Heinrich Lauer
Das Gerücht
Schicksal eines Banater Schwaben
Ob ich´s weiß, fragt mich der Matz: „Im Mai soll die Welt untergehen. Am letschte Sunntach im Mai.“ Der Schreck vermischt sich mir mit Hoffnung: Den nächsten Mai werde ich noch erleben. Die Maikirschen. Und dann. letzter Sonntag, die Glocken läuten, alles geht im Sonntagsgewand auf die Gasse, und dann Schluss in Gottes Namen. Wir haben gerade seinen Hasen die Futter-raufen voll-gestochen, Klee und Taudischtle, ihre Leibspeise, und drehen jetzt mit unseren klingenden Eisenreifen einige Runden über das Pflaster und durch den staubigen Hof. Barfuß durch den glühenden Staub. In der verschwitzten Kniekehle macht das eine braune Schmiere. Ich dreh ein paar Runden mit dem Reifen. Der gibt einen Ton, als ob ich ihn quälen täte.
Seine Mutter, die Mutter von Matz, steht in der Sommerkuchentür, in jeder Hand ein Schmalzbrot, mal rings um den Laib geschnitten. Auf dem griesigen Schmalz brennt roter Paprika. Wir setzen uns in die Veranda. Hier ist es noch kühl vom Morgen. Der Hund schlägt an. der Scholli. Er gibt ein freundliches wau, der Scholli, dann streckt er ausgiebig seine Glieder. Von einem Ende zum anderen. Als ob er rauskriegen wollt, wie weit das geht. Darauf gehnt er, reißt das Maul auf, auch das ist eine Anstrengung, aber dann reicht es. So, das wäre es für heute, und legt sich zurück ans seinen Platz im Schatten, der ihm allein gehört. Es ist die Respektsperson im Hof. Neben sich duldet er gerade noch die drei Katzen, sie haben in zu grüßen. Die Hühner, die Ente und die Gänse, die Tauben und Spatzen sind nichts in seinen Augen. Dem Scholli seine Aufmerksamkeit, das Wau, hat dem Mareiche gegolten, einem Mädchen aus der Nachbarschaft. Das Mareiche ist schon etwas größer als der Matz und ich. Sie wird von der Schule ausbleiben und deshalb für uns keinen Blick. Das Mareiche trägt die Nase nur drum so hoch, weil sie glaubt, das gehört sich von jetzt an so. Noch voriges Jahr haben wir Tata und Mama gespielt. Dabei hat es recht willig, wie es sich für ein Weib gehören tut, auf unsere Befehle geachtet. und jetzt will es nicht mehr. Wir wären Fratzen , sagt sie: „Fratze!“ Selber Fratz!
Jetzt drängt es den Matz zu noch was Wichtigem: „Wann a Weib a Kind kriegt, dann kommt auf sein Bauch a brauner Strich. Der kommt von unten ruf. Wann er am Nabel ist, dann ist es Kind da.“ Brauner Strich auf´m Bauch. Dem Matz muss ich es glauben. Er wird schon bald elf. Ich kaue an meinem Schmalzbrot, die Finger schlaff, der Bissen wird immer größer.
Jetzt ist es mit der Seelenruhe vom Scholli vorbei. Der Riegel vom Gassetürl hast sich wieder bewegt. Anders bewegt. ein Ruck. jetzt geht es wie ein Beben durch den Scholli. Er sträubt die Borsten wie einen Glucke die Federn, nicht mal eine Bürste könnte es besser. Was der darauf aus seinem roten Rachen raus läßt, ist all die Wut, die er auf Zunge hat: Flüche, Drohungen, Hass, Geschimpfe, lauter böse Sachen. Alles, was er sich nachts, bei verruchten Zaunkämpfen mit seinesgleichen, aufgeschnappt hat. Das alles bellt er dem, der da kommt, um die Ohren: Hau ab! Ich freß dich! Hol dich der! Du Lump! Blitzdonner! Kruzitürken. Jau Maiko! Du-te dracului!
Es ist Jotzi, der Zigeuner. „Guntach“, sagt er, ohne seinem Widersacher einen Blick zu geben. „Kenner derhem?“ Als richtiger Zigeuner redet Deutzer wie wir. Nur dem einen oder anderen Wort gibt er eigene Töne. Manchmal kommen Wörter auch nicht an den richtigen Platz. Das kommt davon, dass er so viele Sprachen redet, der Jotzi. Drei kann er. Oder vier. Schwäbisch - da braucht er am meisten. Ungarisch - das ist die Sprache seines verlorenen Vaterlandes und Rumänisch die von dem gewonnenen. Auch Serbisch kann er. Wir leben an der Grenze. Und Deutsch. Das hat er in den Knochen: Der Jotzi hat beim Kaiser gedient. Jawohl, in Wien hat er gedient. Da steht er also, sechshundert Kilometer von Sacklas, in einem Geschäft, und hört sich sagen: „Bitte eine Umorke.“ „Hab i nit“, hat der Wiener darauf gesagt und ein Gesicht gemacht wie eine Umorke. Feigen - das ja, Mandeln und Zweben auch, aber Umorke - die nit. „Da oben im Glas“, hat darauf der Jotzi gesagt, denn er hat gewusst, was er sieht. Dort oben waren sie, in Essig, mit Zwiebeln, Gelberüben und schwarzen Pfefferkörnern. „A geh“, hat der Wiener gesagt, „des saan doch Guaken.“ Heute ist es dem Jotzi nicht nach Geschichten aus der k.u.k. Zeit: „mir Deutsche han´s heit schwer in der Welt“, fängt er an, „mir misse plude.“ Auch er hat Angehörige an der Front. Sein Kinder heißen Hans, Bawi, Peter, Kathi und Gret. Wie es sich in Sacklas gehört, ist er römisch katholisch, und seine Kinder haben auch schwäbische Paten und Goden. Nur der Scholli weiß das nichtt! Von wo er bloß den französischen Namen her hat, der Scholli! Aber so sind die Hunde im Banat. Heißen Scholli und wissen nicht, warum.
Aufgeregt steht der Jotzi im Gassentüre, wie er den Zahnlose Mund aufreißt: „Die Amerikaner“, ruft er, „sind auf Sizilien.“ Wie ihm sein Bart dabei zittert. „Der Rador hat ingsaat.“ „Rador“, sagt er. Aus Wörtern wie Radio, Mechaniker und ähnlichen macht er spaßige Wörter. Jeder versteht das. Die Amerikaner in Sizilien. Oder sind es die Engländer? Der Jotzi sagt es jetzt mit heiserer, heimlicher Stimme, als würden sie schon vor unserem Garten an der Neugässer Kaul stehen.
Der Scholli hat auch die Hausfrau aus der Sommerküche in den Hof gerufen: „Na Jotzi - schon wieder Weltuntergang?“ Mit schlechten Nachrichten, mit Gerüchten ist er immer als erster da. Nee, heute, wirklich, deutsches Ehrenwort, das wäre kein Gerücht: „Der Rador hat ingsaat.“ Sie nimmt den Jotzi mit dem Gerücht in die Sommerküche mit. Auf dem Sparherd zischt es, in den Dämmer riecht es süß nach Juwetsch. Dunst von Paradeis, Paprika und Zwiebel. Dazu Reis. Alles in Schmalz gedünstet. So riecht es im Sommer. „Da setze dich her“, sagt sie und drückt ihn auf dem Schemel. Dann streicht sie die ohnehin glatte Schürze zurecht: „Bis die Amerikaner da sind, trinkst a Stampl Raki“ „Jo“, meint er und vergisst ein wenig Sizilien, „er kühlt im Sommer und erhitzt im Winter. Wir laufen in die Kammer. Da ist die grüne landkarte an der Wand. Wir haben sie selber aufgehängt - der Matz hat sehen wollen, wo sein Vater gerade im Einsatz ist. Die Grenzen des Reiches, von der Etsch bis an die Belt: Vom Matz, der gut in Zeichnen ist, wie ein Wall mit harter Tusche eingezeichnet. Und rote Fähnchen rechts von Memel tief in Feindesland. Wie sie leuchten, die unverletzten Farben des Kontinents, seine grünen Ebenen, die Alpen braun, die Adria Blau. Hundert mal mit meinem Bruder, dem Hans, in Ratespielen mit dem Blick abgetastet. Wie kommt Turku nach Finnland? Und London - schau mal - liegt südlicher als Berlin! Köln, Wien, Breslau, Berlin - da seid ihr ja noch. Und weit rechts die Fähnchen - unsere. ich sehe den suchenden Finger von Matz: „Do unne die Stiwelspitz, Matz, Sizilien - da muss die Fahne hin.“ „Was für eine?“ seufzt der Matz „A italienische?“ Ich tippe an den Kopf.: „A Amerikanische.“ Mensch Matz. Und eine Englische.
„Jetzt kumme die Bumbe.“ Der Tata sagt es. Wir essen gerade Melonen, und ich stelle mir die Bomben so dich und so rund vor. Ich weiß, sie sind anders, Aber ich sehe sie nur so. Jeden Abend am Radio. Früher war das Wien und Beromünster, bei gutem Empfang Königs Wusterhausen. Mit einem von Tata gebauten Radio, es hat einen Kopfhörer gehabt. Heute hat der Tata einen besseren Radio. Nur soll das Programm nicht besser sein. “ Die Musik ist so laut“, sagt er. Der Soldaten Sender Belgrad, der ist nicht weit. Und von dort kommt jeden Abend Lili Marleen: “...und die beiden Schatten sahen aus ...“ singt sie. Und wir singen mit. “...wie einst Lili Marleen ...“ Das, kann ich gut. Heute Abend ist uns aber nicht danach. Keine rede von Mitsingen. Diese Anglo - Amerikaner! Die werden sich auch mit Sizilien nicht zufrieden geben, meint der Dechant und läßt sich von der Mama ein bissel Zimt auf die Zuckermelone geben. Noch ein kleiner Sprung bis zu Stiefels-spitz, und dann kommen sie rauf. Den Stiefel brauchen sie. Gibst du ihnen die Zeh, nimmt er gleich den ganzen Stiefel. Auch das Evangelium hat solche Gleichnisse.
Vater nimmt einen Zirkel, steckt ihn auf der Karte bei Bari in den Stiefelabsatz und zieht einen Kreis, der durch Temeschwar geht. Dann legt er den Maßstab an: „Mein Lieber“, sagt er und tut so, als hätte er es nicht gewusst: „Sechshundert Kilometer durch die Luft!“ „Je näher, desto öfter“, hör ich den Herrn Dechant sagen. Und sein Kaplan weiß auch was: „Hier führt ein Hauptweg vom Petroleum vorbei.“ Sollte die Welt schon früher untergehen? Jetzt ist Sommer. Bis nächsten Mai noch fast ein Jahr. Gut, dass Sizilien so weit weg ist. Und ein Meer dazwischen. Und noch eins.
Am Nachmittag soll ein Transport Italiener, die sind doch auf unserer Seite, auf dem Weg in den Heimaturlaub in Sacklas durchfahren: Ostfrontkämpfer. Der Zug wird angehalten, heißt es, und „die Dorfbevölkerung“ soll die abgekämpften verbündeten bestens bewirten. Da gehört sich so. Zur feierlichen Bekräftigung des Bündnisses zwischen Deutschland Italien und Rumänien, ein Akt der Untrennbarkeit“, wie der Ortsleiter gesagt hat, ist am Vormittag ein Tedeum abgehalten wurden. Die Kirchenbänke sind voller Offiziere der drei Armeen. Die Fahnen der Verbündeten vor Kirch, Schule und Gemeindehaus. Schön ist es, noch schöner als wie auf der Kirchweih. Wie gern wäre ich Offizier: einer von denen, die neben Auszeichnungen der eigenen Armee auch Ehrenzeichen der Verbündeten tragen. Schulter an Schulter im Kampf gegen den bolschewistischen Antichristen errungen. Was sind unsere Sportabzeichen daneben? Ist das noch ein Leben? Ich glüh vor Hochachtung vor einem rumänischen Offizier. Der ist noch in Sewastopol schwer verwundet worden. Schrecklich bleich ist er und blickt verloren drein. Er trägt das Eiserne Kreuz I. Gerne wäre ich so bleich. Schlag zwei hätte der Italiener Zug da sein sollen, doch es ist noch gar nicht zwei, wir stehen alle mit Brot und Wein und Wurst und Kuchen auf dem Bahnhof, da poltert er über die Weichen - ein langer, sich müde daher schleppender Güterzug. Die Schuljugend frohlockt, die Mädchen voran. sie haben sich in vorderster Linie auf dem Bahnsteig aufgereiht. Aus Wäschekörben sollen die Krapfen und das Milchbrot, der Mürbekuchen, die Buchteln und Striezeln hinauf gereicht werden - „den Kämpfern zum Gruß“, wie die Ami vom Frauenwerk das so sinnvoll gesagt hat. Sobald der Zug anhält, so die Anweisung, sollen auch ganze Körbe hinauf gereicht werden. Geplanter Aufenthalt zwanzig Minuten. Zeit genug zur Speisung der Soldaten; sogar für Verbrüderung wird es reichen. Alles vorgesehen. jetzt wird er gleich stehen, der kriegsmüde Zug mit der schnaufenden Lokomotive, und die Blasmusik von Meister Loris setzt gerade zum Begrüßungsmarsch an. „Kerchweihmarsch“, hat er den Bläsern zugerufen. Die knarrenden Körbe werden angehoben, und jetzt, jetzt müssen die Bremsen gleich knirschen. Aber nichts! Gar kein Knirsch. Die Räder rollen weiter, immer weiter, langsam, als hätten sie Zeit, endlos auszurollen. Das ist schon italienische Fahrlässigkeit. Die Musik wird auch langsamer, dünner, und der Schuldirektor, seinen Hut schwenkend, macht ein Gesicht, als ob dieser Zug am Ende gar nicht anhalten täte. In den breit geöffneten Türen der Viehwaggons, die wie ein Film vor unseren Augen vorbeiziehen, stehen sie Italiener. Sie zerreißen sich fast in kecken Versuchen, einen der hingehaltenen Körben zu schnappen. „Prego, prego“, rufen sie. Es ist zum Weinen.
Da greift der Jaschke Hans, einer der verschwitzten Buben, die bisher ratlos mit ihren hochgehobenen Krapfen dagestanden waren, anständig in den Korb hinein. Er nimmt eine Handvoll und wirft sie in die nächste herankommende Türe voller fuchtelnden Arme und flatternden Hände. darauf haben die anderen gewartet. Sie machen sich über die Körbe her und lassen die Krapfen und die Striezeln auf die jubelnden Italiener los. Am besten fliegen die Gugelhupf. „Grazie, grazie, prego, prego, avanti!“ rufen unsere Verbündeten. Schrein, Lachen, Jubel. Wie um ihr leben fuchteln sie, unrasiert, in ihren hellen Turnhemden, fangen auf, was ihnen zugeflogen kommt. Und winken, winken, solang sie sehen können. Ich höre sie noch, als der Zug wie eine träge Raupe hinter der Biegung in Richtung Hatzfeld verschwindet. Im Schotter liegen die danebengegangenen Krapfen. Wir stehen da, verschwitzt, verstaubt, und winken und winken mit unseren fettigen Händen. Gut, dass wir in der Gegend von Sizilien noch Freunde haben.
Dieser Schießweltuntergang! Was soll ich bis dahin machen? Angst haben, baden gehen? Die Großi, voller Sprüche, hat es leichter. Für das Leben weiß sie jeden Tag ein Rezept. Sie sagt: „Arwete, wie wann mer ewig lewe, un bete, wie wann mer morje sterwe.“ Und am Abend: „Wieder a Schritt näher zum Grab.“ Wer kann soll es machen: Heit lewe, morje sterwe. Not lehrt beten, sagt die Großi. Na ja, das geht leichter von der Hand als arbeiten. Arbeiten hin, arbeiten her, das hör ich den ganzen Tag. Denn: „Gelebt muss were“, sagt die God. Arbeit ist gut für alles und gut gegen alles - gut für den Geldbeutel und gut gegen böse Gedanken. Nur gegen den Weltuntergang gibt es nix. Ist einer schon in Not, das Weltend ist da, jetzt soll er sich das bissel Lebensfreud auch noch mit Arbeit vergällen.
Im Zigeuner-eck sieht es so aus, als ob dort jeden Tag Lebensfreud wäre. Und kein Ende. Tagsüber sind ihre Hütten und winzigen Höfe die Ruhe. Dann hör ich die Bienen in den Akazienblüten. Und dünnes Gezischel und Sirren von unsichtbaren Leben im Gras und im Gestrüpp. Es ist der ganze lange Tag, der herhält und die Kraft für das Leben am Abend aufspart. Mit der Dämmerung kommt es, das Leben, mit der Kühle ist es da. Halbnackte Kinder, braun wie die irdenen Töpfe, hüpfen um das Feuer herum, und es ist immer ein bauchiger Topf da, manchmal ein Kessel, in dem irgendwas Rotes gluckst. Freilich , unsere Dorfleute, den Bauch voller Speck und Kraut, reißen deswegen nichtswürdige Witze. Sie bringen Geschichten unter die Leute, der Jotzi und die Seinen täten krepierte Hühner und Schwein essen und sich gar nichts daraus machen. die wären der Meinung, der Herrgott hätte sie geschlachtet. Die Zigeuner kümmern sich nicht darum. Du kannst ihnen was erzählen, soviel du willst. Ich glaub, die verstehen es gar nicht. Oder wissen sie etwas Besseres? Trotz der krepierten Säue haben sie die schöneren Zähne. Und gar keine Angst gaben sie nicht.
Jeden Tag geht die Sonne auf. Bei uns gelten Leute was, die mit ihren Händen, mit den zehn Fingern was anfangen können. Einfache Sachen - aber wie wichtig! Einen Baum setzen, einen ausmachen, einen Zaun machen, einen alten abreißen, einen Sack tragen, Wasser schöpfen, Gras mähen, Garben binden, Pferd führen. Wer das macht, ist was. Der verdient sein Brot. Wer hinausfährt zu den Stumpfen Eichen, ins Geeßeck, zu Antonsgarte, auf die Insel, zu den Haferschobern, in den Adreeser Flur - der macht es richtig. Der weiß nicht, was hinter der Radnaer Bergen ist. Den kümmert es nicht, was im nächsten Mai, an einem Sonntag passieren wird. „Weltuntergang - des ist was für alte Weiber und kleine Kinder.“
Noch zehn Monate bis zum Weltuntergang. Wenn ein Weib jetzt noch schwanger wird, bringt es das Kind noch rechtzeitig zum Weltuntergang auf die Welt. Die Sonne scheint, als ob nichts wäre. Das kann trügen. Dem Matz will am Flug von den Vögeln was aufgefallen sein. „Große Unruh am Himmel“, sagt er. Seit Tagen fliegen die Schwalben immer tief, nur tief. Sie kommen auf dich zu, streichen über den Sommerweg, steigen vor dir auf, als täten sie damit was sagen wollen. Auch der Schrei der Eulen jetzt - ganz anders. Mann hört es vom Kirchturm. Und die Feldmäuse - gefährlich, bedrohlich; wenn die nur wollen - auch noch die Haare vom Kopf fressen die uns weg. Am Peter und Paul Tag hat es so viele Unglücksfälle gegeben wie noch nie: Der Fettche - vom Grabenwagen runter gefallen, die Rippen gebrochen; dem Kicks - der Blitz zwischen die Pferd in die Deichsel hinein. Und wenn einer diesen Sommer ans Versaufen kommt, dann an Peter und Paul. Vier Buben hätten die Pferd gerade noch raus ziehen können. Bei dem was Matz alles erzählt, komme ich ins Grübeln und traue mich gar nichts zu sagen, was mir beinah passiert wäre. An Peter und Paul trauen sich nur de größeren in die Kaul. „Heute kann man versaufen!“ Das weiß in Sacklas noch der Dümmste: Hundert Tage kann einer baden, von Mai an „bis der Wind über die Haferstoppeln geht“ und „der Barthelmä in de Melone ist“. Nur heute nicht, an Peter und Paul. Dann nicht. Und wenn die Sonne Löcher in die Erde brennt.
Die Kaul ist aber auch an Peter und Paul schön. Sie glänzt. Nichts gemahnt dran, dass Peter und Paul ist. Das Wasser ist grün, der Hochsommer drin. Am Ufer, nur da ist die Krätze mit Blasen. Die Molleköpp haben sich schon zu grünen Kröten mit Schwänzen ausgewachsen, der Kuckuck hat immer seltener gerufen und von immer weiter. Ich glaube zuletzt von Utvin. Die fingerlangen Würmer laufen unter dem lockeren Sand am Ufer und lassen schmale Furchen wie von einem kleinen Pflug mitlaufen. Wir graben die flinken Spargel aus dem feuchten Sand und begutachten ihre scharfen schaufeln. Wie die Pratzen von einem Untier bewegen sie sich. Einmal bringe ich einen Wurm heim, der Großvater sieht ihn zwischen meinen Fingern zappeln und meint, dass ich ihn nun hin machen muss. Ich sehe ihn an, als hätte ich nicht verstanden. „Die fresse mir die Kartoffeln“, sagt er. „Und des derfe sie net?“ „Nee - bei mir net.“ Der Großvater hat die Würmer nicht gern. Und die Maulwürfe, die auch nicht.
Die Kaul kommt mit ihrem Ufer bis zum Neugässer Weingarten. An zwei Stellen, beim Kraaker und dem Mille Matz, hat sie ein bissel Rohr angesetzt. Dort kommen Wasservögel hin: Blesshühner, Tuckerthcher, Rohrspatzen. Besonders die Rohrspatzen. Das Wasser reicht bis zum Bauch, an tieferen Stellen geht es bis zur Brust. Alle Enten der Neugass und mächtige, von weit her gekommene Gänsefamilien liegen im Wasser. Ich komme ganz sacht ran, in ihre Nähe, die Füße streifen kaum fühlbaren Schlamm. Ich rede mir ein ich schwimme. Dabei weiß ich, ich weiß es ja, das ich Grund unter die Füße hab. Richtig wie ein Schwimmer fühle ich mich in der Rückenlage. Ich liege in dem warmen, moorigen Wasser, lass mir von der Wasserseide den Rücken streicheln und helfe mit den Zehen nach, die den Schlamm gerade noch ein etwas fühlen. Das ist schon geschwommen - oder? Ich merke nicht, wie das Streicheln der Wasserkräuter sanfter und sanfter wird und sich zuletzt verliert. Die nach unten suchenden Zehenspitzen haben sich vom Schlamm gelöst. Ich schwimme. Und jetzt höre ich was. Aus dem Wasser kommt es. Ein Summen von unten, von weit, ein Ton, wie eine Welle. So kommt das. Ich mache die Augen auf - mein Gott! Hundert glitzernde Punkte über mir. Sie ziehen über den Himmel gegen die Stadt und lassen weiße Streifen hinter sich. Flieger! Die Amerikaner! Die Engländer! Wie mich das hochreißt! Es hat mich hochgerissen! Und jetzt finden meine Füße keinen Grund mehr. Ich Schluck Wasser. Grünes, süßes Wasser. Ich schlage um mich, versuche rauf zukommen, komm rauf, schöpfe Luft, es reißt mich wieder hinunter. Je mehr ich rauf will, desto stärker zieht es mich runter. Dann spüre ich Grund. Ein Ruck nach oben und Wasser treten, Wasser treten. Luft holen und Wasser treten. Immer Luft holen. Und treten. Ich schwimme. das ist geschwommen. Ans Ufer waten, hinlegen. Unten im Sand klopft mir das Herz. Weit weg ist das Summen, das Dröhnen. Es verliert sich. Zuletzt weiß ich nicht: Kommt es noch von dort weit oben, oder ist es mir im Ohr geblieben? Die Streifen am Himmel werden breiter, durchsichtiger und zerfließen. Träume ich das? Da liege ich, die Augen offen, ich sehe, aber ich schlafe. Ich hör, aber das ist was Unerhörtes. „Die Posaune wer mer höre “, hat Matz gesagt, „die Posaune“.
Ich hab Hunger. Kirschen möchte ich. Da ist der Weingarten. Im Sandstück liegen die Melonen. Noch nicht zeitig. Die paar Kirschen, von den Stare übriggelassen, sind halb vertrocknet. Die Aprikosen verfärben sich, die Klaraäpfel und die Zuckerbirnen sind da. Am besten sind die Ringloo. Die kommen. Die Bäume auf Niederstamm; so ist jeder eine Krone, die gleich unten auf der Erde steht. Ich komm beim Gartentor rein, zu ein Schritt und bin im ersten Baum. So wie die Stare, so tu ich es auch. Weiter, von Baum zu Baum. Jeder gibt mir was. Ein Schritt rauf, einen runter. Wie durch laubige Türen.
Unsere Landkarte, die gelb grüne mit den hart gezogenen Grenzen, ist nicht mehr die gleiche. Von rechts rücken die roten Fähnchen heran, langsam, aber wie zäh! Und links unten ist der Feind auch nicht in Sizilien stehen geblieben. Und wie nah jetzt Afrika ist. Das war früher doch weiter. Jetzt hat auch Feldmarschall Rommel mit dem Siegen aufgehört. Der Tata setzt wieder den Zirkel an: „Von do unne kumme se jetz.“ Der Punkt auf der Karte heißt Brindisi. Das glitzernde Geschwader gestern, aus Südwesten, eine Stunde drauf war es in Ploiesti. Dort hat es seine Bomben abgeworfen und das rumänisch Erdöl angezündet. Den Brand, so schreibt die „Extrapost“, soll man bis Bukarest gesehen haben. Den roten Schein am Himmel bei Nacht, den Rauch am Tag. Der Tata klappt den Zirkel zusammen: „Noch a paarmal so, und die deitzsche Panzer han net mol es Öl für de geordnete Rückzug.“
Die Karte erschreckt mich: Auf dem weiten Weg von uns bis tief ins Land hinein hat niemand die Bomber aufgehalten. Da auf dem Tisch liegen die herrlichen Bilder vom Krieg. Da ist das „Signal“, da sind die Luftkämpfe. Die lichterloh brennenden Spitfires, wie sie abstürzten. Und die jagenden Messerschmitts, mein Gott, wie der Teufel fliegen die! Wo sind die? Wo sind die jetzt, kann hier niemand schießen, behauptet der Hans. Der Hans ist mein Bruder. Er ist elf. Ich bin neun. Der Hans kennt sich mit Waffen aus. Er und der Kellersch Michel, die zwei. Ständig reden die von Kaliber achtundneunzig oder hundert achtundneunzig oder was weiß ich. Es sieht so aus, als ob hier, zwischen Temeschwar und Ploiesti, überhaupt niemand schießen will. Oder nicht kann. Kein Kaliber. Nicht einmal ein Versuch. Wenn es die Rumänen nicht können - bitte sehr - , aber die Deutschen? Die können es doch! Seit über ein Jahr oder seit zwei Jahren sind sie schob hier. Was schießen sie nicht? Gibt es keine deutsche Flak in Temeschwar? Angeblich sollen sie eine deutsch Flak in Ploiesti haben. Die Wehrmacht! Wird doch nicht gekommen sein, nur um mit uns Mundharmonika zu spielen? Um angeln und baden zu gehen? Die wird doch nicht bloß ihre Kameradschaftsabende im Sinn haben! In furchtbar drohenden Wellen fliegen die Geschwader über Temeschwar. Eine Unverschämtheit, wie Herr Dechant sagt. Auch der Apotheker Schwab, ist der Meinung: Sie kommen und gehen, die Anglo Amerikaner, wie sie wollen - und nichts regt sich sonst in der Luft. Von oben fallen manchmal Stanniolstreifen runter, gut für den Christbaum, einmal auch Flugzettel, gelbe, in den drei Sprachen des Banats, voller sinnloser Aufrufe. Der Matz, der Juri, der Jaschke Hans und ich, wir haben welche beim Lothringergässer Wächterhaus neben dem Kukuruz gefunden. Ein Gerücht geht um: Sie hätten auch Kaugummi und Füllfedern abgeworfen In Temeschwar, für die Stadtkinder; heimtückische Feindgeschenke, vor denen sich jeder deutsche Junge in acht nehmen soll. Jeder Deutsche. Ich bin einer. Der Kaugummi ist vergiftet - die Füllfedern: kleine Sprengkapseln, die losgehen, wenn man dran dreht.
Die Bomben auf Ploiesti haben uns Flüchtlinge gebracht. Aus der Walachei. Richtige Rumänen. Solche hab ich bis dahin noch nie gesehen. Da leben wir in diesem Land. Romania Mare sagen dir Rumänen. Bis zum Dnjester reicht es jetzt. 18 Millionen Rumänen leben drin, hat die Lehrerin gesagt, und ich hab noch keinen aus der Nähe erlebt. Unser Dorf, Sacklas, hat viertausend Seelen. Vieratusendunddreißig. So steht es im Schwäbischen Volkskalender. Außer dem Schandar und den Bahnhofsvorstand, dem Domnu Schef, sind das unsere Leute. Der Jotzi und seine große Familie, die leben am Dorfrand - mit dem Gesicht zur Hutweed. Der Großvater kann gerade guten Tag in der Landessprache sagen. Und auch das sagt er verkehrt: Ziua buna, statt buna ziua. Die Großi kann nit mal das. Aber ich glaub, sie weiß, was „dracu“ bedeutet. Für sie ist das genug. Der Großvater hat 1867, so erzählt Tata, noch ein paar Jahr in die deutsche Schule gehen dürfen. Deshalb schreibt er gotisch. Der Tata wiederum, der hat nur ungarische Schulen. Richtig ungarisch kann der Großvater nur fluchen: Teremtete! Ich hab ihn mal gefragt, ob er weiß, was er flucht. Er hat es wirklich nicht gewusst. Und fluchen tut er. Er muss bloß, so kurz vor dem Mittagessen, Teremetete sagen. Das reicht für den ganzen Tag.
Andere Rumänen sind das, die aus dem Regat. Nicht wie die Bürgersleute aus den drei walachischen Nachbardörfern, aus Utvin, Simjel und Bergsower, die her zur Mühl kommen. Andere auch als der Schafflimacher aus dem Motzenand. Im Herbst kommen auch die Äppel Moje, aus dem Banater Gebirge. Sie singen Ääppli, Ääppli durch die Gassen und rufen die Kundschaft heraus. Die Ääppli tauschen sie für fünfliterweis, mit einem hölzernen Scheffel. Ein Scheffel Ääppli für ein Scheffel Frucht. Rotgestreift, brennend sauer, durch und durch saftig sind ihre Ääppli. Manchmal liegt ein großer Batull mit roten Backen dazwischen. Ihr Bester, den sie von unten aus dem Heu holen, ist der Maschanska. Ist das ein Appel!
Ihre Wagen haben einen Kober aus geflochtenen Weiden, gewölbt wie ein kleiner Torbogen. Hinten, im weit ausladenden Schragen, hängt ein mächtiger Heuballen, vorn sind zwei unglaublich kleine Pferde, gerade nur halb so groß wie der Gidra von der God. Die ziehen den ächzenden Apfelwagen hinter sich her, von den Bergen bis in die Heide. Drei Tag dauert es. Dann drei Tag durch die Dörfer. Der Apfelbauer hat eine Pelzkappe auf - gleich ob es kalt oder warm ist. Seine Füße stecken in spitzen Opintschen. Die sind mit breiten Riemen geschnürt. Bis hinauf zum Knie. Wie zwei Schinagel sehen die Bundschuh aus; ich glaub, er kann damit auf dem Wasser gehen. Wie Jesus auf dem See Genezareth. Ihm, dem Ääppel Moj, tun die blitzenden Flieger dort oben über den Gipfel des Retezat nichts. Die wissen nichts und hören nichts von seinen Ääppli. Ihm ist dafür einerlei, ob es ein Sizilien gibt oder der Zar noch regiert. Ganz anders - diese neuen Rumänen aus Ploiesti. und die Bukarester. Ich würde gar nicht sagen, dass es Walachen sind. Nein, Rumänen sind es, besonders die Bukarester. Ihnen ist Sizilien nah und Bessarabien noch viel näher. Die fühlen es bitter, dass ein neuer Zar, ein furchtbarer, hinter dem Dnjester regiert. Der Stalin. Bei der God ist ein feiner Herr aus Bukarest mit seiner Frau einquartiert. Er rasiert sich jeden Tag, er bindet sich sogar werktags, mitten im Sommer, eine Krawatte und küsst der Kathi die Hand. Die Kathi ist die Tochter von der God. Was für feine Manieren der Bukarester hat. Er tut so, als ob er hier ständig flüchten müßte. Ich Spiel mit seinen Kindern, er küsst der Kathi Hand und geht in den Garten. Dort bleibt er bis Mittag. Stundenlang sitzt er an einem Tisch über Büchern und Schriften. Dann darf keiner zu ihm. Nur der Großvater hält sich in seiner Nähe auf. Der Herr aus Bukarest grübelt viel und schreibt manches auf. Derweil kauert der Großvater hinter seinem Rücken mit dem Hookestecke beim Quittenbaum. Manchmal hat er einen Schemel bei sich. Darauf hockt er und wartet auf den Maulwurf. Den will er beim Stoßen mit seinem Hookestecken treffen. Das gelingt nicht, nie gelingt es. Der Maulwurf kennt schon den Großvater. Maulwürfe sind gescheit - und dieser wartet, bis der Großvater auf seinem Schemel eingeschlafen ist. Dann stößt er, der Maulwurf. Klug ist er, arg gescheit, und man sieht ihn gar nicht. Ich wecke den Großvater auf seinem Ansitz. Er lächelt verlegen: „Schon, nomol a Gumber gmach.“
Der Großvater glaubt fest daran: Maulwürfe, Kröten, Schnecken und Würmer - alles ist schädlich. Bloß weil es krabbelt und wimmelt. Drum muss es hin gemacht werden. Das vertilgen von kleinen Viechern und das Hin machen der größeren gehört zum Leben. Das macht jeder: Raupen verbrenne, Kröten zerhacken. Die Mäuse - das tut die Katz. Die Schwein, die Hühner, Enten, Gänse, Tauben - alles wird geschlachtet.
Wenn einer von uns auf dem Baum krabbelt, so tut er es nicht aus Freud am Klettern. Er freut sich auf was anderes. Auf die jungen Spatzen oben im Nest. Die heißen Pläckertcher, weil sie plackig sind. Diese kahlen, wurm roten Winzigen mit den dicken Köpfen hört man im Mai oben in den Akazienbäumen. Wir stehen darunter und horchen Tschilp, tschilp macht das, ganz dünn, als würden es die Blätter machen. Und dann nichts als hinauf. Klein, häutig, eklig rot, durchsichtig wie Eidotter sind sie. jedes blaue Äderchen noch tief im Leib sichtbar, die Augen zwei blinde Mohnkörner. Aber der gelbe Schnabel schon in abscheulicher Gier aufgerissen. So sitzen sie aneinandergedrängt in ihrem flaumigen Nest. Wenn man nicht früh genug an sie ran kommt, haben sie schon kurze Federn. Und die Augen sind wie blinkende Mohnkörner. Mit einem griff ist die Hand voller Spatzen. Die werden ins Hemd gesteckt, so hat man die Hand frei. Die braucht man auf dem Akazienbaum zum Runterkommen.
Unter uns ist der Klos der eifrigste Spatzenjäger. Kein Nest ist vor ihm sicher, keins. Wenn er am Stamm runterrutscht, flattert es und tschilpt es unsäglich unter seinem Hemd. Unten angekommen, verteilt er die Spatzen, als wären sie Nüsse. Jeder kriegt einen, jeder greift ihn, steckt den Kopf zwischen Zeigefinger und Mittelfinger, macht eine heftige, wegwerfende Bewegung und schmettert den herabhängenden rosa Klumpen auf das Pflaster. Der Spatzenkopf mit dem Gelbschnabel bleibt zwischen die Finger. Spatzescherre heißt das.
Der Klos hält mir einen Spatz hin. Ich fühle, wie fremd mir mein Finger sind. Der Klos steht da, wie eine blonde, blauäugige Eule. Die anderen, auch sie schauen aus wie Eulen. Ich spüre, gleich werde ich kotzen. Das Maul von dem Klos, die Lefzen, das ist plötzlich ein großer gelber Spatzenschnabel. Auch die anderen haben so was Abscheuliches, Gelbes, um die Mäuler. Ich muss wegschauen. Hinauf schau ich, zum Nest. Und ich tu es mit einem Ruck. Und jetzt hab auch ich einen großen gelben Schnabel, bin nicht mehr blond und 99 Jahre alt.
Der Großvater kommt jeden Nachmittag ohne Maulwurf aus dem Garten. Das ist es ja: der Maulwurf ist nicht im Garten sondern unter dem Garten. Einen halben Klafter darunter. Inzwischen wächst auf dem Tisch von Domnu Professor, so lässt er sich ansprechen, der Stoß beschriebener Blätter. Die God hat in ihrem Leben nie was anderes als die Angaben über die Jahrmärkte im Banat und im Arader Gau gelesen. Sie hält lesen überhaupt für unnütz, sogar für ungesund: „Es verderbt die Aue“. Sie kann nicht sagen, was dieser Mann, galant ist er ja, der Kathi küsst er die Hand, unter ihren Weichselbäumen schreibt. Wird sicher was Unnützes sein. Selbstvergessen sitzt er dort, sieht nicht, hört nicht, der Herr Dinu, der Universitätsprofessor aus Bukarest.
Außer dem Dinu sind noch andere Bukarester und Moldauer Familien her ins Banat geflüchtet. In den Familien gibt es Kinder - gut für unsere Kriegsspiele. Ein paar Feinde mehr. Das Gute an neuen Feinden: man weiß nicht, wie sie es machen. Bisher haben unsere Straßenschlachten zuerst zwischen dem oberen und dem unteren Dorf getobt. Jetzt, wo es mit dieser Feindschaft nicht weitergehen will, kommen die Feindschaften zwischen den einzelnen Gassen auf. Mit Pfeil und Bogen, Lanzen, Schollen und Steinen gehen wir aufeinander los. Die Mainzer Gasse gegen die Lothringer Gasse, Litzibori Gasse mit Bahngasse verbündet; ein Bündnis auch zwischen Schwarzwälder Gasse und Neugasse. Am gefährlichsten sind die Walachschgässer. Neben dem Gässchen und der am Ende etwas krummen Fünftgasse ist die Walachschgasse die einzige krumme Gasse in Sacklas. Sonst ist alles schnurgerade im Dorf. Die Gassen, die Wege, die Höfe, die Mauern, die Zäune, die Bäume. Hier, in der Walachschgasse, wo sie krumm ist, bis in die Neugasse, sollen vor vielen Jahren, noch vor der Ankunft der Schwaben, Walachen gelebt haben. Wenn ich mit den Handwagen aus dem Weingarten komm, dann poltern die Eisenräder vor dem Haus von Katzenmayer dumpf über das Pflaster. Wie über eine Brücke aus schwerem Holz geht das. Der Tata sagt, nach einem alten Ortsplan soll hier der walachische Friedhof gewesen sein. Seit ich das weiß, fahre ich am Abend nicht mehr durch die Neugasse. Lieber durch die Schwarzwälder Gasse. Die toten Walachen sollen wenigstens in der Nacht ihre Ruhe haben.
Unsere rumänischen Kriegsgegner haben keine Kampferfahrung. Das sehen wir gleich. Es ist alles so umständlich bei ihnen, viel zu kompliziert. Man weiß gar nicht, was sie wollen. Ich glaube: sie wissen es auch nicht. Jeder will kommandieren. Und ihre Waffen - lächerlich! Während wir die Hosentaschen voll Schollen und Steine haben und ihre Stellung im Garten von der Glaub Neni bombardieren, werfen sie - ich muss es sagen: mit Sandtütchen. Wer ihnen das beigebracht hat! Die Glaub Neni vielleicht. Oder der Philosophieprofessor? Vielleicht der. Und doch haben die Bukarester uns beinahe besiegt: Weil wir uns den Bauch so vor Lachen gehalten haben. So wehrlos waren wir. Und ihre Luftgewehre - für uns waren sie Luft.
Der Krieg ist nicht nur in der Walachschgasse. Nicht nur in Italien, nicht nur an der Ostfront. Warum die auch jetzt noch Ostfront heißt, wo sie sich dich nur noch westwärts bewegt. Die Fähnchen auf der Karte, Ruck um Ruck kommen sie näher. Nicht nur der Jotzi weiß, wie es draußen steht, auch der Briefträger und manche Leute im Dorf, die, wenn sie Russland sagen, andere Gesichter machen als früher. Ich glaube, von ihnen kommen die Gerüchte.
Ein Krieg ist auch zwischen uns allen. Im Dorf. In den Gassen. In den Häusern. Zwischen Leute, die einander immer die zeit geboten haben. Einmal bin ich dabei, wie sich zwei Weiber in ihren langen , würdigen Kitteln mitten auf der Gasse, auf dem Fahrdamm und zuletzt noch im Straßengraben in die Haare fahren. Sie schreien, schlagen und kratzen. Sie beißen. Und das am helllichten Tage, wo andere gerade da Mittagessen kochen. Die eine, die Rothaarige, hat der anderen das Halstuch runter gerissen und schreit „du Bolschewikin!“ ins Gesicht. Bolschewik! Nicht mal im Ungarischen gibt es das! Das Allerletzte sind auch die Wörter Stalin und Churchill. Besonders garstige dicke Hunde bekommen den Namen Churchill.
Jetzt ist es auch soweit, dass Häuser mit Wörtern beschmiert werden, die ein einfacher Dorfmensch gar nicht versteht: „Drückeberger“ lese ich. Vorbei die Zeit, als die Leute noch Ruh genug gehabt haben, um anständig, wie es sich gehört, miteinander zu streiten. Der Tata erzählt so: Da sitzt ein Bauer mit seinen Leuten beim Zaunachtessen. Die Tür geht auf, „Gutnowed“, sagt einer, und da steht der Schwager.
„Gutnowed, Schwoer“, grüßt der Hausherr und bleibt weiter am Tisch. Stracks der Schwoer: „Schwoer, ich sin kumm weger dem Raafe“. „Na gut, huck dich her“, sagt der Hausherr, gleich hätte er gess, dann könnt er ja mit dem Schwoer raafe. Keine Rede damals von Bolschewik. Das hat es nicht gegeben.
Die Höfe, wie stehen sie da. Leer, fast jede Gerechtigkeit. Die Männer im Feld, aber nicht im eigenen. Die meisten in Russland. Der Vater vom Juri in Frankreich, der Hans Mayer, unser Nachbar, hat aus Lettland geschrieben: „Standen vor Petersburg, jetzt bald bei Königsberg ...“ Der Tata liest es vor. Er beneidet den Mayer Hans nicht um seien Weltreise. Aber Tata hat es auch nicht besser. Er geht am Stock, ist untauglich. Weil es außer den Untauglichen keine Männer mehr gibt, haben die Großväter jetzt den Zaum in der Hand. In mancher Gerechtigkeit sind es auch halbwüchsige Buben, die mit der Wirtschaft fertig werden müssen. Mit acht oder zehn Jahren kann jeder ein Pferd und Wagen führen. Ist einer geschickt und hat das Vertrauen der Leute, dann kann er als Fünfzehnjähriger Traktor fahren.
Seit einiger Zeit sind Kriegsgefangene im Dorf. Alels Russen. Fleißig, heißt es und gut bei Appetit. Für uns sind es die Iwans. Aber richtig heißt keiner wirklich so. Einer heißt Wanja, vielleicht is das der Iwan, ein Pjotr und einer sogar Juri, wie unserer. Wahrschinlich heißt auch der Juri Georg. Und kann sich auf den heiligen Georg den Drachentöter, berufen. Unser Juri ist Spatzentöter. Was der russische Juri tötet, weiß ich nicht.
Die Iwans arbeiten den ganzen Tag draußen - eine andauernde Gelegenheit zum Verschwinden. Mais, so weit das Auge reicht. Mais von Sacklas bis zum Kaukasus. Aber alle kommen sie zum Feierabend mit dem Wagen heim, führen die Pferde zur Tränke, dann in den Stall und setzen sich dann selber an den Tisch.
Pjotr ist der Lustigste. Er redet am meisten. er ist auch geschickt, erfinderisch ist er. Allerlei Sachen kann er machen, auch Kunststücke. In seiner freien Zeit, am Sonntag, schnitzt der Pjotr Spielzeug. Alles mit dem Messer, einem klobigen Rasseneisen, das nicht glänzt. Kleine Traktoren aus Holz macht er, die Räder aus durchgeschnittenen Zwirnspulen. Autos, Tanks, Pistolen. Einmal sogar eine kleine Stalinorgel, die nennt er Katjuscha. Seine Meisterstücke sind aber andere Sachen. Aus Silbermünzen mit dem König Karl darauf und aus Nickel-münzen mit dem König Michael, der neben dem Marschall Antonescu gerade wieder mal ein bissel regieren darf, macht der Pjotr echte Silberringe. Bald hat er alle, die den Finger mal hingehalten haben, zu seinen Kunden gemacht: Freundschaftsringe, solche mit Totenkopf, Ringe mit dem Hakenkreuz, mit einem Herzen - alles auf Bestellung. Was du willst, macht er. Auch der Hans verkehrt bei ihm. Er bewundert ihn. Wie er selber ist auch der Pjotr Waffenkenner. Sie sprechen über Typen und Kaliber, ich hör Nullkommaacht oder so was, und dabei fabriziert der Pjotr auch für den Hans einen Ring. Marke Totenkopf. Der Pjotr und der Hans sind Freunde. Die anderen gefangenen zeigen nichts von ihren Begabungen. Sie sind scheu, haben keinen Blick. Der Wanja grinst verstört, wenn ich mit ihm ins Gespräch kommen will. Njeman sagt er, nichts verstehen. Er schläft gern und spielt mit sich selber Karten. Er will nicht reden. aber sein Gesicht sagt dauernd etwas. Und ich verstehe es nicht. Njema. Juri, der Älteste von den Iwans, der ist am meisten verschlossen. Er scheint in tiefer Demut zu sein. Er wird ein Gelübde getan haben, denn drei seiner Finger der Linken, knochig die Hand, sind mit einem Spagat-faden fest umwunden. Hart wie ein schneidender Ring. Nur von Zeit zu Zeit löst er die Einschnürung, damit die Finger nicht abfallen. Dann kann man den roten Einschnitt ringsherum sehen, der ihm tief ins Fingerfleisch geht...
Der Matz, der ja alles weiß, sagt: „Der Alte hat sich verschworen.“ Läßt sich Gott so dazu erweichen, den Russen zu helfen? Oder hat sich Gott schon durch andere leiden der Russen dazu erweichen lassen? Ich weiß: Auch Pjotr hat Angst vor dem Weltuntergang.
Die roten Fähnchen auf der Karte, zwei Jahre waren sie folgsam. Jetzt haben sie sich gegen uns gewandt. Sie gehören nicht mehr uns, sondern den anderen. Sie kommen. Die Gerüchte - da kommen sie. An der Ostfront steht es schlecht, wird es immer härter. Die Gerüchte eilen voraus. Die Fähnchen kommen.
Wir nehmen den Pjotr mit vor die Landkarte. Der Hans hat es ihm versprochen: „Pjotr, du kommscht ins Hauptquartier.“ Er sieht sich die Karte an der Wand an. Ich glaub, er hat einen Schreck. Russland - eine große grüne Wiese. Das bissle Europa daneben, links, gesprenkelt, mit den blauen Spatzen-andern der Flüsse, ein kleiner Vorgarten. Mit vorgestrecktem Zeigefinger geht der Pjotr auf die Karte zu und tippt auf einen Punkt in dem weiten grün. „Geboren!“ strahlt er. „Hier geboren!“ Dann streicht er mit seiner Hand darüber, es sieht aus, als wollt er den Staub abwischen. „Rossija“, sagt er. Und so groß ist das Land.
Und das kommt auf uns zu!
Und hier steht dein gefangener Sohn Pjotr und weiß nicht, was er sagen soll. Dass die geschlängelte Fänchenreihe den dreizehnten Frontverlauf anzeigt, ist ihm klar. Von der Wendung der Dinge ist er nicht überrascht, es scheint ihn gar nicht zu freuen: „Nix gut, nix gut“, brummt er. „Krieg sehr schlecht.“ Noch ist die Front weit. Noch immer näher zu Moskau als zu Temeschwar. Doch wie nah der Krieg schon immer, von Anfang an war, zeigen die Einschläge in unserer Nähe. Auch in unserer Verwandtschaft hat es eingeschlagen: Der Krämersch Vetter Klos hat in kurzer Zeit, in nicht zwei Sommern, seine drei Söhne verloren. Alle drei.
Der Postmann schleicht wie der Totenvogel durch die Gassen. Der alte Schwed mit seiner Ledertasche kann es nicht mehr ertragen. diese allerletzten Meldungen. Und er bringt sie ins Haus. Er kann es nicht. Er muss saufen, dann geht es. Schon beim ersten Rundgang am Vormittag ist er voll. Wie von einer Freud getrieben, geistert er durch die Gassen, stolpert er, ein viel gesehener Vogel, von den sonst unnachgiebigen Hunden respektiert; wäre er nüchtern, sie täten ihn mit seinen verdammten papieren am liebsten in der Luft zerreißen. Der alte Schwed, sage ich, Schwed ist der Spitzname. Selbstvergessen schwenkt er die Briefe wie Papierdrachen über seiner Briefträgerkappe und wimmert schon von Gassentüre her: „Für Führer, Volk und Vaterland!“ Wie vor dem Leibhaftigen flüchten die Leute in die Gärten, wenn sie ihn in die Gasse heraufkommen sehen. Ein haltloses Gerücht: Wer von weitem von ihm gegrüßt wird, dem bringt er das „Führer, Volk und Vaterland“. In einigen Fällen hat es gestimmt, in anderen nicht. Auch die „Grüße an die Heimat“ gibt er schon vom Strassenecke durch. Das ständige lesen von Feldpostkarten - das darf der Briefträger gar nicht. Mit Tränen in den Augen liest er, liest und weint. Ein Jammer ist es mit dem Mann. Manche verlangen seine Absetzung, aber wer wird sich in dieser Zeit getrauten, diesen allerschwersten Dienst zu tun. Da ist der Totengräber besser dran - viel besser: Ihm braucht im Dorf das Herz nicht zu klopfen, wenn er zum Spaten greift.
Im ersten Weltkrieg waren 67 Männer der Gemeinde für den Kaiser, die Völker der Doppelmonarchie und das ungarische Vaterland gefallen oder daheim an den Folgen der Kriegsstrapazen gestorben. Vierzehn wurden für vermisst erklärt und wie ihre toten Kameraden von Meister Tunner in den schwarzen Marmor des Ehrenmals eingraviert, das „von de Einwohnern der Gemeinde Sackelhausen und den Landsleuten in St. Lois / Mo“ 1926 vor der Kirche errichtet wurde. Es hat einen Adler und einen Säbel auf der funkelnden Spitze, doch keinen platz mehr in dem geschliffenen schwarzen Marmor für sie Namen in diesem noch größeren Krieg, den das rumänische Vaterland und das deutsche Mutterland Seite an Seite gegen den Bolschewismus führen. Ich stehe vor dem schwarzen Marmor und lese Namen um Namen. Auch der eine Bruder von Tata ist drauf, der Michel. der schwarze Stein ist mit einem schmiedeiesernen Geländer eingefaßt; wie andere Kinder turne ich darauf herum. Im Oktober, schon vor der Kerweih, wenn die Kastanien aus den Baumkronen runterfallen und siebenmal auf dem Pflaster hopsen, muß jeder das zeigen: Die Kastanien werden am Turm hochgeworfen. Sie müssen bis zur Spitze hinauf, dürfen aber das Kreuz nicht treffen. Schön, wie sie hochsteigen. Immer sind es ein paar Kastanien, die oben grad das kreuz und die Turmuhr umtanzen. dann prasseln sie runter, schlagen auf den glänzenden Denkmalstein und dpringen auf dem Pflaster davon.
Die Namen der neuen gefallenen, manche vor Monaten eingezogen, sie müssen an eine andere Stelle. das Heldendenkmal reicht nicht aus. Viel zu klein ist der große Stein. Warum es immer nur Helden sind , die fallen? Kein einfacher Soldat darunter - nur Helden. Fällt einer, weil er ein Held ist, oder wird er zum Helden, weil er gefallen ist? Der Herr Dechant Schmidt muss im Jahr 1944 in der Kirche eine Heldenecke einrichten. Neben dem gequälten heiligen Sebastian, er hat den Leib voller Pfeile, und dem heiligen Antonius, unserem Fürbitter in aller Not. Schon voll ist die Heldenecke und der Krieg noch immer nicht aus. Doch das ende scheint in Sicht. Die Geheimwaffen! Das ist kein Gerücht. Nein: die Trümpfe des Führers. Seine letzten. Jetzt werden noch schönere Siege kommen. Und Siege kosten Blut. „Wir misse plude“, hat der jotzi gesagt.
Schon hundertsiebtehn Namen von Gefallenen. Und jede Woche geht der alte Dechant schweren Herzens in seine Kanzlei und muss einen Namen, den er schon bei der Taufe in gleicher Schrift geschrieben hat, mit Tusche auf ein Kärtchen malen. Zu den Gefallenen von Kursk, Smolensk und Stalingrad hat er nun den Namen vom Tischlermeister Vogel setzen müssen. Beim letzten Luftangriff auf Ploiesti ist er umgekommen. Wie viel Särge, eiche für die Ewigkeit, waren aus seiner Werkstatt neben der Mühle Jahr für Jahr gekommen! Und nun haben sie ihn aus Ploiesti in einer Totenlade aus verlötetem Zinn heim gebracht. Zwei Tage war er unterwegs.
Und die God bekommt einen Brief. Der alte Schwed hat gar nicht mehr von weitem grüßen können. Ich habe ihn kommen sehen. Sie steht plötzlich im Gassentüre vor ihm. In Maschinenschrift, ein Feldpostbrief. Sie hält das Schreiben unschlüssig in der Hand. Mit dem Eckzahn von ihrem Haarkamm öffnet sie den Umschlag. Ihr Blick ist leer. Jeepi, ihr Sohn ist bei den deutschen. Er hat selbst zwei Buben daheim, sie sind etwas kleiner als ich. Der Hansi und der Michli. Mit einer Bewegung, die ihr alle Kraft abverlangt, nimmt sie das Papier und faltet es auf. Ihr Blick bleibt am Ende vom Blatt hängen: “... wurde mit militärischen Ehren begraben.“ Am Ende, dort kommt die Wahrheit. Vergeblich die Hinauszögerung am Anfang: „Unsere deutschen Ärzte haben das Äußerste getan...“ Wahr ist, was bei alldem zuletzt herauskommt. Mit militärischen Ehren. Warum das alles noch sagen? Diese Gründlichkeit. Und gar nichts verschweigen. Alles gesagt. Auf eine Mine getreten. Die Füße verloren. Verblutet. Das war Jeepi, mein Geschwisterkind.
Die God kommt, da ist sie. Wir sollen ihr draußen helfen. Der Hans und ich. Heu wenden und Beiführen. Morgen früh, sagt sie. Am nächsten Tag ist sie auch schon in aller Hergottsfrühe mit dem Wagen vor dem Haus.
„Zuerst an die Insel und dann an die Quelle“, sagt die God. Abwechselnd lässt sie uns, den Hans und mich, den Zaum halten. Über die Schlopp Brücke geht es, dem Andreeser Kreuz zu. Hier, an der Schlopp Brücke, soll mal bei Hochwasser im Frühjahr einer in den Graben gefallen sein. Der hat Schlopp geheißen. In Wirklichkeit gar nicht Schlopp, sondern Müller. So ist das mit den Namen: neben uns wohnen Wetzlersch, sie heißen Egler. Über die Gasse sind Härtels, sie heißen Dimster. Die Messmers werden die Simmis genannt; der Alte heißt Simmis Kloos und ein Sohn, weiß Gott warum, ist der Mayer Hans. Lauer gibt es drei Arten - nein, vier: Rupplich - Lauer, Kleen - Lauer, Hanni - Lauer. dann, unter diesen, die hellen und die schwarzen. Wir sind die hellen. Blond bis vierzig, dann Glatze. die Frauen blond bis siebzig. Zum Beispiel Lauersch Kathi. Das mit den Namen ist ein echtes Durcheinander. Nicht mal der liebe Gott kennt sich in den Sippen aus, wohl aber Tata. Die Mama kann die Fäden in dem Worres nicht entwirren. Sei befürchtet, die Sippschaft tät am Jüngsten Tag Schwierigkeiten haben, wenn sie, nach Paten und Gofden geordnet, vor den Herrn treten sollen. Der Tata tröstet sie: „Mach dir ke Sorche - de tut jeder for sich.“
Die Schlopp Brücke bleibt zurück. Nach einigem Zureden trabt der Gidra hinter der Hutweed an gut mannshohen Maisfeldern vorbei, die sich mit frisch geschnittenen Fruchtstücken abwechseln. Der Mais ist kurz nach dem Fahnen schieben, die Felder dunkelgrün, in voller Blüte. Die Sonnenblumen haben ihre offenen Gesichter nach Osten gewandt - dauernd verbeugen sie sich der aufgehenden Sonne. Der Gidra verlangsamt seinen Gang. Er findet seinen Schritt wieder. Die Erde ist nass vom Tau, im Gras glitzert es. Das dunkle Maislaub, wie nach allen Seiten ausgestreckte Hände, hat sich die Nacht hindurch mit funkelndem Wasser gefüllt. Jetzt am Morgen sind die Tropfen schwer, sie laufen im Blatt wie in einen Trichter hinein und tränken unten den Stock. Der Großvater hat mir erklärt: „Bei uns braucht es nicht viel zu regnen.“ Wenn der Tau genug ist. Deshalb sagen die Leute: “ Der Mais wird mit der Hack gemach. Eemol gehackt ist soviel wie eemol gereent.“
Wo der Himmel anfängt. über den Jagdwald, zeigt sich jetzt die Stelle, wo sich die Sonne gleich hochschieben wird. Der Tag ist vor der Sonne da. Schon am Dorfende, „am Rampe“, waren die ersten Lerchen über uns. Der einzige Vogel, der das kann: flattert und flattert und steigt und steigt und singt. Ich glaub, der Gesang treibt ihn hinauf. Dann bleibt er eine Weile oben und trillert und trillert. Am Schluss läßt er sich fallen. Wie ein Stein. Während ich den Zaum gerade halten darf, macht der Gidra an einem Stoppelfeld eine jähe Bewegung nach links. Er biegt ein, ohne mich zu fragen. Ich hätte geradeaus gewollt, doch die God, in Einverständnis mit dem Gidra, sagt: „Er weiß schon. Mir sind da.“
Wo der Wassermühlen Graben enie Biegung macht, eine seiner Schlagen durch die Felder und Büsche laufen läßt, liegt das Stück. Das ist an der Quell. In klarem Wasser zeigt sich jeder Fisch. Mit trägen Flossen tun sie grad soviel, um gegen die gemächliche Strömung zu schwimmen. So bewegt sich jeder Fisch und bleibt auf der Stell. Früher hat der Graben eine Wassermühle angetrieben. Neben dem Wassermühlen graben, der kommt aus der Gegend von Charlottenburg und Altringen durch heck zu uns in die Heide herunter, gibt es den Kleinen Graben. Der ist eigentlich nur ncah der Schneeschmelze voll. Im Sommer wird er eine ganz dünne Rinne, und die Fische bleiben im Schlamm stecken. In dürren Sommern vertrocknen auch die Kröten. Flach wie ein Stück Leder liegen sie da. Ein Rätsel ist der Landgraben, der zeigt sich gar nicht. Ist auch kein Graben. Nicht mehr als eine langsetreckte, verwachsenen Bodenwelle. Aber bei Hochwasser kommt er aus dem Boden raus. Wie ein Fluß. Wie etwas, das schon immer da war. Der Weltuntergang für Maulwürfe.
An der Quelle hat die God eine Wiese. Die ist gemäht und das Heu muss gewendet werden. Mit drei Heugabeln geht das schnell. Dann kommt das Frühstück. Wie die God das macht: Sie Pferdedecke her, eine Schüssel drauf, kühle Milch aus der Kanne und Brot eingebrockt. Wir legen uns rings um die Schüssel und löffeln. Die God sagt: „Erscht wann der Schwob gearwet hat, kann er esse.“ Der Hans und ich, wir halten uns daran. Und weil sie weiß, dass jedes Ding zwei Seiten hat, dreht sie den Spruch um: „Erscht wann der Schwob geß hat, kann er arwete.“
Heuwenden ist schön. Noch schöner ist Garben. Wir fahren an die Insel. So hoch es der Gidra zulässt, werden wir laden. Die Frucht ist seit Tagen geschnitten. Die Garben sind auf Kreuzhaufen gesetzt, über die der aufkommende Mittagswind streicht. Süß riecht es nach Stroh. Ich spüre, wie die Frucht jetzt in der flimmernden Luft weiter reift. Für die Feldtiere war der Schnitt eine Welt Veränderung. Hebt man eine Garbe hoch, springt und flattert es nach allen Seiten weg: Schmetterlinge, Grashüpfer, Eidechsen, manchmal eine Kritsch, nicht selten ein junger Tölpel von einem Hase. Alle haben sie die Nacht hier verbracht. Und wenn man die vier untersten Garben hebt, haben sich darunter Feldmäuse für den Winter eingerichtet. Sie haben gedacht: ein Dach über den Kopf und eine Boden voller Körner. Die God sagt, vier bis fünf Kreuzhaufen gäben einen Doppelzentner Frucht. Sie Zählt die Haufen und meint, das wären vier Fuhren. Der Gidra zieht den ersten Garben-wagen ohne Mühe. Über die Stoppeln geht das schwerer als auf dem Feldweg; die schmalen Räder sinken eine Handbreit im weichen Ackerboden ein. Dafür ist der Feldweg von den vielen Fuhren, die seit Tagen unterwegs sind, hart und glatt gewalzt. Weit und breit ist keine Steigung - de Auffahrten zu der Zementbrücke und der Neubrücke ausgenommen. Da geht es ein paar Meter rauf. Seit Wochen hat es nicht geregnet. Nur mal ein Salatspritzer. An den Wegrändern, wo die Kamille im Weggras steht, sich die engen Plätze mit der Wegwarte, dem Hirtentäschel und den Disteln teilt, zeigen sich zwei Finger breite Erdsprünge.
Heute ist es so heiß, dass „die Spatzen in der Luft verbrennen...“ Glasige Luft, ein wässriges Flimmern. Wie auf einem Flussgrund zieht sich im Norden, unter der Neschnowaer Mühle, die blaue Baumreihe der Wiener Straße hin. Sie hat uralte Maulbeerbäume, noch auf Geheiß vom Grafen Mercy gesetzt, wie es heißt. Nach der Vertreibung der Türken, so hab ich in Geschichte gelernt, hat der Graf zuerst die Seidenraupenzucht hier einführen wollen. Mit Italienern. Die sind damals aber fast alle am Sumpffieber zugrunde gegangen, die Italiener. Und die wenigen, die das überlebt haben, die sind dann halt Schwaben geworden. Die Hitze macht uns matt, sie hat giftige Mücken hervorgelockt, die den Gidra arg sekkieren. In die Augen und in den Hintern kriechen sie ihm. Überallhin wo sie rein können. Keine Ruhe geben sie ihm. Mich bringt das in Wut, weil sie sich in seinen Augen festsetzen und ihn zu aussichtslosen Blinzeln zwingen. Er stampft mit den Hufen, schwenkt den Kopf auf und ab und versetzte den Teilen die er erreicht, wütige Peitschenhiebe mir dem Schwanz. Ich denk, jetzt sind sie alle beim Teufel, aber gleich sind sie wieder da, alle alle und weichen nicht. Es ist aussichtslos für den Gidra, er weiß das, schüttelt den Kopf und gibt den Kampf nicht auf.
„Wann die Mücken so schlimm sind , gibt es Regen“, versichert die God. Sie hat die Fliegen richtig verstanden: Über Zilasch, in Südwesten, wächst eine dunkle Wolkenwand. Als würde sich dort ein anderer Himmel auf. Hier brennt die Sonne Löcher in die Erde, und dort kommt was wie das schwarze Meer. Zilasch geht gerade drin unter. Wir hätten noch zwei Fuhren, aber die God meint, das „wäre die letzte für heute“. Sie zieht das Seil über die Ladung, und dort verzieht sich die Sonne hinter der schwarzen wand mit dem Tag. Alle Farben erlöschen, ein Windstoß kommt, der Staub auf dem Feldweg fliegt so hoch wie der Kirchturm. Noch gerade jetzt hat es ausgesehen, als ob die Mücken den Gravid fressen würden. Mit dem ersten Windsttoss sind sie alle weg. Verschwunden im Windloch. Der Gravid zieht an, wir sitzen auf dem hohen Garben-wagen. Wie der schwankt und schwankt und nicht umfällt. Jetzt fühle ich, was ich schon immer gewusst habe: Die Erde dreht sich unter mir. Die Stöße von dem Wind sind wuchtig und kommen, wann sie wollen. Jetzt drückt und zerrt er. Ein großer langer, breiter Wind. Und der Gravid so klein. Der Gravid zeigt jetzt, wer er ist. er stemmt sich dagegen. Viel stärker ist der Gravid, viel, viel stärker, als ich gewusst hab. Wir bleiben fast auf der Stelle, und trotzdem sehe ich, wie der Gravid Schritt für Schritt vorwärts kommt. Nicht viel ist es, knapp sind seine Schritte, aber der hohe Wagen - ein Segel im Wind - wird nicht abgetrieben. Mit einmal läßt der Druck etwas nach. Jetzt ist der Regen da. Regen - das ist nur ein Wort. Der kommt von vorne, nicht von oben, trifft brennend scharf ins Gesicht. Es geht in Maul und Nase, Aug und Ohr. Sofort durch die Kleider.
„Nur keine Angst Kinder“, ruft die God, und das Wasser fließt ihr vom Kinn, „das habe ich schon erlebt:“ Wir sollen vom Wagen runter. Gleich auf der Stelle. Sie sagt nicht warum. Aber das weiß doch jeder: der Blitz sucht was Hohes - einen Baum, ein Haus, einen Schober -, das ist ihm gerade recht, oder einen Garbenwagen. Das habe ich gehört: Auf dem Garbenwagen sind Leute vom Blitz erschlagen worden. Die Milchkanne haben wir oben bei uns, das Brotmesser. Die ziehen den Blitz an. Das hat der Graf Batschi, unser Lehrer, erzählt. beim Kapitel Blitz hat er uns erzählt, wie die Soldaten auf dem Truppenübungsplatz in Szegedin bei einem Gewitter sogar ihre Taschenmesser weggeschmissen haben. Der Blitz wäre damals immer wieder in die Theiß hinein; kein einziges Mal in ein Taschenmesser auf der Hutweide.
Die God will uns beruhigen: „Wenn es so tobt, hört es bald auf.“ Wäre es nicht gut, einfach stehen zubleiben? „Unter dem Wagen schlupfen", sage ich. Das wäre ein Fehler, meint sie. Nasser als wir sind, können wir gar nicht werden: „Nur nicht stehen bleiben!“ fordert sie. „Gehen , und warm bleiben!“ Auch der Gidra macht es so.
Es lässt etwas nach, und die God, rotgewaschen ihr Gesicht, erzählt im Weitergehen die Geschichte von dem Mann, der nach solchem Unwetter mit trockenen Kleidern vom Feld heimgekommen wäre. Vor den verwunderten Leuten hätte der Stein und Bein geschworen, dass er vor dem Regen hergefahren, dass de Tropfen gerade nur den Schragel getroffen hätten. „Wie hat er das gemacht?“ will der Hans es wissen. Wo einer schlau wird, da spitzt der Hans die Ohren. Die God muss lachen. „Mitten im Unwetter ist er nackig herrum gelaufen, hat Hemd und Hose, Jacke und Unterhose in die leere Wasserkanne gestopft und nach dem Regen nochmal angezogen.
Wie sich der Blitz um uns jetzt aufführt! Er zuckt vorbei, ich fühle ihn die Haut entlang streifen. Mit dem Donner ist er da. Krach und Blitz ist eins. Bei dem grellen Licht weiß keiner, wohin. Der Blitz kann überallhin. Und der spaltet bei jedem schlag die Luft von oben bis unten. Wenn es so kracht, will der Gidra durch kleine Sprünge ausbrechen. Sie reißen ihn seitwärts. zu scher hängt er mit seinen großen Augen am Sielscheit. Wie der Gidra geht auch de God in kleinen schritten neben dem Wagen her, sie hält den Zaum und will so dem Gidra die Angst nehmen. Jetzt behauptet sie, der Blitz würde nur die Erdspalten suchen - anders könnte er gar nicht in die Erde hinein. „Der muss hineinschlupfen“, sagt sie und wir sollten uns bloß in acht nehmen und den Fuß nicht auf eine der Bodenritzen tun.
Ach die God, die God - vielleicht glaubt sie selber ein bisschen was von dem, was sie uns da erzählt. jetzt kommt der Regen immer beißender, immer zäher von vorn. Zuerst brennt es angenehm im Gesicht, dann beginnt es zu stechen und ich dreh ihm den Rücken zu. Jetzt sieht es umgekehrt aus: Der Wind treibt den Regen von mir weg. Der Hans hat sich auch umgedreht und versucht einen Stück rückwärts zu gehen. Dreht man einer Sache den Rücken zu, ändert sich alles.
Auch dieser Regen ist vergangen. er hinterlässt tief aufgeweichte Felder. Und die Wege sind so, dass jeder Wagen draußen stecken bleibt. Zeit ist auch für den Gidra, den Regen, den Blitz, den Donner und die verbissenen Mücken zu vergessen. Der könnt der Stute jetzt was erzählen. Wir bleiben daheim und hören, was Bauerdleute im Sommer nur von weitem erreicht: das Mittagsläuten. Die Mittelschtglock ist es, ihr schöner Ton schlägt an die Häuser von der Lothringer Gasse und kommt von dort zurück, wie wenn die Kirch nicht in der Hauptgasse läuten würde. Ins Mittagsläuten mischt sich das Bimmeln von der Kleenglock hinein, dann, auch unregelmäßig, das wichtige Baum - Baum der Dickglock.Die Kinder laufen aufgeregt durch die Gassen. „Es stermt, es stermt!“ Ich renne mit. Ein langezogener Schrei, ein Jaulen wie von einem unbekannten Vieh zieht durch das Bimmeln, zieht durch Mark und Bein. Jetzt rennen wir erst. Und wie wir rennen - alle dahin, von wo es kommt.
Am Brunnen steht der Kleenrichter. Er hat einen Dreifuß vor sich, drauf ist ein runder Kasten mit einer Dreh dran. Es sieht aus wie eine große Nussmühle, schon wegen der Dreh. Und
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Heinrich Lauer
Lektorat: Uwe Lauer
Tag der Veröffentlichung: 11.03.2017
ISBN: 978-3-7438-0200-1
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Erinnerung an meinen am 14. April 2010 verstorbenen Onkel Heinrich Lauer