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Es war 21Uhr30, noch 30 Minuten bis zur Dienstübergabe. Alle Akten sind auf dem neuesten Stand. Medikamente wurden keine neuen mehr angesetzt. Die Nachtschicht würde auch gleich auftauchen, dachte sich Lisa und befreite das Dienstzimmer von den Verpackungen des Lieferservice. Heute war es Sushi. „Also für einen pünktlichen Feierabend, sollten wir jetzt die letzte Runde starten“, sagte Oberschwester Lyn, mit Fingerdeut auf die große Wanduhr. Lyn ist seit 4 Jahren Oberschwester. Sie steckt ihr ganzes Herzblut in die Pflege und Betreuung von Menschen. Lisa dachte immer daran nur halb so gut zu sein wie sie, wäre immer noch mehr als man bräuchte für diesen Job.

Station 14 beherbergt 29 Patienten mit kardiologischen oder gastrologischen Beschwerden. Also Menschen die Herzprobleme oder andere innere Krankheiten haben. Egal ob Herzklappenfehler oder Tumor im Darm. Hier kam alles zusammen, vom Fensterputzer bis hin zum Schauspieler. Lisa wollte Erfahrungen sammeln auf vielen verschiedenen Stationen und später dann Pflegemanagement studieren. Sie arbeitete gerne mit Lyn zusammen und brachte es deshalb nicht über’s Herz wieder auf eine neue Station zu wechseln. Lyn hatte dieses gewisse etwas, dieses sympathische gewisse etwas. Man musste sie einfach gern haben. Die Zeit verging wie im Fluge mit ihr. Auch scheute Lyn nicht Neuzugänge aufzunehmen und den ganzen Papierkrieg zu bewältigen. Da gab es auch ganze andere Oberschwestern, die nur das Dirigieren und verteilen der Arbeit als ihre Hauptaufgabe ansahen. Das musste Lisa leidvoll erfahren.

Lisa begann auf der Kardioseite im 4 Bettzimmer der Männer. Wenn Flirten olympisch werden sollte, dann waren diese Herren hier auf Medaillenkurs. Lisa war definitiv nicht unattraktiv, aber ihr Alter von 25 Lenzen war wohl eher der Auslöser für Sätze wie: „Ich dachte ich wäre in einem Krankenhaus, aber bei Ihrem Anblick tippe ich auf Modelagentur.“
„Mein Gott ich muss tot sein, denn so eine hübsche Frau gibt es nur im Himmel.“
„Für Sie würde ich meine Frau jederzeit verlassen.“
„Ich brauche keine Medikamente, ein Kuss von ihnen und ich bin geheilt.“

Hierbei handelte es sich nur um Sätze aus den vorangegangenen Stunden.
Herr Paul, Herr Siefert, Herr Kunz und Herr Steinert waren alle um die 60 zig Jahre alt. Als Lisa das Zimmer betrat, spielten die 4 gerade Karten. Herr Siefert erblickte Lisa zuerst und sagte: „Sperrstunde Jungs, unsere Göttin in weiß ist auf ihrer letzten Runde.“
Herr Paul fragte: „Haben sie morgen wieder Spätschicht?“ Wenn sie nur halb so viel Energie in Ihre Genesung stecken würden, als ins schäkern, flirten und albern, dachte sich Lisa. „Ich komme morgen, aber nur wenn sie die Nachtruhe einhalten und sich in ihre Betten begeben.“ Als die Herren ihre Karten wegräumten und sich in ihre Betten begaben, schloss Lisa die Fenster. Sie dachte darüber nach, dass die es glatt fertig bringen würden um ihre Medikamente zu spielen. Ein bunter Haufen auf Klassenfahrt, in einer Jugendherberge.

Aber solche Menschen waren Lisa tausendmal lieber, als die werten Herren im Zimmer 5. Hier lag das Gegenteil, die Kehrseite der Medaille wenn man so will. Ein 3 Bettzimmer, mit zwei Wachkomapatienten und Herr Kant. Letzt genannter musste fixiert werden, mit Bauchgurt und Armbinden. Kochsalzlösung mit Tavor gespickt, tropfte über einen Schlauch in seine Armvene. Tavor wird angewendet um Angstzustände und epileptische Anfälle zu unterdrücken, denn mit beiden war Herr Kant eingeliefert worden. In seinem Zustand, bevor der Arzt ihn medikamentös eingestellt hatte, entriss er sich seinen geblockten Katheter. Also einen Schlauch über den der Urin abgeführt wird und der zur Fixierung in der Harnblase aufgepumpt wird. Im Größenvergleich wäre das so, als würde man einen Tennisball durch einen standard Gartenschlauch ziehen. Mit dem Unterschied, Herr Kant hat das volle Schmerzempfinden. Ein paar Blutspritzer an der Wand sind die letzten stummen Zeugen seiner Odyssee.

„Kannst Du noch auf meiner Seite hinten im Zimmer 21 nachschauen? Dann kann ich in der Zwischenzeit schon anfangen die Medikamente für Morgen zu stellen. Der Nachtdienst hat auch so schon genug um die Ohren“, sagte Lyn in froher Erwartung des Schichtendes. Man musste sie einfach gern haben, denn jede andere Oberschwester würde nicht mehr machen als unbedingt nötig. Lisa rief durch den Flur: „Kein Problem, ich wollte eh noch nach hinten die Tür abschließen.“

Die Sicherheitsvorschrift besagt das zur Nacht hin, die Zugangstüren die nicht als Fluchttüren dienen und deshalb auch nicht Alarmgesichert sind, verriegelt werden müssen. Aus dem ganz einfachen Grund, manch einer ist mit fortgeschrittener Demenz oder anderer geistiger Verwirrtheit schnell flinken Fußes. So schnell das nur ein Polizeihubschrauber mit Wärmebildkamera diese Personen im angrenzenden Wald wiederzufinden vermag. Die Sache bekommt aber erst dann seinen Witz, wenn die Polizei die vermisste Person wieder zurück bringt und der Proband einen Igel aus der Tasche holt. Man kann zufrieden sein das Wildschweine zu groß sind um sie einzustecken.

Als Lisa Zimmer 21 betrat, sah sie im ersten Bett Frau Webeler Kreuzworträtsel lösen. Daneben lag Frau Kühn, die von der Oberärztin eine Blutkonserve angehangen bekommen hatte. Im dritten und letzten Bett genoss Frau Sunt ein Buch. Frau Webeler und Frau Sunt haben beide einen Doktortitel. Beide waren Chirurgen der plastischen Unfallmedizin. Warum das relevant zu erwähnen sei ist schnell beantwortet. In ihrer Mitte starb Frau Kühn so vor sich hin. Die Leichenblässe war schon ausgeprägt. Keine Vitalzeichen messbar. Die Ironie lag also zwischen zwei Doktoren und die Blutkonserve füllte die leblose Hülle weiter mit frischem Blut, was der Sache einen makaberen Beigeschmack gab. Lisa hatte schon genug tote Menschen gesehen, dies war hier also kein Grund das Sushi der Weltöffentlichkeit wieder preiszugeben.
Frau Kühn hatte eine Patientenverfügung, welche jegliche Maßnahmen zur Wiederbelebung untersagte. Somit musste Lisa nicht auf sie rauf springen und bearbeiten. Hier waren jetzt ganz andere Dinge gefordert. Ruhe bewahren und so tun als sei alles in Ordnung. Ansonsten würden zwei Doktoranten heute definitiv nicht mehr zu Ruhe kommen. Doktor hin oder her, es ist ein Eklat wert wenn man merkt neben einen toten Menschen gelegen zu haben.
Lisa ging hinaus und rief nach Lyn. Nachdem sie die „Neuigkeit“ vernommen hatte, beschloss Lyn Frau Kühn hinaus zu holen unter dem Vorwand damit die beiden Damen ungestört sind. „Nehmen sie auch ihr Nachttisch mit raus“, meinte Frau Webeler. „Sie kramt nachts sehr gerne darin rum, wenn sie nicht schlafen könne.“ „Wenn die wüsste“, flüsterte Lisa Lyn zu. Nachdem Frau Kühn nun in den Flur geschoben war, kam Sandra die Nachtwache. Sie musterte Frau Kühn und meinte nur trocken: „Da waren es nur noch 28.“



Impressum

Texte: Foto, Text und Rechtschreibfehler gehören dem Autor.
Tag der Veröffentlichung: 29.10.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Dieses Buch ist meiner Krankenschwester Juliane gewidmet. Auf das die meisten Dienste fröhlich und schnell vergehen.

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