäbe es nur noch diesen einen tauben Ort.
Und doch gab es die Hügel, auch wenn ich sie nicht sehen konnte. Ich wusste, dass sie da waren; und zwar ganz nah. Direkt hinter den Häusern stieg die Straße an, wand sich durch dichten Wald den Hügel hinauf zur Anhöhe und dem hohen, weiten Land dahinter. Dort oben auf den nebel- verhangenen Hügeln war sicher alles vereist. Glatte Straßen, die gestern, nach Wochen des Regens, noch nass gewesen waren, versteckte Eisbänder auf den Hängen und in Kurven, wo das Wasser in schwarzen Strömen den Asphalt hinuntergelaufen war. Selbst die Mulden zwischen den Pflastersteinen waren mit einer dünnen Eisschicht bedeckt.
Später, wenn ich hinausging, würde ich sie mit meinen Stiefeln eintreten wie Glas, aber jetzt stand ich noch bettwarm mit hochgezogenen Schultern auf der Tür- schwelle und fühlte die Kälte auf dem Gesicht und wie sie durch die Sohlen meiner Pantoffeln drang.
»Bleib nicht dort draußen stehen, Anna, du holst dir noch den Tod.« Die deutschen Redensarten meiner Mutter.
»Geh rein und zieh dich an.«
Es herrschte eine Kälte, die jede Müdigkeit vertrieb.
Ein Montag im Januar während des Kalten Krieges. Die scharfe Luft eindringlicher noch als ihr Kuss, der nicht mehr war als ein Hauch, eine gepuderte Wange, ihre gespitzten, rot angemalten Lippen, die keinen Abdruck hinterlassen wollten, und ich in meinen Pantoffeln auf der Türschwelle bewahrte bereits ihren parfümierten Duft als Erinnerung oder Traum, während sie den Motor anließ, beim Stottern des Auspuffs die Windschutzscheibe und Seitenfenster vom Eis befreite und dann einstieg und die Tür schloss und zu winken schien, auch wenn die frei- geschabte Stelle nur klein war und man nicht viel sehen konnte, und davonfuhr. Ihre Lichter verschwanden. In der Kälte.
Danach handelte ich mit der Zielstrebigkeit eines Kindes, das plötzlich für sich selbst verantwortlich ist. Ich ging wieder ins Haus, schob, wie sie gesagt hatte, den großen unteren Riegel vor die Tür, die ich Fremden nicht öffnen sollte. Ich aß meine Schale Reiscrispies auf, die schon matschig geworden waren, und dann ging ich nach oben, zog, wie mir gesagt worden war, ein warmes Unterhemd an und lange Strümpfe und ein Paar Jeans. Ich hatte einen grünen Mohairpullover, den ich noch jahrelang tragen sollte, bis er mir längst zu klein und an Stellen schon ganz dünn war und Fäden gezogen hatte, die überall hängen blieben, aber ich konnte mich nicht von ihm trennen.
An dem Morgen zog ich ihn wegen der Kälte an. Später trug ich ihn fast bei jedem Wetter. Ich legte meinen Schlafanzug zusammen, schob ihn unter das Kissen, glättete das Bett, zog die Tagesdecke darüber und setzte meine Stofftiere darauf. Von unten hörte ich das un- geschickte Poltern von Margaret, die Sachen hin- und herrückte, während sie im Wohnzimmer Staub wischte. (Nicht zu gebrauchen, das Mädchen, sagte meine Mutter immer, fuhr mit den Fingerspitzen über einen Tisch und sah sich den Staub an, der daran hängen blieb. Hat sie denn keine Augen im Kopf?) Ich ging leise an der offenen Tür vorbei, in der Margaret, den Rücken zu mir, das Staub- saugerkabel von den Haltern wickelte. Ich holte meinen Ranzen aus der Küche, nahm meinen Mantel vom Haken im Flur, ging zur Hintertür und zog meine in die Taschen gestopften Fäustlinge und Mütze heraus, die ich mir überstreifte, sobald ich in die Kälte trat. Ich war auf dem Weg zu Susan, trotz des Nebels ging ich schnell, mit gesenktem Kopf, den Weg brauchte ich kaum zu sehen, so oft war ich ihn schon gegangen. Außen am Haus vorbei, über den Steinweg, die Straße hinunter, und dann durch das Tor in ihren Vorgarten.
Der Nebel war dicht, und das dünne Eis brach knirschend im Matsch unter meinen Schuhen, und Mrs Lacey öffnete mir wie immer die Tür, und etwas später brachte sie uns dann zur Schule. Mrs Lacey fuhr langsam, rieb ständig die Windschutzscheibe und beugte sich weit über das Steuer, als würden die paar Zentimeter, die sie näher an der Scheibe war, einen großen Unterschied machen. Der Nebel hielt sich den ganzen Tag. Er hing wie ein milchiger Atem vor den Schulfenstern – in der Pause, während des Mittagessens, und als Mrs Lacey uns am Nachmittag wieder abholte und die Scheinwerfer ihn vor uns anstrahlten.
Selbst als es dunkel wurde und ein Feuer im Kamin brannte und die Vorhänge zugezogen waren, wusste ich, dass der Nebel immer noch da war.

The Times, Montag, 9. Januar 1961

. Preis: Sechs Pence. (Jetzt, da
ich zurückblicke und alle Dinge durchforste, lese ich auch die Zeitungen von jenem Tag.) Die Titelseite gehörte den Anzeigen. Wie gesichtslos die Titelseite der Times damals war, eine ganze Seite Blocksatz, klein gedruckte Listen, gedrängt auf sieben engen Spalten: Geburten, Hochzeiten, Todesfälle, Persönliches (und doch so unpersönlich), Anzeigen für Kraftfahrzeuge und so weiter, Transportwesen, Landwirtschaft.
PALMER, 7. Januar 1961, friedlich, nach einem Unfall, HIL DA BEATRICE, Witwe von Lieut. Col. C. H. PALMER



Bekanntgabe der Blue Star Line, Auslaufen eines Schiffes von London über Lissabon nach Brasilien, Uruguay und Argentinien, ausschließlich erste Klasse.
Die Nachrichten beginnen auf Seite sechs. Zwei Berg- steiger tot aufgefunden. Gewerkschaftspläne für die Autoindus trie. Kind in einer Baugrube ertrunken

. Die Portland-Geschichte versteckt sich zwischen den rest- lichen Nachrichten. Sicherer Wahlsieg für Präsident de Gaulle. Fünf Personen der Spionage angeklagt. General McKeown in Leopoldville.

Das Ganze beläuft sich auf ein paar Standardsätze, mehr nicht. Die Berichterstattung wirkt merkwürdig antiquiert: die simplen Überschriften, die konventionellen Formulierungen, die Förmlichkeit, mit der Personen genannt werden. Es gibt kaum Bilder, und wenn sind sie klein, vorwiegend Porträtaufnahmen des Premiers, von Würdenträgern und Menschen mit Titeln. Alles in einem respektvollen Ton, zurückhaltend, abgehackt, wie die BBC-Stimmen der damaligen Zeit, auf Objektivität getrimmt. Die der Spionage angeklagten Verdächtigen wurden auf dem Polizeirevier Bow Street in Gewahrsam genommen …


Die gleiche Nachricht muss an dem Morgen im Radio gekommen sein. Möglich, dass meine Mutter sie in der Küche hörte, allerdings war es frühmorgens und sie war in Eile, also ist es wahrscheinlicher, dass sie die Nachricht erst im Auto wahrnahm. Im dichten Nebel gibt es keinen einsameren Ort als ein Auto. Sie hatte sicher das Radio angestellt, um die Stille zu vertreiben. Sie fuhr so langsam, dass jede Biegung der vertrauten Straße plötzlich fremd erschien, verzögert, fehl am Platz, die Scheinwerfer der entgegenkommenden Autos ein gespenstisches Leuchten im Nebel, die Straßenfläche taucht immer ein Stück zu langsam auf, man muss ihr vertrauen, vertrauen, dass sie da ist. Sie hörte die Stimmen im Hintergrund, konzentrierte sich auf die Straße, auf eine Veränderung der Luft, und hoffte, der Nebel würde sich vielleicht auf dem Hügel heben oder nach dem nächsten Tal, oder wenn die Hügel hinter ihr lagen.

Die Wettervorschau der Times berichtet von Nebel im Westen Englands, dichter Nebel, der sich im Tagesverlauf hebt; die Straßen am Morgen vereist; leichter Wind aus wechselnden Richtungen. Ich erinnere mich an keinen Wind, und der Nebel hob sich auch nicht. In Gloucester- shire, wo ich den Tag verbrachte, war die Luft so still, als wäre der Tag gar nicht da. Hätte mir damals jemand gesagt, dass ich mich mein Leben lang an diesen Tag erinnern würde, hätte ich ihn natürlich anders gestaltet. Ich war alt genug, um die Rituale einer solchen Situation zu kennen. Wäre meine Mutter zum Beispiel Soldat gewesen und in den Krieg gezogen, dann hätte ich an der Tür gestanden und alles in mich aufgesogen.
(Das heißt, wäre sie nicht gewesen, wer sie war, sondern auf der richtigen Seite.) Ich hätte den Glanz in ihren Augen wahrgenommen, das tapfere Lächeln, die gestrafften Schultern unter ihrem schweren Tweedmantel.
Ich hätte einen Moment länger auf der Schwelle verharrt, den roten Rücklichtern des Wagens hinterhergesehen, bis sie im Nebel verschwunden waren, und ich hätte mir das Bild des hochgewachsenen, blassen Mädchens im Morgen- mantel und mit rosa Pantoffeln eingeprägt, das auf der Schwelle stand, hinter sich das warme Bett und das leere Haus.
Und danach wäre ich auch nicht zur Schule gegangen, sondern zu Hause geblieben. Nur ich allein. Ohne Margaret, die nur die Atmosphäre zerstört hätte. Margaret hatte so etwas Prosaisches an sich – »prosaisch« war ein neues Wort, das ich Mrs Lacey einmal in ihrer hohen, eindringlichen Stimme hatte sagen hören. Ich hatte es mir gemerkt, auch wenn ich die Bedeutung nicht genau verstand, und wandte es jetzt auf Margaret an, Margaret, die so schwerfällig war, mit ihren dicken Beinen und der Akne im Gesicht.
Acht Jahre, acht Jahre und ein paar Tage und allein im Haus wäre viel besser gewesen.
Ich hätte etwas Einsames getan. Mir ein Kartenspiel geholt, mich auf den Teppich im Wohnzimmer gesetzt und eine Patience gelegt. Mrs Lacey hatte uns eine Art Patience beigebracht, die sie »den Chinesen« nannte. Sie sagte, in Singapur gäbe es einen Chinesen, der auf der Straße saß und die Passanten zum Spielen aufforderte. Man zahlte ihm Geld, er gab einem dafür das Kartenspiel, und wenn man mehr als dreizehn Karten ablegen konnte, gab er einem das Geld zurück, und die Karten konnte man auch behalten, da man ja gewonnen hatte. Dreizehn Karten schienen nicht sehr viel, aber es war schwierig. Mrs Lacey sagte, es habe etwas mit Wahrscheinlichkeitsrechnung zu tun. Der Chinese könne die Gewinnchancen ausrechnen. Er würde nicht auf der Straße sitzen und das Spiel spielen, wenn er nicht wüsste, dass er meistens gewinnen würde.
Und dennoch lag die Gewinnchance auch hin und wieder beim Spieler, und dann fühlte der sich gut. Ich hätte also die Karten ausgelegt, sieben in einer Reihe, die erste aufgedeckt, dann sechs in der nächsten und so weiter bis zum Ende. Und nachdem ich die Karten einmal durch- gegangen wäre – nur einmal, der Chinese war da sehr streng, weiterspielen wäre Schummeln –, hätte ich die Karten wieder aufgenommen und gemischt und von neuem ausgelegt.
Immer und immer wieder hätte ich die Karten auf den persischen Teppich vor dem Kamin gelegt, und das Feuer hätte gebrannt (eine unsichtbare Hand hätte es für mich angezündet), und das Feuer hätte geleuchtet, so wie der Schein der Lampe oder vielleicht ein Strahl der tief- stehenden Wintersonne, die durch das Grau vor dem Fenster stieß, während der Tag verstrich und es langsam aufklarte.
Ich hätte die Karten ausgelegt, sie wären auf den Boden geschnalzt, ich hätte sie wieder aufgenommen und wieder ausgelegt. Und die ganze Zeit hätte ich gewusst, dass jeden Moment der Polizist kommen könnte oder auch der Postbote, jemand in Uniform, der eine Nachricht zu überbringen hatte, die er in der Hand hielt mit dem Fahrrad neben sich, Worte, die er zurückhielt wie einen jungen Hund vor einem Fremden; und das blonde Mädchen an der Tür (eine Heldin in meiner Vorstellung, mit einer un- gewöhnlichen Ruhe und Gefasstheit für ihr Alter) hätte sofort an seinem Gesicht erkannt, welche Worte er überbrachte.
Die Vorstellung mit ihr als Soldatin war in Schwarzweiß; schwarzweiß wie das Telegramm des Postboten, denn schließlich schrieb man das Jahr 1961, und ich war acht Jahre alt, und der Krieg war die Konfrontation von Gut und Böse, und die Soldaten auf unserer Seite waren Helden, und ich sah fern, und wir hatten damals kein Farbgerät. Alles wäre klar und eindeutig gewesen, nicht das Durcheinander, das in Wirklichkeit folgte: das Warten im Haus der Laceys, das Mittagessen dort – obwohl das an sich nichts Ungewöhnliches war, ich aß dort oft zu Mittag –, das Verweilen, bis Mr Lacey nach Hause kam und sich seinen Gin Tonic einschenkte und die Nachrichten anstellte und das Telefon klingelte und mir danach in Susans Zimmer ein Bett gemacht wurde und ich dort übernachtete.
Deine Eltern kommen erst spät nach Hause, sie wollen, dass du die Nacht hier verbringst. Und den ganzen Abend unter der Oberfläche das Wissen um etwas Großes, Unausgesprochenes. Ein aufgesetztes Lächeln und viele verschlüsselte Worte.


Zwei Tage zuvor, es ist Samstag, der 7. Januar 1961, zwanzig Minuten nach drei Uhr Nachmittag. Zwei Personen passieren eine Fahrscheinkontrolle in Waterloo Station. Der Beobachter am Gleis bemerkt sie, sobald sie aus dem Zug steigen, auch wenn sich das Paar eigentlich nicht von den anderen Männern und Frauen am Gleis vierzehn unterscheidet. Möglich, dass er, ebenso wie die acht anderen, die an diesem als auch an anderen Tagen im Zug und auf der Straße zu ihrer Beschattung abgestellt wurden, sie anhand von Fotografien erkennt. Vielleicht hat er dasselbe Paar bereits schon einmal bewacht. Natürlich wurde er darin ausgebildet: worauf zu achten ist, was die Erscheinung eines Menschen von anderen unterscheidet; Haarfarbe, Augen, Statur und Bewegungsmuster wahr- zunehmen, Größe und Gewicht zu schätzen und eine genaue, anschauliche Beschreibung abzugeben. Allen anderen wird das Paar in erster Linie normal erscheinen, wie so viele andere Passagiere, die unter den Bahnhofs- lampen im späten Tageslicht, das durch das schmutzige Glasdach sickert, das Gleis hinuntergehen, einfarbige Männer und Frauen in Wintermänteln und braunen Hüten, müde Londoner Gesichter.

Es gibt noch andere Zeitungen außer der Times. Ich habe für dasselbe Datum den Guardian, den Telegraph und die Daily Mail bestellt. Die Times ist digital einzusehen; die anderen gibt es nur auf Mikrofilm. Die Filme sind, wirklich nervtötend, auf altmodischen Spulen einzulegen und durchzusehen, zu positionieren und dann auch noch scharf zu stellen. Hier und da gibt es ein, zwei Fotos, für heutige Verhältnisse sehr klein, von schlechter Druckqualität und auf dem Bildschirm sogar noch unschärfer: ein Mann oder eine Frau, nur das Gesicht, die Verdächtigen gemeinsam auf einem alten Schnappschuss, Aufnahmen von Beweis- mitteln, der Ort der Verhaftung. Vergrößert man das Bild, löst es sich schnell in eine Reihe von grauen Punkten auf.
Die Bibliothek, in der ich arbeite, ist stickig und fensterlos. Ein Dutzend fremder Menschen atmen die gleiche Luft, gähnen in schlecht beleuchteten Kabinen zum ein- schläfernden Klicken ihrer Tastaturen.

Die Beobachter, die Beobachteten, die Passanten.
Formen und Umrisse gehen ineinander über, Köpfe
ziehen vorbei, Schulter streift gegen Schulter, behand- schuhte Hände halten Aktenkoffer, andere vergraben sich in Manteltaschen, dunkle Schuhe hinterlassen komplizierte, abstrakte Muster auf dem Bahnhofsboden. Nichts verrät, wer in der Menge wer ist, kein Anzeichen verborgener Konzentration in den Augen der Agenten des MI 5, kein Hinweis auf die Anspannung, der Adrenalinstrom, der hinter den ausdruckslosen Gesichtern der Spione fließen muss, oder der Ängste, Hoffnungen und Absichten der Reisenden ringsum.
Im Gedränge am Ausgang zur Waterloo Road beeilen sich die Beobachter plötzlich, sehen sich um, versuchen, im allgemeinen Gewirr nicht die Spur zu verlieren, und entspannen sich erst, als sich das Paar aus der Menge löst und wieder deutlich als Einzelpersonen erkennbar in Richtung Süden geht. Die Beobachter werden wieder langsamer, schlendern, die Hände in den Taschen, ein Stück weit hinterher, unbemerkt von den Zielpersonen, wie unbeteiligte Flaneure, als die Polizeiwagen einscheren.
»Die Jagd ist vorbei. Gestatten, Scotland Yard!«, sagt Superintendent »Moonraker« Smith, Spionfänger ersten Grades.


Redeten Polizisten wirklich so?

Die Zeitungen holen die Zeit nicht nur durch die Ereignisse zurück, sondern auch durch ihren Stil: die Klischees der Boulevardpresse, die Zurückhaltung der großen Tages- zeitungen. In ihnen erkenne ich die Redeweise meines Vaters wieder und derer um ihn herum, eine Generation, die im Krieg aufgewachsen war und sich danach sorgfältig neu formierte und alles hinter sich ließ; die sich in einem Leben einrichtete, das sie als kultivierten Standard der Nachkriegszeit verstand, auch wenn es nur ein Schatten des Lebens von einst sein mochte: ein Aperitif um sechs, zum Dinner Abendgarderobe (sie bedachten, wer sie waren, welcher Gesellschaftsschicht sie angehörten, deren Fortbestand sie noch am Scheitelpunkt des Wandels sichern wollten), die Nine O’Clock News

, das Sonntags essen.
Die Zeitungsannoncen repräsentieren die Zeit ebenso wirkungsvoll wie die Berichte. Anzeigen für Manikin- Zigarren, Mappin & Webb, Land Rover, »Good old Johnnie Walker«, mit Federzeichnungen und Fotografien von einer geradezu verschämten Naivität; Anzeigen für britische Produkte, die eine ganz eigene britische Realität herauf- beschwören: vertraut, bekannt, sicher; alles und jeder, ob Kind oder Erwachsener, hatte seinen Platz, und was nicht hineinpasste, war im Grunde nicht existent.
Die Kabine neben meiner war leer, als ich kam. Ich habe sie genau deshalb gewählt, und weil sie am Ende der Reihe liegt. Es ist so lange her, dass ich auf diese Weise recherchiert habe, nicht seit ich Studentin war. Besser, wenn mich niemand dabei beobachtet, wie ich mit den Spulen hantiere. Jetzt setzt sich eine junge Inderin in Jeans und einer türkisen Tunika in die Nachbarkabine, sie legt Ordner und Laptop auf dem Tisch ab und nimmt die erste von einem kleinen Stapel Filmspulen zur Hand. Sie sieht sie unsicher an, wie ich kurz zuvor, liest die Anweisungen an der Innenseite der Kabine, fädelt den Film ein und wieder aus, bringt den ganzen klappernden Kasten zum Laufen und spult den ersten Film so weit zurück, dass er ganz von der Spule dreht.
»Wissen Sie, wie die Dinger funktionieren?«
Ein zurückhaltendes Flüstern.
»Nur so ungefähr.«
Sie wirkt ernst, mit dichten Augenbrauen, einem dunklen Brillengestell, Armreifen am Handgelenk. Vielleicht ist sie Doktorandin, nicht mehr ganz so jung – wenn man älter wird, erscheinen einem andere Frauen meist jünger, als sie sind –, vielleicht sogar Dozentin, jemand mit einem echten Grund, hier zu sein.
Mir bleibt nichts, als aufzustehen und ihr behilflich zu sein, ohne viel Erfolg, bis ein Bibliothekar kommt und uns rettet. Dann kann ich wieder zurück und nacheinander die Quellen durcharbeiten: die bekannten Daten der Verhaftung, der Verhandlung, der Urteilsverkündung; Einzelheiten über Personen, Kontakte, Methoden. Falls dort etwas zu finden ist.
Ich bin davon ausgegangen, dass es eine Kantine gibt, irgendeinen Ort, wo man etwas essen kann, wenigstens ein nettes Café in der Nähe. Immer wenn ich dieser Tage nach London fahre, fällt mir auf, wie viele hübsche Cafés es gibt, überall sehe ich die Menschen essen gehen, selbst im April sitzen sie draußen, genießen mediterrane Speisen, es gibt so viel mehr Leben auf der Straße als in den Sieb- zigern, als ich ein paar Jahre hier lebte. Doch die Gegend, in der sich die Bibliothek befindet, kann man kaum »London« nennen: ein schäbiger Vorort im Norden der Stadt, dessen Namen man von der U-Bahn-Karte kennt, kurz vor Edgware auf der Northern Line. Das massive rote Backsteingebäude wirkt in der Straße einfacher Reihen- häuser fehl am Platz, keine Geschäfte weit und breit, außer einem dubiosen Zeitungsladen und einem dieser schmuddeligen Cafés, in denen ich seit dreißig Jahren nicht gewesen bin, nicht seit ich Studentin war. Ich bestelle, was ich damals wohl auch bestellt hätte, einen starken Tee und ein Bacon-Sandwich. Es ist normales Brot, kein Toastbrot, weißes Brot aus der Fabrik, vollgesogen mit Fett. Wenigstens bin ich heute hungrig genug dafür.
Das Café ist ziemlich voll. Es muss wirklich das einzige in der Gegend sein. Die Inderin sitzt allein, und ich setze mich zu ihr an den Tisch. Sie hat nichts außer einer Tasse Tee.
»Ich wusste nicht, was ich bestellen soll«, erklärt sie mir.
Sie weiß nicht, was für ein Außenseiter ich hier selber bin, wie selten ich nach London komme, dass ich kaum Leute treffe wie sie. Ist sie Muslimin, Hindu, Vegetarierin? Kein Speck auf jeden Fall. Ich rate ihr zu Spiegeleiern und Pommes.
»Ich habe ein Forschungsstipendium«, sagt die Inderin und sieht aus dem Fenster, an dem ein Bus vorbeifährt.
»Sechs Wochen in London. Ich war noch nie in London.«
»Ach, da müssen Sie sich aber auch noch andere Orte außer dem hier ansehen.«
»Das werde ich, wenn ich die Zeit dafür finde.«
»Sie müssen sich unbedingt ein bisschen Zeit nehmen, um sich alles anzusehen.«
»Und wie lange werden Sie hier arbeiten?«
»Ich weiß es nicht«, sage ich, obwohl das nicht ganz stimmt. Ich habe drei Tage hier in London, und dann fliege ich nach Berlin.
»Ich bin nur kurz in London, dann fahre ich nach Deutsch- land und nach Polen, na ja, nicht direkt Polen, eigentlich ist es Russland.«
»Das hört sich interessant an.«
»Ach, das ist es aber gar nicht. Es hat nichts mit meiner Arbeit zu tun. Ich habe momentan nur ein bisschen Zeit. Meine Tochter ist aus dem Haus, ich muss mich nicht mehr um sie kümmern, und mein Mann meinte, warum nicht. Ich sollte es ruhig tun. Es ist nichts Wichtiges, wissen Sie, es hat mit meiner Familie zu tun. Ich dachte, ich könnte vielleicht etwas herausfinden, jetzt, da ich Zeit dafür habe.«

Vor Gericht stellte sich heraus, dass das unter Beobach- tung stehende Paar Waterloo über einen unnötigen Umweg erreicht hatte. Unklar blieb, ob dies auf einem Zufall beruhte oder einer Laune, oder ob es sich um einen bewussten, wenn auch amateurhaften Versuch handelte, mögliche Verfolger abzuschütteln.
Sie hatten den Zug von Salisbury genommen, obwohl sie auch direkt von Weymouth hätten fahren können. Stattdessen waren sie mit dem Auto nach Salisbury gefahren, wo sie es stehen ließen – wegen der vereisten Straßen, wie sie später aussagten. Und dann musste der Zug um Basingstoke umgeleitet werden, da schwere Regenfälle die Schienen überflutet hatten. Falls sie in London groß einkaufen gehen wollten, hatten sie jetzt keine Zeit mehr dafür. Sie mussten ihren Ausflug auf eine Drei- Penny-Busfahrt zum Walworth-Markt in der East Street beschränken und um halb fünf für das vereinbarte Treffen zurück sein.
Ihre Namen waren Harry Houghton und Ethel Elizabeth Gee, obwohl Ethel von allen »Bunty« genannt wurde, wie die Zeitungen berichteten. Beide waren Angestellte im Entwicklungszentrum für Unterwasserwaffen in Portland, Bunty als einfache Schreibkraft im Archiv des Konstruktionsbüros, Harry als Büroangestellter in der harmlos klingenden Instandsetzungseinheit für Hilfsschiffe, wo er Zugang zu allen Flottenbefehlen, Karten und Schiffseinzelheiten hatte. Die beiden machten hin und wieder Ausflüge nach London, und ein- oder zweimal waren sie über Nacht geblieben. (Eine der Zeitungen spricht von Bunty als »offenherzigem Fräulein«, was unter vorgehaltener Hand bedeutete, dass sie mit Harry schlief und sich in dem Hotel, in dem sie abstiegen, einen Ring an den Finger steckte und vorgab, seine Frau zu sein.)
Dieses Mal schienen sie nicht über Nacht bleiben zu wollen. Vielleicht musste Bunty wegen der drei älteren Menschen zurück, um die sie sich kümmerte: ihre achtzig- jährige Mutter, ihre bettlägerige Tante Bessie und ihr Onkel John (oder Jack, wie manche Zeitungen schrieben).
Womöglich hatte Harry auch andere Pläne. Das Über- wachungsprotokoll einer vorangegangenen Reise, bei der Harry seinen Kontakt in London alleine traf, verzeichnete einen Kommentar über ein Mädchen aus Südafrika. Die Vorstellung, dass er Bunty hinterging, war genau, was die Leute von einem Spion erwarteten, egal, ob er fünfundfünfzig Jahre alt war, sein Haar verlor und bis vor kurzem in einem Wohnwagen gelebt hatte.
Wieder zurück auf der Waterloo Road überquerten
Harry und Bunty die Straße zum Old Vic Theatre. Ein Mann kam schnellen Schrittes auf sie zu, und sie schüttelten einander die Hand. Gordon Lonsdale, wie er sich nannte (mit echtem Namen K. T. Molody), war ein kräftig gebauter Mann mit dunklem Haar und einer Haltung und Eleganz, die den anderen beiden fehlte. Auch sein Benehmen offenbarte Charme, denn er wandte sich gleich an Bunty, um ihr den Einkaufskorb abzunehmen. Was man von einem Gentleman eben erwartet, hatte sie laut Aussage damals gedacht.

Ich kenne die Stelle. Als ich noch in London lebte, war ich ab und zu im Old Vic, und seither auch noch einoder zweimal. Ich kenne die Straße. Selbst heute ist es dort ziemlich ungemütlich, der Bürgersteig entlang der langen, kargen Theatermauern, der Schmutz der Waterloo Road, der lärmende Verkehr, die Abgase, die sich an der hohen Mauer stauen. Damals musste es noch trostloser gewesen sein, die andere Straßenseite aufgerissen von Trümmer- grundstücken und Baustellen. Das einzig Farbige waren vermutlich die Plakate an den Theatermauern, die für die laufende Inszenierung warben. (Den Theaternotizen zufolge eine für die Jahreszeit untypische Aufführung des Sommernachtstraums

: die Samstagsmatinee in der plüschigen Wärme des Theaters war bereits in vollem Gange, während die Spione in der Kälte vorübergingen.)
Sicherlich hatte Lonsdale die Straße ausgesucht, er war der Profi unter ihnen. Er wählte sie vielleicht wegen ihrer Anonymität, oder weil sie so breit und gerade und offen war, ohne Winkel oder Toreinfahrten oder kleine Gassen, in denen Überraschungen lauern konnten.
Er hatte den Ort schon mindestens drei Mal als Treffpunkt gewählt; zwei Mal hatte er Harry und Bunty zusammen getroffen, und ein Mal Harry allein. Einmal wurde er auch beobachtet, als er Harry andernorts traf – sie wurden bei allen Treffen beobachtet, von unauffälligen Pärchen, Spaziergängern oder Zeitungsverkäufern in ihren Unterhaltungen belauscht, mitunter sogar mit Mikrofonen und Tonbandgeräten in Manteltaschen aufgezeichnet. Vier Jahre lang waren er oder seine Kollegen oder Vorgesetzten mit Harry anhand vereinbarter Zeichen in Kontakt getreten.
Über die Zeichen mag man lachen, so kurios und klischee- haft erscheinen sie einem heute. Ein Spion wurde durch eine ihm zugesandte Hoover

-Broschüre oder einen (in der Mitte gefalteten) Werbeprospekt für das Scotch House in Knightsbridge zu einem Treffen in der Nähe von London gerufen, in irgendein Pub in einem Vorort wie das Maypole in der Ditton Road oder ins Toby Jug in Tolworth, wo er eine Ausgabe vom Punch unterm Arm oder eine Zeitung in der einen Hand oder einen Handschuh in der anderen halten sollte, damit sein Kontaktmann ihn erkannte.
Es war mittlerweile schon fast dunkel, auch wenn es an jenem Januartag nie wirklich hell geworden war, die feuchte Straßenoberfläche glänzte im Scheinwerferlicht der vorbeifahrenden Autos. Sie gingen schnell, denn es war kalt, und sicher waren sie angespannt und wollten es hinter sich bringen, dieses Treffen, das den größten Moment der Gefahr für alle Beteiligten bedeutete. Bunty ging zwischen den beiden Männern, Lonsdale an der Mauerseite mit ihrem Einkaufskorb. Sprachen sie mit- einander? Und worüber? Über ihr nächstes Treffen, über die Zugverspätung, das schlechte Wetter, das die Reise so anstrengend machte, hoben sie die Stimmen, als zwei Lastwagen an ihnen vorbeifuhren und ein Bus und sie einander kaum verstehen konnten?
Und dann scherten Wagen vor ihnen ein, und Männer kamen mit lauten Stimmen auf sie zu.

»Plötzlich schossen sie von allen Seiten auf uns zu«, sagte Bunty im Zeugenstand. »Ich wusste in dem Moment nicht, was das zu bedeuten hatte. Ich dachte, es wären Teds. Mr (Superintendent) Smith stach allerdings heraus. Ich begriff nicht, was ein Gentleman wie er mit lauter Teds zu tun haben könnte. Sie machten einen solchen Lärm, ich konnte kein Wort verstehen. Ich wusste nicht, wer sie waren.«
In dem Moment sagte sie nur: »Oh.«
Harry sagte: »Was?«
Lonsdale sagte kein Wort.
In ihrem Einkaufskorb fand man vier Versuchsprotokolle der Admiralität, alle mehrseitig in Kanzleiformat, nicht entwickelte Filme, auf denen zweihundertunddreißig Seiten über Einzelheiten verschiedener Kriegsschiffe abfoto- grafiert waren, einschließlich detaillierter Ausführungen über die HMS Dreadnought

, Großbritanniens erstes Atom-U-Boot, ein Päckchen Zigaretten vom Zeitungskiosk und eine Dose Zunge.


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Texte: Berlin Verlag ISBN: 978-3827008282
Tag der Veröffentlichung: 03.11.2009

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