Cover

Autorenporträt



Daniel Höra, geboren in Hannover, wuchs in einer Hochhaus- siedlung am Stadtrand auf. Er machte in seiner Jugend selbst Erfahrungen mit Polizei und Justiz. Nach der Schule arbeitete er am Fließband, war Möbelträger, Altenpfleger und Taxifahrer. Er holte das Abitur nach und versuchte sich erfolglos als Student. Seit einigen Jahren lebt und arbeitet er als TV-Redakteur in Berlin.

Das Buch



Schwedt, eine Kleinstadt im Osten. Plattenbauten, Arbeits- losigkeit, Langeweile und Neonazis. An der Bank zwischen Block zwei und drei treffen sich Alex, Schädel, Rocco, Ronny und Debbie und hängen rum. Hip-Hopper, Rechte, Sprayer, Skins und Skater - sie alle wohnen in der Platte, und das schweißt zusammen. Doch dann wird eine alte Frau überfallen und stirbt an den Verletzungen. Dummerweise hatte Alex ihr kurz zuvor noch die Einkäufe in die Wohnung getragen und dabei einen Geldschein mitgehen lassen. Für alle ist sofort klar: Alex ist schuldig. Auch die Polizei und die Medien sind davon überzeugt, dass Alex ein Mörder ist. Plötzlich hält aus der Clique niemand mehr zu ihm - außer Debbie.


Leseprobe



»Du bist tot, Motherfucker!« Schädels Stimme war laut und schrill und hallte wie ein Schuss zwischen den Mauern der Wohnblöcke wider. Er formte mit seinen Fingern eine Pistole, die er mir an den Kopf hielt.

Schädel war ein Idiot und mein bester Freund. Er war Hip-Hopper, wobei er ständig die großen schwarzen Jungs, ihren Ghetto-Slang, ihr Gangsta-Getue nachmachte. Er guckte zu viel MTV. Der arme Junge war vollkommen verseucht. Manchmal ging er uns ziemlich auf die Nerven mit seiner Masche.

Ich verdrehte die Augen und tat, als ob ich eine Kugel im Kopf hätte. Ich ging in Zeitlupe zu Boden, streckte alle viere von mir und glotzte in den grauen Himmel.

»Ist der fertig, Mann«, hörte ich Marcel sagen. Die Mädchen kicherten. Klar war ich fertig. Ich lag auf der nassen Erde, ließ mich vom Regen bepissen und tat, als ob es mir nichts ausmachte. Ich wusste auch nicht, warum ich manchmal so einen Scheiß machte. Wahrscheinlich wegen der Mädchen.

Kiki und Mandy saßen auf der Lehne der verrotteten Bank und kicherten.
Ich sprang hoch, entsicherte meine imaginäre Uzi und ballerte die Mädels weg. Sie lachten. Kiki zeigte mir einen Vogel. »Irgendwann landest du noch mal im Knast mit deiner Scheiße«, sagte sie.

»Ja, und wenn ich rauskomme, werde ich dich als Erste besuchen«, flüsterte ich mit meiner Psycho-Stimme.

»Ihh! Wie krank«, kreischte Mandy.
Ich stand auf Mandy. Die war irgendwie süß.

Schädel, Marcel und ich standen um die Bank wie dämliche Ochsen um einen Trog und ließen uns von den beiden verarschen, als wüssten wir es nicht besser. Hübsche Mädchen haben eine fiese Ader.

Wir hatten uns wie üblich an der Bank zwischen Block zwei und drei getroffen. Da waren wir meistens. Oder an der Bank zwischen Block vier und fünf, bei den zwei krüppeligen Bäumen. Manchmal, wenn der Wind durch die Blätter pfiff und ich die Augen zumachte, dachte ich tatsächlich, ich wäre im Wald. Irgendwie bescheuert, aber was soll’s? Die beiden Bäumchen erinnerten mich immer an ein altes Ehepaar. Der eine Baum hatte so eklige Knubbel, wie zwei alte Hängetitten.
Klapperdürr standen sie da und sahen aus, als wollten sie uns belauschen. Ich an ihrer Stelle wäre längst ausgerastet. Das ständige Rotzen und unser blödes Gelaber dazu. Hin und wieder wurden sie von einem von uns Jungs angepisst. Schön war das nicht. Aber sonst lief ja nichts.

Normalerweise trafen sich bei der Bank viel mehr Leute. Wir konnten locker hundert Mann zusammenbringen. Alle aus der Platte. Wir waren eine Riesengang.

Aber bei diesem beschissenen Wetter hingen die meisten zu Hause ab und daddelten am Computer oder zogen einen durch oder kippten gerade ein paar Bier. Oder alles gleichzeitig.

»White Riot«, schrie Schädel und trat die letzte heile Strebe aus der Bank. Eine Frau schimpfte aus einem Fenster, Schädel drohte ihr mit der Faust, da verschwand sie.

Vor dem Hip-Hopper hatte er den Fascho gegeben und davor den Punk, aber tief innen drin lag der brave Maik unserer gemeinsamen Kindheit begraben.

Aus Maik war irgendwann Schädel geworden. Schädel, weil er seinen Kopf mit voller Wucht an die Außenwand unserer Platte geknallt hatte. Schuld war die Pulle Cognac, die er von seinem Alten mitgehen ließ. Schädel hatte mit ausgebreiteten Armen wie Jesus am Kreuz dagestanden und verkündet, er würde jetzt und sofort die Wand mit seinem Kopf spalten.

»Aufgepasst, Damen und Herren«, rief er, und noch ehe wir ihn davon abhalten konnten, hatte er seinen Kopf wie einen Glockenklöppel geschwungen und donnernd gegen den Beton geballert. Irgendwie war es ja auch lustig, aber als er wie vom Blitz getroffen dalag, blutend und zuckend, die Augen ins Weiße verdreht, den Mund aufgerissen, wurde uns doch etwas anders.

Sein Schädel war gebrochen und die Hälften hatten sich verschoben, wie Erdplatten nach einem Beben. Aus dem Loch spritzte der rote Saft. Sah irgendwie hell aus und gar nicht so, wie ich gedacht hatte. Eher wie Kirschmarmelade.

»Ich kann sein Gehirn sehen«, hatte Matze aufgeregt geschrien und sich die Hand so affig vor den Mund gehalten wie in einem billigen Horrorfilm.

»Der hat doch gar keins«, hatte irgendwer gesagt. Und wir mussten trotz der Scheiße lachen.

Für ein paar Wochen nannten wir ihn dann »the brain«, bis Rocco sagte, »brain« würde auf Deutsch Schädel heißen, und das wäre doch viel besser. Natürlich heißt »brain« nicht Schädel, aber Rocco war nicht der Hellste, und im Englisch- Unterricht, wenn Frau Schulze-Rohrbach den Unterschied zwischen past perfect und present perfect runterleierte, saß er da und träumte vor sich hin, wobei seine langen Mädchen- wimpern aufgeregt flatterten. Wir stießen uns dann immer an und flüsterten: Jetzt hat er wieder einen durchgezogen auf dem Klo. Aber wahrscheinlich stellte er sich nur vor, wie er seinem Alten aufs Maul haute, der jeden Abend dasselbe mit ihm und seiner Mutter machte. So viel zu Rocco.

Wir hatten eben alle unsere Macke.

Schädel war seit seinem Crash Epileptiker und hatte ständig so ein Ding zum Draufbeißen dabei. Manchmal, wenn wir gute Laune hatten, schmissen wir das Ding durch die Gegend und riefen: Hol’s!

Auf Hip-Hop standen wir übrigens alle. Lil Wayne, 50 Cent, Massiv, Bushido. Das war der Soundtrack zu unserem Leben. Zwar waren wir nicht in Amerika in irgendeinem verschissenen Ghetto, wo die Homies an der Ecke stehen und coole Gesten machen, aber wir waren nah dran. Und was sollten wir auch hören? Volksmusik? Arbeiterlieder?
Böhse Onkelz waren immer noch angesagt. Und manchmal hörten wir auch den ganzen Nazikram. Irgendwer hatte immer so was dabei. Doitschkurs, Volxsturm oder so. Dann gaben wir uns die volle Dröhnung. Nach ein paar Bier ist das auch egal. Hauptsache, es kracht.

Aber eigentlich war Hip-Hop unser Ding. Auch wenn
sich in unserer Clique alles traf: Hip-Hopper, Rechte, Punker, Sprayer, Skins, Skater. Selbst die Normalo-Deppen gehörten irgendwie dazu. Wir wohnten alle in der Platte, das schweißt eben zusammen.

Wir rappten auch selber. Anfangs bei Angie im Keller, bis eines Abends Herr Matzanke auftauchte, mit hektischen Flecken im Gesicht, uns als asoziale Bande beschimpfte und schrie, wir sollten uns verpissen.

Manchmal kam Ronny bei unserem Treffpunkt vorbei. Ronny war der Anführer der Glatzengang. Sie nannten sich »White Boyz« und trugen nur weiße Klamotten: weite weiße Hosen, weiße T-Shirts, weiße Bomber. Nur die Stiefel waren schwarz und poliert, dafür waren die Schnürsenkel weiß. Sie machten einen auf Wehrsportgruppe und harte Jungs. Dabei sahen sie eher wie schwule Matrosen aus.

Ronny war ein ekliger Typ. Er war mindestens schon
zwanzig, picklig wie ein Streuselkuchen und wohnte immer noch bei seiner Alten. Er hatte ein Frettchengesicht: schmal und fies. Seine winzigen Augen hockten wie zwei böse Tierchen in ihren Höhlen und lauerten auf Beute. Schädel hing früher mal eine Zeit lang mit den White Boyz rum. Und jedes Mal, wenn Ronny ankam, legte er Schädel den Arm um die Schulter, als wollte er ihn hinter irgendeiner vollgepissten Wand vernaschen. Aber wir bekamen bald raus, dass Ronny mal mit Debbie rumgeknutscht hat. Ausgerechnet Debbie! Was hängte die ihre Zunge in den idiotischen Ronny?

Anfangs fand ich Debbie schlimm. Sie wirkte irgendwie so vernünftig und machte einen auf unnahbar. Aber alles nur Show, sie war irre nett. Irgendein Kerl ihrer Alten wollte ihr mal an die Wäsche gehen, da ist sie zur Polizei. Seitdem verstand sie sich nicht mehr mit ihrer Mutter.

Danach fing sie an, wie irre zu klauen. Debbie war ziemlich tough. Das muss man auch sein, wenn man in der Platte lebt. Du darfst kein Opfer sein. Da kannst du schlau sein, wie du willst. Das nützt dir dann gar nix.

Und hübsch war Debbie, aber das kriegte man erst auf den zweiten Blick mit, weil sie nicht so tussig rumlief. Sie war mehr der sportliche Typ. Immer Trainingsjacke, Jeans und Turnschuhe. Und immer einen Pferdeschwanz, der lustig wippte, wenn sie die Straße runterkam. Und sie machte nie irgendwelche Moden mit. Da war sie unbestechlich.
Also dass ausgerechnet Debbie mit dieser hässlichen Vogelscheuche Ronny … Na ja, jeder hat mal einen schwachen Moment.

Ronny brachte uns immer Bier mit. Dann öffnete er die Flaschen mit seinen fauligen Zähnen und quatschte uns die Ohren voll. Über Volk und Vaterland und über die Ausländer. Dabei waren in Schwedt kaum welche. Nur ein paar Fidschis, bei denen Ronny seine billigen Zigaretten kaufte. Und Volk gab es in Schwedt immer weniger, weil die Leute abhauten. Es gab ja nichts. Keine Arbeit, kein Vergnügen. Schwedt war schon fast eine Geisterstadt. Nur die Alten und die Deppen spukten da noch rum. Und wir.

Das Vaterland? Das interessiert doch keinen mehr, sagte mein Alter. Die Welt ist überall gleich beschissen! Das war seine Meinung. Wenn er mal in Fahrt kam, faselte er von feindlicher Übernahme aus dem Westen. Die reichen Wessis hätten die armen Ossis gekauft wie einen Sack Kartoffeln. »Die ham uns doch nach Strich und Faden verarscht«, zeterte er.

»Vaterland! Ha! Vater Staat, wa? Alles Beschiss! Auch wenn die DDR kleiner war«, schimpfte der Alte. »Dafür hatte man auch mehr Durchblick. Die Wessis geben uns die Kohle doch nur, damit wir die Schnauze halten und nicht aufmucken. Und immer schön Geld ausgeben, um die Maschine am Laufen zu halten. Scheiß-Kapitalisten! Im Osten gab’s zwar nix zu kaufen, aber wenigstens hatte jeder seine Arbeit. Und Ansehen und Würde. Heute bist du doch nur noch der letzte Arsch. Hör doch auf …« Er winkte ab.

»Und die Häuser waren auch in einem besseren Zustand.«

Das kam regelmäßig am Ende. Das war wie das Amen in der Kirche. Vorher durfte keiner aufstehen. Es machte den Alten fertig, dass vor seinen Augen alles den Bach runterging.

Alles bröckelte. Nicht nur der Beton, auch die Nerven
des Alten. Aber was wusste ich schon, und es war mir auch egal. Ich hatte meine eigenen Probleme. Der Alte lag nur noch zeternd auf dem alten Sofa und schwang große Reden. Zwischendurch nahm er einen Schluck Bier und schnappte nach Luft.

Mama war rechtzeitig gestorben, die musste das wenigstens nicht mehr mitmachen.

»Selbst das Fernsehprogramm haben die Wessis in der Hand«, laberte der Alte vor sich hin, die Fernbedienung in der einen Hand, die andere drohend zur Faust geballt.
»Gibt nur noch Scheiße.«

Dabei gab’s in der DDR nur zwei Sender. Hatte er das vergessen? Schimpfte der Alte mal nicht auf Politik oder Glotze, war’s was anderes.

Arbeitslosigkeit und Langeweile hatten den Alten immer mehr absacken lassen. Seit mindestens 15 Jahren hatte er keinen Betrieb mehr von innen gesehen.

Früher war er im Chemiekombinat Ingenieur, mit großer Kohle und großem Auto. Jetzt war alles ein paar Nummern kleiner. Nur die große Fresse war geblieben.

Ich verbrachte möglichst wenig Zeit zu Hause und war meist nur zum Schlafen da. Lieber hing ich mit Schädel rum und Marcel und Ratte und Kiki – der harte Kern unserer Gang.

Wenn wir uns nicht an einer unserer Bänke oder an
der Tanke trafen, dann trieben wir uns im Center rum. So einem überdachten Paradies für Menschen mit Kohle. In der Mitte plätscherte ein Brunnen, da saßen wir dann und glotzten den Leuten nach. Wir klauten wie die Blöden, schnorrten Zigaretten, und wenn uns danach war, zogen wir einen ab. Jacke, Handy, Zigaretten, Geld, I-Pod. Was man so brauchte zum Überleben. Einem von diesen Losern hatten wir sogar mal die Turnschuhe abgezockt. Der ist heulend auf nackten Füßen abgedackelt.

Wir waren gut im Abziehen. Aber man musste aufpassen wegen der Wachleute. Die hatten sich auf uns eingeschossen. Meistens schmissen sie uns schon raus, wenn sie uns nur sahen.

Einer war aber ganz nett und quatschte mit uns und gab uns Zigaretten aus. Wenn der da war, konnten wir uns sogar benehmen.

Wir gingen meistens nach der Schule ins Center. Manchmal auch vorher. Manchmal mittendrin und manchmal auch stattdessen. Man lernt ja fürs Leben, heißt es immer. Jedenfalls lernten wir im Center mehr als in der Schule. Und für welches Leben auch? Was blieb uns denn, außer rumzuhängen und darauf zu warten, dass etwas passierte.

Meistens passierte ja nichts, aber in meinem Fall war das anders. Auf einmal war ich in einer ziemlich schrägen Geschichte drin, über die ich null Kontrolle hatte. Und das ist wirklich übel, wenn du auf einmal den Deppen für die anderen gibst.

Aber wie auch immer, es war eine richtige Geschichte mit Hauptdarstellern, Nebendarstellern und Statisten. Nur einen Regisseur gab es nicht. Es sei denn, man glaubt an den lieben Gott. Aber ich glaube eher, dass Schwedt nur ein winziger Pickel an seinem Arsch ist. Gott hat andere Sorgen, als sich um diese abgefuckte Stadt zu kümmern.

Der Hauptdarsteller in diesem kleinen Drama war ich selber. Leider kein richtiger Star. In Schwedt gab es nur das ganz normale Leben, da wurden keine Stars gemacht.

Und es gab jede Menge Plattenbauten, mit blinden Fenstern, in denen sich der Irrsinn spiegelte. Viele waren schon leer und warteten auf den Abriss.

In Schwedt gab es eine verlorene Fußgängerzone mit einem verrotteten Brunnen, auf dem die Tauben nisteten und dessen Farbe unter der ganzen Scheiße nur noch zu erraten war. Und es gab die Tanke, vor der sich freitagabends immer die Racer trafen, um mit ihren aufgemotzten Karren Rennen gegeneinander zu fahren. Oder um mit durchdrehenden Reifen vor den Bullen zu flüchten.

Hätte ich unser Leben zeichnen müssen, hätte ich es grau gemalt. Okay, vielleicht nicht nur grau. Ich hätte auch Schwarz genommen und etwas Braun.

Alles klar? Ich heiße Alex. Aber das ist immer noch besser als Schädel. Oder Ronny. Oder Rocco.



Copyright © 2009 Berlin Verlag GmbH, Berlin
Bloomsbury Kiderbücher & Jugendbücher

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Impressum

Texte: ISBN 978-3-8270-5361-9 Ab 01.02.09 im Handel
Tag der Veröffentlichung: 01.04.2009

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Widmung:
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