Prolog
Ich weiß nicht, wem ich glauben soll, meinem Körper oder meinem Geist. Dem Dämon, der mich zerreißt oder dem Dämon, der mich zusammenhält. Ich weiß gar nichts mehr. Vielleicht habe ich Dorothee ermordet – oder doch nur mich selbst? Und was wäre mir lieber? Dass sie an meinem Grab steht und Trauer heuchelt oder ich an ihrem, mit falschen Tränen in den Augenwinkeln?
Dorothee. Die ich so sehr liebte, dass ich ihr nicht nahekommen durfte. Und als wir uns dann so nahe waren, dass wir eins wurden, starb einer von uns. Ich weiß, das klingt verrückt. Als ich Dorothee zum ersten Male traf, war sie schon 20. Ich war 16. Sie beachtete mich nicht. Ich betrachtete sie wie einen fremden Stern durch ein Fernrohr. Sie war sehr mager, diese Dorothee, sie konnte sich kaum auf den Beinen halten. Schön war sie auch nicht. Hohe Wangenknochen, wie ein Totenkopf. Sie stand an der Haltestelle und wartete auf einen der beiden Busse, die bald fahren würden, und es war mir egal, in welche Linie sie einsteigen würde, in die 10 oder die 21, mit der ich fahren würde. Sie stieg in die 21. Sie musste eine Fahrkarte lösen und kramte umständlich in ihrer Hosentasche nach Kleingeld, Fünfern und Zehnern, die ich klimpern hörte und den Fahrer fluchen. Es war schon spät und der Bus beinahe leer. Dennoch setzte sich Dorothee neben mich. Aber sie beachtete mich nicht. Ich glaube heute, sie hat mich nicht einmal gesehen. Sie hat sich auf einen leeren Platz gesetzt und den Platz, auf dem ich saß, ebenfalls für leer gehalten. Was würde passieren, wenn ich aussteigen musste? Ich war ein Nichts und sie würde für ein Nichts nicht aufstehen.
Es kam anders. Als ich mich anschickte aufzustehen, stand auch Dorothee auf und wankte zum Ausgang. Der Fahrer bremste das Fahrzeug abrupt, Dorothee taumelte, sie taumelte gegen mich, ich spürte ihren Rücken auf meiner Brust, ihr Haar in meinem Gesicht. Dorothee fluchte. Sie sagte ganz laut "Scheiße!" und hielt dem Fahrer den ausgestreckten Mittelfinger hin. Mich beachtete sie immer noch nicht.
Ich musste in die Schillerstraße und hoffte, dass auch Dorothee in diese Richtung gehen würde. Warum ich das hoffte? Ich wusste es nicht und weiß es bis heute nicht. Etwas kitzelte mich an der Nase. Es war ein langes blondes Haar, es sah so aus wie die blonden Haare Dorothees. Ich wickelte es vorsichtig in mein Taschentuch und steckte es ein.
Dann war sie plötzlich verschwunden. Wir hatten die Innenstadt erreicht, es war ein Wochenende, die Innenstadt voller Menschen. Ich ging in die Schillerstraße zu meiner Tante, bei der ich Samstagsabends essen musste, weil sie meine Erbtante war. Es gab – nein, daran möchte ich mich nicht erinnern. Punkt neun verließ ich das Haus in der Schillerstraße und ging zur Bushaltestelle zurück. Ich nahm, während ich wartete, das Taschentuch hervor und wickelte Dorothees Haar vorsichtig aus. Ich sah es nicht, aber ich spürte es in meiner Hand. Hoffte ich, dass Dorothee ebenfalls mit diesem Bus nach Hause fahren würde? Und wo war überhaupt ihr Zuhause? Ich hatte sie zuvor noch nie gesehen, ich wusste nichts über sie. Und natürlich kam sie nicht. Ich fuhr im Bus und erschuf Dorothee. So dünn wie sie war... Vielleicht hatte sie lange in einer Klinik für Magersüchtige zugebracht. Vielleicht war sie drogensüchtig. Vielleicht war alles ganz anders, ganz harmlos, vielleicht war sie nur zu Besuch in diesem Teil der Stadt gewesen, bei ihrem Freund, und sie hatten sich gestritten und sie würde ihn nie wieder besuchen, nie wieder mit der 21 fahren, nie wieder mich ignorieren, nie wieder...
Aber warum erinnere ich mich jetzt daran? Ich bin Dorothees Mörder, das ahne ich. Aber es wird kein Grab geben. Das Haar in meinem Taschentuch wird alles sein, was von ihr bleibt. Ich muss ruhig werden und die Geschichte von Anfang an erzählen. Vielleicht verstehe ich sie dann.
1
Es waren diese Sommerferien, in denen uns das Wetter betrogen hatte. Regnerisch und kalt war es, Tobi, Anke und ich hockten zusammen und quatschten oder spielten was oder surften durchs Netz. Endlich, die Ferien waren bald vorbei, kam die Sonne und holte nach, was sie in den fünf Wochen zuvor versäumt hatte. Ey, Schwimmbadzeit! Die Jungsclique, natürlich, und Tobi hatte eine neue Badehose, fleischfarben, die sah man nur, wenn man genau hinschaute. Geschmacklos.
Wir räkelten uns auf den Badetüchern und begutachteten die Mädels. Was sonst. Du liegst nicht mit Tobi und Andreas und Joe auf der Wiese des Freibads und tust etwas anderes, als die Mädchen zu begutachten. Schwimmen schon gar nicht. Völlig uncool.
Ich begann mich zu langweilen. Tobi hatte zu den meisten Mädchen eine Geschichte parat. Die da ist total frigide. Die da hab ich schon mal auf der Party von – hab den Namen vergessen – geküsst. Mit der da beinahe... mit der da bei Winnies Geburtstag... die da wohnt in meiner Straße und wechselt die Jungs wie unsereiner die Socken, also alle vierzehn Tage. Mein Gott, wie öde!
Wir hatten uns Bier und Cola und Whisky mitgebracht und mixten uns das Zeug. Tobi und Joe warfen eine Klassenkameradin ins Wasser. Die hat sich nicht mal die Beine rasiert, schüttelte sich Joe anschließend. Tobi erzählte weiter seine Geschichte. Die da – Mensch, guck mal die da! Ein wandelndes Skelett!
Ich hatte Dorothee, von der ich damals noch nicht wusste, dass sie Dorothee hieß, fast schon vergessen. Die Episode im Bus lag drei Monate zurück, ich hatte sie seither nicht mehr gesehen und irgendwann auch aufgehört, auf sie zu warten. Als ich sie jetzt sah, lief mir ein kalter Schauer über den Rücken, ich bekam Gänsehaut, Gott sei Dank bemerkte es niemand.
Dorothee war noch dünner geworden, schien es mir. Sie trug einen einteiligen roten Badeanzug, aus dem ihre Beine wie Bleistifte ragten. Kaum Busen, man konnte die Rippen auf ihrem Bauch zählen. Ihr langes blondes Haar hatte sie abgeschnitten, trug es jetzt nackenlang.
Mensch, johlte Tobi, mit der würde ich gerne mal Torte essen gehen! Die hats nötig! Ich sah ihr nach. Sie ging Richtung Umkleidekabine. – Ich muss mal für Königstiger, sagte ich, stand auf und folgte Dorothee. Mach für mich gleich mit!, brüllte mir Tobi nach, und behalt ihn nicht so lange in der Hand, haha! Idiot.
Dorothee verschwand in der Damenumkleide. Ich tat so, als wartete ich auf jemanden. Sie brauchte nicht lange, keine drei Minuten. Sie trug jetzt eine Jeans, die ihr viel zu groß war, und ein weißes Top, Flipflops an den Füßen, eine gelbe Tasche umgehängt. Was sollte ich tun? Ihr nach? Raus? In der Badehose?
Ich stand also da und Dorothee drohte wieder aus meinem Leben zu verschwinden. Sie war schon fast draußen, als ein Mann hinter ihr her gelaufen kam, sie am Arm festhielt, sie beinahe umriss und ihr etwas ins Ohr sagte. Ein älterer Mann, vielleicht 45, 50, mit einem Bierbauch, der sich über die blaue Badehose wölbte. Dorothee wollte sich losreißen, aber es gelang ihr nicht. Die Stimme des Mannes wurde lauter, drohender, aber ich konnte nicht verstehen, was er sagte. Dorothee sagte nichts. Ich kam näher, ganz langsam, wie zufällig. Jetzt hörte ich, was der Mann sagte. Mach keinen Scheiß, Dorothee, komm zurück. Das kannst du deiner Mutter nicht antun.
Dorothee schüttelte resolut den Kopf. Der Mann ließ sie endlich los und rief ihr nach: Aber morgen kommst du ins "Revier"! Patrick wird da sein! Dorothee drehte sich nicht um, sagte nichts, verschwand einfach.
Na, das hat aber lange gedauert!, lästerte Tobi, als ich zurückkam. Wer weiß, was du auf dem Klo gemacht hast! Joe und Andreas lachten, ich lachte mechanisch mit. Idioten, alle drei. Ich sollte mir neue Freunde suchen.
Später legten wir uns zum Bräunen auf die heißen Gipsplatten vor der großen Treppe. Natürlich neben ein paar Mädels. Tobi bändelte mit einer an und erhielt eine harsche Abfuhr, was mich wirklich freute. Na, dann nicht, blöde Kuh, murmelte er. Ich wollte dir eh nur einen Gefallen tun, bleibst du halt dein Leben lang Jungfrau. Mein Gott, Tobi. Wenn hier noch einer Jungfrau ist, dann du. Wir gingen dann ins Eiscafé und tranken Sektorange, obwohl wir schon abgefüllt genug waren. Keine Mädels. Tobi sagte: Komm, wir gehen zu mir, ich hab ein paar neue Spiele. Wir gingen.
Das "Revier" also. Morgen. Um wieviel Uhr? Ich kannte das Lokal, es lag ein wenig abseits vom See im Stadtpark. Gehen wir morgen wieder her? fragte Tobi später. Ich hab schon was vor, antwortete ich. Stimmte ja auch.
FORTSETZUNG FOLGT...
Tag der Veröffentlichung: 04.01.2010
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