Kamila Shamsie:
Verglühte Schatten
Zum Buch:
9. August 1945, Nagasaki. Hiroko Tanaka steht auf ihrer Terasse. Sie trägt einen Kimono mit drei schwarzen Kranichen auf dem Rücken und denkt an ihre bevorstehende Hochzeit mit Konrad Weiss. Dann, im Bruchteil einer Sekunde, verglüht die Welt. Hiroko überlebt verletzt, die drei Vögel haben sich in ihre Haut gebrannt. Einzig das bleibt als Erinnerung an alles, was sie liebte.
Auf der Scuhe nach einem Neuanfang reist sie nach Delhi, wo sie bei Konrads Verwandten, den Burtons, ein neues Zuhause findet udn sich in den Inder Sajjad Ashraf verliebt. Doch der Schatten der Geschichte senkt sich abermals auf sie: der Verlust der Heimat, alte Wunden und neue Weltkonflikte prägen im Lauf der nächsten Jahrzehnte das Leben beider Familien auf ihrem Weg von Indien über Pakistan bis nach New York.
Ein großer epischer Roman, der Generationen, Kulturen und Kontinente umspannt und in dem die politischen Ereignisse von Nagasaki bis Guantanamo das Schiksal der Menschen bestimmt.
Zur Autorin
Kamila Shamsie wurde 1973 in Pakistan geboren und lebt in London und Karatschi. Auf Deutsch erschienen von ihr bei Bloomsbury Berlin "Verbrannte Verse" (2005) und "Salz und Safran" (2006). Für ihr Werk erhielt sie in England zahlreiche Auszeichnungen.
Leseprobe
Das Licht ist körperlich. Es schleudert Hiroko nach vorn, wirft sie um. Staub dringt ihr in Mund und Nase, als sie am Boden landet, und es brennt. Ihr erster Gedanke gilt dem Kimono ihrer Mutter, sie hat Angst, er könnte bei dem Sturz zerrissen sein. Sie stemmt sich vom Boden hoch, schaut an sich herunter. Der Kimono ist zwar beschmutzt, aber nicht zerrissen. Und doch stimmt irgendetwas nicht. Sie steht auf. Die Luft ist auf eimal heiß, und sie kann sie auf der Haut spären. Sie fährt sich mit der Hand über die Schulter, ertastet Fleisch, wo sich eigentlich Seide befinden sollte. Bewegt die Hand weiter am Rücken hinab, ertastet etwas, das weder Fleisch noch Seide ist, sondern beides. Sie fragt sich, ob das etwas mit dem Brennen zu tun hat, das sie bei ihrem Sturz verspürt hat. Jetzt ist dort kein Gefühl. Sie klopft gegen die Stelle, die weder Fleisch noch Seide ist, sondern beides. Dort ist überhaupt kein Gefühl.
Ihre Nachbarin kommt auf die Veranda gleich nebenan.
"Was war das?", fragt sie.
Hirokos einziger Gedanke ist, dass ihre Kleidung zerfetzt ist und sie ins Haus gehen muss, um sich umzuziehen. Sie hört den Schrei der Nachbarin, als sie der Frau den Rücken zuwendet, um ins Haus zu gehen. Hiroko fährt sich mit den Fingern über den Rücken, während sie die Treppe hochsteigt, auf der sie nur wenige Minuten zuvor Konrad nach unten gefolgt ist. Da ist Gefühl, dann kein Gefühl, Haut und etwas anderes. Wo sich Haut befindet, ist auch Gefühl. Wo sich das andere befindet, ist kein Gefühl. Ihre Finger zupfen an Gewebefetzen, die in dem anderen eingebettet sind. Was für Gewebefetzen - Haut oder Seide? Sie streift sich den Kimono ab. Er fällt ihr von den Schultern, landet aber nicht am Boden. Irgendetwas sorgt dafür, dass er an ihr festhaftet.
Wie merkwürdig, denkt sie, während sie zerstreut die Ärmel des Kimonos um ihren Körper knotet, direkt unter ihren Brüsten.
Sie geht hinüber zum Fenster, von dem aus sie einen Blick auf Konrad erhaschen wollte, als er davonging, und schaut den Hang hinunter, um eine Erklärung zu finden. Häuser, Bäume, Menschen, die sich im freien versammeln, sich gegenseitig Fragen stellen, Menschen, die den Kopf schütteln udn die Luft schnuppern.
Dann.
Hiroko beugt sich aus dem Fenster, ohne daran zu denken, dass sie fast völlig nackt ist. Etwas stimmt nicht mit ihren Augen. Bis zum Fuß des Hügels sehen sie einwandfrei, und dann können sie nicht mehr sehen. Stattdessen erfindet sie Bilder. Feuer und Rauch und, durch den Rauch hindurch, nichts. Durch den Rauch Land, das so aussieht, wie ihr Rücken sich an den Stellen anfühlt, wo kein Gefühl ist. Sie berührt das andere an ihrm Rücken. Ihre Finger können ihren Rücken spüren. Verbrannte Seide, versengtes Fleisch. Wie ist das möglich? Das Urakami-Tal ist zu ihrem Fleisch geworden. Ihr Fleisch ist zum Urakami-Tal geworden. Sie fährt mit dem Daumen über das, was einmal Haut war. Die Stelle ist zerfurcht und wund, leblos.
So viel zu lernen. Das Gefühl von totem Fleisch. Der Geruch - sie hat soeben geortet, wo dr beißende Geruch herstammt - von totem Fleisch. Das Geräusch von Feuer - wer hätte geahnt, dass Feuer so wütend brüllen, so blitzschnell vorwärtsrasen konnte?Es rast jetzt die Hänge empor; bald wird es sie erwischen. Nicht nur ihr Rücken, ihr ganzer Körper wird zum Urakami-Tal werden. Diamant aus Kohle - kurz stellt sie sich selbst als Diamanten vor, ganz Nagasaki als einen Diamanten, der die Erde aufschlitzt und hinabstürtzt bis in die Hölle. Sie beugt sich weiter hinaus, sucht in dem Qualm nach den Türmen der Urakami-Kathedrale, als sie den Schrei ihrer Nachbarin hört.
Hiroko schaut nach unten, sieht ein Reptil, das den Weg zu ihrem Haus hinaufkriecht. Jetzt versteht sie. Die Erde hat sich bereits aufgetan, die Hölle entlässt ihre Kreaturen. Die Tochter ihrer Nachbarin läuft mit einem Bambusspeer in der Hand - sie hält ihn nicht richtig - auf das Reptil zu. Das Reptil hebt den Kopf, und das Mädchen lässt den Speer fallen, ruft den Namen von Hirokos Vater. Wieso erwartet sie gerade von ihm Hilfe?, fragt sich Hiroko, während das Mädchen pausenlos "Tanaka-san, Tanaka-san" wiederholt, die Hände um ihr Gesicht gelegt, den Blick starr auf das Reptil gerichtet.
Das einzige Licht stammt von den Bränden. Ihre Nachbarin ruft ihren Namen, irgendwo ganz in der Nähe. Die Nachbarin befindet sich im Haus, ihre Schritte kommen die Treppe hoch. Wo ist bloß die Urakami-Kathedrale? Hiroko wedelt wild mit den Händen in der Luft, um das unbekannte Hindernis zu beseitigen, das die Türme ihrem Blick entzieht. Wo ist die Kathedrale? Wo ist Konrad?
Warum stürzt sie?
Tag der Veröffentlichung: 03.11.2009
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