David Jackson
Und leise klopft der Tod
Nathan Codys erster Fall
Ins Deutsche übertragen von Michael Krug
Über den Autor:
David Jackson kam erst spät zum Schreiben von Krimis und Thrillern, nachdem er einen Großteil seines Lebens damit verbracht hatte, akademische Arbeiten und Berichte zu verfassen. Nach einigen begrenzten Erfolgen bei Kurzgeschichtenwettbewerben reichte er die ersten Kapitel eines Romans bei der Crime Writers Association für die Debut Dagger Awards ein. Zu Jacksons großer Überraschung kam das Buch nicht nur in die engere Auswahl, sondern erhielt die Auszeichnung Highly Commended, was schließlich mehrere Verlage auf ihn aufmerksam machte und zur Veröffentlichung des Thrillers „PARIAH“ führte.
Seitdem hat der Brite zahlreiche weitere Krimis und Thriller geschrieben, darunter zwei Serien sowie den Bestseller „Cry Baby“. Jackson arbeitet in Liverpool an der Universität und lebt mit seiner Frau, zwei Töchtern und einer Kurzhaar-Katze namens Mr. Tumnus auf der Halbinsel Wirral.
http://davidjacksonbooks.com/
ATG books
Band 045
Für die englische Originalausgabe: Copyright © 2016 by David Jackson
Titel der Originalausgabe: „A Tapping at my Door“
Für die deutschsprachige Ausgabe: Copyright © 2021 by ATG Books, ein Imprint von Audio-To-Go Publishing Ltd., Headford, Irland
Übersetzung: Michael Krug
Lektorat: Ulrike Gerster
Umschlaggestaltung: Audio-To-Go unter Verwendung eines Motivs von Tama66 / pixabay
ISBN 978-3-96519-045-0
Sie finden uns im Internet unter www.audio-to-go.de
In liebevoller Erinnerung an meine Mutter
Einst zur Nachtzeit, trüb und schaurig,
als ich schmerzensmüd und traurig
Saß und brütend sann ob mancher
seltsam halbvergessnen Lehr’, –
Als ich fast in Schlaf gefallen,
hörte plötzlich ich erschallen
An der Thür ein leises Hallen,
gleich als ob’s ein Klopfen wär’.
– »Der Rabe«, Edgar Allan Poe
1
Horch.
Da ist es wieder. Das Geräusch. Das Klopfen, das Kratzen, das Schrammen an der Hintertür.
Terri Latham richtet die Aufmerksamkeit darauf. Als es verstummt, ärgert sie sich, weil sie Gehirnkapazität dafür verschwendet hat. Da ist nichts. Wahrscheinlich nur die Pflanzen.
Sie lacht darüber. Der Gedanke beschwört nämlich das Bild einer über zwei Meter hohen Venusfliegenfalle herauf, die mit blättriger Faust an die Tür hämmert und gefüttert werden will. Wie in diesem Film – wie heißt er noch gleich? Richtig – Der kleine Horrorladen. Ist schon komisch. Allein hier zu sitzen und hibbelig wegen einer Pflanze zu werden – das findet sie zum Schießen.
Tatsächlich hat sie eine ganze Reihe von Topfpflanzen vor der Tür, aber Terri denkt nicht an sie. Die meisten wären nicht in der Lage, durch ein Pochen Aufmerksamkeit zu erregen.
Nein, sie denkt eher in Richtung der Kletterpflanze, die das Bogenspalier an ihrer Hintertür umrankt und praktisch längst verschlungen hat. Das Gewächs scheint sich mit ungeahnter Geschwindigkeit täglich weiter auszubreiten. Sie erinnert sich noch daran, dass sie mit ein paar Freundinnen Tränen gelacht hat, als die Mädels scherzhaft meinten, Terri verbrächte offensichtlich zu viel Zeit damit, ihre Clematis zu stimulieren.
Das Problem ist nur: Das Spalier ist alt und morsch. Erst neulich hat ein Teil davon nachgegeben. Entstanden ist ein herabhängendes Gewirr aus verhedderten Holzlatten und Pflanzen, das gegen die Glasscheibe der Tür schrammte und klopfte. Zwar hat Terri das Spalier bestmöglich mit einer Schnur zusammengeflickt, war aber von Anfang an skeptisch, wie gut es ihr gelungen ist. Jetzt ist sie sich sicher. Das Ding ist wieder auseinandergefallen.
Tja, das kann warten, denkt sie. Es ist spät und dunkel. Ich stelle mich sicher nicht mitten in der Nacht draußen auf einen Stuhl, um eine dämliche Clematis wieder anzubringen.
Außerdem gehört Schlaflos in Seattle zu ihren Lieblingsfilmen, und sie will nichts davon verpassen.
Also rührt sie sich nicht von der Stelle. Stattdessen lehnt sie sich auf ihrem bequemen Sofa von IKEA vor dem Flachbildfernseher von Samsung zurück und widmet sich wieder Tom Hanks. Dazu nippt sie an dem Chardonnay, den sie beim Spirituosenladen in der Derby Lane im Sonderangebot gekauft hat. Terri nimmt sich fest vor, sich zu entspannen, damit sie die nächste rührselige Szene genießen kann.
Klopf ... kratz ... klopf.
Oh, Herrgott noch mal, denkt Terri. Sie hebt den Kopf über die Rückenlehne des Sofas. Den Pflanzen hinter dem Haus schickt sie warnende Gedanken: Noch ein gruseliges Geräusch von euch, und ich schneide euch an den Wurzeln ab. Das wird schmerzhaft. Überlegt es euch lieber!
Ein Teil von ihr weiß, dass der Zorn nicht echt ist. Er ist eine Maske, ein Schutz vor dem Unbehagen, das sich rasant in ihr ausbreitet. Außerdem weiß sie, dass dieser Schutz nicht ewig anhalten wird. Er wird Risse bekommen, bröckeln und in sich zusammenfallen. Danach wird nackte Angst zurückbleiben. Wenn es dazu nicht kommen soll, ist ein Präventivschlag nötig.
»Na gut!«, ruft sie laut, als würde sie einen unverbesserlich unartigen Welpen anbrüllen. Als würde sie widerwillig dessen Forderungen nachgeben, obwohl sie in Wirklichkeit vor dem eigenen sehnlichen Wunsch nach Vergewisserung kapituliert.
Ich gehe in die Küche, denkt sie. Ich werd hingehen und genau das sehen, was zu erwarten ist, nämlich einen Haufen Blätter, die vor der Tür baumeln und daran kratzen. Dann kann ich mich wieder dem Film und meinem Wein widmen und anschließend ruhig schlafen. Obwohl ich gar nicht das Bedürfnis haben sollte, nachzusehen. Immerhin weiß ich ja, woran es liegt. Ich führe mich bloß wie eine totale Memme auf.
Den nächsten Gedanken enthauptet sie, bevor er Schaden anrichten kann. Der Gedanke beginnt mit: Aber was, wenn ...
Mit einem schnellen Schluck Wein füllt sie ihre Mutreserven auf. Dann verlässt sie die Behaglichkeit ihres Sofas und geht in die Küche.
Ein Raum, den sie geradezu hasst. Ganz oben auf ihrer Wunschliste bei der Suche nach einem Haus haben damals ein wunderschönes Badezimmer und eine atemberaubende Küche gestanden. Bekommen hat sie beides nicht, weil sie es sich nicht leisten konnte. Die Küche ist mit einem Minimum an Geräten ausgestattet, die schon beim Einbau billig gewesen sein müssen. Die Hälfte davon löst sich inzwischen in ihre Bestandteile auf. Die Dichtung an einem der Wasserhähne ist defekt, überall sind hässliche Gas- und Wasserleitungen zu sehen, und mehrere Wandfliesen haben Sprünge.
Als sie eintritt, schaltet sie das Licht nicht ein. Es würde nur für Reflexionen auf den Fenstern sorgen und ihr einen mehrfachen Blick auf den deprimierenden Raum bescheren. Stattdessen überwindet sie sich, in der Dunkelheit zu stehen und voll angespannter Ungeduld zu warten, bis sich ihre müden Augen daran anpassen.
Mit dem allmählichen Auftauchen breiter, kantiger Konturen von Möbeln lässt ihre Anspannung leicht nach. Sie stößt einen langen Atemzug aus und geht weiter in den Raum.
Durch das verdreckte Panoramafenster über dem Spülbecken sieht sie einen gelblichen Viertelmond hinter einer dichten Wolke hervorkommen. Als sich das schwache Licht in die Küche kämpft, nutzen ihre Augen die Gelegenheit, um Informationen aufzusaugen.
Mit geweiteten Pupillen nähert sich Terri der Hintertür. Wie die Küchenschränke ist auch die Tür billig, dünn und erweckt wenig Vertrauen in ihre Eignung als Schutz vor Eindringlingen. In die obere Hälfte ist eine Milchglasscheibe eingesetzt, die leicht eingeschlagen werden könnte. Eine kleine, gelenkige Person könnte sich sogar durch die Öffnung hereinschlängeln.
Terri hätte die Tür schon vor einer Ewigkeit ersetzen sollen. Andererseits hätte sie noch wesentlich mehr erledigen müssen, um das Haus sicherer zu gestalten. Das weiß Terri. Sie weiß es schon, seit sie eingezogen ist.
Die kleine Wohngegend von Liverpool, in der sie lebt, heißt Stoneycroft. Sie liegt in der Nähe der stark frequentierten Schnellstraße namens Queens Drive – eine der Hauptverkehrsadern der Stadt. Wenn Terri jemandem erklärt, wo sie wohnt, heißt es oft: »Ach, du meinst Old Swan.« Sie entgegnet dann: »Nein, es heißt Stoneycroft.« Terri findet, das klingt vornehmer.
Ist es aber nicht.
Aus ihrer Sicht steht sie gerade mal auf der ersten Stufe der Immobilientreppe. Es ist nicht das schönste Haus der Welt, und die Gegend hat so ihre Probleme. Aber wenigstens gehört das Haus ihr. In ein paar Jahren will sie es verkaufen und in etwas Besseres ziehen – vielleicht in Allerton oder Woolton oder sogar drüben auf der Halbinsel Wirral. Vorläufig reicht es hier.
Der Immobilienmakler hat das Haus als Quasi-Doppelhaushälfte beschrieben. Eine blödsinnige Umschreibung für ein Haus, das im Obergeschoss mit einem Nachbarn verbunden ist, nicht aber im Untergeschoss. Zwischen den zwei Eingangstüren verläuft ein gemauerter Tunnel direkt zur Rückseite der Grundstücke. Einige der Häuser in der Straße haben absperrbare Eisentore an den Durchgängen. Das von Terri nicht. Was bedeutet, dass jeder durchspazieren könnte. Hinzu kommt, dass ihre Holztür am anderen Ende des Tunnels auch kein Schloss besitzt. Und selbst wenn, gäbe es noch einen anderen Weg in ihren Garten, denn er grenzt an einen kleinen Park, den jeder betreten kann. Von dort wäre es einfach, ungesehen über ihren Lattenzaun zu klettern.
Insgesamt ist das Haus nicht gerade Fort Knox.
Solche Gedanken sind Terri schon oft durch den Kopf gegangen. Jedes Mal hat sie sich mental vorgemerkt, etwas zu unternehmen. Und jedes Mal ist die geistige Notiz prompt in der Unordnung untergegangen, die in ihrem Gedächtnis herrscht.
Der Grund, warum sich diese Gedanken gerade jetzt in ihrem Kopf stauen wie der Verkehr zur Stoßzeit, ist der Anblick durch das Fenster in der Tür. Oder besser gesagt, was sie nicht sieht.
Auf der anderen Seite der Glasscheibe in ihrer Tür befindet sich keine verirrte Clematis.
Obwohl es sich um Milchglas handelt, das obendrein dringend gereinigt werden müsste, lässt sich im diffusen Mondlicht deutlich erkennen, dass da kein Blattwerk ist.
Und das bedeutet, etwas anderes verursacht die Geräusche. Diese beunruhigenden Laute ...
Klopf ... klopf ... kratz ...
Als sie erneut einsetzen, weicht Terri einen Schritt in die Schatten zurück. Als wäre ihre dunkle Umarmung beruhigender als das nachtaktive Wesen draußen, worum es sich auch handeln mag.
Jedenfalls bearbeitet es emsig den unteren Teil der Tür. Auf Bodenhöhe. Also etwas Kleines, aber wild entschlossen, sich den Weg in Terris Haus zu bahnen. Warum? Was kann das Tier wollen?
Terris erster Verdacht fällt auf Shit-Sue, den kläffenden kleinen Köter von der anderen Straßenseite. Der in Wirklichkeit gar kein Shih Tzu ist. Terri nennt die Hündin deshalb Shit-Sue, weil der verantwortungslose Besitzer nicht mit ihr Gassi geht. Stattdessen scheucht er das Vieh nur zur Haustür raus. Die boshafte kleine Hündin flitzt dann regelmäßig über die Straße, zwängt sich durch die Gitterstäbe von Terris Tor, durchquert die von Moos und Unkraut überwucherte Einfahrt und huscht in den Seitengang. Dort setzt sie einen Haufen, der beinah so groß wie die Hündin selbst zu sein scheint.
Das ist Terris erster Gedanke.
Nur hat er drei Haken. Erstens: So rücksichtslos der Arsch von gegenüber ist, normalerweise lässt er Shit-Sue nicht so spät am Abend raus. Zweitens: Die Holztür am Ende des Seitengangs hat zwar kein Schloss, lässt sich aber zumindest schließen. Und wenn sie geschlossen ist – was sie bei Terris letzter Überprüfung eindeutig war –, dann kann sich nicht mal die unbändige Kackmaschine von gegenüber darunter hindurchquetschen, um die Terrasse zu erreichen. Und drittens: Die Geräusche klingen nicht nach Shit-Sue. Sie klingen nach gar keinem Hund. Das Kratzen stammt von deutlich kleineren Füßen. Außerdem ist da dieses Klopfgeräusch, das sich mit dem Kratzen abwechselt. Ein Hund würde keine solchen Laute erzeugen.
Also, was dann?
Eine Katze? Möglich, denkt Terri. Katzen kratzen doch gern an allem Möglichen, oder?
Und - ja! Ich hatte doch zum Abendessen Thunfisch, richtig? Katzen lieben Thunfisch. Sie riecht den Fisch und will was davon. Sie ...
Nein. Sei nicht albern. Hör genau hin. Da ist wieder dieses Klopfen, oder? Tja, Katzen klopfen nicht, oder? Machen sie einfach nicht.
Mist.
Reiß dich zusammen, sagt sie sich. So ist das eben, wenn man allein wohnt. Das wolltest du doch. Du wolltest dir nicht länger eine Wohnung mit deinen Freundinnen teilen, und erst recht wolltest du in nächster Zeit nicht wieder mit einem Kerl zusammenzuziehen. Du wolltest deine eigene Bude. Tja, jetzt hast du sie. Du bist erwachsen, also benimm dich dementsprechend.
Terri holt tief Luft. Überwindet die Entfernung zur Tür mit einem Schritt. Greift nach der Klinke.
Du schaffst das, denkt sie. Auf der anderen Seite ist kein Vergewaltiger. Vergewaltiger kratzen und klopfen nicht so erbärmlich an einer Tür. Sie springen aus Büschen und düsteren Eingängen hervor.
Sie schleichen sich von hinten an und ...
Okay, das reicht. Mach jetzt die verdammte Tür auf. Das ist ein Eichhörnchen, das mit seinen Nüssen spielt. Oder ein Igel, der sich mit dem Schuhabstreifer paaren will. Oder irgendwas anderes, das deiner jämmerlichen Vorstellungskraft noch nicht eingefallen ist. Was immer da draußen ist, wenn du die Tür aufmachst, wird es mehr Angst vor dir haben als umgekehrt. Es wird vor Schreck erstarren, wenn es dich plötzlich vor sich hat. Die winzigen Knopfaugen werden tränen, es wird sich ankacken und dann davonwieseln, so schnell es die kleinen Stummelbeine tragen.
Terri beginnt, den Knauf zu drehen.
Klopf ... kratz ...
Dreht ihn bis zum Anschlag.
Kratz ... klopf ...
Und ... zieht!
Schwungvoll reißt sie am Knauf. Die Tür klappert im Rahmen, schwingt aber nicht auf.
Verdammt, denkt sie. Es ist abgesperrt. Natürlich ist abgesperrt. Das mache ich immer, wenn ich nachts allein bin. Warum sollte es heute anders ...
Horch!
Das Geräusch. Es hat aufgehört.
Sie stellt sich das scheue kleine Tier vor. Bestimmt hat es das Klappern der Tür zu Tode erschreckt, und das murmelgroße Herz pocht wild in der Brust.
Terri überlegt, ob sie die Tür aufsperren und draußen nach dem Rechten sehen soll. Und entscheidet sich dagegen.
Das Tier ist weg. Zurück in sein Versteck geflüchtet. Und falls es nicht weg ist, will Terri nichts davon wissen. Falls es immer noch vor der Tür ausharrt, die pelzigen Ärmel hochkrempelt und sich auf einen neuen, noch ungestümeren Angriff vorbereitet, ist es kein Feind, dem sie sich stellen will.
Sie schüttelt den Kopf. Stößt ein freudloses Lachen aus. Geht zurück ins Wohnzimmer, wo Tom Hanks wartet.
Terri setzt sich hin, schlägt die Beine übereinander und starrt auf den Fernseher, ohne wahrzunehmen, was vor ihr abläuft. Es sind nur Bilder und zusammenhanglose Geräusche. Sie fühlt sich nicht wohl, weder körperlich noch geistig.
Terri greift nach dem Weinglas und leert es, schenkt aus der Flasche nach und trinkt einen weiteren Schluck. Okay, schon besser. Jetzt kann sie sich entspannen.
Sie schwingt die Beine aufs Sofa. Mit einer Willensanstrengung lockert sie die steifen Muskeln und nimmt sich vor, den Film zu genießen. Der kleine Junge mit dem Rucksack ist gerade auf dem Empire State Building. Das ist eine gute Szene. Der Film nähert sich dem Ende. Zeit, die Taschentücher bereitzulegen. Das wird ...
Verdammt!
Plötzlich ertönen die Geräusche richtig laut. Hektischer als zuvor.
Terri verschüttet Wein über ihren Morgenmantel. Wieder dreht sie sich um und späht ins angrenzende Zimmer. Was immer die Geräusche verursacht, hört sich näher an. Als wäre es bereits im Haus. In ihrer Küche.
Aber nein, das kann nicht sein. Das ist unmöglich. Terri hat doch eben erst selbst versucht, die Tür zu öffnen, oder? Sie ist abgesperrt. Auch die Fenster sind verriegelt.
Terri steht auf. Sie greift sich die Fernbedienung und schaltet den Ton des Fernsehers stumm. Dann starrt sie durch die Öffnung zur Küche, lauscht dem nervenaufreibenden Lärm.
Dem Klopfen, dem Kratzen, dem Scharren. Aber jetzt klingt es anders. Warum?
Sie kehrt in Richtung der Küche zurück und stellt fest, dass sie sich dabei langsamer bewegt, vorsichtiger. Als würde sie durch Sirup waten.
Sie tritt durch die Türöffnung. Hält den Atem an. Ihre Augen zucken hin und her, während sie wartet.
Da!
Nicht mehr an der Tür, sondern am Fenster.
Nicht am Panoramafenster über dem Spülbecken – durch das der Mond immer noch sein schiefes, mitleidiges Lächeln auf Terri wirft. Am anderen Fenster, dem neben der Tür. Dem mit den zugezogenen Vorhängen davor.
Das Fenster befindet sich gut einen Meter über dem Boden. Wie ist das Tier so hoch raufgekommen? Das könnte kein Hund, kein Eichhörnchen, Igel oder Ähnliches – höchstens mit einem Springstock. Vielleicht eine Katze.
Eine Katze könnte auf die Fensterbank springen. Aber hat Terri die Katzentheorie nicht bereits verworfen? Hat sie nicht bereits festgestellt, dass Katzen zwar hervorragend kratzen können, aber sich weniger geschickt dabei anstellen zu klopfen?
Plötzlich setzt ihre Atmung wieder ein. Allerdings schnell und abgehackt. Panisch. So sollte Atmung nicht klingen. Hör auf, denkt sie. Da ist nichts, wovor man sich fürchten müsste. All die prekären Situationen, die du schon überstanden hast, und du fürchtest dich vor einem kleinen Waldbewohner?
Waldbewohner? Wo sind wir denn jetzt gelandet – in einem Märchen? Hier ist Stoneycroft.
Der Name mag ja ländlich und idyllisch klingen, aber der Ort liegt gleich neben Old Swan.
Hier gibt’s keine sieben Zwerge.
Wenn sich auf der anderen Seite der Scheibe tatsächlich ein Zwerg oder eine sonstige kleinwüchsige Person befindet, macht sie sich in die Hose, davon ist sie überzeugt.
Plötzlich gehen die Gedanken in Richtung bösartiger Zwerge mit ihr durch. Und plötzlich muss sie an Wenn die Gondeln Trauer tragen denken. Ein weiterer ihrer Lieblingsfilme, aber aus völlig anderen Gründen.
Beängstigenden Gründen.
Es ist kein Zwerg, denkt sie. Kein Gnom. Kein fliegender Kobold, der einem Jet in dreitausend Meter Höhe die Tragflächen abreißt. Wenn du wissen willst, was es ist, dann zieh den verdammten Vorhang auf und sieh nach.
Also tut sie es.
Sie tritt näher zum Fenster. Ihre Füße schleppen sich noch widerwilliger als zuvor über den Boden. Die Geräusche ertönen in Schüben, in unverhofften, energiegeladenen Ausbrüchen. Dazwischen spannen sich Augenblicke stiller Erschöpfung. Terri streckt die Hand aus. Und zuckt zurück, als das Klopfen gegen die Scheibe beinah auszureichen scheint, um das Glas zu zerbrechen. Sie streckt die Hand wieder aus. Ergreift dicken blauen Stoff, für den sie bei John Lewis entschieden zu viel ausgegeben hat. Holt tief Luft. Eins ... zwei ...
Drei!
Als sie den Vorhang aufreißt, verstummen die Geräusche erneut.
Durch die Scheibe sieht sie nichts. Keine Tiere, keine Zwerge – nada.
Sie lehnt das Gesicht ans Fenster. So nah, dass ihr Atem die Scheibe beschlägt. Allmählich wird es schwierig, durch den Schleier etwas zu erkennen. Sie zieht die Hand in den Ärmel des Morgenmantels zurück und hebt sie, um die Scheibe abzuwischen.
Und an der Stelle zeigt sich der Störenfried.
Er schießt von unten hoch, als würde er Terri ins Gesicht geschleudert. Sie erhascht einen flüchtigen Blick auf scharfe Krallen, bösartige Absichten und glänzende Schwärze, als sie aufschreit und zurückspringt. Dabei stößt sie hart gegen einen Stuhl hinter ihr. Dennoch kann sie den Blick nicht von dieser dämonischen Kreatur abwenden, die den Schnabel aufreißt und schaurig kehlige, menschenähnliche Rufe ausstößt.
Ungläubig, aber auch erleichtert starrt Terri hin. Warum ist sie darauf nicht schon früher gekommen?
Ein Vogel.
Und was für einer. Riesig und so pechschwarz. Sogar der Schnabel wirkt wie aus Ebenholz, und die Augen scheinen das Mondlicht zu absorbieren. Der Hals sieht muskulös und kraftvoll aus, als wäre er dazu gedacht, dem Tier zu helfen, Dinge mit diesem verheerenden Schnabel in Stücke zu hacken. Die Flügel schlagen gegen das Glas, als der Vogel mit schabenden Klauen versucht, Halt zu finden. Dazwischen pickt er immer wieder kräftig gegen die Scheibe und droht, sie zu zerbrechen und sich Zugang ins Haus zu verschaffen.
Eine Krähe, denkt Terri. Oder etwas Ähnliches. Sie kennt Spatzen, Tauben, Rotkehlchen und Stare. Damit ist ihr Wissen über Vögel erschöpft. Ein solches Exemplar hat sie noch nie in ihrem Garten gesehen.
Und sie will ihn auch jetzt nicht hier haben. Das Vieh ist groß und unheimlich und verhält sich merkwürdig. Wie eines der Tiere aus diesem Hitchcock-Film. Die Vögel. Wo sie sich gegen die Menschen wenden und sie in Stücke reißen.
Das Tier muss verschwinden. So viel steht fest. Sie kann mit Sicherheit nicht schlafen, solange eine solche Kreatur hämmernd hereinzukommen versucht. Was, wenn der Vogel ihr nach oben zum Schlafzimmerfenster folgt? Und mitten in der Nacht zu klopfen anfängt? Wie könnte sie auch nur mit dem Gedanken daran einschlafen?
Na schön. Wie wird man einen solchen Vogel los? Bei den meisten klatscht man einfach in die Hände, und weg sind sie. Das haben sogar die dummen, kaugummifressenden Tauben drauf. Aber dieser Vogel? Er sieht aus, als wäre er entweder unvorstellbar bösartig oder ausgesprochen intelligent. Er sieht aus, als würde er einem das Gesicht vom Schädel picken, wenn man ihm zu nahe kommt.
Ich sollte jemanden anrufen, denkt Terri. Einen Vogelexperten. Oder jemanden mit einer Schrotflinte.
Aber um halb eins in der Nacht?
Na gut, dann eben die Polizei. Nein, halt, definitiv nicht die Polizei. Die sollte ich auf keinen Fall anrufen, wenn ich mich nicht hoffnungslos zum Gespött machen will, weil ich mich wegen einem dämlichen Vogel wie ein feiges Huhn aufführe.
Huhn – Vogel. Das sollte eigentlich lustig sein ... aber ich lache nicht.
Mit einem verärgerten Knurren findet sich Terri damit ab, dass nur sie allein etwas gegen diese lächerliche Situation unternehmen kann.
Es ist ein Vogel, Herrgott noch mal. Verscheuch ihn oder schlag ihn tot. Beide Lösungen sind akzeptabel. Okay, Terri?
Das Wichtigste zuerst. Lichter an.
Sie ertastet den Lichtschalter. Drückt ihn. Blinzelt, als es blendend hell wird.
Sie beschließt, dass sie eine Waffe braucht. Vorzugsweise etwas, womit sie einen Sicherheitsabstand zu dem Vieh bewahren kann.
Terri überlegt ein paar Sekunden, dann geht sie zum Schrank unter der Treppe. Mit einem Besen gewappnet kehrt sie zurück. Dann ergrifft sie einen Schlüssel von einer Ablage und schließt die Hintertür auf.
»Okay, Spatzenhirn«, sagt sie. »Ich komme. Du hast fünf Sekunden, um aus meinem Garten zu verschwinden, bevor ich dich zu Tode fege.«
Damit öffnet sie die Tür. Sie streckt den Kopf hinaus in die Nacht. Der Vogel hockt auf dem Fensterbrett, legt den Kopf schief und starrt sie herausfordernd an. Er erinnert sie an etwas. Das Omen? Kommt in dem Film nicht auch ein unheimlicher schwarzer Vogel vor?
Ich mache es ja schon wieder, denkt sie. Das ist nicht der Teufel in Tiergestalt. Nicht mal ein Zwerg in einem Kostüm. Es ist nur ein Vogel.
Terri tritt hinaus auf die Terrasse und spürt die Kälte der Steinplatten an den nackten Fußsohlen. Sie hält den Besen vor sich gestreckt, stößt ihn in die Richtung des Vogels.
Das Tier zeigt sich unbeeindruckt, legt lediglich den Kopf noch etwas schiefer.
»Na schön, Freundchen. Du hast es so gewollt.«
Terri zieht den Besen zurück. Dabei schießt ihr durch den Kopf: Bitte komm nicht auf mich zu. Nicht in die Haare. Verheddere dich nicht in meinen Haaren. Fledermäuse tun das, oder? Sie verheddern sich in Haaren. Bitte tu das nicht.
Ein weiterer Vorstoß. Bis knapp vor das Tier. Sie wappnet sich dafür, den Besen fallen zu lassen und loszurennen, sobald das Vieh etwas unternimmt.
Aber der Vogel kommt nicht auf sie zu. Er bewegt sich nicht mal von der Fensterbank weg.
Weil er nicht kann.
Terri hält den Besen zwar weiter fest in den Händen, senkt ihn aber wie ein Ritter sein Schwert. Mit kleinen, zögerlichen Schritten bewegt sie sich vorwärts und kneift die Augen gegen das Neonlicht zusammen, das durchs Fenster herausdringt.
Der Vogel bewegt sich nicht ungehindert. Er hat sich in etwas verfangen, kann die Beine nicht von irgendeinem Faden oder Draht befreien.
Ihr wird klar, warum er sich so seltsam verhalten hat. Er hat sich verheddert und ist in Panik. Der Vogel will einfach nur frei sein. Er ist gar nicht bösartig, sondern verängstigt. Er ist ...
Der Schlag ist genauso laut wie schmerzhaft. Etwas Hartes, Schweres rammt ihren Schädel. Das Geräusch scheint im Garten widerzuhallen.
Terri stößt einen spitzen Schrei aus und setzt dazu an, sich umzudrehen. Sie erblickt die dunkle Gestalt eines Mannes, der mit der Hand zu einem zweiten Schlag ausholt. Terri will den Arm hochreißen, um sich zu verteidigen, aber es ist zu spät. Der Gegenstand, den der Mann in der Hand hält – ein Ziegel oder ein Stein –, trifft ihre Stirn mit einem übelkeitserregenden, hohlen, knirschenden Laut und lässt sie rückwärts taumeln. Sie spürt, wie sie mit dem Rücken gegen die Wand prallt, dann hört sie ein Kreischen, das von ihr, dem Mann oder sogar dem Vogel stammen könnte. Ihre Sicht verschwimmt, und die Schmerzen werden so heftig, dass sich ein Schleier über ihre Augen legt. Instinktiv weiß sie, dass sie sich nicht von Schwärze überwältigen lassen darf. Sie muss sich aus dieser Lage befreien, sich irgendwie Hilfe beschaffen. Also öffnet sie den Mund, um zu schreien – wofür sie sich einen weiteren Schlag einhandelt, diesmal in die Kehle. Blind fuchtelt sie durch die Luft und spürt, wie ihre Hände etwas berühren. Aber sie spürt auch, wie der Mann sie am Ärmel packt und zu sich zieht. Terri setzt die Füße ein, tritt wuchtig dorthin, wo sich sein Schritt befinden sollte. Und ja, sie kann fühlen, wie sie ihn trifft. Sie hört ein gequältes Stöhnen, und sein Griff lockert sich. Sie reißt sich los und rennt zum hinteren Tor, weil ihr der Angreifer den Weg zurück ins Haus versperrt. Wieder öffnet sie den Mund, um so laut zu schreien, wie sie kann – Bitte helft mir, irgendjemand, ganz egal, wer, aber bitte kommt und helft mir!
Terri hört nichts und weiß nicht, warum. Sie schreit aus Leibeskräften, trotzdem scheint nichts zu passieren. Es ist, als wäre sie durch die Schläge auf den Kopf taub geworden. Dann jedoch stolpert sie und fällt gegen den Gartenzaun. Dabei hört sie, wie die dünnen, spröden Latten an den Betonpfosten klappern und knacken. Selbst in ihrem verwirrten Zustand fragt sie Terri, wie es sein kann, dass sie das hören kann, nicht jedoch die eigene Stimme. Also hebt sie die Hand zum Mund, um zu überprüfen, ob er so funktioniert, wie er sollte. Nur kommt sie nicht so weit.
Die Hand erreicht den Mund nicht, weil sie die heiße, klebrige Nässe spürt, die überall an ihrem Hals zu sein scheint. Und als ihre Finger weitertasten, entdecken sie den Grund für ihre Stille. Die Fingerspitzen verschwinden in dem riesigen Loch, das in ihrer Luftröhre klafft. Terri erstarrt mit der erschreckenden Erkenntnis, dass der Mann ihr die Kehle durchgeschnitten hat.
Dann bliebt ihr keine Zeit mehr zum Denken, denn er hat sie wieder erreicht. Er zieht sie vom Zaun weg und ringt sie zu Boden. Terri nimmt ein selbstgefälliges Lächeln in seinem Gesicht wahr, das ihr etwas verrät: Er weiß, dass er gewonnen hat, sie keine Hilfe rufen und sich nicht wehren kann. Weil sie im Sterben liegt. Terri weiß es. Ihre Verletzungen sind zu schwer, zu lebensbedrohlich. Nach und nach schaltet sich ihr Verstand ab, und sie wünscht sich, er würde es nicht tun. Sie wünschte, sie könnte sich an irgendetwas festklammern. An einer Chance. Einer Möglichkeit. Aber ihr Verstand hat anders entschieden. Er hat die Lage abgewogen und beschlossen, Schadensbegrenzung zu betreiben. Also setzt er die restliche Energie dafür ein, das Bewusstsein herunterzufahren und sich von einer Realität zu lösen, die zu entsetzlich ist, um sie noch länger zu ertragen.
Und würde es damit enden, wäre das eine Gnade. Aber es kommt noch mehr.
Der Mann kauert sich rittlings auf Terri. Er packt sie am Kinn und dreht sich ihren Kopf zu. Wieder sieht sie sein Gesicht. Und während das Blut weiter aus ihrer Kehle strömt, fragt sie sich geradezu nüchtern und losgelöst, was im Kopf dieses Mannes vorgehen mag. Sie fragt sich, welche Erlebnisse, welche Tragödien in seinem Leben zu dieser Tat geführt haben. Terri will den Grund erfahren.
Wie zur Antwort zeigt er ihr das Messer in seiner Hand. Er zeigt es ihr zuerst aus der Ferne, bevor er es näher und näher zu ihr senkt. Bis ihr klar wird, was er damit vorhat.
Irgendwie kratzt Terri in sich die Kraft zusammen, noch einmal zu schreien. Aber wieder dringt ihr Flehen nicht aus ihrem Körper. Es bleibt in ihr eingeschlossen, zerreißt sie, zerfetzt sie von innen.
Auf der Fensterbank senkt der Vogel den schmalen Kopf und beobachtet das Geschehen mit gebannter Stille.
2
Alle Augen sind auf ihn gerichtet, als er den Raum betritt.
Verhaltene Bewegungen sind zu hören. Ein bisschen Unruhe herrscht. Vielleicht sogar etwas bange Anspannung.
Aber alle beobachten und warten. Jeder Einzelne.
»Ich hab’s geschafft!«, ruft er und streckt die Faust in die Luft. »Ich hab’s verdammt noch mal geschafft!«
Im Raum bricht Tumult aus und schwillt zu einem beachtlichen Wirbel an.
Er strahlt sie mit seinem kitschigsten Grinsen an.
»Hätte nicht gedacht, dass ich’s wirklich tun würde«, meint er. »Ich war mir sicher, es würde zu schwer sein, versteht ihr? Ich war mir nicht mal sicher, ob ich es über den Zaun hinten schaffen würde. Nicht, weil er zu hoch ist oder so. Ich meine, das Klettern war kein Problem. Aber ich dachte, ich würde kneifen. Ich dachte, ich würde letztlich wieder nach Hause kommen und nichts vorweisen können. Aber ich hab’s getan. Ich hab’s wirklich getan.«
Einige Herzschläge lang bringt er nichts mehr heraus. Er ist zu überwältigt von den Emotionen, die das Erlebnis ausgelöst hat. Mit Tränen in den Augen steht er da, fährt sich mit den Händen durchs Haar und lauscht dem Geplapper um ihn herum.
»Ich brauche ein Bier«, verkündet er. »Wartet, während ich mir eine Dose hole.«
Er eilt in die Küche. Dort streckt er die Hand aus, um den Kühlschrank zu öffnen. Dabei bemerkt er, dass seine Finger verkrustet von Blut sind. Ihrem Blut.
Überstürzt rennt er zum Waschbecken, weil er sich heftig und vollmundig übergeben muss.
Als das Würgen endet, dreht er den Wasserhahn voll auf und wäscht die Sauerei weg. Er spritzt sich etwas Spülmittel auf die Hände und wäscht auch sie.
Dann kehrt er zum Kühlschrank zurück. Er holt sich eine Dose Carlsberg heraus, reißt sie auf und trinkt sechs ausgiebige Schlucke, bevor er nach Luft schnappt.
Als er ins Zimmer zurückkehrt, hat er sich ein wenig beruhigt. Seine Hände zittern nicht mehr so heftig, als er die Dose wieder an die Lippen hebt.
»Sie hat es verdient«, sagt er. »Aber Mann, war ihr Kopf hart. Ich hab sie zweimal mit einem Ziegelstein geschlagen – zweimal! Trotzdem ist sie nicht zu Boden gegangen. Am Ende musste ich das Messer benutzen. Da ist es ein bisschen unsauber geworden ...«
Seine Gedanken driften ab, und es dauert eine Weile, bis er zurück in die Gegenwart findet.
»Aber sie hat erfahren, warum. Ich hab es ihr gesagt, bevor sie gestorben ist. Ich hab ihr genau erklärt, warum ich es getan habe.«
Mit der freien Hand zeigt er auf einen der Zuschauer, dann auf einen anderen und noch einen. »Ihr wisst, warum ich das mache, oder? Für euch. Für jeden Einzelnen von euch. Sie müssen es lernen. Jemand muss ihnen eine Lektion erteilen.«
Dann übermannt ihn Erschöpfung, und er stolpert zu einem der hochlehnigen Stühle.
»George, nach der Nacht, die ich hatte, könnte ich eine Pause brauchen.«
George scheint den Wink zu verstehen und gibt seinen Platz auf.
Schwer lässt er sich auf den frei gewordenen Stuhl plumpsen. Er trinkt einen weiteren ausgiebigen Schluck, dann lässt er den Blick über die ihn beobachtenden Gesichter wandern.
»Ihr kommt alle dran. Jeder Einzelne. Keine Sorge. Das heute Nacht war erst der Anfang.«
Er streckt eine Hand aus. »Und? Ist das der beste Empfang, den ihr mir bereiten könnt?«
Wie zur Antwort durchquert jemand aus dem Publikum den Raum und lässt sich auf seinem Schoß nieder. Zart streichelt er ihren Kopf.
»Danke, Freda«, sagt er. »Auf dich kann ich immer zählen.«
Freda schaut zu ihm auf, starrt ihm ins Gesicht. Ohne Wertschätzung, ohne Empathie. Vollkommen verständnislos.
Freda ist eine Taube.
Von jedem Winkel im Raum starren fast einhundert Augenpaare mit ähnlichem Blick auf den einzigen Menschen in ihrer Mitte.
3
Mittlerweile ist er sich nicht mehr so sicher, ob es eine gute Idee war.
Als die Anfrage an ihn herangetragen wurde, hat er nicht groß darüber nachgedacht. Schien ein Kinderspiel zu sein. Kein Vergleich zu Dingen, die er früher gemacht hat.
Dennoch spürt Nathan Cody, wie sich das Unbehagen in ihm aufbaut und der Druck in seiner Brust anschwillt. Es kommt ihm unangenehm warm vor, obwohl es mitten im Oktober ist und die Menschen allesamt dunkle, triste Überkleidung tragen, die zu den dunklen, tristen Tagen passt.
Spiel, sagt er sich. Spiel wie der Teufel, um dich davon abzulenken.
Also tut er es. Wie schon seit einer Stunde greift er in die Saiten der Gitarre und singt sich das Herz aus dem Leib, als könnte er heute nur so zu einer anständigen Mahlzeit kommen.
Er steht am unteren Ende der Bold Street, trägt eine abgewetzte, fleckige Jacke, speckige Jeans und hat den juckenden Bartwuchs einer Woche am Kinn. Obwohl er lange nicht mehr öffentlich gespielt hat, findet er, dass er verdammt gut klingt. Die Leute werfen tatsächlich Münzen in den ramponierten Gitarrenkoffer, der offen auf dem Bürgersteig vor ihm liegt.
Im Augenblick singt er »Paperback Writer«. Was kaum passender sein könnte, wenn man bedenkt, dass sich nur wenige Meter entfernt früher eine Filiale der Buchhandelskette Waterstones befunden hat. Viele der Passanten stellen die Verbindung wohl eher nicht her. Ist für die meisten um diese Zeit morgens etwas zu subtil.
Aber sie werden wissen, dass es ein Song der Beatles ist. Cody versucht, seinem Repertoire eine lokale Note zu verleihen. Allerdings spielt er nicht »Ferry Cross the Mersey«. Den Song kann er nicht leiden. Er kann nie der Versuchung widerstehen, in einen absurd übertriebenen Scouse-Akzent zu verfallen, wenn er sich daran versucht.
Es ist neun Uhr an einem Dienstag. Die meisten Passanten sind unterwegs zur Arbeit, einige suchen aber auch schon früh die Läden zum Shoppen auf. Cody fragt sich, ob jemand darunter die Waterstones-Filiale genauso vermisst wie er, oder ob sie für die meisten weniger ein Ort der Bücher war und nur eine weitere Möglichkeit, sich schnell einen Espresso und etwas Gebäck für den Start in den Tag zu holen.
Der Gedanke stimmt ihn traurig und lässt ihn die letzten Strophen des Songs besonders betonen. Aber die Worte werden vom Wind davongetragen, und niemand bemerkt es.
Er nimmt sich einen Moment Zeit und sieht sich um. Auf der anderen Straßenseite steht das prächtige alte Lyceum, das ursprünglich eine der ersten Leihbibliotheken in Europa beherbergt hat und in jüngerer Vergangenheit ein Postamt. Ein Obdachloser lungert auf den ansonsten menschenleeren Stufen, den Kopf an eine Steinsäule gelehnt.
Ein Stück weiter die Straße hinauf versucht eine dunkelhäutige Frau am Eingang zur Central Station, Exemplare von The Big Issue an den Mann und die Frau zu bringen. Sie ist klein, aber wahrscheinlich nicht so stämmig, wie es die zahlreichen Kleidungsschichten erscheinen lassen. Mit ihrer zurückhaltenden, nuschelnden Art wird sie wohl nie Verkäuferin des Jahres werden, vermutet Cody. Er beschließt, ihr seine Einnahmen hier zu spenden, sobald sein Auftritt vorbei ist.
Sein Blick wandert weiter die Straße hinauf. Zwischen ihm und der ausgebombten St. Luke’s Church am anderen Ende der Straße erstreckt sich eine bunte Mischung aus kleinen Restaurants, Bistros, Kaffeehäusern, Kunstläden und Bekleidungsgeschäften. Diesen Teil der Stadt hat er schon immer gemocht. Beinah kann er sich eine Zeit vorstellen, in der die Länge der Bold Street als Standardmaß für Schiffstaue verwendet wurde und die umliegenden Gebäude errichtet wurden, um reiche Kaufleute zu beherbergen.
Ihm ist durchaus bewusst, dass die Stadt wie jede andere ihre Probleme hat. Nur wenige Fahrminuten in fast jede Richtung vom Zentrum und dessen Touristenattraktionen gelangt man in Gegenden, die von Verfall, Verwahrlosung und Armut geprägt sind. Toxteth, berüchtigt für die Krawalle in den 1980er Jahren, liegt nicht weit entfernt. Aber im Gegensatz zu vielen anderen Städten ist Liverpool lange Zeit von oben herab betrachtet worden, jedenfalls von Politikern und den Medien – und meist von Leuten, die noch nie hier gewesen sind. Über die Bewohner der Stadt werden oft grausame Klischees, sagenhafte Vorurteile und gedankenlose, unlustige Scherze verbreitet.
Aber die Dinge ändern sich gerade, und sogar ziemlich schnell. Nach Jahrzehnten der Stagnation befindet sich die Stadt im Wandel. Das Geld strömt nur so herein. Das Hafengebiet und die Einkaufszonen werden restauriert und wiederbelebt. Liverpool hatte schon immer seine Geschichte, seine Architektur, Fußball und die Beatles. Mittlerweile gibt es in der Stadt auch eine Filiale der Kaufhauskette Debenhams und ein Hilton Hotel. Überall schießen neue Restaurants und Bars aus dem Boden. Die Touristen pilgern in die Stadt wie nie zuvor.
Und bei den Einwohnern von Liverpool bewirkt all das ein wachsendes Gefühl von Optimismus. Trotz des Drecks und des Verfalls, der die Außenbezirke teilweise noch beherrscht, können die Menschen voll Stolz das strahlend glänzende Zentrum ihrer Stadt betrachten und darauf hoffen, dass etwas von dem neuen Wohlstand zu ihnen durchsickert. Aber unabhängig davon, ob es dazu kommt oder nicht, sie werden sich nicht von der Mission abhalten lassen, die in ihren Genen festgeschrieben zu sein scheint: Liverpool zur freundlichsten und einladendsten Stadt des Landes zu machen.
Cody sieht und spürt es, als er sich umschaut.
Allerdings entdeckt er nicht, wofür er hergekommen ist.
Er verbringt eine Minute mit der Entscheidung, was er als Nächstes spielen soll. Die Wahl fällt auf »Eleanor Rigby«. Bis zum Ende des Songs bekommt er keinen Penny dafür. Dann jedoch bleiben zwei Mädchen im Teenageralter stehen und lächeln ihn an. Er lächelt zurück.
»Was war das?«, fragt eine der beiden.
»Das kennst du nicht?«, erwidert er.
»Sonst würde ich ja wohl kaum fragen.«
Der Konter belustigt ihn. »Ist von den Beatles. Von denen hast du aber schon gehört, oder?«
»Klar. Bin ja nicht dumm. Mein Opa schwärmt immer von ihnen. Er sagt, er hat sie im Cavern Club gesehen, noch bevor sie berühmt waren.«
»Dann ist er ein Glückspilz. Ich wünschte, ich hätte dort sein können.«
»Kannst du auch irgendwas Modernes?«
»Was zum Beispiel?«
Sie zuckt mit den Schultern. »Weiß nicht. Etwas von Beyoncé oder Ed Sheeran?«
Cody kratzt sich am bartstoppeligen Kinn. »Wie wär’s mit ›Single Ladies‹?«
Ihre Augen leuchten auf. »Das kannst du spielen?«
»Nein. Aber ich kann den Tanz, falls du den sehen willst.«
Die Mädchen sehen sich gegenseitig an und kichern. Die bisher Schweigsame fühlt sich offenbar ermutigt genug, um eine eigene Frage zu stellen.
»Schon mal dran gedacht, dich bei X Factor zu bewerben?«
Jemand taucht auf. Hinter den Mädchen. Cody gestattet den Augen einen kurzen Blick, lässt sie aber nicht verharren.
Er bemerkt einen großen Mann in einem langen grauen Mantel und einer Beanie-Mütze, allerdings sieht Cody nicht besonders gut an den Mädchen vorbei.
»Meint ihr, ich bin gut genug dafür?«, fragt er die beiden.
»Hab schon Schlimmeres gehört. Wer weiß? So könntest du berühmt werden.«
Cody beobachtet, wie sich der Mann einen Schritt vorwärtsbewegt, als wäre er neugierig, was gesprochen wird, oder als wolle er darauf warten, einen Song zu hören.
Noch nicht, denkt Cody. Im Zweifel für den Angeklagten.
»Wenn ich berühmt werde, kommt ihr dann zu einem meiner Auftritte?«
»Ja, klar. Nur solltest du besser was Moderneres lernen, sonst hast du keine Chance. Du bist ja nicht viel älter als wir, oder?«
Codys Verstand verteilt sich auf zwei Fronten. Zum einen versucht er, sich eine geeignete Antwort für die Mädchen zu überlegen, zum anderen lässt er die Aufmerksamkeit darauf gerichtet, was der Mann vorhaben könnte.
Solche Fragen werden ihm ständig gestellt. Über sein Alter. Warum er aussieht, als wäre er noch kaum zwanzig, obwohl er in Wirklichkeit auf die dreißig zugeht. In mancher Hinsicht ist sein jungenhaftes Aussehen der Fluch seines Lebens. Andererseits ist es der Grund, warum er sich jetzt und hier als jemand ausgibt, der er nicht ist.
Eine weitere vorsichtige Vorwärtsbewegung des Mannes. Mittlerweile befindet er sich direkt hinter den Mädchen. Er könnte die Hand ausstrecken und sie berühren. Cody spannt den Körper an. Es wird fast unmöglich, sich auf die Mädchen zu konzentrieren. Seine Augen wollen den Blick heben und ihn auf den Mann heften, aber dann wäre alles vorbei. Cody gibt unverbindliche Laute von sich, als suche er nach einer geistreichen Antwort auf die nach wie vor unbeantwortete Frage des Mädchens. Aber sein Gehirn hat den Multitaskingversuch bereits aufgegeben und verlangt von ihm, sich gefälligst nur auf eine Sache zu konzentrieren.
Und dann passiert es. Wenngleich nicht so, wie Cody es erwartet hat.
Aus dem Nichts taucht ein zweiter Mann auf. Plötzlich ist er da, rechts von Cody und voll im Blickfeld der Mädchen. Auch er trägt eine Kopfbedeckung – eine Baseballmütze – und einen langen Mantel. Der Unterschied besteht darin, was er mit dem Mantel macht. Denn er klappt ihn weit auf und zeigt den Mädchen, dass er darunter nur ein Paar schwarze Schuhe und lange graue Socken trägt. Obwohl das weniger erwähnenswert ist als der Teil seines Körpers, an dem er gerade die Mütze aufhängen könnte, wenn er wollte.
Den Mädchen entfährt ein schriller Aufschrei. Cody stürmt dem Mann entgegen, der sich umdreht und losrennt. Es gelingt Cody, den Mantel des Exhibitionisten hinten zu fassen zu bekommen. Er krallt die Hand fest in den Stoff und denkt: Ich hab dich, du Mistkerl. Ich hab dich.
Nur hat er ihn eben nicht. Denn der Mann streift den Mantel einfach ab und rennt weiter. Nackt bis auf die Schuhe, die Socken und die Baseballmütze legt er einen Sprint hin, der Usain Bolt würdig wäre.
Scheiße, geht es Cody durch den Kopf. Und dann prescht auch er los. Er schwingt sich die Gitarre auf den Rücken und jagt hinter seiner Beute her. Schlagartig ist er kein Straßenmusiker mehr. Er ist Detective Sergeant Nathan Cody von der Polizei Merseyside, verfolgt einen Verdächtigen und ruft in sein verstecktes Funkmikrofon, dass er Unterstützung braucht. Gleichzeitig verflucht er, dass sein Plan so schiefgelaufen ist. Vielleicht war es doch keine so gute Idee, sich als Straßenmusiker auszugeben, denn beim Rennen ist ihm die verdammte Gitarre im Weg. Obendrein ist es seine eigene Gitarre, und wenn sie beschädigt wird, wäre er so was von verdammt sauer.
Der nackte Mann sprintet die Bold Street hinauf los, biegt aber sogleich nach links in den Eingang der Central Station. Cody folgt ihm die Rampe hinunter. Weiter vorn sieht er Leute, die lachend auf den Flitzer zeigen, aber trotz Codys Rufen unternimmt niemand etwas, um den Kerl aufzuhalten.
Cody beschließt, sich den Atem zu sparen und die Energie dafür zu verwenden, die Schritte zu beschleunigen.
Er fragt sich, ob der Mann zu den Zügen will. Wie zum Teufel will er so an den Zugangskontrollen vorbei? Doch stattdessen biegt er an der Konditorei nach links und steuert wieder nach oben zum anderen Ausgang. Cody merkt zwar, dass er aufholt, aber, Mann, kann dieser Mistkerl rennen. Als der Flitzer auf die Ranelagh Street stürmt und den Fußgängerübergang erreicht, wird er nicht langsamer. Er achtet nicht mal darauf, was die Ampel anzeigt. Stattdessen prescht er schnurstracks über die Straße und scheint die quietschenden Reifen, die plärrenden Hupen und die fluchenden Taxifahrer nicht zu bemerken. Cody ist ein wenig konservativer, wenn es darum geht, das eigene Leben zu riskieren. Er bremst ein bisschen ab und nimmt sich etwas Zeit, um dem Verkehr auszuweichen und die Taxifahrer mit Gesten aufzufordern, ihn möglichst nicht zu überfahren.
Als er die andere Straßenseite erreicht, sieht er ein weiteres Hindernis, das ihm im Weg steht. Eine Frau. Ein Berg von einer Frau. Breit und im Begriff, die Lücke zwischen dem Obststand und der dicht gedrängten Gruppe von Leuten zu schließen, die sich nach dem Nackten umgedreht haben, der gerade an ihnen vorbeigehastet ist. Cody ruft zwar, aber die Frau hört ihn nicht. Sie nähert sich der Lücke weiter wie ein zum Dock gleitendes Schiff.
Dafür kann er nicht anhalten. Bei den Autos hat er gezögert, aber dafür kann er nicht bremsen, obwohl die Frau aussieht, als könnte sie an ihm genauso viel Schaden wie ein Pkw verursachen. Während er sie brüllend auffordert, aus dem Weg zu gehen, ist er bereits dabei, sie zu überholen. Schon zwängt er sich durch eine Öffnung, die unmöglich genug Platz für sie beide bieten kann.
Als er es um Haaresbreite auf die andere Seite schafft, weiß er auf Anhieb, dass es nicht ohne Folgen abgegangen ist. Ein überraschter Aufschrei, ein Krachen und das Geräusch von kullerndem Obst verraten ihm, dass er das Manöver unzulänglich ausgeführt hat. Als er Verwünschungen hört und eine große, von seiner Schulter abprallende Orange spürt, ist er nicht überrascht.
Weiter vorn läuft der Nackte ins Einkaufszentrum Clayton Square. Anhand seines bisherigen Glücks weiß Cody – er weiß es einfach –, dass sich die automatischen Türen in diesem Moment schließen werden. Was sie prompt tun. Geradezu pervers langsam gleiten sie aufeinander zu. Cody weiß auch, dass sie irritierend träge auf sein wildes Fuchteln reagieren werden, bis sie sich wieder öffnen.
Also beschließt er, ihnen die Genugtuung nicht zu gönnen. Statt auf die Bremse zu treten, gibt er Vollgas. Eine Schrecksekunde lang sieht es so aus, als würde es Mann gegen Glas heißen. Trotzdem hält er nicht an. Im letzten Moment macht er einen mächtigen Satz und dreht den Körper seitwärts, um zwischen diese sich schließenden Kiefer zu passen.
Und vergisst etwas.
Er vergisst, dass er eine Gitarre auf dem Rücken hat. Sein innig geliebtes Instrument. Das er mit einem beträchtlichen Teil seines ersten Gehalts gekauft hat. Das Instrument, auf dem er jede Nacht in den einsamen Stunden klimpert, wenn sich ihm der Schlaf entzieht. Das Instrument, das er heute mitgebracht hat, weil die Polizei in der Regel keine Gitarren vorrätig hat. Und weil Cody nicht ahnen konnte, dass er gezwungen sein würde, einen nackten Irren durch die belebten Straßen von Liverpool zu jagen.
Aber es gibt kein Zurück mehr. Er hört ein endgültig klingendes, durch Mark und Bein gehendes Knirschen und Aufheulen seiner Gitarre, als sie ihm vom Rücken gerissen wird und scheppernd auf dem Boden landet wie ein sterbendes, von den blutigen Zähnen eines wilden Raubtiers weggeschleudertes Tier. Obwohl er einen schmerzlichen Verlust verspürt, den nur ein anderer Musiker verstehen würde, weiß er, dass er nicht anhalten und trauern kann. Stattdessen leitet er seine Emotionen in erbitterte Entschlossenheit, als er einen Haken um eine verwirrte Frau herum schlägt, die TV-Abos von Sky zu verkaufen versucht.
Cody stößt unverständliches Gebrüll aus und zapft seine Energiereserven an. Allmählich verringert er den Abstand wieder, als der Nackte durch den Eingang eines Drogeriemarkts läuft. Cody hetzt hinterher und erkennt, dass seine Chancen hier steigen. Weniger offene Fläche. Der Mann ist zwischen den Gängen eingekeilt, außerdem sind weiter vorn Leute. Personal und Kunden, die helfen könnten. Cody ruft ihnen zu.
»Polizei! Halten Sie den Mann auf!«
Aber er weiß Bescheid. Tief im Herzen weiß er, wie unwahrscheinlich Hilfe von ihnen ist. Den meisten kann man es nachsehen, weil sie nicht verstehen, was los ist. Andere kapieren es vielleicht, sind aber zu zaghaft, um einzugreifen. Meist sind auch einige wenige darunter, die wollen, dass der Verbrecher entkommt und die Polizei versagt.
Aber manchmal tritt eine Ausnahme in Erscheinung.
Eine junge Frau löst sich mit einem Parfümtestflakon in der Hand von ihrem Platz. Sie zielt. Sie sprüht. Und verpasst dem Flitzer eine kräftige Parfümwolke direkt in die Augen.
Der Mann stößt einen schrillen Schrei aus, reißt die Hände vors Gesicht und wirbelt von ihr weg. Ironischerweise prallt er ausgerechnet gegen einen Ständer mit Lesebrillen, die quer durch den Laden spritzen. Dann jedoch erlangt er irgendwie das Gleichgewicht wieder und setzt die Flucht fort.
Atemlos haucht Cody einen Dank, als er die junge Frau passiert, die zu Recht stolz auf ihr beherztes Handeln wirkt. Ihr strahlendes Lächeln erneuert seinen Glauben und verleiht ihm frische Energie. Du schaffst das, sagt er sich. Du schaffst das.
Dem Flitzer gelingt es, die gegenüberliegende Seite der Filiale zu erreichen und sie durch den anderen Ausgang zu verlassen. Er biegt nach rechts und erklimmt die Stufen mit den gelben Rändern, die hinauf zur weitläufigen Kurve der Great Charlotte Street führen. Es sind zwar etliche Stufen, aber sie sind nicht steil, und Cody stellt fest, dass er abermals aufholt. Noch eine letzte Anstrengung, sagt er sich und beginnt, die Stufen zwei auf einmal zu nehmen. Er gelangt näher und näher zu dem Mann, der ihm aus diesem Winkel eine recht unappetitliche Aussicht bietet. Schließlich hat er ihn beinah in Reichweite, fragt sich jedoch, was zum Teufel er greifen soll. Und als das Ende der Treppe naht, wird Cody klar, dass er jetzt oder nie handeln muss, weil seine Lunge zu platzen droht. Mit einer letzten Kraftanstrengung stößt er sich ab, hechtet vorwärts, streckt sich und ...
Und bekommt den Flüchtenden zu fassen. Er erwischt ein Fußgelenk, was gerade so reicht. Seine Finger schließen sich um das knochige Gelenk und lassen nicht mehr los. Sie bohren sich in die Haut wie eine zu enge Fußfessel. Der Mann fällt. Mit einem fleischigen Klatschen schlägt er auf dem Bürgersteig auf. Im Nu ist Cody auf ihm und fixiert ihn auf dem Boden. Während er ihn festhält, versucht er, der überforderten Lunge Worte abzuringen, damit er einerseits seine Kollegen rufen und andererseits diesen Idioten für den Schaden an seiner kostbaren Gitarre verwünschen kann.
Es dauert eine Weile, bis er sich seiner Umgebung bewusst wird. Und bemerkt, dass um ihn herum Menschen stehen, die lächeln und kichern, während sie ihre Handys hochhalten, um Fotos zu schießen und Videos aufzuzeichnen.
Und einfach so weiß er es. Schweren Herzens findet er sich damit ab, dass sich die Bilder, wie er atemlos auf dem Hintern eines nackten Mannes kauert, in Kürze viral verbreiten werden.
4
Manchmal fragen die Menschen Cody, womit er sich den Lebensunterhalt verdient. Und manchmal, wenn er keine Lust hat, es genauer zu erklären, antwortet er einfach, dass er beim MIT ist. Gelegentlich versüßen ihm dann die damit heraufbeschworenen Mienen der Überraschung, Bewunderung oder Verwirrung den Tag.
Nicht, dass es gelogen wäre. Nur ist das MIT, für das er arbeitet, nicht jenes, von dem die meisten Leute gehört haben. Er ist nicht am Massachusetts Institute of Technology, einer der renommiertesten akademischen Einrichtungen der Welt. Wo er stattdessen arbeitet, da gibt man sich mit einem deutlich bescheideneren Maß an Hirnschmalz zufrieden, das muss sogar er einräumen.
Cody gehört zum Major Incident Team, das im Revier Stanley Road untergebracht ist, einem modernen, zweistöckigen Backsteingebäude in Kirkdale, einem der Problemviertel der Stadt. Als solle damit ein komischer Effekt erzielt werden, befindet sich das Revier direkt neben einem Bestattungsinstitut. Örtliche Scherzbolde meinen dazu, so hätte die Polizei wenigstens eine Chance, auch mal eine Leiche zu finden.
Als sich Cody dem Gebäude nähert, weiß er einfach, dass sie da sein wird. Nicht bloß irgendwo im Revier – dort arbeitet sie schließlich. Sie wird da sein, wo er ist. Als besitze sie so etwas wie einen patentierten Cody-Detektor. Sobald er den Mannschaftsraum betritt, wird sie auftauchen, und ihre Aufmerksamkeit wird sich auf ihn heften.
Er weiß, dass sie nur sein Bestes will, wofür er dankbar sein sollte. Aber manchmal hat er das Gefühl, er sollte sie beiseitenehmen und ihr schonend beibringen, dass er die Aufmerksamkeit zwar schätzt, aber äußerst dankbar wäre, wenn sie sich ein wenig zurücknehmen könnte. Nur ein bisschen.
Dann jedoch sieht er sie, und derlei Gedanken hechten prompt in Deckung. Noch bevor Cody das Gebäude erreicht, stürmt Detective Chief Inspector Stella Blunt durch die Eingangstür heraus. Mit einer Schar schlichter Ermittler im Schlepptau schreitet sie entschlossen wie Boudicca an der Spitze ihrer Icener. Dabei vermittelt sie etwas Ernstes, etwas Furchterregendes, etwas, das davor warnt, sich mit ihr anzulegen. Sie besitzt eine kantige, stämmige Gestalt mit einer Brust, die einer zu stark aufgeblasenen Schwimmweste ähnelt. Das angegraute Haar trägt sie kurz und gescheitelt. Von sanften, wallenden Locken hält diese Frau nichts. Ihre angespannte Kieferpartie passt insofern gut zum Körper, als sie breit und kantig ist.
Als sie Cody sichtet, sagt sie: »Morgen. Haben Sie sich doch noch dazu durchgerungen, sich uns anzuschließen?«
»Ich war ...«
»Ja, ich weiß, womit Sie beschäftigt waren. Aber jetzt, da Sie hier sind, können Sie gleich mitkommen und richtige Arbeit leisten.«
Sie streckt dem Ermittler neben ihr eine Hand mit Stummelfingern entgegen. »Schlüssel!«
Der Mann legt ihr Autoschlüssel auf die Handfläche, die sie prompt zu Cody wirft. »Sie fahren.« Zu dem anderen Ermittler sagt sie: »Ihren Job als Chauffeur haben Sie gerade verloren. Suchen Sie sich ein anderes Auto.«
Cody reiht sich in die dahinhastende Gruppe ein. »Äh, darf ich fragen ...«
»Mord, Sonnenschein. Unser täglich Brot. Sind Sie jetzt in meiner Truppe oder nicht?«
»Ja, Ma’am.«
»Dann steigen Sie ein. Fahren Sie zur Derby Lane. L13. Eine Unglückszahl für irgendeine arme Frau.«
Cody klemmt sich hinter das Steuer eines silbernen BMW und lässt den Motor an, während Blunt auf dem Beifahrersitz hin und her rutscht, um es sich bequem zu machen.
Er rollt mit dem Wagen los. Aus dem Augenwinkel bemerkt er, dass Blunt ihn anstarrt.
»Woher haben Sie die Jacke?«, will sie wissen.
»Second-Hand-Shop. Dachte mir, damit würde ich authentischer wirken. Ich hab mich als Straßenmusikant getarnt.«
»Tja, hätte auch nicht gedacht, dass Sie in der Aufmachung einen Investmentbanker darstellen wollen. Warum haben Sie sich nicht umgezogen?«
»Wollte ich gerade, Ma’am. Sie haben mich auf dem Sprung dazu erwischt.«
»Eine Rasur brauchen Sie auch.«
»Ja, Ma’am.«
Blunt schnuppert. »Und haben Sie sich heute Morgen schon gewaschen?«
»Ja, Mam.«
Jäh schnellt ihr Kopf zu ihm herum. »Was war das?«
»Nichts, Ma’am. Ich habe nur bejaht.«
Aber er weiß, dass er mit dem kleinen Scherz den Nagel auf den Kopf getroffen hat. Blunt ist nicht nur seine Vorgesetzte, sie will ihn auch bemuttern. Daran ist nichts gruselig. Es ist nichts, weswegen er überlegen müsste, einen gerichtlichen Unterlassungsbefehl gegen sie zu erwirken. Die Frau ist lediglich besorgt um ihn.
Richtig durchschaut hat er Blunt bisher nicht. Wird er vielleicht auch nie.
Er hat schon miterlebt, wie sie Untergebene derart zur Schnecke gemacht hat, dass sie als zitternde Nervenbündel aus ihrem Büro geschlichen kamen. Aber ihm ist auch klar geworden, dass sie jedes Mitglied ihres Teams bis zum Tod verteidigen würde. Was sich in ihrem Privatleben abspielt, weiß er nicht. Er hat keine Ahnung, ob sie verheiratet ist oder Kinder hat. Er weiß nicht mal, ob sie je eine feste Beziehung gehabt hat. Aber aus irgendeinem Grund scheint sie beschlossen zu haben, Cody praktisch zu adoptieren. Er ist ihr Lieblingsprojekt geworden. Und irgendetwas sagt ihm, dass es unklug wäre, ihre schützenden Fittiche vorschnell wegzustoßen.
»Was hat Sie dazu bewogen, den Auftrag heute Morgen anzunehmen? Den mit dem Flitzer.«
Cody zuckt mit den Schultern. »Man hat mich darum gebeten. Der Kerl ist jeden Dienstag aufgetaucht und hat sich durch die Bold Street gearbeitet. Es erschien mir so gut wie sicher, dass er auch heute Morgen da sein würde. Und das war er ja auch.«
»Nicht gerade, was ich einen Schwerverbrecher nennen würde.«
»Stimmt. Aber Serientäter wie er entwickeln sich oft weiter und begehen schwerere Sexualdelikte, wenn sie nicht aufgehalten werden.«
Blunt starrt ihn mürrisch an. »Das weiß ich, Cody. Ich will darauf hinaus, dass wir uns beim MIT normalerweise nicht mit Fällen solcher Art beschäftigen. Warum also haben Sie zugestimmt? Haben Sie im Moment nichts anderes zu tun?«
»Wie gesagt, die Ermittler in dem Fall sind an mich herangetreten. Sie wollten jemanden, der nicht wie ein typischer Polizist aussieht, und idealerweise jemanden mit Erfahrung bei verdeckter Arbeit.«
»Und Sie hatten nichts dagegen? So etwas wieder zu machen – das hat Sie nicht gestört?«
Er weiß, worauf sie hinauswill. Weiß, wohin sie das Gespräch damit lenken will.
Cody wurde gleich zu Beginn seiner Laufbahn bei der Polizei für verdeckte Einsätze ausgewählt und ausgebildet. Die Talentsucher, die Ausschau nach geeigneten Kandidaten halten, achten dabei auf dreierlei: jemanden, der nicht als offensichtlicher Polizist aus der Masse heraussticht; jemanden, der keine Gewohnheiten hat, die sich Beamte im Lauf der Zeit aneignen; und jemanden, den die örtlichen Kriminellen nicht kennen. Als junger Mann mit noch jüngerem Gesicht und frischgebackener Berufsanfänger erfüllte Cody alle drei Bedingungen. Wichtiger noch, er wollte unbedingt dafür rekrutiert werden.
Schon seit seiner Kindheit wollte er immer Polizist werden. Undercover-Ermittler war sogar noch besser. Immerhin handelte es sich dabei um spezielle Polizeiarbeit. Um aufregende, spannende Polizeiarbeit, die Nervenkitzel versprach.
Und es gefiel ihm sehr. Er genoss den Adrenalinrausch und die ständige Notwendigkeit, zu improvisieren. In der Schule hatte er sich bei der Theatergruppe immer gut angestellt, und Arbeit dieser Art verlangt ultimatives Schauspieltalent. Man musste dabei das Darstellen einer anderen Persönlichkeit bis an die Grenzen ausreizen.
Aber es ist auch gefährlich. Als verdeckter Ermittler kann man es ziemlich intim mit Verbrechern der übelsten Sorte zu tun bekommen. Und solche Menschen sind von Natur aus misstrauisch gegenüber Fremden. Es erfordert Nerven wie Drahtseile, um sich an das Drehbuch zu halten, wenn das Publikum einen mit hinterhältigen, bohrenden Fragen und Anschuldigungen auf die Probe stellt. Und man immer sofort eine Antwort parat haben muss.
Manchmal reicht selbst das nicht. Und darauf spielt Blunt an. Sie weiß genau, was vor einem Jahr passiert ist.
»Nein«, antwortet er. »Es hat mich überhaupt nicht gestört.«
Sie mustert ihn wieder. Auch ohne ihrem Blick zu begegnen, weiß Cody, dass Skepsis aus ihren Augen spricht.
»Sie sehen müde aus, Nathan. Schlafen Sie gut?«
Manchmal macht sie das – seinen Vornamen benutzen. Cody findet das ein wenig entwaffnend. Ihm wäre lieber, wenn es in beide Richtungen förmlich bliebe.
Es würde ihm zutiefst widerstreben, sie Stella zu nennen. Und noch mehr, wenn es ihr gefiele.
»Ich schlafe wie ein Baby, Ma’am«, behauptet er. Dabei legte er extra Betonung auf Ma’am, um zu unterstreichen, dass er es förmlich bevorzugt. »Letzte Nacht volle acht Stunden.«
Eine himmelschreiende Lüge. Cody weiß nie genau, wie viele Stunden Schlaf er pro Nacht zusammenkratzt, aber alles in allem sind es wahrscheinlich höchstens zwei oder drei. Immer wieder döst er abwechselnd ein und wacht auf. Was er dazwischen an Schlaf hinbekommt, scheint ihm nie viel zu bringen.
»Gut«, sagt sie. »Freut mich zu hören.« Nach einigen herrlich stillen Sekunden will sie wissen: »Wie läuft es mit Ihrer Freundin? Wie heißt sie noch mal ... Dorset, oder?«
Cody spürt, wie sich etwas in seinen Eingeweiden zusammenzieht. Am liebsten würde er seine Vorgesetzte barsch auffordern, sich gefälligst um den eigenen verdammten Kram zu kümmern. Tatsächlich muss er die Zähne zusammenbeißen, damit der Zorn nicht aus ihm heraussprudelt.
»Devon, Ma’am. Alles gut, danke.«
»Irgendeine Chance, dass ich demnächst einen neuen Hut kaufen muss?«
»Hm?«
»Sie wissen schon. Für eine Hochzeit.«
»Oh! Äh, nein. Noch nicht. Wir wollen nichts überstürzen.«
Die Gefahr besteht nicht. Aus Devons Sicht wird bestimmt nichts überhastet. Sogar ein kurzes Gespräch mit ihr müsste er weit im Voraus buchen.
Aber das alles muss Blunt nicht wissen. Soll sie sich ruhig ihre schöngefärbte Sicht der Dinge bewahren. Soll sie ruhig hören, was sie hören will.
Manchmal wirkt eine gesunde Schicht von Lügen wie das Schmieröl, das eine Beziehung reibungslos am Laufen hält.
5
Cody steigt aus dem Auto. Er schnuppert, als wolle er die Luft nach dem Geruch von Blut, der Fährte eines Mörders absuchen. Die schmale Straße strotzt vor Polizeiautos, sowohl Streifenwagen als auch ungekennzeichnete Fahrzeuge. Die Fenster der umliegenden Häuser reflektieren rotierende Blaulichter. In einem der Fenster hängt ein Poster des FC Liverpool, während das des Nachbarn stolz ein Poster des FC Everton zeigt. Dürfte bei einem Derby für interessante Gespräche sorgen, überlegt Cody.
Er duckt sich unter dem Absperrband des Tatorts zurück, das sich zwischen Straßenlaternen spannt. Aber während Blunt keine Zeit verschwendet und in den Kampf marschiert, hält er kurz inne und mustert die Personen, die er auf der anderen Seite der Absperrung zurückgelassen hat. Er registriert einen tätowierten Mann mit einem hässlichen, muskelbepackten Hund, der aussieht, als sollte er ebenfalls tätowiert sein. Registriert einen jungen Burschen mit rasiertem Kopf, der eigentlich in der Schule sein sollte. Registriert eine alte Dame, die anscheinend vergessen hat, ihre Zähne einzusetzen. Die Schaulustigen verrenken sich den Hals, glotzen, zeigen mit den Fingern und ergehen sich in Spekulationen. Cody hält Ausschau nach jemandem, der sich ein wenig anders verhält, ein bisschen verdächtiger wirkt, entdeckt aber niemanden, auf den es zutrifft. Nur die üblichen Gaffer, die sich aus Sensationsgier eingefunden haben. Hier könnte man ein kleines Vermögen damit machen, Hotdogs und Popcorn zu verkaufen.
»Sagen Sie, welchen Teil von ›Nicht übertreten‹ verstehen Sie nicht?«
Die Stimme ertönt hinter ihm. Weiblich, aber es ist nicht Blunt. Noch bevor er sich umdreht, weiß er, warum der Polizistin der Irrtum unterläuft. Er trägt noch seine verlotterte Aufmachung eines Straßenmusikanten. Deshalb hält sie ihn für einen Trottel, der beschlossen hat, sich über die Anweisung auf dem Absperrband der Polizei hinwegzusetzen. Lächelnd denkt Cody, er könnte sich ein bisschen Spaß erlauben.
Mit einem Scherz auf den Lippen dreht er sich um.
Aber als er sie erblickt, verflüchtigt sich das schelmische Vorhaben.
Die junge Frau, die auf ihn zusteuert, hat platinblondes Haar, zu einem ordentlichen Pferdeschwanz zusammengebunden. Grübchen in den Wangen. Ein neuer Anzug, schmal an der Taille. Männliche Köpfe – und auch ein, zwei weibliche – drehen sich nach ihr um, als sie an ihnen vorbeigeht.
All die Jahre, und sie hat sich kein bisschen verändert.
»Megan?«
Megan Webley bleibt stehen. Sieht ihn blinzelnd an. Es dauert, bis sich mit dem Erkennen ein Lächeln einstellt.
»Cody?«, fragt sie unsicher nach. »Cody?«
Er zuckt mit den Schultern. »Ich bin’s«, bestätigt er verlegen.
»Oh mein Gott. Oh mein ... Jetzt bin ich aber baff.« Sie kommt ein paar weitere Schritte auf ihn zu. Er weiß nicht recht, ob er die Arme für eine Umarmung ausbreiten oder auf Nummer sicher gehen und ihr einen Händedruck anbieten soll. Am Ende lässt er beides bleiben.
»Was um alles in der Welt machst du denn hier?«, fragt sie. »Bitte sag, dass du verdeckt ermittelst und mich nicht um Kleingeld anhauen willst.«
Er lacht. »Soll das eine Anspielung auf meine Aufmachung sein? Du siehst übrigens fantastisch aus.«
»Danke. Und du ... beschissen. Was ist los?«
»Nichts. Ich komme gerade von einem Fall. Jetzt bin ich an diesem dran.«
Sie verengt die Augen. Vielleicht verwirrt, aber Cody kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie sich für eine unerfreuliche Neuigkeit wappnet.
»Du bist an diesem Fall dran? Wie kommt’s?«
»Das mache ich jetzt. Ich bin beim MIT. Der verdeckte Einsatz heute war eine einmalige Sache.«
»Du bist beim ... Im Ernst?«
»Ja. Warum nicht? Ich bin vielleicht nicht Sherlock Holmes, aber ich kann Morde aufklären. Was ist mit dir? Hast du nicht in Warrington gearbeitet?«
»Ein paar Jahre. Dann war ich auf Wirral. Und jetzt bin ich hier. Als neuestes Mitglied deines Teams. Ich hab heute Morgen angefangen.«
»Wirklich? Wow, das ist ... das ist fantastisch. Willkommen an Bord.«
»Ja. Es ist, äh ... ja.« Einen Moment lang starrt sie auf die eigenen Füße, als versuche sie verzweifelt, sich an den Text eines Drehbuchs zu erinnern, den sie nicht ausreichend geprobt hat.
»Also«, meint sie schließlich und setzt wieder ein Lächeln auf. »Wie ist das so – die Arbeit mit diesem Haufen?«
Bevor Cody antworten kann, schaltet sich eine andere Stimme ein.
»Für ihn könnte sie kaum erfreulicher sein«, kommt von DC Neil Ferguson. »Wir leisten die ganze Arbeit, und er heimst den Ruhm dafür ein. Stimmt’s, Sarge?«
Ferguson gleicht einem Laternenpfahl von einem Mann. Er ragt weit höher als der Durchschnitt auf und ist so dürr, dass selbst ein ausgehungerter Löwe keine Zeit mit seinem Körper verschwenden würde. Dass er allein durch sein Erscheinungsbild nie in den Hintergrund treten kann, kompensiert er, indem er sich als Klassenkasper hervortut.
Webley sieht Cody in die Augen. »Sergeant, ja? Für dich geht’s ja ganz schön bergauf.«
Cody ist sich nicht sicher, ob sie sich für ihn freut oder nicht.
Eine Erwiderung bleibt ihm erspart, weil erneut Ferguson seinen Senf dazugibt.
»Entschuldigung, aber kennt ihr beide euch?«
»Wir haben zusammen die Ausbildung gemacht«, antwortet Cody. Er bemerkt, dass Webley ihn aufmerksam beobachtet, als würde sie nur darauf warten, sofort einzugreifen, falls er in Gefilde vordringt, die sie vertraulich belassen will. »Wir haben uns eine Ewigkeit nicht mehr gesehen.«
Webley scheint damit zufrieden zu sein. »Irgendwann müssen wir mal in aller Ruhe plaudern«, schlägt sie vor. »Über die guten alten Zeiten reden.«
Cody fragt sich, ob sie es ernst meint oder es nur für Ferguson sagt.
»Jederzeit«, erwidert er.
»Gut«, sagt sie. »Okay, dann schlüpfe ich am besten mal in den Anzug. Ich will an meinem ersten Tag keinen schlechten Eindruck hinterlassen.«
Damit geht sie davon. Cody und Ferguson schauen ihr nach.
Ferguson meint: »Die Welt ist klein. Für Wibbly und dich, meine ich.«
»Sie heißt Webley.«
»Trotzdem, ist schon ein bisschen merkwürdig, dass du ihr nach all der Zeit so über den Weg läufst. Und
Verlag: ATG books
Texte: David Jackson
Bildmaterialien: Audio-To-Go unter Verwendung eines Motivs von Tama66 / pixabay
Cover: Audio-To-Go unter Verwendung eines Motivs von Tama66 / pixabay
Lektorat: Ulrike Gerster
Korrektorat: ATG Books
Übersetzung: Michael Krug
Satz: BookRix
Tag der Veröffentlichung: 06.09.2021
ISBN: 978-3-96519-045-0
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