Cover

2



Das "Revier" war ein Ausflugslokal mit Biergarten. Früher war ich manchmal mit meinen Eltern hiergewesen, wir hatten unter den schattigen Eichen gesessen und ich hatte Cola trinken dürfen, was ich zu Hause nie durfte.
Am Morgen hatte ich mir überlegt, wann Dorothee wohl ins "Revier" kommen würde... aber eigentlich ging es darum, dass ich keine Lust hatte, von Morgens bis Abends auf sie warten zu müssen, in dieser sengenden Hitze, mit dem Geschwätz der Gäste im Ohr, denn alle Tische im Biergarten würden voll besetzt sein. Und ich hatte kein Geld. Ich würde mich nicht wie früher an einen Tisch setzen und Cola trinken können.
Nach dem Mittagessen machte ich mir etwas Proviant, nahm zwei Büchsen Cola aus dem Kühlschrank und fuhr mit dem Bus zum Park. Das Cola würde scheußlich schmecken. Jetzt war es noch eisgekühlt, aber nicht mehr lange. Der Biergarten war tatsächlich mit auf den letzten Platz besetzt. Er lag nicht nur im Schatten großer Bäume, auch um ihn herum gab es nur Wald und ein paar Wege. Ich suchte mir ein Plätzchen hinter einem Gebüsch und hoffte, dass mich niemand sehen würde. Von hier aus hatte ich den Biergarten und den Eingang zum Lokal gut im Blick. Mir würde nichts entgehen.
Ich wartete zwei Stunden, drei Stunden und erschuf Dorothee in meiner Phantasie. Stellte mir vor, wie wir zusammen spazierengehen würden, hier durch den Park bis zum See, wie wir uns ein Ruderboot mieten und in die Mitte des Sees hinausfahren könnten, es würde schon dämmern. Wir würden uns auf den Boden legen und in den Himmel starren, bis es dunkel wäre. Wir würden uns in der Dunkelheit lieben, ganz zärtlich, damit das Boot nicht ins Schwanken geraten würde. Wir würden engumschlungen einschlafen, nackt. Und dann? Ich wusste es nicht. Mein Tagtraum kam nicht weiter, er trat auf der Stelle. Ich sah mich Dorothee umarmen und begann die Zeit zu hassen.
Die Brote hatte ich gegessen, das Cola getrunken. Es war halb sechs, ich musste eingeschlafen sein. Ein hysterisches Lachen weckte mich, ein junges Pärchen tänzelte an mir vorbei, der Junge erzählte dem Mädchen wohl unzüchtige Dinge ins Ohr. Ich schaute zum Biergarten – und sah sie. Drei Personen saßen am Tisch. Dorothee, der Mann von gestern aus dem Freibad und eine ältere Frau, im Vergleich zu Dorothee entsetzlich dick. Sie unterhielten sich, Dorothee lächelte, einmal lachte sie sogar. Vor ihr stand ein kleiner Salat, sie aß ihn mit großem Appetit, was mich verwunderte. Später kam die Kellnerin und brachte große Teller mit Fleisch und Pommes. Die drei Gäste begannen zu essen und wieder langte Dorothee gierig zu, hatte als erste ihren Teller leer. Ich war jetzt verwirrt. Ich konnte mir nicht vorstellen, wo diese Massen von Essen Platz finden konnten in Dorothees Körper, ihrem Bauch, der keiner war. Sie tranken Sprudel und Cola, der Mann trank Weizenbier, sie waren lustig, sie ließen sich noch einmal die Karte geben, bestellten was, die Kellnerin brachte drei große Eisbecher mit Sahne. Ich war fassungslos.
Dann trat ein junger Mann an den Tisch, etwa 25. Sofort wurde Dorothee ernst. Sie nahm ihre Handtasche vom Stuhl neben sich und der Mann nahm Platz. Er beugte sich zu Dorothee und wollte sie auf den Mund küssen, sie drehte den Kopf nach links und er traf nur ihre Wange. Ich hasste diesen Kerl.
Jetzt wurde nicht mehr viel gesprochen. Ich versuchte in Dorothees Gesicht zu lesen, ich las Abscheu und Ekel und Angst. Der Mann neben ihr trank schweigend von seinem Bier, schaute dazwischen zu Dorothee, versuchte ihren Blick einzufangen. Dann sagte die dicke Frau etwas zu Dorothee, sie sagte es sehr ernst, die beiden Männer sahen in ihre Biergläser. Dorothee reagierte nicht. Die Frau sprach lauter, nachdrücklich, sie ärgerte sich, man sah es ihrem Gesicht an. Endlich nickte Dorothee, so wie jemand nickt, dem man gesagt hat, er solle aufstehen und zu seiner Hinrichtung gehen. Dorothee stand auf, der junge Mann neben ihr stand auf, wollte Dorothees Hand nehmen, sie zog sie zurück. Wieder sagte die Frau etwas. Dorothee ließ es zu, dass der junge Mann ihre Hand ergriff, sie verzog ihr Gesicht, als füge man ihr großen Schmerz zu. Dann verließen sie den Biergarten.

Ich ging ihnen nach. Nicht auf dem schmalen Weg zum See, den sie eingeschlagen hatten. Ich lief parallel dazu zwischen den Bäumen hindurch, stolperte, fiel einmal fast hin. Durchs Gebüsch sah ich sie, der Mann hielt immer noch Dorothees Hand, als wolle er verhindern, dass Dorothee wegliefe. So erreichten sie den See.
Meine Phantasie fiel mir wieder ein. Wie ich mit Dorothee auf den See gerudert war, wie wir uns dort geliebt hatten, im Boot gelegen, geträumt, geschlafen. Der Mann ging zur Bootsvermietung, Dorothee wartete am Steg. Sie schien wie erstarrt, wollte weglaufen, aber konnte es nicht. Der Mann kam zurück, stellte sich neben Dorothee und zeigte auf ein Boot. Sie setzten sich in Bewegung, der Mann stieg in das Boot, streckte Dorothee die Hand hin. Sie zögerte, dann nahm sie sie widerwillig.
Sie ruderten hinaus. Ich sah ihnen nach, in mir vereinigten sich Hass und Sehnsucht. Ich stellte mir vor, wie sie in die Mitte des Sees hinausruderten, so wie Dorothee und ich das getan hatten. Es zerriss mich. Ich sollte von hier verschwinden, alles vergessen. Oder für immer in meiner Phantasie begraben, es ab und an herausholen wie einen stinkenden Leichnam.
Sie ruderten tatsächlich bis in die Mitte des Sees. Saßen sich gegenüber, der Mann gestikulierte, Dorothee schüttelte nur den Kopf. Der Mann sagte etwas, sehr laut, aber ich verstand es nicht. Dorothee antwortete, sehr leise, den Kopf gesenkt. Dann beugte sich der Mann zu Dorothee, griff in ihre Haare, zog ihren Kopf zu sich. Dorothee schlug ihm auf den Arm, doch der Mann lockerte seinen Griff nicht. Das Boot schwankte bedenklich.
Ich sah mich um. Es waren keine Leute mehr am See, es begann schon zu dämmern, es war später, als ich dachte. Das Boot schaukelte. Mit der anderen Hand griff der Mann an Dorothees Brust. Das Boot schaukelte immer mehr. Jetzt löste der Mann seine Hand von ihrer Brust und schlug sie dem Mädchen ins Gesicht. Was konnte ich tun? Hinschwimmen und ihn umbringen? Ich überlegte noch, als das Boot umkippte und seine beiden Insassen ins Wasser warf.
Sie tauchten unter und wieder auf. Sie schwammen dem Ufer zu, gerade dort hin, wo ich mich versteckt hatte. Der Mann erreichte das Ufer als erster, er erhob sich, stieß einen Fluch aus, drehte sich um und wartete auf Dorothee. Als sie das Ufer erreicht hatte, packte er sie abermals an den Haaren und hieb ihr mit der anderen Hand wieder ins Gesicht. Dorothee schrie nicht. Sie weinte nicht einmal. Der Mann stieß Dorothee zu Boden und warf sich auf sie. Griff unter ihren Rock. Ich musste etwas tun.
Also stand ich auf und machte Lärm. Lachte. Tat so, als unterhielte ich mich. Sagte zu meiner imaginären Begleitung: Okay, dann eben nicht. Geh ich halt alleine zum See! Wir sehen uns später!
Jetzt mussten sie mich sehen, wie ich pfeifend zum Ufer kam. Der Mann sprang auf, ordnete seine Kleider, half auch Dorothee auf die Füße. Ich sah ihren Körper unter dem nassen Kleid, diesen unfassbar mageren Körper, ich wurde verrückt. Sie blickte mir entgegen und zum ersten Mal sah sie nicht durch mich hindurch. Sie nahm mich wahr, ich trat in ihr Leben, für einen Moment vielleicht nur. Der Mann nahm Dorothee an der Hand, zerrte sie zurück auf den Weg zum Lokal. Dorothee wandte ihren Blick nicht von mir. Für eine Sekunde, für zwei vielleicht, trafen sich unsere Blicke. Ja, ich war ein Teil ihres Lebens geworden.
Als ich sie nicht mehr sah, warf ich mich ins Gras und weinte.

In der folgenden Nacht träumte ich schlecht. Ich stand am See und sah zwei Menschen im Wasser, ich rannte zum Ufer, wo der junge Mann als erster an Land ging. Ich packe ihn, warf ihn zu Boden, griff einen Stein, schlug ihm den Schädel ein. Dann war ich plötzlich ein anderer, nicht besser als der junge Mann. Ich wartete auf Dorothee, warf sie ins Gras, drückte ihre Arme, die sich wehren wollten, fest auf den feuchten Boden...Ließ einen Arm los, lege Dorothee die freie Hand auf den Mund. Sie schlug nach mir. Ich spürte ihre Schläge nicht. Hielt ihr den Mund zu. Griff dann nach ihrem Hals...

Wäre ich erwacht, hätte ich alles für einen schlimmen Traum halten können. Aber ich erwachte nicht. Ich hätte gar nicht geschlafen. Ich stand am Fenster und starrte in die Dunkelheit, ich öffnete das Fenster, um die bösen Gedanken zu vertreiben. Es gelang mir nicht. Ein Teil von mir lachte den anderen Teil von mir aus.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 23.01.2010

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /