Cover

Leseprobe

David Jackson
Und zornig jagd die Angst
Nathan Codys vierter Fall

 

 

Ins Deutsche übertragen von Michael Krug

 

Über dieses Buch:

 

 

Der vierte Band der aufregenden Thriller-Serie um den Liverpooler Ermittler DS Nathan Cody

 

»Sara! Erinnere dich! Victoria und Albert. Mehr kann ich nicht sagen. Sie sind hier. Sie sind...«

 

Dies sind die letzten Worte, die Sara Prior jemals von ihrem Mann hören wird. Während DS Nathan Cody versucht, die rätselhafte Nachricht zu entschlüsseln und den brutalen Mord aufzuklären, wird bald klar, dass Sara keine gewöhnliche trauernde Ehefrau ist. Als sie versucht, die Ermittlungen selbst in die Hand zu nehmen, wird Sara in eine für sie völlig fremde und überaus gefährliche Welt hineingezogen. Und für Cody wird dieser düstere Fall überraschend persönlich…

 

»Erinnert an Harlan Coben, obwohl meiner Meinung nach Jackson der bessere Autor ist.« — The Guardian

 

Über den Autor:

 

 

David Jackson kam erst spät zum Schreiben von Krimis und Thrillern, nachdem er einen Großteil seines Lebens damit verbracht hatte, akademische Arbeiten und Berichte zu verfassen. Nach einigen begrenzten Erfolgen bei Kurzgeschichtenwettbewerben reichte er die ersten Kapitel eines Romans bei der Crime Writers Association für die Debut Dagger Awards ein. Zu Jacksons großer Überraschung kam das Buch nicht nur in die engere Auswahl, sondern erhielt die Auszeichnung Highly Commended, was schließlich mehrere Verlage auf ihn aufmerksam machte und zur Veröffentlichung des Thrillers „PARIAH“ führte.

Seitdem hat der Brite zahlreiche weitere Krimis und Thriller geschrieben, darunter zwei Serien sowie den Bestseller „Cry Baby“. Jackson arbeitet in Liverpool an der Universität und lebt mit seiner Frau, zwei Töchtern und einer Kurzhaar-Katze namens Mr. Tumnus auf der Halbinsel Wirral.

 

http://davidjacksonbooks.com/

 

ATG books

Band 049

Für die englische Originalausgabe: Copyright © 2019 by David Jackson

Titel der Originalausgabe: „Your Deepest Fear“

Für die deutschsprachige Ausgabe: Copyright © 2022 by ATG Books, ein Imprint von Audio-To-Go Publishing Ltd., Headford, Irland

Übersetzung: Michael Krug

Lektorat: Ulrike Gerster

Umschlaggestaltung: Audio-To-Go unter Verwendung eines Motivs von Tama66 / pixabay

ISBN 978-3-96519-049-8

 

Sie finden uns im Internet unter www.audio-to-go.de

 

 

 

Das ist für Peter,

der so viel mehr verdient.

 

1

 

 

Das Bedauern wird erst später einsetzen.

Sie wird sich wünschen, sie hätte schneller auf das Licht reagiert. Das winzige Licht, das mit einem eindringlichen Blinken seine Existenzberechtigung verkündet.

Dann jedoch wird sie rational darüber nachdenken und sich damit abfinden, dass es nichts geändert hätte. Es wäre beim selben verheerenden Ergebnis geblieben.

Wäre sie hingegen einen Tag früher nach Hause gekommen – ja, dann hätte es vielleicht völlig anders ausgesehen. Oder wenn sie nie gegangen wäre. Und eigentlich wollte sie auch gar nicht gehen. Wäre die Situation hier glücklicher gewesen, wäre sie geblieben. Jedenfalls wäre sie hier gewesen, um den Anruf entgegenzunehmen, und vielleicht, nur vielleicht, hätte sie eingreifen können.

Aber letztlich wird sie erkennen, dass es bei wahrem Glück gar nicht nötig gewesen wäre, den Anruf überhaupt entgegenzunehmen. Er wäre hier gewesen, bei ihr.

Sie wird sich wünschen, sie hätte sich viel mehr Mühe mit ihm gegeben. Sie wird sich fragen, ob sie zu einfach kapituliert und ihn seinem Schicksal überlassen hat.

Diese Gedanken werden sie für immer heimsuchen.

Aber vor dem Bedauern kommt der Zorn.

Und vor dem Zorn kommen die Tränen.

 

*

 

Sara Prior lächelt, als das Haus in Sicht gerät. Diese Wirkung hat es immer auf sie.

Es handelt sich um ein kleines Cottage am Rand von Halewood, das von den Vorbesitzern lange vernachlässigt worden ist, bevor Matthew und sie es gekauft haben. Sie hatte das Potenzial auf den ersten Blick erkannt. Die Abgeschiedenheit beunruhigte sie ein wenig, aber Matthew sehnte sich nach der Ruhe und dem Frieden.

Man kann das Haus weder als prächtig noch als bemerkenswert bezeichnen, aber es ist ihr Zuhause. Ihr gemeinsames Zuhause. Matthew und sie haben viel Mühe hineingesteckt, um es wieder auf Vordermann zu bringen. Stunde um Stunde, jeden Abend. Sie haben es perfektioniert.

Matthew ist hier. Überall in diesem Haus. In den Türen, die er ausgebaut hat, in den Dielen, die er repariert hat, in den Leitungen, die er installiert hat. Als sie sich kennengelernt haben, hatte er keine Ahnung vom Heimwerken. Als er gegangen ist, war er ein richtiger Fachmann geworden.

Als er gegangen ist ...

Sie seufzt. Und wünscht sich, er wäre im Haus. So wie früher, als er immer aufgeregt am Fenster auf ihre Rückkehr gewartet hat und zur Haustür gerannt ist, um sie mit großen Augen und einem albernen Grinsen zu begrüßen.

Eines Tages, denkt sie, wird es wieder so sein. Wenn er nur seine Fähigkeiten als Heimwerker benutzen könnte, um sich selbst zu reparieren.

Sie parkt auf dem Schotterplatz vor dem Haus und steigt aus, öffnet den Kofferraum und holt ihren Koffer heraus. Handgepäck, um die Wartezeit an den Gepäckbändern des Flughafens zu vermeiden.

Sie schließt das Auto ab und schleppt den Koffer ins Haus. Nachdem sie den Schlüssel herausgekramt hat, öffnet sie die Tür. Sie hebt ihre Post und die Gratiszeitungen dahinter auf.

Der Geruch drinnen ist vertraut und einladend. Duftstäbchen von Molton Brown auf der Anrichte im Flur. Daneben blinkt ein Lämpchen am Telefon und zeigt ihr damit an, dass Nachrichten auf dem Anrufbeantworter sind.

Sie können warten. Es werden bloß automatisierte Verkaufsanrufe oder Zahlungsaufforderungen für offene Rechnungen sein. Etwas anderes befindet sich nie darunter.

Sie lässt den Koffer in der Diele zurück und geht in die Küche. Tee hat im Augenblick höchste Priorität. Die lauwarme braune Brühe, die man ihr auf dem Flug serviert hat, ist der Bezeichnung nicht gerecht geworden.

Während der Kessel kocht, zieht sie den Mantel aus und öffnet die Post. Hauptsächlich Werbung, aber auch zwei Karten für West Side Story im Liverpool Empire. Eine Überraschung für Matthew. Sie rechnet zwar damit, dass er ablehnen wird, aber versuchen will sie es trotzdem. Er mag Musicals. Und wenn er Nein sagt, findet sie schon jemanden, der mit ihr hingeht.

Nein. Wird sie nicht. Entweder mit Matthew oder mit niemandem. Wenn er ablehnt, verschenkt sie die Eintrittskarten. So sieht die Wahrheit aus.

Ihr Vater würde es nicht verstehen. Er hat nie einen Hehl aus seiner Abneigung gegen Matthew gemacht. In seinen Augen ist ihr Ehemann schwach und rückgratlos. Er wollte, dass sie jemanden heiratet, der eher der typischen Vorstellung von einem Macho entspricht.

Was sie natürlich auch beinah getan hätte. Aber es sollte nicht sein.

Manchmal denkt sie, dass solche Dinge aus einem bestimmten Grund geschehen. Aus Schlechtem kann Gutes erwachsen. Und Matthew war gut.

»Warum gehst du überhaupt dorthin zurück?«, hat ihr Vater gestern Abend gefragt. »Er hat dich verlassen. Du könntest wieder zu uns ziehen. Oder ich kaufe dir eine eigene Wohnung. Was hat Liverpool dir jetzt noch zu bieten?«

Sie hat ihm klargemacht, dass sie nicht die Absicht hat, zurück nach Kopenhagen zu ziehen. Und dass sie jetzt ihr eigenes Leben hat. Es gefällt ihr hier.

Außerdem lebt Matthew hier, und sie ist noch nicht bereit, ihn aufzugeben. Morgen wird sie mit den Tickets bei ihm vorbeischauen. Sie wird mit ihm reden, weil sie glaubt, dass er das dringend braucht. Inzwischen sind es vier Monate, und sie versteht immer noch nicht ganz, warum er das Bedürfnis verspürt hat, auszuziehen.

Sie ist der Meinung, dass er sie braucht. Immerhin hat sie ihn aus sich herausgeholt, ihm etwas über das Leben beigebracht. Ihm eine Aufgabe gegeben und Glück beschert. Sogar beim Sex hat sie ihn unterwiesen.

Und dann ist etwas mit ihm passiert. Etwas, worüber er nicht reden will.

Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, dem auf den Grund zu gehen.

Während sie ihren Tee trinkt, versucht sie, sich daran zu erinnern, was noch im Gefrierschrank ist. Sie hat nämlich wirklich keine Lust, einkaufen zu gehen. Die viertägige Reise nach Kopenhagen hat sie ausgelaugt. Sie wusste, dass es so sein würde. Deshalb hat sie es so lange vor sich hergeschoben. Ihre Eltern wollten sie eigentlich für Weihnachten und Neujahr bei sich haben, aber zu der Zeit wollte sie sich unter keinen Umständen so weit weg von Matthew aufhalten. Die Festtage sind für viele Menschen der Auslöser für Selbstmord.

Kein Einkaufen heute, beschließt sie. Irgendwas finde ich schon.

Sie kehrt zurück in den Flur. Als sie nach ihrem Koffer greift, fällt ihr erneut das weiß blinkende Lämpchen am Telefon auf.

Sie streckt die Hand aus und drückt die Wiedergabetaste an der Basisstation. Eine Stimme teilt ihr mit, dass sie drei neue Nachrichten hat.

Sie legt den Koffer um und öffnet den Reißverschluss.

Die erste Nachricht wird abgespielt. Es ist das Ende einer Aufzeichnung, die sie über die Vorteile eines Heizkesselaustauschprogramms informiert.

Kopfschüttelnd fängt sie an, ihre schmutzigen Sachen aus dem Koffer zu holen.

Zweite Nachricht. Das Gasversorgungsunternehmen mit der Bitte um Rückruf. Die Telefonnummer wird zweimal durchgesagt, falls sie nicht weißt, wie man Nachrichten auf dem Anrufbeantworter erneut abspielt.

In Gedanken merkt sie sich vor, die Gasrechnung zu bezahlen. Sie sammelt ihre Kleidung zusammen, geht zurück in die Küche.

Als sie die nächste Stimme hört, hält sie abrupt inne.

Nicht nur, weil es Matthews Stimme ist, sondern auch, weil seine Worte in einem Tonfall blanken Grauens an ihre Ohren dringen.

»Sara! Erinnere dich! Victoria und Albert. Das ist alles, was ich sagen kann. Sie sind hier! Sie sind ... Sara, ich liebe dich. Ich ...«

Die Stimme reißt durch einen dumpfen Laut ab, der wie ein Handgemenge klingt. Es folgt etwas, das sich wie der Beginn eines markerschütternden Schreis anhört ...

Dann ist die Leitung tot.

 

2

 

 

Sara dreht sich langsam um, die Kleider nach wie vor in den Armen, auf denen sich inzwischen eine Gänsehaut ausgebreitet hat.

Was um alles in der Welt war das denn?

Dann wirft sie die Schmutzwäsche auf den Boden, rast zum Telefon und sucht das verflixte Gerät nach den Tasten ab, mit denen sie die letzte Nachricht erneut abspielen kann.

Hastig drückt sie die ihrer Meinung nach richtige Tastenfolge und betet, dass sie nichts löscht. Sie hält den Atem an ...

»Sara! Erinnere dich! Victoria und Albert. Das ist alles, was ich sagen kann. Sie sind hier! Sie sind ... Sara, ich liebe dich. Ich ...«

Dann folgen wieder die Geräusche. Als ob ihm jemand das Telefon aus der Hand gerissen hätte. Und als ob ...

Man hat ihn verletzt. Jemand hat meinen Matthew verletzt!

Ihr Gehirn überschlägt sich mit Fragen darüber, was die Nachricht bedeuten könnte. Aber es ist nicht der richtige Zeitpunkt, das zu analysieren. Vorrang vor allem anderen hat der flehentliche Ton in Matthews Stimme. Sie muss sofort reagieren, auf der Stelle handeln.

Sara reißt den Hörer aus der Halterung und geht die Kontakte durch, bis sie auf Matthews Nummer stößt. Sie drückt die Anruftaste, lauscht dem schier unerträglichen Geräusch, mit dem angezeigt wird, dass Matthews Telefon klingelt.

»Mach schon, mach schon, mach schon!«, drängt sie.

Aber es geht niemand ran.

Als ihr ein anderer Gedanke kommt, beendet sie den Anruf. Sie hört sich Matthews Nachricht noch einmal an. Diesmal achtet sie mehr darauf, was ihr der Anrufbeantworter darüber verrät.

Kurz nach zehn Uhr vormittags heute. Zu dem Zeitpunkt wurde die Nachricht hinterlassen. Und inzwischen ist es – sie blickt auf die Armbanduhr – nach vierzehn Uhr.

Das sind vier verdammte Stunden!

Sara rast zurück in die Küche, schnappt sich ihren Mantel und ihre Schlüssel. Sie rennt aus dem Haus und springt in den Wagen.

Während der Fahrt ruft sie über die Freisprechanlage erneut Matthews Nummer an. Immer und immer wieder, aber nie geht jemand ran.

Das ist übel, denkt sie. Es ist so, so falsch.

Ich wusste es! Ich wusste, ich hätte nicht nach Kopenhagen reisen sollen, verdammt. In was zum Teufel ist Matthew nur hineingeraten?

Obwohl sie sämtliche Geschwindigkeitsbegrenzungen überschreitet, erscheint ihr die Fahrt zu Matthews Haus entschieden zu lang. Warum musste er auch so weit weg in eine beschissene kleine Reihenhaussiedlung in Aintree ziehen?

Die Antwort darauf kennt sie. Es hat nicht nur daran gelegen, dass er sich nichts anderes leisten konnte. Auch nicht daran, dass es näher an seinem Arbeitsplatz in Bootle liegt, wie er behauptet hat. Sondern daran, dass es Entfernung zwischen sie gebracht hat. Das war der wahre Grund.

Als sie endlich mit quietschenden Reifen zum Stehen kommt, springt sie aus dem Auto und rennt zur weißen Eingangstür aus PVC. Sie klingelt, gleichzeitig hämmert sie mit dem Türklopfer.

Keine Reaktion.

Sara sinkt auf die Knie, klappt den Briefschlitz auf und späht hinein.

Drinnen herrscht eine unheimliche Stille. Keinerlei Anzeichen von Leben.

Sie bewegt den Mund zum Briefschlitz. »Matthew! Bist du da drin? Komm zur Tür!«

Wieder nichts.

Sie wird unsicher, was sie tun soll. Die Polizei anrufen? Damit die Beamten die Tür aufbrechen?

Vielleicht. Aber zuerst ...

Das Haus steht neben einem Schönheitssalon, derzeit geschlossen, weil es ein Sonntag ist. Auf der anderen Seite befindet sich eine Gasse.

Sieht Matthew ähnlich, dass er sich eine Bleibe ohne direkte Nachbarn ausgesucht hat!

Sara geht die Gasse entlang zur Rückseite des Hauses. Sie versucht es an der Tür zum Hinterhof. Abgesperrt.

Sie sieht sich die Gasse entlang in beide Richtungen um. Niemand beobachtet sie. Bei den anderen sichtbaren Gebäuden handelt es sich vorwiegend um Geschäfte, umgeben von Mauern mit Glasscherben oder Stacheldraht auf der Krone. Sara entfernt sich von Matthews Hinterhofmauer. Schließlich dreht sie sich um.

Und sprintet los. Springt. Ihre Hände schaffen es mit Müh und Not, die Oberkante der Mauer zu erreichen. Sie klammert sich daran fest, während sie mit den Füßen die Ziegelsteine hochläuft. Dabei wünscht sie sich, sie hätte eine Jogginghose und Turnschuhe an statt der schicken Reiseaufmachung, die sie immer noch trägt.

Sie schwingt ein Bein über die Mauer. Kurz verharrt sie rittlings darauf, dann hievt sie das andere Bein hinterher und lässt sich auf der anderen Seite zu Boden.

Matthews Hinterhof ist winzig. Er besteht hauptsächlich aus Beton, enthält jedoch auch eine rechteckige Rasenfläche, so klein, dass sie völlig sinnlos erscheint.

Das Haus wirkt unbelebt. Sara tritt ans Küchenfenster und späht hinein.

Drinnen erkennt sie Chaos.

Viele der Schubladen und Schränke sind offen. Ein Großteil des Inhalts – Besteck, Konserven, Haushaltsreiniger – wurde herausgerissen und über den Fliesenboden verstreut. Auf der Arbeitsplatte liegen umgekippte Müslischachteln.

Sara setzt den Weg durch den Hinterhof fort und bleibt am Wohnzimmerfenster stehen. Dasselbe Chaos. Aufgeschlitzte Kissen. Aus den Regalen gezogene und zu Boden geworfene Bücher. Aus den Rahmen gefetzte Bilder.

Als sie sich der Hintertür zudreht, weiß sie mit Sicherheit, dass der Wahnsinn drinnen nicht von Matthew in einem Tobsuchtsanfall stammt.

Eine der Glasscheiben der Tür ist eingeschlagen worden.

Jemand ist in dieses Haus eingebrochen.

Sara spürt, wie die Gänsehaut zurückkehrt. Sie streckt die Hand nach dem Knauf aus, dreht ihn. Die Tür öffnet sich.

Sie tritt ein, hört das Knirschen von Glasscherben unter ihren Schuhen. Kurz hält sie inne und lauscht, achtet auf Anzeichen von Gefahr.

Erneut betrachtet sie die Verwüstung in der Küche. Die Tür des Gefrierschranks steht offen, und das Gerät beschwert sich mit einem irritierenden Piepton über die steigende Temperatur. Auf dem Boden davor liegt ein Stapel verpackter Tiefkühllebensmittel in einer Pfütze von einer Tüte geschmolzener Eiswürfel. In der Spüle ist eine Mischung aus Nudeln, Reis und Mehl. Die leeren Tüten liegen achtlos beiseite geworfen auf dem Abtropfbrett.

Sara entdeckt einen Messerblock auf der Arbeitsplatte. Rasch geht sie hin und greift sich das größte Messer, das er enthält.

Mit heftig pochendem Herzen verlässt sie die Küche. Im Flur befinden sich zwei Türen zu ihrer Rechten und eine Treppe zu ihrer Linken. Leise bewegt sie sich auf die erste, halb offene Tür zu. Sie führt ins Wohnzimmer, in das Sara aus dem Hinterhof einen Blick geworfen hat, daher weiß sie, dass dort niemand ist. Trotzdem schiebt sie die Tür auf und sieht sich kurz um.

Beim nächsten Raum verhält es sich anders. Wieder ist die Tür angelehnt, und sie hört von drinnen nichts, dennoch geht sie kein Risiko ein.

Sie heftet den Blick auf den schmalen Spalt, um darauf zu achten, ob sich die Schatten auf der anderen Seite bewegen. Gleichzeitig durchsucht sie ihr Gedächtnis und versucht, eine mentale Karte des Raums zu erstellen, bevor sie sich einer möglichen Gefahr aussetzt.

Sie presst sich an die Wand, um an der Tür kein deutliches Ziel zu bieten. Mit einer Hand umklammert sie fest das Messer, als sie mit der anderen Hand die Tür aufschiebt.

Die sich schneller als erwartet öffnet. Dann jedoch wird sie mit einem dumpfen Knall von etwas gebremst, gefolgt vom Klappern irgendwelcher Gegenstände, die auf den Boden fallen.

Scheiße!

Sie wagt einen Blick hinein. Dann einen zweiten. Schließlich betritt sie das Zimmer mit dem Messer im Anschlag.

Niemand da.

Sara erkennt, dass die Tür gegen einen kleinen Tisch gestoßen ist, der von seinem üblichen Platz verschoben wurde. Durch den Aufprall sind eine Lampe und ein Zierstück aus Holz zu Boden gefallen, aber das ist noch das Harmloseste in dem Zimmer. Matthew besitzt eine umfangreiche, über viele Jahre entstandene CD-Sammlung, und Sara kann sehen, dass sämtliche CD-Hüllen, die einst in den Regalen gestanden haben, geöffnet und auf den Boden geworfen wurden.

Sara starrt auf den Haufen hinab. Sie entdeckt Cover, die Erinnerungen aus ihrem Gedächtnis hervorzerren. An die guten Zeiten. All die gemeinsam angehörten Songs so weggeworfen zu sehen, lässt ihr einen Kloß in den Hals steigen.

Aber das ist nicht der richtige Zeitpunkt für Sentimentalität. Es könnten noch Eindringlinge im Haus sein. Eindringlinge, die das von ihr verursachte Geräusch gehört haben könnten und nun auf eine Gelegenheit lauerten, ihr den Schädel einzuschlagen.

Sie verlässt das Zimmer und nähert sich der Treppe mit langsamen, vorsichtigen Schritten.

An der untersten Stufe hält sie erneut ein paar Sekunden inne und lauscht aufmerksam. Dann steigt sie hinauf, den Blick auf den Absatz über ihr geheftet.

Oben angekommen bleibt sie stehen und nimmt einen weiteren Rundumblick vor. Die Tür zum kleinen Badezimmer steht weit offen. Sie kann sehen, dass sich niemand darin aufhält. Ein Raum abgehakt, noch zwei übrig.

Die Tür zum hinteren Schlafzimmer – das Matthew als Büro nutzt – ist vollständig geschlossen. Sara kann es unmöglich betreten, ohne ein weiteres Geräusch zu verursachen.

Sie beschließt, es sich bis zum Schluss aufzuheben.

Leise schleicht sie den Treppenabsatz entlang. Als sie das vordere Schlafzimmer erreicht, atmet sie mehrmals tief, aber leise durch. Dann presst sie sich wie zuvor an die Wand, während sie die Tür aufschiebt. Sie öffnet sich mit einem leichten Knarren, aber es stürmen ihr keine Eindringlinge entgegen.

Geräuschlos schleicht Sara in das Zimmer. Dasselbe Muster wie überall sonst im Haus erwartet sie. Laken und Matratze liegen auf dem Boden, Kleider wurden aus den Schränken gerissen, Schubladen auf den Kopf gestellt.

Also weiter zum letzten Raum.

Sie kehrt den Treppenabsatz entlang zurück und starrt eine lange Weile eindringlich auf die geschlossene Tür. Sara drückt das Ohr an das lackierte Holz, hört jedoch nichts auf der anderen Seite. Sie betrachtet die Tür noch einmal, dann legt sie die Hand auf den Knauf und atmet tief durch.

Also los ...

Sie dreht den Griff und stößt die Tür auf.

Geradeaus vor ihr steht Matthews Computertisch. Die Schubladen wurden herausgezogen und umgedreht, von seinem Laptop fehlt jede Spur.

Sara springt ins Zimmer, den Arm mit Messer vor sich gestreckt. Sie ist gewappnet. Wenn die Eindringlinge hier sind, ist sie bereit, gegen sie zu kämpfen, sie zu verstümmeln, sie zu ...

Nein.

Darauf jedoch ist sie nicht gefasst.

Bitte, Gott, nicht das.

Matthew ist hier.

Sara geht zu ihm, legt das Messer weg, damit sie die Hände frei hat, obwohl sie in der Situation nichts damit anzufangen weiß. Sie weiß nicht, wie sie Hilfe leisten kann. Das übersteigt alles, was sie je erlebt hat – und sie hat schon viel erlebt.

Matthew liegt auf dem Boden. Nackt, alle viere von sich gestreckt.

Und tot. Sehr tot. Sara hat genug Tote gesehen, um es zu wissen.

Für Matthew ist es wahrscheinlich ein Segen. Man hat ihn an den Boden genagelt. Dicke Nägel aus Stahl wurden durch seine Arme, seine Beine und sogar seine Genitalien getrieben. Rinnsale aus hellem Blut sind über seine blasse Haut gelaufen und haben sich unter ihm zu einer Lache gesammelt. Sein Mund ist in einem letzten, qualvollen Schrei erstarrt aufgerissen, die Augen sind in den Höhlen nach oben gerollt.

Er muss entsetzlich gelitten haben. Etwas anderes ist ausgeschlossen.

»Matthew«, stößt sie hervor. »Es tut mir leid. So leid.«

Sie streckt die Hand zu seinem Gesicht aus und schließt seine Lider. Dann weint sie. Und als ihr wieder einmal klar wird, dass Tränen nichts bewirken, gräbt sie tief in sich, findet Wut, Ansporn, Überlebenswillen, hebt das Messer auf und sticht damit wieder und wieder auf die Dielen ein.

 

3

 

 

Detective Sergeant Nathan Cody ist sich nicht sicher, wie er die Sache angehen soll, aber er ist bereit, es zu versuchen.

Er rollt hinter einen der zahlreichen Streifenwagen, steigt aus und marschiert mit schnellen Schritten die Straße entlang. Als er das Haus erreicht, entdeckt er die Gestalten von Webley und Ferguson, die trotz der weißen Schutzanzüge vertraut wirken.

»Warum hat das so lang gedauert?«, fragt Webley. »Wir dachten schon, du hättest beschlossen, drauf zu pfeifen.«

Megan Webley nimmt sich bei ihrem Sergeant einiges heraus und kommt ungeschoren damit davon. Was nichts damit zu tun, dass Cody ein Waschlappen ist, sondern damit, dass sie einst die Liebe seines Lebens war. Das ist Jahre her. Aber seit das Major Incident Team sie beide wieder zusammengeführt hat, haben sie viel durchgemacht, sowohl körperlich als auch emotional. Unfreiwillig wurden Bande neu geknüpft und festigen sich weiter. Die meiste Zeit verschließt Cody die Augen davor, aber manchmal überrascht ihn die Stärke seiner Gefühle für Webley.

»Ich musste mich noch um ein paar Dinge kümmern«, erwidert Cody, obwohl er weiß, dass die Antwort lahm ist und niemanden überzeugen wird. »Ist die Chefin hier?«

Webley beäugt ihn argwöhnisch. »Drinnen. Alles in Ordnung?«

»Ja, klar. Warum auch nicht?«

Webley wechselt einen Blick mit der hochaufragenden Gestalt von Neil »Anakonda« Ferguson, der neben ihr steht.

»Nur so«, erwidert Webley.

Cody kommt der Gedanke, dass es nicht wie geplant läuft. »Wart ihr schon drin?«

»Nein. Ist anscheinend ein schräger Fall. Man hat den Kerl an den Boden genagelt.«

»Lieber Herr Jesus.«

»Nein«, widerspricht Anakonda. »Den haben sie ans Kreuz genagelt. Aber ähnliches Konzept.«

»Wer ist er?«

»Der Name ist Matthew Prior. Hat allein hier gewohnt, getrennt von seiner Frau. Sie hat die Leiche gefunden und Meldung erstattet.«

»Meint ihr, es könnte ein Verbrechen aus Leidenschaft sein?«

Anakonda zuckt mit den Schultern. »Vielleicht. Sie hat ausgesagt, dass sie in einem Flug nach Manchester gesessen hat, als es passiert ist. Das heißt aber nicht, dass sie nicht jemand damit beauftragt haben könnte. Ich werd immer misstrauisch, wenn jemand ein hieb- und stichfestes Alibi hat.«

Cody nickt. »Okay. Dann schlüpfe ich mal in ’nen Schutzanzug.«

Er wendet sich zum Gehen. Und hält inne, als er hinter sich einen Ruf hört.

»Cody!«

Er dreht sich wieder um. Die stämmige Gestalt von DCI Stella Blunt kommt aus dem Haus auf ihn zu.

»Was machen Sie hier?«, verlangt sie von ihm zu erfahren.

Cody setzt seine beste Unschuldsmiene auf. »Ma’am?«

»Treiben Sie keine Spielchen mit mir«, warnt sie ihn. Sie wendet sich an Webley und Ferguson. »Sie beide – rein da und machen Sie sich nützlich.«

Cody beobachtet, wie seine beiden Kollegen ihn ansehen, bevor sie ihn widerstrebend seinem Schicksal überlassen. Ihre Gesichter versprechen ihm für später eine Flut von Fragen.

Blunt wartet, bis sie verschwunden sind, dann zieht sie sich die Kapuze ihres weißen Schutzanzugs vom Kopf. »Ich war der Meinung, ich hätte Sie mit reichlich Arbeit eingedeckt.«

»Haben Sie auch, aber ich dachte, Sie könnten mich hier brauchen.«

»Ach, tatsächlich?«

»Ja.«

»Cody, diese Diskussion hatten wir schon. Ich dachte, ich hätte klar und deutlich zum Ausdruck gebracht, dass Sie sich keinen Tatorten mit Todesopfern nähern sollen, bis Sie dafür grünes Licht von mir kriegen.«

»Ma’am, ich bin kein Kind. Wenn ich der Ansicht wäre, ich könnte es nicht verkraften, würde ich es sagen.«

»Nein. Und genau das ist der springende Punkt. Würden Sie nicht. Sie würden es für sich behalten, wie Sie’s immer tun. Und Sie sind gerade erst nach einer ziemlich traumatischen Tortur zurück, durch die Sie sogar im Krankenhaus gelandet sind.«

»Das war bloß eine Vorsichtsmaßnahme, mehr nicht. Mir hat nichts gefehlt.«

»Die Ärzte würden das wohl anders sehen. Soweit ich weiß, waren Sie in ziemlich übler Verfassung. Außerdem rede ich gar nicht von den körperlichen Verletzungen.« Sie tippt sich an die Schläfe. »Mich beunruhigt, was sich hier oben abspielt.«

»Ich hab schon Schlimmeres durchgemacht.«

»Ja, das ist mir sehr wohl bewusst, und genau darum geht es mir. Niemand, der das erlebt, was Sie durchgemacht haben, bleibt davon unberührt. Ich habe eine Sorgfaltspflicht, Nathan. So sehr ich meine besten Ermittler auf den Fall ansetzen möchte, ich muss auch an ihr Wohlergehen denken. Ich werde nicht riskieren, dass Sie einen bleibenden psychischen Schaden davontragen.«

»Und was heißt das jetzt? Fesseln Sie mich an den Schreibtisch?«

»Natürlich nicht. Ich will Ihre Mithilfe. Aber ich will Sie nicht mitten an einem Tatort haben, der Sie in ein sabberndes Nervenbündel verwandeln könnte.«

»Wie lange? Ich meine, wie lange wird es dauern, bis Sie mir zutrauen, dass ich meine Arbeit uneingeschränkt erledigen kann?«

»Auch darüber haben wir gesprochen. Haben Sie schon einen Termin vereinbart?«

Cody wendet den Blick ab, tappt mit dem Fuß.

»Noch nicht. War zu beschäftigt mit dem ganzen Papierkram, den Sie mir aufgehalst haben.«

»Das dachte ich mir schon. Gut, dass ich es für Sie erledigt habe, nicht wahr?«

Er sieht sie wieder an. »Was? Ma’am, ich muss nicht zum Seelenklempner.«

»Doch, Nathan, müssen Sie. Genau das müssen Sie, wenn Sie in meinem Team bleiben wollen. Ihre erste Sitzung ist morgen früh um neun.«

»Erste Sitzung? Wie viele muss ...«

»Ihre Praxis ist in der Rodney Street. Direkt in ihrer Straße. Das heißt, Sie haben keine Ausrede, nicht dort aufzukreuzen. Die Polizei setzt sie oft in solchen Fällen ein, und sie ist nicht billig. Wenn ich also rausfinde, dass Sie den Termin schwänzen, können Sie sich auf was gefasst machen. Ist das klar?«

Cody schaut wieder in die Ferne. Mittlerweile schäumt er innerlich. Aber er hat wohl kaum eine Wahl.

»Und bis dahin? Womit soll ich mich beschäftigen, während Sie alle da drin sind und das tun, was ich tun sollte?«

»Jetzt stellen Sie sich nicht so bockig, Nathan. Das kommt bei niemandem gut. Sie können beim Organisieren der Befragung der Nachbarn helfen. Danach fahren Sie zurück aufs Revier und reden mit der Ehefrau des Opfers.«

»Super«, brummt Cody mürrisch.

Blunt tritt einen Schritt näher zu ihm und senkt die Stimme. »Hören Sie, Nathan, ich mache das nicht, um Sie loszuwerden. Das ist das Letzte, was ich will. Aber wir wissen beide, dass sich das schon länger abgezeichnet hat. Sie müssen zugeben, dass Ihr Verhalten manchmal ein bisschen ... unberechenbar sein kann. Tun Sie das für mich, lassen Sie sich die Diensttauglichkeit bescheinigen, und ich liege Ihnen nicht mehr damit in den Ohren. Abgemacht?«

Cody sieht sie an. »Na schön«, willigt er ein. »Was immer nötig ist.«

Allerdings ist er immer noch wütend.

Und mehr als ein bisschen verängstigt.

 

4

 

 

»Was haben Sie für mich, Rory?«

Gerichtsmediziner Rory Stroud dreht die gewaltige Masse Blunt zu. »Ich kann Ihnen eine krasse Imitation von Cary Grant anbieten. Judy, Judy, Judy. Was halten Sie davon?«

»Geben Sie Ihren Brotberuf lieber nicht auf. Außerdem hat Cary Grant das nie wirklich gesagt.«

»Echt nicht?«

»Nein. Könnten wir bitte dabei bleiben, was Sie mir vorläufig über den Fall sagen können?«

»Für Sie, Stella, tue ich alles.«

Webley merkt Stroud an, dass er hinter der Gesichtsmaske ein breites Grinsen aufgesetzt hat. Der forensische Pathologe ist berühmt für sein Händchen bei Frauen.

Stroud deutet mit den behandschuhten Fingern auf die Leiche am Boden. »Das ist keine angenehme Art, abzutreten. Jemand hat dafür gesorgt, dass der Bursche nicht schnell gestorben ist.«

»Wie lange hat es gedauert?«

Stroud saugt geräuschvoll Luft durch seine Maske ein. »Schwer zu sagen. Könnten Stunden gewesen sein. Sehen Sie, wie die meisten Nägel durch die fleischigen Ränder der Gliedmaßen getrieben wurden, nicht durch den Kopf oder den Rumpf? Das deutet darauf hin, dass die Täter vermeiden wollten, wichtige Arterien und innere Organe zu treffen. Sie wollten ihn lebendig und mit Schmerzen.«

»Was also hat ihn umgebracht?«

»Auch das ist nicht leicht zu sagen, bevor ich ihn obduziert habe. Hier ist eine Menge Blut, er könnte also verblutet sein. Genauso gut ist möglich, dass einfach sein Herz versagt hat. Sein Körper muss unter immensem Stress gestanden haben. Um ehrlich zu sein, vermute ich, dass er um Erlösung gebetet hat.«

Webley hält den Blick auf den Leichnam gerichtet. Sie hat schon einige schockierende Anblicke erlebt, aber dieser steht weit oben in der Liste. Wie kann irgendjemand einem anderen Menschen so etwas antun?

Blunt sagt: »Ich weiß jetzt schon, wie Sie antworten werden, aber der Vollständigkeit halber frage ich trotzdem. Können Sie mir irgendwas über den Todeszeitpunkt sagen?«

Stroud lacht. »Ihnen kann wirklich niemand vorwerfen, Sie wären nicht gründlich, meine liebe Stella. Sie kennen also die Standardantwort des Rechtsmediziners auf die Frage?«

»Die ist in mein Herz graviert. Herausfinden, wann das Opfer zuletzt lebend gesehen wurde, herausfinden, wann die Leiche entdeckt wurde – und voilà, der Todeszeitpunkt liegt irgendwo dazwischen. Oder überraschen Sie mich heute?«

»Kommt drauf an. Geh ich recht in der Annahme, dass die Frau des Opfers heute Morgen einen Anruf von ihm erhalten hat?«

»Gegen zehn wurde eine Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter hinterlassen.«

»Und gefunden hat sie die Leiche um?«

»Ungefähr 14:45 Uhr.«

»Dann nein – keine Überraschung. Die Zeitangaben stimmen mit meiner vorläufigen Schätzung überein.«

Blunt seufzt schwer. »Was ist mit der Anzahl der Täter?«

»Schwer zu sagen. Das Haus sieht zwar aus, als hätte eine Rugbymannschaft darin gewütet, könnte aber auch sein, dass nur eine Person alles angerichtet hat. Sehen Sie die Spuren da am Kopf des Opfers? Wenn das die ersten Schläge waren, könnten sie gereicht haben, um ihn zu überwältigen oder vielleicht sogar auszuknocken. Und sobald die ersten Nägel drin waren, konnte er sich nicht mehr bewegen.«

Blunt starrt erneut auf den Leichnam. »Armer Teufel.«

Stroud nickt. »Ich hab jetzt das Problem, ihn erst mal vom Boden zu lösen, damit ich ihn ins Leichenschauhaus bringen kann.«

»Viel Glück dabei«, sagt Blunt.

Webley beobachtet, wie ihre Vorgesetzte den Blick aufmerksam durch das Zimmer wandern lässt. Sie fragt sich, was Blunt durch den Kopf geht. All die Jahre der Erfahrung, die sie einbringt ... Was sieht sie? Welche Schlussfolgerungen zieht sie gerade?

Webley hegt große Bewunderung für Blunt. Noch mehr, seit sie von ihrer größten Schwachstelle erfahren hat. Nicht mal Cody weiß von dieser Leiche in Blunts Keller.

Obwohl sie vermutet, dass irgendwas zwischen den beiden abläuft. Warum wurde Cody daran gehindert, das Haus zu betreten? Und wo ist er jetzt?

Blunt bewegt sich vorsichtig über die Trittplatten zu einer anderen weiß gekleideten Gestalt. »Dev? Was können Sie mir sagen?«

Dev Chandra, Leiter der Spurensicherung, dreht sich Blunt zu. »Auf den ersten Blick sieht alles danach aus, als hätte jemand nach irgendwas gesucht und wollte es unbedingt. Eindeutige Anzeichen für einen Einbruch durch die Hintertür, penible Durchsuchung sämtlicher Räume und zuletzt Folterung des Opfers, als wollte jemand um jeden Preis Informationen aus ihm herausquetschen. Allerdings kann der Schein auch trügen.«

»Fehlt irgendetwas, soweit Sie es beurteilen können?«

Chandra deutete zum Schreibtisch. »Der Computer. Den finden wir nicht. Aber ohne eine vollständige Inventaraufstellung ist natürlich schwer zu sagen, was sonst noch entwendet worden sein könnte. Wir suchen, so gut wir können. Aber wie Sie ja sehen, herrscht hier das reinste Chaos.«

»Verstehe. Was ist mit forensischen Beweisen?«

»Jede Menge. Fasern, Blutspritzer, Fingerabdrücke, Fußabdrücke, DNA – das volle Programm. Nur wissen wir noch nicht, von wem. Könnte von den Tätern, vom Opfer, der Ehefrau oder früheren Besuchern stammen. Aber etwas sticht heraus.«

»Und was?«

»Kommen Sie mit.«

Chandra führt Blunt aus dem Raum. Webley folgt ihnen.

»Hier«, sagt Chandra. Er holt eine Taschenlampe hervor, schaltet sie ein und richtet den Lichtstrahl auf den Geländerpfosten. »Sehen Sie?«

Webley schiebt sich hinter Blunt und reckt den Hals, um einen genaueren Blick zu erhaschen.

»Ein Fingerabdruck«, stellt Blunt fest. »In Blut.«

»Eindeutig«, bestätigt Chandra. »Wenn es Priors eigenes Blut von dem Angriff auf ihn ist, kann er unmöglich hier einen Abdruck hinterlassen haben.«

»Ist es ein guter Abdruck?«

»Ein Teilabdruck, sieht aber für meine Augen ziemlich klar definiert aus. Hoffen wir, dass wir ihn einem bekannten Verbrecher zuordnen können.«

Blunt richtet sich auf. »Danke, Dev. Gute Arbeit. Halten Sie mich auf dem Laufenden.«

Als sich Chandra wieder seiner Aufgabe der Beweismittelsicherstellung zuwendet, dreht sich Blunt zu Webley um.

»Genug gesehen?«, fragt sie. »Ich für meinen Teil könnte ein bisschen frische Luft vertragen.«

Webley nickt, dann folgt sie Blunt die Treppe hinunter und aus dem Haus. Beide nehmen die Kapuzen und die Gesichtsmasken ab.

»Okay, Megan«, sagt Blunt. »Sie haben dasselbe gesehen wie ich. Was denken Sie?«

»Ich denke ... Ich denke, dass Dev wohl recht haben muss. Jemand hat nach irgendwas gesucht. Die Täter sind durch jeden Raum gegangen und haben ihn verwüstet, um es zu finden. Und sie haben Prior gefoltert, um aus ihm herauszupressen, wo es ist.«

»Okay, nächste Frage: Was ist es? Wonach haben sie gesucht?«

Webley schüttelt den Kopf. »Ich hab keine Ahnung.« Sie schaut zurück zu dem kleinen, unscheinbaren Haus. »Was könnte der arme Teufel wohl besessen haben, das so viel Aufwand wert ist?«

»Und«, fügt Blunt hinzu, »warum wollte er nicht damit herausrücken, was er gewusst hat? Mir bräuchte man einen dieser Nägel nur zu zeigen, schon würde ich mit allem heraussprudeln, wonach ich gefragt werde, das kann ich Ihnen versichern.«

 

5

 

 

Codys Angst hat sich verstärkt, seit er zurück im Revier ist.

Er steckt in der Zwickmühle. Solange er sich nicht den Sitzungen mit einer Psychoärztin unterzieht, darf er sich nicht in vollem Umfang an Ermittlungen beteiligen. Andererseits: Was, wenn die Ärztin fündig wird? Was, wenn es Cody unmöglich ist, alles für sich zu behalten, was er nicht ausplaudern darf?

Die Zwangsbeurlaubung hat nicht geholfen. Seit seinem letzten Fall ist er ein Wrack. All seine Probleme sind mit voller Wucht zurückgekehrt. Die Schlaflosigkeit, die Angstzustände, die Halluzinationen. Blunt hat an diesem Nachmittag eine weise Entscheidung getroffen. Cody ist sich nicht sicher, wie er einen Tatort verkraftet hätte, der nach etwas von Dante oder Bosch klingt.

Also ja, denkt er. Ich bin krank. Keine Besserung in Sicht.

Und meine größte Sorge ist, dass eine Psychiaterin es einen Kilometer gegen den Wind wittern wird.

»Kann ich bitte Wasser haben?«

Die Stimme holt ihn abrupt zurück ins Hier und Jetzt. Er befindet sich in einem Befragungsraum – einem der weniger einschüchternden im Revier, mit bequemen Stühlen, Pflanzen und Bildern an der Wand. Ihm gegenüber sitzt Sara Prior. Schlank, blond, wolfsblaue Augen und ein Akzent, den Cody nicht ganz zuordnen kann. Und da ist noch etwas an dieser Frau. Eine nicht nachvollziehbare Unnahbarkeit.

»Entschuldigung«, sagt er. »Ja, natürlich. Möchten Sie lieber Tee oder Kaffee?«

Sie schüttelt den Kopf. »Wasser reicht.«

Er schenkt aus dem Krug etwas Wasser in einen Plastikbecher ein, den er ihr reicht.

Sie nickt zum Dank.

»Mir ist klar, wie schwer das für Sie sein muss«, sagt er. »Aber je schneller wir handeln, desto wahrscheinlicher ist es, dass wir die Täter fassen.«

»Es ist nicht schwer für mich«, entgegnet sie. »Stellen Sie ruhig Ihre Fragen.«

Ihre Reaktion überrascht Cody. Sie wirkt so ruhig, so rational.

»Okay«, sagt er. »Aber ich kann verstehen, wenn Sie es als aufwühlend empfinden. Wenn Sie zu irgendeinem Zeitpunkt eine Pause brauchen, geben Sie bitte einfach ...«

»Es geht mir gut. Bitte, was wollen Sie wissen?«

Eindringlich blickt er in jene Wolfsaugen. Sie zuckt mit keiner Wimper, starrt nur herausfordernd zurück. Cody vermutet, dass viele Menschen unter einem solchen Blick einknicken würden.

Er überfliegt die wenigen Notizen, die er vor sich hat. »Matthew Prior war Ihr Ehemann, richtig?«

»Korrekt.«

»Aber Sie haben nicht mit ihm zusammengelebt?«

»Nein.« Sie deutet mit einer Handbewegung auf den Papierkram vor Cody. »Meine Adresse steht da auf Ihrem Formular. Ich wohne in Halewood.«

»Wie lange leben Sie schon getrennt voneinander?«

»Seit ungefähr vier Monaten.«

»Und davor haben Sie beide unter der Adresse in Halewood gewohnt?«

»Ja.«

»Wie lange waren Sie verheiratet?«

»Etwa drei Jahre.«

»Hatten Sie die Absicht, sich scheiden zu lassen?«

»Nein.«

»Darf ich dann fragen, warum Sie sich getrennt hatten?«

»Nein, dürfen Sie nicht. Ich weiß wirklich nicht, inwiefern das für den Mord an Matthew relevant sein könnte. Eigentlich weiß ich auch nicht, warum irgendeine dieser Fragen über meine Beziehung mit Matthew relevant sein soll.«

Cody ringt sich für sie ein Lächeln ab. Leicht macht sie es ihm zwar nicht, aber manchmal kann ein Lächeln wahre Wunder bewirken.

»Tut mir leid. Vielleicht hilft es, wenn ich erkläre, wie wir vorgehen. Ich bin nicht bloß neugierig. Ich versuche, mir ein Bild von Matthews Verhältnissen zu machen. Wie er gelebt hat, welche Vorlieben und Abneigungen er hatte, mit wem er in Kontakt gestanden hat, der einen Grund gehabt haben könnte, ihn umzubringen. Im Moment weiß ich noch nicht, was relevant ist und was nicht. Gut möglich, dass neunundneunzig Prozent davon, was Sie mir bei dieser Befragung mitteilen, null Auswirkungen auf die Ermittlungen haben. Aber das eine übrige Prozent könnte den Fall knacken. Auf dieses eine Prozent bin ich aus.«

Sie schweigt einige Sekunden, bevor sie nickt. »Sie haben recht. Ich kann nachvollziehen, dass Sie nur Ihre Arbeit machen. Bitte fahren Sie fort.«

Cody kommt sich vor, als hätte er soeben die königliche Erlaubnis erhalten, einen für Normalsterblichen sonst nicht zugänglichen Bereich zu betreten. Er räuspert sich.

»Okay, also was hatte es mit der Trennung auf sich? Wenn Sie die Frage gestatten.«

Sie trinkt einen Schluck von ihrem Wasser. »Es hat keinen handfesten Grund gegeben. Keine Affären oder häusliche Gewalt, falls Sie das wissen wollen. Wir haben nur etwas Zeit getrennt voneinander gebraucht.«

»Nach nur drei Jahren?«

»So was kommt vor.« Kurz denkt sie über ihre Antwort nach. »Vielleicht wäre es präziser zu sagen, dass Matthew etwas Freiraum gebraucht hat.«

»Freiraum? Warum? Hat ihm etwas zu schaffen gemacht?«

»Nichts Bestimmtes. Sie müssen über Matthew wissen, dass er ein sehr zurückgezogener Mensch ist – war. Sozial unbeholfen. Die kleinsten Kleinigkeiten konnten ihn aufregen. Wenn ein Taxi eine Minute Verspätung hatte, ist er besorgt auf und ab gelaufen. Wenn er Kopfschmerzen hatte, hat es gleich ein Hirntumor vermutet. Er war sehr introvertiert. Als wir uns kennengelernt haben, war ich es, die ihn um ein Date bitten musste.«

»Also haben sie ihn als anstrengend empfunden?«

»Überhaupt nicht. Ich habe ihn immer als sehr pflegeleicht empfunden. Und ich denke, er hat zu schätzen gewusst, was ich ihm verschafft habe.«

»Und das wäre?«

»Ein Leben. Ich weiß, das klingt dramatisch, aber Matthew hatte kein richtiges Leben, bevor wir zusammengekommen sind. Er war so sehr an seine eigene Gesellschaft gewöhnt. Abgesehen von der Arbeit ist er nirgendwo hingegangen, hat nichts unternommen. Vor mir hatte er nie eine längerfristige Beziehung. Seine einzigen sozialen Kontakte hatte er über Computerspiele.«

Als Cody das verdaut, kommt es ihm unangenehm bekannt vor. Sein eigenes derzeitiges Leben unterscheidet sich gar nicht so sehr von dem des armen Matthew.

»Aber Sie haben das alles geändert? Ihn glücklich gemacht?«

»Ja. Es mag eingebildet klingen, aber ich denke, das habe ich. Wir waren in vielerlei Hinsicht gegensätzlich, aber das hat uns zusammengebracht. Ich wollte jemanden, der nicht überheblich, ehrgeizig oder arrogant ist. Matthew wollte jemanden, der ihn aus seinem Schneckenhaus holt und ihm zeigt, dass man im Leben auch Spaß haben kann, wenn man bereit ist, ein paar Risiken einzugehen.«

»Klingt, als hätten Sie beide sich perfekt ergänzt. Wann hat es angefangen, nicht mehr zu passen?«

»Ich würde sagen, Anfang letzten Jahres. Da wurde er sehr ... mürrisch. In sich gekehrt. Er hat aufgehört, mit mir zu reden, wollte keine Zeit mehr mit mir verbringen.«

»Aber Sie wissen nicht, was die Ursache dafür gewesen sein könnte?«

»Nein. Ich habe keine Ahnung. Ich hab zwar versucht, eine Erklärung aus ihm herauszubekommen, aber er hat sich strikt geweigert, darüber zu reden. Als ich ihm vorgeschlagen habe, zusammen zur Eheberatung zu gehen, wollte er auch davon nichts hören.«

»Haben Sie sich gestritten?«

»Nicht wirklich. Manchmal habe ich ihm gegenüber die Beherrschung verloren, aber hauptsächlich hat mich frustriert, dass ich ihm nicht helfen konnte. Ihm ist nicht entgangen, wie unglücklich er mich damit gemacht hat. Da hat er mir mitgeteilt, dass er ausziehen würde.«

»Was haben Sie gesagt?«

»Was konnte ich schon sagen? Er hat zu mir gemeint, er bräuchte Zeit, um mit sich ins Reine zu kommen. Ich konnte es nur akzeptieren. Eine andere Wahl hatte ich nicht. Ich habe immer gehofft, er würde zurückkommen.«

»Haben Sie sich nach seinem Auszug weiterhin gesehen?«

»Ja. Ich war alle paar Tage bei ihm zu Hause, hab ihm Essen und Geschenke gebracht. Und ich habe immer wieder versucht, ihn zum Reden zu bringen.«

»Hat es funktioniert?«

Sie blinzelt. »Ich ... Ich wünschte, ich könnte das bejahen, aber das wäre nicht wahr. Er schien mit jedem Tag unglücklicher zu werden.«

»Aber er hat Ihnen nie einen Hinweis darauf gegeben, was los war?«

»Nein. Jetzt wünschte ich mir, ich wäre beharrlicher gewesen. Ich glaube, ich hätte irgendetwas unternehmen können, wenn er es mir gesagt hätte. Aber jetzt ...«

»Ja?«

»Jetzt ist es zu spät.«

 

6

 

 

Cody beschleicht der Eindruck, dass hier irgendetwas nicht stimmt. Es liegt daran, wie sich Sara Prior verhält.

Bei Gesprächen mit trauernden Angehörigen in Räumen wie diesem hat er schon praktisch alles erlebt. Die gesamte Bandbreite von Emotionen. Manche weinen. Manche verfallen in Schock oder Verleugnung. Andere werden ohnmächtig. Wieder andere toben oder werden gar gewalttätig.

Auf Sara trifft nichts davon zu. Sie wirkt unheimlich entspannt, während sie auf dem Stuhl sitzt, an ihrem Wasser nippt und seine Fragen beantwortet. Cody hat schon Leute erlebt, die bei Vorstellungsgesprächen nervöser waren. Sie behauptet, ihrem Ehemann treu ergeben gewesen zu sein. Warum also verursacht ihr sein Ableben nicht mehr Kummer? Was verheimlicht sie?

»Schildern Sie mir, was heute passiert ist. Wie haben Sie von der Sache mit Matthew erfahren?«

»Auf dem Anrufbeantworter war eine Nachricht. Ich ...«

»Da waren sie gerade vom Flughafen gekommen, ist das richtig?«

»Ja. Aus Manchester.«

»Wo sind Sie gewesen?«

»In Kopenhagen. Ich komme ursprünglich von dort. Ich habe meine Familie besucht. Mein Mädchenname ist Olsen.«

»Ah, Sie sind Dänin. Ich hab schon versucht, den Akzent einzuordnen. Ihr Englisch ist ausgezeichnet.«

»So gut wie jeder in Kopenhagen spricht ein wenig Englisch. Mein Vater hat darauf bestanden, dass wir es so viel wie möglich benutzen. Er hatte für mich große Visionen von einer Zukunft im globalen Finanzwesen.«

Cody fällt auf, dass sie sein Kompliment gar nicht zu registrieren scheint. Sie nimmt es nicht mal mit einem knappen Nicken zur Kenntnis.

»Okay«, fährt er fort. »Sie sind also nach Hause gekommen ...«

»Ja, und da hab ich gesehen, dass ich Nachrichten hatte. Zuerst habe sie ignoriert. Ich habe mir eine Tasse Tee gemacht und sie völlig vergessen. Aber dann bin ich zurück in den Flur gegangen, um meinen Koffer zu holen. An der Stelle habe ich mir die Nachrichten angehört.«

»Wie viele waren es?«

»Drei, aber nur eine von Matthew.«

»Was hat er gesagt?«

»Es war ... Es war sehr seltsam. Er war eindeutig wegen irgendetwas aufgeregt. Er hat so was gesagt wie: ›Sie sind hier.‹ Das hat er mehrmals wiederholt. Aber er hat auch gesagt ...«

»Nur zu.«

»Mittlerweile fällt es mir schwer zu glauben, aber er hat so was gesagt wie: ›Merk dir Victoria und Albert.‹«

Cody hält mit dem Stift mitten im Satz auf dem Notizblock inne. »Könnten Sie das bitte wiederholen?«

»Ja. Er hat gesagt: ›Merk dir Victoria und Albert.‹ Da bin ich mir sicher.«

Stirnrunzelnd notiert es sich Cody. »Was noch?«

»Eigentlich nichts. Nur, dass er keine Zeit mehr zum Reden hätte. Und dann ... und dann hat es sich so angehört, als würde ihm das Telefon von jemandem abgenommen, und ...«

Cody schweigt, lässt sie in Ruhe die Worte finden.

»Dann hat er geschrien. Zumindest habe ich den Beginn eines Schreis gehört. Das war alles.«

Cody mustert sie einige Sekunden lang. Er wartet auf Tränen, auf eine bebende Unterlippe. Beides bleibt aus. Alles so nüchtern und sachlich.

»Das muss Ihnen Angst eingejagt haben«, merkt er an. Allerdings erzielt er damit keine Reaktion.

Er fährt fort. »Diese Sache mit Victoria und Albert. Wissen Sie, was er damit gemeint hat?«

»Nein.«

»Hat es etwas mit dem Victoria & Albert Museum zu tun?«

»Ich glaube nicht. Ich bin nie dort gewesen. Und soweit ich weiß, Matthew auch nicht.«

»Dann also Personen. Kennen Sie jemanden namens Victoria und Albert?«

Ein langsames Kopfschütteln. »Nein. Da klingelt bei mir gar nichts.«

»Fällt Ihnen irgendein anderer Grund ein, warum er Sie aufgefordert haben könnte, sich diese Namen zu merken?«

»Nicht der geringste.«

Cody tippt sich mit dem Stift ans Kinn. »Die telefonische Nachricht. Haben Sie irgendeine Ahnung, warum er sie auf Ihrem Festnetzanschluss hinterlassen hat, statt Sie auf dem Handy anzurufen?«

»Er hatte entsetzliche Angst. Ich vermute, er ist in Panik geraten und hat einfach die erste Nummer seiner Kurzwahlliste gewählt.«

»Ist die Nachricht noch auf Ihrem Anrufbeantworter? Sie haben sie nicht gelöscht?«

»Nein. Sie ist noch drauf.«

»Gut. Ich würde gern jemanden schicken, der eine Kopie davon anfertigt, wenn das für Sie in Ordnung ist.«

»Ja. Ist es.«

»Gut, Sie haben also die Nachricht von Matthew abgehört. Was dann?«

»Ich bin schnurstracks zu ihm gefahren.«

»Das war Ihr erster Impuls? Sie haben nicht die Polizei gerufen?«

»Ich wusste nicht, was vor sich ging. Matthew hatte sich so sehr verändert, seit er ausgezogen war. Ich dachte, er hätte vielleicht eine Art Zusammenbruch. Abgesehen davon: Glauben Sie, die Polizei hätte es interessiert? Was hätten Sie getan, wenn ich Sie angerufen und gesagt hätte, mein Mann hat eine Nachricht mit irgendwas über Victoria und Albert hinterlassen, bevor er ins Telefon geschrien hat?«

Cody lächelt. »Wenn Sie es so ausdrücken ... Okay, Sie sind also zu seinem Haus gefahren, ja?«

»Ja. Ich gebe zu, dass ich dabei ein paar Mal die Geschwindigkeitsbegrenzung überschritten habe. Gut möglich, dass Sie mich auf der einen oder anderen Ihrer Verkehrsüberwachungskameras finden.«

»Ich denke, dafür hatten Sie einen ziemlich guten Grund. Wie hat sich Ihnen die Lage präsentiert, als Sie bei Matthews Haus angekommen sind?«

»Drinnen, meinen Sie?«

»Nein. Davor. Als Sie aus dem Auto gestiegen sind.«

»Da hat alles normal ausgesehen. Keine Anzeichen auf irgendwas Ungewöhnliches.«

»War die Eingangstür offen?«

»Nein. Geschlossen. Ich hab an der Tür geklingelt und versucht, durch den Briefkasten zu rufen, aber es hat niemand reagiert.«

»Haben Sie einen Schlüssel für das Haus?«

»Nein. Matthew hätte den Gedanken nicht ertragen, dass jemand ohne sein Wissen sein Zuhause betreten könnte. Ich habe ihn mal gefragt, was ich tun soll, wenn er einen Unfall oder so hat, aber er wollte mir trotzdem keinen geben.«

»Wie sind Sie dann reingekommen?«

»Ich bin zur Rückseite gegangen.«

Cody sieht erneut in seinen Notizen nach. »Wir haben die Tür zum Hinterhof überprüft. Sie war verriegelt.«

Die Frau zeigte sich ungerührt. »Ja. Ich bin über die Mauer geklettert.«

»Sie sind über die Mauer geklettert?«

»Ja.«

»Ist eine ziemlich hohe Mauer.«

»Richtig.«

Cody rechnet beinah damit, dass sie in Gelächter ausbricht und ihm mitteilt, dass sie ihn auf den Arm nimmt. Aber sie meint es todernst.

»Schön, Sie sind also über die Mauer geklettert. Was haben Sie dann gemacht?«

»Ich hab durch die Fenster geschaut. Konnte das Chaos drinnen sehen. Und dann hab ich bemerkt, dass die Scheibe der Hintertür eingeschlagen war. Jemand war in das Haus eingebrochen.«

»Ja, so hat es für uns ausgesehen.«

»Also bin ich reingegangen.«

Cody bemüht sich, bei ihrer Antwort nicht zu stutzen. Und scheitert kläglich.

»Sie sind schnurstracks reingegangen?«

»Ja.«

»Hatten Sie Ihr Handy dabei?«

»Ja.«

»Warum haben Sie nicht versucht, die Polizei anzurufen?«

»Ich wollte nicht warten. Matthew hätte verletzt sein können. Bei seiner Nachricht hat er geklungen, als hätte er Schmerzen.«

»Ins Haus war eingebrochen worden. Die Eindringlinge hätten noch drin sein können.«

»Ich habe mir in der Küche ein Messer geholt.« Plötzlich kommt ihr ein Gedanke. »Sie werden ein Messer mit meinen Fingerabdrücken drauf finden. Das sollten Sie wohl im Voraus wissen.«

Cody ist verblüfft. Sie überrascht ihn wieder und wieder. Er wäre vollauf zufrieden gewesen mit einer Antwort wie: Mir war nicht bewusst, was ich tat. Ich habe unter Schock gestanden. Aber sie scheint genau gewusst zu haben, was sie getan hat. Trotzdem hat sie nicht gezögert.

»Was haben Sie gemacht, nachdem Sie sich das Messer geholt hatten?«

»Das Haus durchsucht. Ins hintere Schlafzimmer bin ich zuletzt gegangen. Dort habe ich Matthew gefunden.«

»Das muss ein gewaltiger Schock gewesen sein.«

Wieder keine Reaktion. Keinerlei Bestätigung, dass sie irgendwelche Emotionen durchlebt hat.

Cody spürt, dass ihm irgendetwas entgeht.

»Tut mir leid, Mrs Prior«, sagt er. »Verzeihen Sie, wenn das unsensibel klingt, aber ich verstehe nicht ganz die von Ihnen beschriebene Abfolge der Ereignisse.«

»Was verstehen Sie daran nicht, Sergeant Cody?«

»Ich verstehe nicht, warum Sie sich so lange damit Zeit gelassen haben, die Polizei zu verständigen. Ich verstehe nicht, dass Sie über eine Mauer geklettert und allein in ein Haus gegangen sind, in dem noch Eindringlinge hätten sein können.«

Dann kontert sie mit einer Frage, die ihm den Wind aus den Segeln nimmt.

»Weil ich eine Frau bin?«

»Was?«

»Ich frage mich, ob es Ihnen auch dann so schwerfiele, meine Schilderung zu glauben, wenn sie aus dem Mund eines Mannes käme.«

Cody denkt sorgfältig darüber nach. Ihm geht durch den Kopf: Hat sie recht? Bin ich bloß sexistisch?

»Um ehrlich zu sein«, erwidert er schließlich, »kenne ich nicht viele Menschen, weder Männer noch Frauen, die tun würden, was Sie heute getan haben. Ich muss den Hut vor Ihrem Mut ziehen.«

»Ich habe getan, was notwendig war. Aber ich würde mir im Gegenzug auch ein wenig Mut wünschen. Ich wünsche mir von Ihnen den Mut, mir zu glauben. Denn ich kann Ihnen an den Augen ansehen, dass Sie Zweifel haben. Ich habe mich nicht so verhalten, wie Sie es von einer Frau in meiner Lage erwartet hätten. Und ich verhalte mich auch jetzt nicht so, wie Sie es von einer Frau erwarten.«

»Mrs Prior, ich hoffe aufrichtig, Sie denken nicht ...«

»Ich werde nicht hier vor Ihnen weinen. Ich werde nicht zusammenbrechen, nur um Ihre vorgefasste Meinung zu erfüllen. Das können Sie vergessen, Sergeant Cody. Wenn es Ihnen recht ist, werde ich auf meine Weise trauern. Und wenn Sie damit ein Problem haben, dann können wir die Befragung an dieser Stelle beenden.«

Cody spürt, dass ein Lachen aus ihm heraus möchte. Ihm wird klar, dass er gerade zurechtgestutzt wurde und es gründlich verdient hat. Gleichzeitig stellt er fest, dass er diese Frau mag. Sehr sogar, auch wenn er nicht wirklich schlau aus ihr wird.

»Ich habe kein Problem damit«, versichert er ihr.

»Gut. Dann fahren Sie bitte fort.«

»Erzählen Sie mir ein bisschen mehr über Matthew. Was hat er beruflich gemacht?«

»Er hat fürs Finanzamt gearbeitet. Als ich ihn kennengelernt habe in Newcastle, aber dann wurde ihm eine Beförderung angeboten. Dafür musste er zum Standort Bootle wechseln, also sind wir nach Liverpool gezogen.«

»Wann war das?«

»Vor ungefähr zwei Jahren.«

»Haben Sie hier viele Freunde gefunden?«

»Ein paar. Nicht viele.«

»Was ist mit Feinden? Hatte Matthew je mit irgendjemandem Streit? Hat ihn mal jemand bedroht?«

Sie schüttelt den Kopf. »Matthew hat sich nicht gestritten. Er hat Konfrontationen gehasst. Er war zu jedem freundlich, den er kennengelernt hat.«

»Irgendwelche Geldprobleme?«

»Nein. Er hatte einen anständigen Job, und ich verdiene auch gut.«

»Was machen Sie beruflich?«

»Ich bin Personal Trainer.«

»Wirklich? Könnte ich gebrauchen.«

Sie mustert ihn. »Meine Preise sind günstig.«

Cody räuspert sich erneut. Lieber hätte er etwas gehört wie: Sie scheinen schon ziemlich gut in Form zu sein.

»Sie haben das Haus gesehen«, sagt er. »Jemand hat jeden Quadratzentimeter darin durchsucht. Irgendeine Idee, worauf es die Täter abgesehen hatten?«

»Nein. Er hatte keine Wertgegenstände. Sein Geld ist für Bücher, CDs und Computerspiele aufgegangen.«

»Welche Art von Spielen?«

Sie zuckt mit den Schultern. »Dafür habe ich mich nie groß interessiert. Ich weiß nur, dass er und etliche andere Leute aufeinander geschossen haben. So hat er sich seinen Nervenkitzel geholt.«

»Wofür hat er seinen Computer sonst noch benutzt?«

»Keine Ahnung. Das Übliche, vermute ich. E-Mails, Internet – so was in der Art.«

»Ich frage deshalb, weil sein Computer spurlos verschwunden ist. Fällt Ihnen ein Grund ein, warum ihn jemand hätte stehlen wollen?«

Sie schüttelt den Kopf. »Sergeant Cody, ich glaube, Sie verstehen nicht ganz, was ich Ihnen über meinen Mann zu sagen versuche. Matthew war freundlich, sanftmütig und schüchtern. Das war keine Tarnung. Er war nicht in Wirklichkeit Spion für den MI5, ein Attentäter oder etwas in der Art. Er war ein stinknormaler Mann, der ein paar Probleme damit hatte, sein Leben zu bewältigen. Ich habe ihn innig geliebt. Und wissen Sie was?«

»Was?«

»Er hat mich auch geliebt. Das hat er mir gesagt. Sie haben vorhin erwähnt, ich wäre mutig gewesen, weil ich sein Haus betreten habe. Das hat nicht an Mut gelegen, sondern an etwas anderem, das er in seiner telefonischen Nachricht gesagt hat. Nämlich, dass er mich liebt. Die Worte hatte ich schon lang nicht mehr von Matthew gehört, aber in der Situation hat er sie gesagt. Er hatte Angst um sein Leben – vielleicht hat er sogar geahnt, dass er gleich umgebracht werden würde. Trotzdem war sein letzter Gedanke, mich wissen zu lassen, dass er mich immer noch geliebt hat. Wenn Sie je verliebt waren, Sergeant Cody, werden Sie verstehen, dass Sie keine andere Erklärung für mein Handeln brauchen.«

 

7

 

 

Das Haus wirkt so leer.

Obwohl Matthew seit Monaten nicht mehr hier gewohnt hat, spürt Sara seine Abwesenheit jetzt noch deutlicher. Sie hat sich immer an die Hoffnung geklammert, er würde eines Tages zurückkommen und das Matthew-förmige Loch in ihrem Leben und ihrem Zuhause wieder füllen.

Jetzt ist diese Hoffnung dahin. Matthew ist ihr entrissen worden. Noch dazu auf so grausame Weise.

Durch die Gewalt fühlt es sich umso schlimmer an. Wäre er bei einem Unfall ums Leben gekommen oder hätte er sich sogar selbst das Leben genommen – sie glaubt, das hätte sie leichter verkraftet. Aber das! Warum hatte ihn jemand so sadistisch behandelt?

Impressum

Verlag: ATG books

Texte: David Jackson
Bildmaterialien: Audio-To-Go unter Verwendung eines Motivs von Tama66 / pixabay
Cover: Audio-To-Go
Lektorat: Ulrike Gerster
Übersetzung: Michael Krug
Satz: Audio-To-Go
Tag der Veröffentlichung: 10.01.2022
ISBN: 978-3-96519-049-8

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /