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Prolog

 

 

Götter…
Sie wurden von den Menschen verehrt...
Sie waren Naturgewalt, sie waren Gesetz…
Sie wurden von den Menschen gefürchtet und geliebt…

 

Doch noch mehr als das, wünschten sie sich, wie die Allmächtigen zu sein.
Die Götter erhörten den innigen Wunsch der Menschen.
Sie schickten zwei Adler - einen männlichen und einen weiblichen - von beiden Enden der Welt los.
Dort, wo sie aufeinandertrafen, nisteten und brüteten entstand die göttliche Stadt Tel'Eiylarim.Welt.
Diese Stadt war die schönste, die es auf Erden gab.
Sie beherrberte die schönsten Häuser und die prächtigsten Gärten.
Und in ihrem Inneren wuchsen die schönsten und prächtigsten Sträucher und Blumen.
Jedes einzelne Gewächs - so heißt es - hat eine besondere Fähigkeit.

 


Doch ehe sich die Menschen dem Ort auch nur nähern konnten um die Gabe der Götter zu empfangen, mussten sie sich als edel und stark erweisen.
Diejenigen, die sich nicht beweisen konnten, denen blieb der Anblick der göttlichen Stadt und seine unaussprechlichen Wunder für immer verborgen.


"Erinnert Euch eurer innersten Werte ihr Menschen!
Denn sonst bleibt die Stadt der Götter für immer verborgen!"

 

Im Schatten des Mondes

 

Es war still geworden.
Die Schritte in der unteren Kammer waren verhallt und auch die Dielen in dem Zimmer nebenan bogen sich nicht mehr ächzend unter den schweren Schritten ihres Vaters. Und dennoch lag sie auf ihrem Bett und rührte nicht einen Muskel. Starr war ihr Blick an die Decke gerichtet und angestrengt versuchte sie zu lauschen. Nur noch das Geräusch des Windes war zu hören, der das alte Haus zu bewegen versuchte. Das alte Holz ächzte unter dem Druck des Windes und es schien, als ob das eine oder andere Heulen durch die Zimmer zog.
Vor ihrem Fenster, auf dem knorrigen alten Baum, der schon seit Jahren keine Blätter mehr getragen hatte, saß ein scheinbar ebenso alter Kauz. Jede Nacht saß er dort auf seinem Ast, ließ ab und an einen tiefen Schrei hören, stürzte sich von dem Baum herunter und kam meist ohne Beute wieder zurück, um in der gleichen, regungslosen Position zu verharren. An diesem Abend jedoch, schien er sich nicht von der Stelle bewegen zu wollen. Wie eine aus dunklem Stein gemeißelte Figur saß er da, während seine großen gelben Augen zu ihrem Fenster hinauf starrten, als würde er sie nicht aus den Augen lassen wollen. Leicht beugte sie sich nach vorne, näher an das Fenster heran, sodass der blasse Mondschein nun auch ihre Silhouette beleuchtete. In dem fahlen Licht, wirkte ihre blasse Haut noch kälter, noch glatter als sonst. Das einzige in ihrem Gesicht, was in diesem Moment voller Leben zu sein schien, waren ihre wachen, aufmerksamen Augen, die das Tier auf dem Baum fixiert hatten. Wie gebannt blickte sie den Vogel einen Moment an, wartete, dass er sich regen würde oder den Blick auf einen anderen Punkt richtete. Doch nicht einmal eine Maus, die unter dem Baum durch das Gras huschte, konnte seinen Blick auf sich ziehen.
Es brauchte eine Bewegung am unteren Fensterbrett, damit sie dem beinahe hypnotischen Blick des Vogels entgehen konnte und ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihr eigenes Vorhaben richten konnte. Dragan war zu ihr auf das Bett gesprungen, die schwarzen Knopfaugen auf sie gerichtet. Es bedurfte keinerlei Worte, um ihr verständlich zu machen, dass es allerhöchste Zeit war aufzubrechen.
Sie spürte wie sie versuchte sich selbst noch einmal davon zu überzeugen, dass es besser wäre, wenn sie sich einfach wieder zurücklehnen, ihre Augen schließen und schlafen würde. Doch zu laut schrie die Stimme in ihrem Inneren, dass sie es bereuen würde… dass sie etwas Wichtiges verpassen würde, sollte sie sich nun dafür entscheiden zu bleiben. Die Gelegenheit Vernunft gegen Tatendrang abzuwiegen blieb ihr nicht. Sie hatte ihre Entscheidung zugunsten ihrer Neugierde und ihrer Faszination getroffen und nichts würde sie mehr zur Umkehr bewegen können.
So schlug sie die Decke zurück, schwang die Beine über den Bettrand und richtete sich auf. Dieser Abend hatte sie eine lange Planung gekostet, aber nun war es so weit. Während der kleine Totenkopfaffe immer wieder um ihre Beine sprang, zog sie sich die hochschließenden Stiefel an und warf sich den schwarzen, abgetragenen Mantel über die Schultern. Die sternförmige Schnalle schloss sie auf der Brust, ehe sie sich eine Ziegenledertasche umhängte. Die wichtigsten Sachen hatte sie schon am Vorabend darin verstaut: Ein kleines Geldsäckchen, in dem sich keine Reichtümer befanden, aber zumindest würde sie sich damit einige Tage versorgen können. Auch einen Kompass, sowie ein einfacher Dolch befanden sich in ihrem Besitz. Und natürlich auch eine Wasserflasche, die sie an jeder beliebigen Quelle auffüllen konnte. Wer oder was auch immer ihr auf ihrer Reise begegnen würde, so würde sie wenigstens eine geringe Chance haben, sich zu verteidigen. Doch das Wichtigste, was sie nicht hätte zurücklassen können, war ihre kleine Werkzeugtasche, die sie von ihrem Vater zum sechzehnten Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Wie stolz war sie doch gewesen, als sie dieses Alter erreicht hatte und wie sehr sie sich über die Geste ihres Vaters gefreut hatte.
Noch einmal blickte sie sich in dem kleinen Zimmer um, das sie schon ihr ganzes Leben kannte. Ihr Blick glitt über das alte Bett, dass sie notdürftig mit Stroh gefüllt hatten, da sie nicht wohlhabend genug waren, um sich eine ordentliche Matratze zu leisten. Es war zwar nie sonderlich bequem gewesen, aber dennoch hatte sie hier wunderbare Nächte verbracht. Auch mit der alten, verschlissenen Truhe, am Fuße ihres Bettes, verband sie viele Erinnerungen. Wenn sie als Kind Angst gehabt hatte, war es diese Truhe in der sie sich immer versteckte. Nur die sanfte Stimme ihrer Mutter hatte sie wieder hervorlocken können. Und wie oft hatte sie mit ihrem Vater an dem kleinen Tisch gesessen und sich nach dem Tod ihrer Mutter unterhalten?
Bevor sich eine schwere Melancholie über sie legen konnte, wandte Melika sich von dem Anblick ihres Zimmers ab, öffnete leise die hölzerne Tür und trat hinaus. Direkt gegenüber lag das Zimmer ihres Vaters. Zu gerne wäre sie noch ein letztes Mal zu ihm gegangen, um in sein gütiges Gesicht zu blicken. Sie wusste, dass sie ihm sein altes Herz brechen würde, wenn er am Morgen feststellte, dass sein einziges Kind, seine geliebte Tochter verschwunden war. Und doch hatte sie es nicht übers Herz gebracht sich von ihm zu verabschieden, ihn in ihre Pläne einzuweihen. Er hätte versucht sie von dieser Idee abzubringen und wahrscheinlich hätte er es sogar geschafft.
Ihre Hand strich über das raue Holz seiner Schlafzimmertür, während sie ihre Stirn dagegen lehnte und die Augen einen Moment schloss. Sein herber Duft hing noch immer in der Luft, gemischt mit dem Schweiß, der von der harten Arbeit herrührte. Sie konnte seinen schweren Atem auf der anderen Seite hören und es klang beruhigend. Sie wusste, je länger sie hier stehen würde, desto schwerer würd sie es sich selbst machen ihrem Elternhaus den Rücken zu kehren. Sie musste gehen und durfte erst wieder an diesen Ort denken, wenn sie ihr Ziel erreicht hatte, wenn sie es mit eigenen Augen gesehen hatte. Sie wollte hierher zurückkehren und ihrem Vater von ihrem unglaublichen Abenteuer erzählen…und seine Trauer und seine Wut würden verflogen sein, sobald er sein Kind wieder in die Arme schloss.
„Mach dir keine Sorgen…mir wird nichts geschehen…“, flüsterte sie so leise, dass sie ihre Worte beinahe selbst nicht mehr hören konnte. Mit den Zähnen biss sie sich leicht auf die Unterlippe, ehe sie sich von der Tür abstützte, sie noch einmal anblickte und dann die Augen abwandte um die Stiege hinunter in die Kammer zu treten. Dabei achtete sie genau, wo sie ihre Schritte hinsetzte. Das Haus war alt und die starke Witterung in dieser Gegend hatte es schwer mitgenommen, sowohl außerhalb, als auch im Inneren. Mit der Zeit hatte sie jedoch gelernt, wie sie sich in diesem Haus bewegen musste, damit man keinen Ton von ihren Schritten vernehmen konnte. Dragan wartete ungeduldig am Treppenabsatz auf sie, lief auf und ab und blickte immer wieder zu ihr nach oben. Er schien so aufgeregt zu sein wie sie selbst nur, dass er es nicht verstecken konnte.
„Ruhig Dragan… du weckst ihn auf…sei leise…“, zischte sie dem Wesen in Form eines Totenkopfaffen entgegen, das augenblicklich stehen blieb, die kleinen Hände vor den Mund schlug und sie mit großen, schwarzen Augen ansah. Währenddessen stieg Melika die restlichen vier Stufen hinunter. Auch wenn sie wusste, dass niemand sonst im Haus außer ihr und ihrem Vater, so streckte sie den Kopf in die Küche und auch in die kleine wohnliche Stube. Doch dort war niemand zu sehen. Nur das fahle Mondlicht beleuchtete die karge Einrichtung und tauchte sie in ein kühles Licht, dass ihr einen Moment einen Schauer über den Rücken jagte. Die junge Frau streckte die Hand nach Dragan aus, der diese mit einem gekonnten Satz ergriff und an ihr hinaufkletterte, von der rechten, auf die linke Schulter wanderte und dort schließlich sitzen blieb, während sich seine kleinen Finger an ihrer Kleidung festhielten, um nicht etwas das Gleichgewicht zu verlieren.
Als sie durch die Tür nach Draußen trat, schlug ihr die kühle Luft entgegen, welche sie einen Moment frösteln ließ. Mit den Händen strich sie sich über die Arme, auf denen sich eine leichte Gänsehaut ausgebreitet hatte. Langsam zog sie die Tür hinter sich zu, da die alten Scharniere schon lange nicht mehr geölt worden waren und sie ein garstiges Quietschen von sich gaben, wenn man sie zu schnell bewegte.
Schnell hatte sie sich an die frische Nachtluft gewöhnt und schon beinahe gierig sog sie die Luft in ihre Lungen. Wo sie sich eben noch Vorwürfe gemacht hatte, dass sie ihren Vater alleine zurückließ, breitete sich nun die Gier nach Freiheit in ihr aus, die sie schon immer in sich verspürt hatte. So fielen alle Zweifel von ihr ab. Ohne noch einmal einen Gedanken an Richtig oder Falsch zu vergeuden setzte sie sich in Bewegung. Unter ihren Füßen knirschten die kleinen Kiesel, die den Weg bildeten, der sie weit weg von ihrer Heimat führen würde.
Sie spürte den kühlen Wind im Nacken, der vom Meer zu ihr herüber wehte und ihr das kupferrote Haar immer wieder ins Gesicht schlug. Mit beiden Händen ergriff sie die dunkle Kapuze, die sie vor einiger Zeit an den langen Mantel genäht hatte, und zog sie sich über den Kopf. Ihr sonst so helles Gesicht wurde in tiefe Schatten getaucht, sodass man sie in dieser Dunkelheit nicht auf den ersten Blick erkennen konnte.
Melika zog den Dolch aus der Tasche und befestigte ihn an ihrem Gürtel, tastete noch einmal danach, ob er auch fest genug saß, ehe sie ihren Weg fortsetzte. Die Schmiede und das dazugehörige Haus, lagen außerhalb des kleinen Dorfes in dem sie aufgewachsen war. So blieb es ihr erspart noch einmal durch den Ort zu gehen, in dem sie ihr ganzes bisheriges Leben verbracht hatte. Melika befürchtete, dass sie bei dem Anblick noch einmal ins Wanken geraten würde, ebenso wie bei dem Gedanken an ihren Vater.
Festen Schrittes ging sie über den steinigen Weg, der unter ihren Schritten knirschte, als würde sie über einen Pfad voller Asche gehen. Neben ihr sprang Dragan den Weg entlang, wobei man den Eindruck gewinnen konnte, dass er den Boden nicht einmal berührte, ehe er schon wieder in die Luft hüpfte. Seine Ausgelassenheit war geradezu ansteckend und so konnte sie sich bei dem Anblick ein sanftes Lächeln nicht verkneifen.
Immer weiter entfernten sie sich von dem Haus und irgendwann war es in der tiefen Dunkelheit verschwunden, sodass nicht einmal mehr das Mondlicht es sichtbar machen konnte. Melika wandte sich nicht mehr um und hielt ihren Blick auf den Weg gerichtet.
Sie kamen erstaunlich schnell voran. Nichts schien sie auf ihrem Weg aufhalten zu können. Und auch der Wald, der sich nun vor ihr ausbreitete, würde sie nicht abschrecken. Dennoch blieb Melika stehen und blickte hinauf zu den tiefschwarzen Tannen. In diesem Licht wirkten sie gespenstisch und bedrohlich zugleich. Wie riesige, schwarze Gestalten erhoben sie sich in den Himmel und ließen sie Melika klein und unbedeutend wirken. Doch auch wenn ihr dieser Anblick einen Schauer über den Rücken jagte, setzte sie sich wieder in Bewegung und schritt den Pfad entlang ohne noch einmal nach oben zu blicken.
Wie oft hatte ihr Vater sie davor gewarnt den Wald bei Nacht zu betreten? Wie viele gruselige Geschichten hatte sie schon zu hören bekommen? Und auch wenn es genau das war, was sie vielleicht zur Umkehr bewegen sollte, so würde sie sich von einem Kindermärchen sicherlich nicht davon abhalten lassen diesen Wald zu durchqueren. Wieso sollte er in der Nacht gefährlicher sein, als am Tage?
Der Weg führte sie immer weiter in den Wald hinein. Das helle Mondlicht drang nicht mehr zu ihr hinunter und so mussten sich ihre Augen erst einmal an die völlige Dunkelheit gewöhnen. Deswegen hatte Melika ihr Tempo verlangsamt und die Hände hatte sie vor sich ausgestreckt, damit sie mögliche Hindernisse rechtzeitig ertasten konnte.
Ein stetiges Rascheln begleitete sie über ihrem Kopf. Sie musste nicht hinauf sehen um zu wissen, dass es Dragan war, der dort oben in den Bäumen kletterte. Hin und wieder ließ er einen freudigen Aufschrei hören. Viel zu lange hatte er sich nicht mehr so frei bewegen können und Melika konnte sich vorstellen, welch eine Freude er in diesem Moment empfinden musste. Seit sie ihn vor vielen Jahren im Wald gefunden hatte, war dieses treue Wesen nicht mehr von ihrer Seite gewichen. Dass er sich nun wieder so ungezwungen bewegen konnte, schien ihn vollkommen auszufüllen.
Die junge Frau hatte nach einer gefühlten Ewigkeit den Waldweg verlassen. Sie fühlte sich erschöpft, müde und ihr Körper gierte danach sich endlich zur Ruhe legen zu können. Doch zu nah an der Straße wollte sie ihr Nachtlager nicht aufschlagen. Zum einen wollte sie von niemandem entdeckt werden, der ihr unangenehme Fragen stellen könnte, zum anderen aber war weiter im Inneren des Waldes die Gefahr eines Überfalls gemindert. Solche Überraschungen konnte sie sich nicht leisten, vor allem nicht, da ihre Reise gerade erst begonnen hatte.
So also schlängelte sie sich zwischen den Bäumen hindurch und hielt in dem spärlichen Licht Ausschau nach einem Platz, an dem sie sich niederlassen konnte. An einem umgefallenen Baum schließlich blieb sie stehen. Hier musste eine faszinierende Kraft am Werk gewesen sein, denn die langen, knorrigen Wurzeln waren aus dem Boden gerissen worden und ragten nun in den Himmel hinauf. Dabei reichten sie ihr bis knapp über den Kopf. Mit den Händen strich sie über die starken und erdigen Wurzeln und zerrieb den Schmutz zwischen ihren Fingern. Auch die restliche Rinde ertastete sie, ehe sie sich auf dem starken Stamm niederließ und ihre Tasche auf den Boden stellte.
Sie wusste nicht wie spät es war und ebenso wusste sie auch nicht, wie weit sie tatsächlich gegangen war. Aber ihre Füße schmerzten so sehr, dass sie die Schuhe auszog und ihre Sohlen zu massieren begann. Dabei versuchte sie die Kälte zu ignorieren, die die bloße Haut sofort auskühlte.
Während sie so still dort saß, konnte sie lauschen. Der Wald war voller Geräusche, die sie bisher noch nicht wahrgenommen und noch nie zuvor gehört hatte. Somit wusste sie auch nicht, ob sie diesen Lauten mit Vorsicht begegnen sollte oder aber ob sie sich keinerlei Gedanken darüber machen musste. Kratzen und Scharren waren zu hören mit dem steten und leisen Rufen einer Eule. Ihre tiefgrünen Augen blickten von Baum zu Baum und hinauf in die Wipfel, doch es war nicht das Geringste zu erkennen. Nur die Laute drangen zu ihr.
Als ihre Füße nicht mehr allzu sehr schmerzten, schlüpfte sie wieder in die Schuhe und schnürte die Bänder fest, sodass das Material sie zumindest ein bisschen warm hielt. Langsam rutschte Melika von dem Baumstamm herunter und lehnte sich mit dem Rücken gegen diesen. Sicherlich war es nicht der bequemste Schlafplatz, aber für eine Nacht würde sie darüber hinwegsehen müssen.
„Was bedrückt dich so sehr? Du warst schon die ganze Zeit so schweigsam.“, drang die leise Stimme an ihr Ohr, die ihr schon die ein oder andere bittere Stunde versüß hatte. Es war eine Tonlage, die sie kaum beschreiben konnte, so neuartig und undefinierbar klang sie in ihren Ohren. Und doch schienen auch die unbedeutendsten Worte so ausgesprochen schon eine reine Wohltat zu sein. Melika wandte den Kopf und blickte Dragan an, der neben ihr auf dem Stamm saß und sie aus seinen schwarzen Augen heraus anblickte.
„Ich bin einfach nur schrecklich erschöpft. Und ich habe fürchterliche Schuldgefühle. Vor allem aber muss ich darüber nachdenken, was passiert, wenn das alles eine einzige Lüge war und wir am Ende überhaupt nichts finden, wofür sich diese Reise lohnt. Dann hätte ich alles aufgegeben… um vor den Trümmern eines Traumes zu stehen. Dabei betrifft es ja nicht nur meinen Traum. Ich hätte die wichtigste Person in meinem Leben schrecklich verletzt.“, sagte sie. Es tat gut, dass sie über ihre Zweifel sprechen konnte. Mit Dragan an ihrer Seite wusste sie, dass sie nicht alleine sein würde und dass sie sich vor beinahe nichts fürchten musste. Er würde bei ihr bleiben, egal ob diese Geschichte nun ein gutes oder ein böses Ende nehmen würde. Auf ihn konnte sie sich immer verlassen.
„Ich bin mir sicher, dass du die richtige Entscheidung getroffen hast. Wer bekommt schon einmal in seinem Leben die Chance etwas Göttliches zu erblicken? Und wer hat heutzutage noch den Mut dafür wirklich etwas zu riskieren. Ich denke du kannst stolz auf dich sein, wenn du dein Ziel erreicht hast. Und lohnt es sich nicht für seine Träume zu kämpfen, auch wenn es bedeutet, dass man an anderen Stellen ein Opfer bringen muss?“, antwortete er ihr und legte dabei den pelzigen, dunklen Kopf schräg. Sie wusste, dass er Recht hatte. Dragan hatte meist Recht. Wie könnte sie an der Weisheit eines Wesens zweifeln, das ihr Lebensalter schon um ein vielfaches übertroffen hatte.
Mit einem Satz war der Walddämon auf ihren Schoß gesprungen, wo er sich in Gestalt einer weiß-schwarz gefleckten Katze zusammenrollte und ein tiefes, beruhigendes Schnurren hören ließ, wobei sein ganzer Körper vibrierte. Sein kleiner Kopf drückte sich an ihren Körper und sie konnte die Wärme spüren, die von ihm auf sie überging. Während sie abwesend mit einer Hand durch das weiche und gepflegte Fell strich, das in der Sonne immer außergewöhnlich glänzte, musste sie an den Umstand ihres Zusammentreffens denken. Es war so lange her, dass sie schon glaubte, dass die Erinnerung daran verblasst war. Doch gerade dieser Tag war ihr noch so klar im Gedächtnis, wie es sonst kaum einen Tag gab, an den sie sich wirklich erinnern konnte.

 ***

Es war Winter gewesen.
Das ganze Land war bedeckt von reinem, weißem Schnee. Das Lachen von spielenden Kindern war durch das ganze Dorf zu hören. Nie zuvor hatte Melika etwas so zauberhaftes und schönes gesehen. Es war der erste Schnee, den sie erlebt hatte.
Zwar war es im Winter schon immer kalt gewesen, aber noch nie zuvor hatte es geschneit. Fasziniert und bezaubert hatte sie damals die kleinen Hände gegen das kalte Glas der Fenster gedrückt und stundenlang hinausgesehen. Ihre hellen Augen hatten versucht jeden Winkel zu betrachten, der auf einmal von der weißen Pracht zugedeckt worden war. Nicht länger als eine Stunde hatte es gedauert, da war kaum noch etwas von dem sonst so farblosen Dorf zu sehen. Alles befand sich unter einer Decke aus gefrorenem Wasser.
Für sie als kleines Mädchen, war es nicht weniger als ein Wunder gewesen. Einmal sogar hatte sie geglaubt in den Schneeflocken kleine geflügelte Wesen zu erkennen. Ihre Haut war bläulich und doch schimmerte sie in der strahlenden Sonne weiß. Ihre durchsichtigen Flügel waren nicht zum Fliegen geeignet, sondern sie schienen lediglich dazu nützlich zu sein, um die kleinen, menschenähnlichen Gestalten vom Himmel herabgleiten zu lassen. Ihre zierlichen Körper sanken auf die Erde, wo sie sich zur Ruhe betteten.
Ihre kindliche Fantasie war in dieser Jahreszeit immer wieder mit ihr durchgegangen. Die Geschichten ihres Vaters - die er ihr des Nachts vor dem Kamin immer wieder erzählte - beflügelten ihre rege Fantasie immer mehr. Wenn sie nach draußen ging, eingepackt in die dickste Kleidung die sie besaß, malte sie sich mit den anderen Kindern zauberhafte Welten aus, ellenlange Eiswüsten in denen sie Abenteuer zu bestehen und Prüfungen zu bewältigen hatten. Mit Stöcken bewaffnet, mit deren Hilfe sie sich gegen imaginäre Feinde verteidigten, streiften die Kinder durch das Dorf. Irgendwann jedoch wurde es ihnen langweilig sich nur gegen unsichtbare Gegner zu verteidigen. Und so teilten sich die Kinder in zwei Gruppen auf. Melika war mit zwei anderen Mädchen und fünf Jungen zusammen. Sie schlichen durch die schmalen Gänge des Dorfes, eng hintereinander, ihre Stöcke vor den Körper erhoben und immer auf der Hut. Der Schnee knirschte unter ihren Füßen und es kam ihnen so laut vor, als würde jemand in einem totenstillen Raum auf zahlreichen, gusseisernen Töpfen herumschlagen. Sie hielten inne und blickten sich um.
Valdez Santjago war der größte und auch der auffälligste Junge in der Gruppe. Sein blondes Haar war unter der Wintermütze nicht zu sehen, aber seine tiefblauen, beinahe wilden Augen blitzten in der Sonne geradezu gefährlich. In einem wahren Kampf würde es sich keines der Kinder trauen sich mit ihm anzulegen. Nicht nur, weil er wir eine Kämpfernatur wirkte, sondern auch weil sein Vater der einflussreichste Mann in der naheliegenden Hafenstadt war. So war es nicht weiter verwunderlich, dass er sie anführte, ihnen Befehle gab und jeder von ihnen ohne zu widersprechen gehorchte. Zwei der Kinder liefen zum Ausgang der Stadt und sicherten ihn, sahen sich um, ehe einer von ihnen wieder zu der restlichen Gruppe zurückkehrte und ihnen Bericht erstattete. Erst dann rückten auch die anderen Jungen und Mädchen vor, um aus dem kleinen Dorf hinauszugehen. Ihr Blick streifte über die Ebene. Ihre Gegenspieler konnten nicht weit sein. Immer weiter entfernten sie sich von den Häusern ihrer Eltern, dem kleinen Marktplatz und der Schmiede von Melikas Vater, bis sie schließlich bis zur Waldesgrenze vorgestoßen waren.
Ehrfürchtig blickten zwei der Jungen, Tibey und Gash, hinauf zu den Spitzen der Tannen und die kleine Adele, die jüngste der Gruppe versteckte sich hinter Melika, vergrub ihre kleinen Finger in den Mantel des anderen Mädchens und fing beinahe an zu weinen. Fürsorglich legte Melika einen Arm um die schmalen Schultern der Kleineren, ehe sie ihren Blick auf Valdez richtete.
So weit hatten sich die Kinder noch nie aus dem Dorf herausgewagt und nun schwankten sie zwischen Neugierde und Ehrfurcht vor den Geschichten ihrer Eltern, die jene über diese Wälder erzählten.
„Ich glaube nicht, dass sie da hineingegangen sind.“, sagte sie mit fester Stimme und versuchte sich nicht anmerken zu lassen, dass auch sie sich ein wenig davor fürchtete, was sie wohl hinter den Bäumen erwarten würden. Vor allem aber fürchtete sie, was passieren könnte, wenn ihre Eltern herausfinden würden, dass sie sich ihren Anweisungen widersetzt hatten. Diese Tatsache jedoch schien Valdez nicht aufhalten zu können. Sein strenger Blick ruhte auf Melika und sie konnte spüren, wie er sie von oben bis unten musterte.
„Hast du etwa Angst? Wir sind in einer Schlacht. Hier kämpfen nur die Tapfersten. Wenn ihr nicht gewinnen wollt, dann bleibt hier. Ich schaffe das auch alleine!“, donnerte seine kraftvolle Stimme. Wenn man nicht gewusst hätte, dass er gerade einmal dreizehn Jahre alt gewesen war, so hätte sicherlich auch der mutigste Mann erst einmal eine Gänsehaut bekommen. Mit schweren Schritten stapfte er durch den Schnee, immer weiter auf die Bäume zu, bis er den ersten passiert hatte. Alle Kinder hielten den Atem an und starrten ihm gespannt hinterher, was passieren würde.
Doch es geschah nichts.
Es sprangen keine Monster aus den Baumkronen auf den Jungen herab, verschleppten ihn nicht und stießen auch ihre gelben Zähne nicht in seinen Körper. Auch dem Wald schien es vollkommen egal zu sein, ob dieser Junge nun dort durch das Unterholz stapfte oder nicht. Mit großen Augen sahen die Kinder dabei zu, wie die Gestalt von Valdez immer kleiner wurde, ehe sie begriffen, dass all das vor dem sie sich immerzu gefürchtet hatten, vollkommener Unsinn gewesen war. Enttäuscht über die Lügen ihrer Eltern und ebenso beflügelt von dem Mut ihres Anführers liefen die Kinder los, überschritten die Grenze des Waldes und riefen nach Valdez, dass er auf sie warten solle. Sogar die kleine Adele hatte Mut gefasst, lief neben Melika her und sah sich fasziniert um. Der Wald der ihnen allen immer so unheimlich vorgekommen war, ersteckte sich vor ihnen als eine ganze neue Welt, ein Paradies für Kinder. Und das Spiel hatte sich schnell geändert. Keiner von ihnen dachte mehr daran, dass sie bis eben noch ihre Stadt vor vermeintlichen Bösewichtern hatten schützen wollen. Auch Valdez schien einen Blick für seine Umgebung zu bekommen, hielt inne und blickte sich wie hypnotisiert um.
Es war ein Rascheln im Unterholz, das trotz der freudigen Rufe der Kinder - die durch den Wald tobten als hätten sie nie etwas Schöneres und Interessanteres gesehen – an ihr Ohr drang. Melika wandte den Kopf und suchte mit den Augen den Waldboden ab, der nicht gänzlich vom Schnee bedeckt war. Sie hatte sich dieses Geräusch doch nicht etwa eingebildet? Sie verengte die Augen ein wenig, da sie so das Gefühl hatte schärfer sehen zu können. Unbewusst hatte sie sogar den Atem angehalten und sog die Luft in ihre Lungen, als sie eine Bewegung entdeckt hatte. Ein kleines Tier kroch durch das Unterholz und schien sich vor den Augen der Kinder verbergen zu wollen. Von der kindlichen Neugierde gepackt folgte sie dem Wesen, das sich geschickt durchs Unterholz schlängelte. Darauf bedacht ihre Schritte sorgsam zu wählen und nicht allzu viel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, hatte sie ihren Blick stets auf das Tier gerichtet und merkte dabei nicht, wie weit sie ihm in das Innere des Waldes folgte und dabei die anderen Kinder immer weiter hinter sich zurückließ.
Der Wald um sie herum schien immer dichter zu werden. Die Bäume, zwischen denen sie sich hindurchschlängelte, standen immer enger beieinander. Einen kurzen Moment blieb sie stehen und blickte sich um, da sie glaubte das Wesen aus dem Blick verloren zu haben. Ihre hellgrünen Augen huschten über den Boden, als sie die Bewegung wieder wahrnahm und versuchte sie zu lokalisieren. Dort hinten!
Schnell lief das Mädchen wieder los und achtete diesmal nicht mehr darauf, dass der Boden unter ihren Füßen sie nicht allzu sehr verriet. Die kleinen Äste brachen unter ihrem Gewicht und gaben ein lautes Knacken von sich, als sie sich über den Waldboden bewegte. Dieses Mal war ihr Blick noch sturer auf ihr Ziel gerichtet. Dieses jedoch schien bemerkt zu haben, dass es verfolgt wurde und beschleunigte seine Schritte.
Immer wieder stellten sich Melika Hindernisse in den Weg, die sie überwinden musste. Mit den Händen stützte sie sich auf umgefallenen Baumstämmen ab, damit sie darüber hinweg steigen konnten. Sie musste sich unter tiefhängenden Ästen wegducken, damit sie sich nicht in ihren Haaren verfingen. Und doch verhakte sich ihre Kleidung immer wieder in einem verwilderten Busch und riss sogar den Stoff an manchen Stellen auf. Doch das würde sie nicht davon abhalten das Tier einzuholen. Vor dem Gebüsch, in dem das Wesen verschwunden war, blieb sie stehen, ehe sie die Blätter mit den Händen bei Seite schob.
Ihre Augen weiteten sich erschrocken bei dem Anblick, der sich ihr bot. Das rote Fell eines Fuchses hob sich bedrohlich von dem weißen Schnee ab. Seine Rute zuckte erregt hin und her, während seine spitzen Zähne sich in ein zappelndes Tier verbissen hatten. Das verschreckte Frettchen versuchte sich mit Kratzen und bedrohlichem Fauchen aus den Fängen des Gegners zu befreien. Die Klagelaute waren herzerweichend und gingen Melika durch Mark und Bein. Ihre Nackenhaare stellten sich auf und ihre Augen waren unverwandt auf das Szenario gerichtet, das sich vor ihr abspielte. Ihr Herz schlug so stark gegen ihre Brust, dass es schmerzte.
Der Fuchs schien sie keines Blickes zu würdigen. Er war viel zu beschäftigt damit seine Beute in Zaum zu halten. Das Frettchen jedoch war auf einmal still geworden und starrte Melika mit seinen kleinen Knopfaugen an, als ob es sie um Rettung anflehen würde.
Das junge Mädchen musste nicht lange nachdenken. Endlich konnte sie sich von dem Anblick losreißen und sah sich beinahe panisch auf dem zugeschneiten Waldboden um. Wenn sie sich nicht beeilen würde, dann würde das kleine Tier sterben und sie könnte nichts mehr dagegen tun. Sie ging auf die Knie und begann mit den Händen den kalten, nassen Boden abzusuchen, bis sie einen dicken, robusten Stock zu greifen bekam. Diesen riss sie aus dem Gewirr der zahlreichen Stöcke und Blätter heraus und richtete sich auf. Wie zuvor hielt sie ihn wie eine Waffe vor sich, während sie auf den Fuchs zuging, der nun langsam den Kopf hob. Dabei hielt er das Frettchen aber noch immer mit den Pfoten fest auf den Boden gedrückt. Melikas Augen und die des Fuchses trafen sich, ehe das Mädchen ausholte und den Fuchs mit einem kräftigen Schlag traf. Jaulend verlor er das Gleichgewicht, taumelte ein wenig und ließ sich vor Schmerz auf den Boden sinken. Die Ohren hatte er angelegt, die Augen jedoch waren wach auf das Mädchen gerichtet, das den Stock noch ein wenig fester umschloss, sodass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. Sie war bereit noch einmal zuzuschlagen, sollte der Fuchs sich wagen sie anzugreifen.
Doch das Tier schien seinem Ruf entsprechend schlau zu sein. Es richtete sich auf, blickte noch einmal zu seiner verlorenen Beute, ehe es in den Wald hineinlief und sich immer weiter von ihnen entfernte, bis auch das Rascheln des Laubes nicht mehr zu hören war.
Nur langsam ließ das Mädchen den Stock sinken, bis sie ihn ganz auf die Erde fallen ließ und sich zu dem verletzten Frettchen umwandte, das noch immer kraftlos auf der verschneiten Erde lag und schwer atmete. Auf den ersten Blick war nicht zu entscheiden, ob es schwer verletzt war, oder ob die Wunden nur oberflächlich waren. Jedoch war das braune Fell an manchen Stellen durchlöchert und rundherum verklebt, sodass es beinahe schwarz aussah. Der Schnee unter ihm war rötlich gepunktet und so stand fest, dass es zumindest leichte Wunden von den spitzen Zähnen des Fuchses davongetragen hatte.
Langsam ging sie in die Hocke um das sowieso schon verstörte Tier nicht noch weiter zu verschrecken. Sie legte die Hände auf die eigenen Knie und lächelte das Tier an.
„Keine Angst, er wird nicht wiederkommen…“, sagte sie leise und nickte leicht während sie den Blick noch einmal hob, als wollte sie ihren Worten Nachdruck verleihen. Als sie jedoch wieder zurück zu dem Tier sah, war dieses schon aufgesprungen und hatte panisch die Flucht ergriffen.
„Hey!! Warte!!!!“, rief Melika und streckte die Hand aus, wobei sie jedoch nur die Luft zu greifen bekam. Mit einem Ruck richtete sie sich auf und wollte dem Frettchen folgen, wobei sie sich mit dem Fuß in einer großen Wurzel verfing und schmerzvoll auf dem Erdboden aufschlug.
In diesem Moment, in dem sie so still und regungslos auf dem Boden lag, spürte sie, wie erschöpft sie eigentlich war. Wie lange sie dem Frettchen gefolgt war, konnte sie nicht sagen. Das Einzige, was ihr in diesem Moment gewahr wurde, war die Tatsache, dass sie völlig alleine war und die Sonne langsam unterging.
Ihr Gesicht und ihre Haare waren nass von dem Schnee und ihre Hände spürte sie kaum noch. Auch ihre Schuhe waren völlig durchnässt und ihr sonst so warmer Mantel vermochte sie nicht mehr vor der Kälte zu schützen, die nun ihre Glieder hinaufkroch. Melika begann am ganzen Körper zu zittern und ihre Lippen bebten dabei, während ihre Zähne in einem eigenartigen Rhythmus immer wieder aufeinander schlugen. Wie hatte sie nur so gedankenlos einfach ein den Wald hineinlaufen können? Wer würde sie hier denn schon finden?
Mit zitternden Armen richtete sie sich langsam auf und klopfte den Schnee von ihrem zerschlissenen Mantel. Sie hatte sich nicht einmal gemerkt, aus welcher Richtung sie gekommen war. Unsicher wandte sie ihren Kopf und entschied sich dafür in Bewegung zu bleiben. Ihr war so schrecklich kalt und die Müdigkeit wollte sie übermannen und doch wusste sie, dass sie in Bewegung bleiben musste, sonst würde sie Kälte sie wohl töten.
Die Zeit schien an ihr vorbeizuziehen, bis ihre Beine schließlich unter ihr nachgaben und das kleine Mädchen sich unter einem kleinen, kümmerlichen Baum niederließ. Mit dem Rücken lehnte sie sich dagegen, schloss die Augen. Sie war so schrecklich müde und sie wollte schlafen. Die Arme eng um den eigenen Körper geschlungen, drückte sie sich mehr an den Baum heran, der ihr keinerlei Wärme bot. Nach und nach jedoch schien ihr Geist aufzugeben und so überließ sie ihren Körper einfach der Müdigkeit.
Es war ein Druck an ihrem Bein, der sie langsam wieder wacher werden ließ. Es hatte sich ein dunkler Schleier über den Wald gelegt und wäre der Boden nicht immer noch strahlend weiß, so hätte Melika sicherlich nicht einmal die Hand vor Augen gesehen. Schwermütig öffnete sie die Augen. Den kalten Wind in ihrem Gesicht spürte sie nicht mehr. Sie richtete sich etwas auf, wobei ihr jede Bewegung wehtat und blickte zu ihrem Bein, auf dem noch immer der Druck lastete.
Die schwarzen, runden und glasig wirkenden Augen des Frettchens blickten sie von unten an, während sich die kleinen Ohren ein wenig bewegten. Für ein solch kleines Tier hatte es ein erstaunliches Gewicht. Vielleicht mochte es auch daran liegen, dass Melikas Körper sich momentan allgemein sehr schwer anfühlte. Mit einer Hand wischte sie sich über das kalte Gesicht und die schweren Augen.
„Du solltest hier nicht schlafen! Wenn du jetzt einschläfst, dann stehst du nicht wieder auf.“, sprach die kleine Gestalt, die noch immer auf ihrem Bein saß. Der Blick des Mädchens wurde wachsamer.
Ob sie sich fürchtete? Nein. Sie überkam lediglich das Gefühl der Überraschung. Vielleicht träumte sie das alles auch nur und vielleicht war sie schon lange erfroren. Und nun wachte sie als Geist am gleichen Ort auf, an dem sie gestorben war?
„Wieso bist du vor mir weggelaufen…?“, fragte sie mit leiser Stimme, während ihre Augen auf die kleine Gestalt gerichtet war, die sie in diesem Licht nur teilweise erkennen konnte. Nur die wachen Augen leuchteten im Mondlicht, das sich durch die Baumkronen bis hier herunter verirrt hatte.
„Ich habe mich erschrocken… dabei hast du mir geholfen. Und als ich wieder zurückkommen wollte, da warst du nicht mehr da. Also habe ich dich gesucht und wie es scheint, als habe ich dich gerade noch rechtzeitig gefunden.“, sprach das Wesen und schrägte den kleinen Kopf ein wenig an. Melika brauchte ein wenig, um die Worte zu verarbeiten. Sie war doch so schrecklich müde.
„Der Fuchs hat dir sicher sehr wehgetan… geht es dir gut…?“, fragte sie mit großer Sorge in der Stimme, während sie das Frettchen ansah. Es wirkte beinahe so, als wäre es vollkommen unversehrt. Das Tier nickte mit seinem kleinen Kopf.
„Es geht mir gut. Aber das habe ich nur deinem beherzten Eingreifen zu verdanken. Ohne dich hätte mich dieser Dieb sicherlich umgebracht. Ich stehe in deiner Schuld.“, sprach er.
„In meiner Schuld?“, wollte Melika wissen.
„Ja, durchaus. Wir Walddämonen sind edle Wesen. Normalerweise zeigen wir uns den Menschen nicht. Aber wenn man unser Leben rettet, dann stehen wir so lange in der Schuld unseres Retters, bis wir diese beglichen haben. So lange werde ich bei dir bleiben und auf dich aufpassen.“, erklärte er dem erschöpften Mädchen. Auch wenn sie es nicht so recht verstand, so wollte sie dem Dämon nicht widersprechen. Alleine die Tatsache, dass er ein Dämon zu sein schien, erweckte in ihr das Gefühl, dass sie ihn respektvoll behandeln musste. Wer wusste, was er sonst mir ihr anstellen würde? Schließlich wusste sie nicht, wie weit die Moral eines Dämons ging. Und so nickte sie nur leicht.
„Hast du einen Namen…? Ich heiße Melika…Melika Cailín Hamswood.“, sagt sie und blickte den Dämon an, der ihr nicht sofort antwortete.
„Ich habe keinen Namen.“, antwortete er, schüttelte leicht den Kopf und sah dabei sehr bedrückt aus. Das kam Melika recht seltsam vor. Jeder musste doch einen Namen haben. Ein Name machte einen zu etwas Besonderem, zu jemandem, der eine Identität besaß. Wenn man keinen Namen hatte, existierte man denn dann überhaupt? Einen Moment schwieg sie.
„Dann werde ich dich Dragan nennen. Ich hatte mal einen Teddybären, den ich so genannt habe. Er ist vor langer Zeit kaputt gegangen… aber ich glaube der Name passt sehr gut zu dir.“, sprach sie. Der Bär war einer ihrer größten Schätze gewesen. Jemand, mit dem sie hatte reden können, wenn sie Kummer hatte. Zwar hatte er ihr nicht geantwortet, aber er hatte sie auch nie verurteilt oder ihr Vorwürfe gemacht.
„Was sagst du?“, fragte sie, ehe der Dämon auf sie zugesprungen kam und sich mit seiner länglichen Gestalt um ihren Nacken wickelte. Er war so schön warm, dass Melika ein Schauer über den Rücken lief.
„Er gefällt mir. Es ehrt mich einen Namen tragen zu dürfen, der etwas bedeutet. Nun aber müssen wir aufbrechen. Ein Kind wie du gehört nicht in einen Wald. Schon gar nicht in der Nacht. Folge mir Melika, ich bringe dich wieder nach Hause.“, sagte Dragan, sprang wieder von ihren Schultern und blickte Melika erwartungsvoll an. Das schwache Mädchen brauchte noch einen Moment, ehe sie genügend Kraft gesammelt hatte. Mit den eiskalten Händen stützte sie sich von dem nassen Boden ab und begann mit schweren, schwankenden Schritten auf Dragan zuzugehen.
Es war ein langer Weg…zumindest erschien es Melika so. Sie waren auf den Waldweg gestoßen, der sie irgendwann aus dem Wald herausbringen würde. Er wirkte endlos… und irgendwann wollten ihre Beine sie nicht mehr tragen und so sackte der Körper des Kindes in sich zusammen.
Als sie die Augen wieder öffnete, lag sie in den starken Armen ihres Vaters. Sein Gesicht war von Sorge gezeichnet und es schien, als hätte er Tränen in den Augen. Er sprach kein Wort zu ihr und doch wusste sie, dass seine Erleichterung seinen Zorn nicht gänzlich aufwiegen konnte. Schweigend drückte sie ihr Gesicht an die Brust des Mannes, während ihre kleinen Hände in das Fell des Tieres griffen, das auf ihrem Bauch lag. Dragan hatte sie nicht alleine gelassen. Wahrscheinlich hatte er ihr mit seiner Wärme das Leben gerettet...

***

Mit einem Lächeln auf den Lippen strich sie Dragan durch das weiche Fell. Genau hier, in diesem Wald, hatten sich ihre Wege zum ersten Mal gekreuzt und genau hier würden sie sich auf einen neue Reise begeben. Auf einen Weg, dessen Ende sie noch nicht kannten, aber den sie stets gemeinsam gehen würden.

Mit dieser Gewissheit hob sie Dragan leicht von ihrem Schoß herunter und bettete sich auf den Waldboden. Während sie die Augen schloss und den Körper des Dämons an den Ihren drückte, strich sie ihm mit der Hand liebevoll über den Kopf.
„Ist es nicht seltsam…nun beginnt unsere Reise genau dort, wo sie vor vielen Jahren schon einmal ihren Anfang genommen hat…“, flüsterte sie leise, ehe ihre Gedanken sich langsam verloren und sie in einen ruhigen, aber traumlosen Schlaf sank.
Alle Zweifel waren auf einmal von ihr gewichen. Das Abenteuer konnte beginnen und sie war bereit…bereit allem zu trotzen, was es wagte sich ihr in den Weg zu stellen. Niemand würde sie davon abhalten können, die Stadt der Götter mit eigenen Augen zu sehen.

 

Verlorene Seelen




„Dort hinten ist der Waldrand zu sehen. Es kann nicht mehr lange dauern, bis wir ihn erreichen. Wenn du die Geschwindigkeit beibehältst, sollten wir innerhalb von zwei Stunden den Wald verlassen haben.“, drang die Stimme des Dämons an ihr Ohr, der aus den Baumkronen zu ihr herunterglitt. Die kleine Gestalt eines Rotkehlchens setzte sich auf Melikas schmale Schulter, schüttelte noch einmal die kurzen Flügel aus und musterte sie aus schwarzen Augen.
„Zwei Stunden noch? Ich hätte nicht gedacht, dass wir so lange durch diesen Wald laufen müssen.“, seufzte sie und strich sich das kupferrote Haare aus dem Gesicht, während ihr Blick den Waldweg musterte. Melika hatte das Gefühl schon eine Ewigkeit gelaufen zu sein. Nachdem die ersten Sonnenstrahlen sie geweckt hatten, waren die beiden aufgebrochen und hatten seitdem keine Rast gemacht. Als Erstes waren sie zurück zur Straße gegangen, damit sie eine Richtung hatten, der sie folgen konnten. Sollte sie durch den Wald irren, würde dies lediglich Zeit kosten und sie hatte keine Minute zu verschenken. Also hatte sich Melika dazu entschieden dem Weg zu folgen, der sie sicherlich irgendwann aus dem düsteren Wald herausführen würde.
Nun aber gönnte sich die junge Frau sich eine Pause, saß am Wegesrand auf einem mittelgroßen, bemoosten Stein und nahm einen Schluck aus ihrer einfachen Trinkflasche. Das Wasser war warm und schmeckte nach Metall, aber dennoch rann es ihr lindernd die ausgetrocknete Kehle nach unten. Sie nahm zwei große Schluck aus der Flasche und goss sich dann etwas in die gekrümmte Handfläche, damit auch Dragan sich auffrischen konnte. Der Dämon kroch ihr in Mäusegestalt von der Schulter, balancierte ihren Arm entlang und trank genüsslich aus der kleinen Wasserpfütze. Als er seinen Durst gestillt hatte, wusch er sich mit den Überbleibseln das Gesicht und die runden Ohren, ehe Dragan zu ihr hochsah.
„Bist du müde? Wir können noch ein wenig länger rasten.“, sprach er mit seiner dünnen Stimme. Als Melika noch ein kleines Mädchen gewesen war, hatte er sie mit dieser Stimme immer zum Lachen gebracht. Stundenlang hatte sie ihm zugehört und sich köstlich amüsiert. Dieses Spiel hatte meist erst geendet, wenn Dragan entweder heiser war oder wenn Melika vor Lachen der Bauch wehgetan hatte. Und auch heute noch konnte er ihr damit ein Lächeln entlocken.
Nur leicht schüttelte sie den Kopf, um seine Frage zu beantworten. Zwar war sie müde und auch erschöpft, denn die aufkommende Hitze machte ihr zu schaffen, doch sie wollte keine Zeit verschwenden. Ausruhen konnte sie auch dann noch, wenn sie vor Müdigkeit nicht mehr aufrecht stehen konnte.
„Nein. Lass uns weitergehen. Ich kann es kaum erwarten aus dem Wald zu treten und zu sehen, was sich dahinter verbirgt. Ich habe das Gefühl vor Aufregung zu sterben.“, antwortete sie, wobei ihre Augen leuchteten. Melika war schon immer Abenteuerlustig gewesen. Schon als junges Mädchen hatte sie sich lieber mit den Jungs des Dorfes auf Entdeckertour begeben, als mit Puppen zu spielen, oder sich von ihren Freundinnen die Haare flechten zu lassen. Wie Schatten waren die Kinder über die Dächer geklettert und hatten sich dabei vorgestellt, sie wären in eine fremde Stadt eingedrungen und hatten nun den Auftrag die Prinzessin zu entführen. Doch die kindliche Fantasie hatte sich nie getraut über die Waldgrenze hinaus zu träumen. Aber nun befand sich Melika weit darüber hinaus. Sie musste nicht nur davon träumen, denn sie befand sich außerhalb des Dorfes und war schon weit über die Traumgrenze hinausgestiegen.
Nachdem Melika das Trinkgefäß wieder in der Tasche verstaut und auch Dragan seinen Platz auf ihrer Schulter eingenommen hatte, richtete sie sich auf, trat zurück auf die Straße und ging den Weg mit erstaunlicher Festigkeit entlang. Ihre Neugierde, was sich außerhalb der Bäume befand, schien sie und ihren müden Geist beflügelt zu haben und auf einmal war keinerlei Erschöpfung mehr in ihrem Gesicht zu sehen.
Die Sonne brach durch das dichte Blätterdach und schien auf sie herab. Nur ab und an blieb Melika stehen, um sich die Umgebung genauer anzusehen. In diesem Licht betrachtet, war der Wald eine wahre Augenweide. Die Bäume, die in der Nacht so erschreckend gewirkt hatten, sahen in diesem Licht aus, wie das blühende Leben selbst. Das Dunkel der Baumstämme schien im Licht des Tages viele Farbnuancen aufzuweisen und sie glaubte jedem Baum sein genaues Alter ansehen zu können. Auch das Leben, das sie am Vorabend in diesem Wald vermisst hatte, war zurückgekehrt. In den Baumwipfeln der hohen Riesen spielten die Eichhörnchen ihr neckisches Spiel und die Vögel sangen ihre Lieder um dies zu untermalen. Alles um sie herum wirkte so lebendig und so einladend, dass Melika für einen Moment den Wunsch verspürte diesen Wald nicht mehr zu verlassen.
Doch ihre Schritte trugen sie beinahe federleicht den Weg entlang, bis sich die Baumreihen zu ihren Seiten langsam zu lichten begannen. Bald war sie draußen, bald hatte sie den Wald hinter sich gelassen! Ihr Gang wurde schneller, während die Strahlen der Sonne sie nun erreichen konnten. Das Blätterdach über ihrem Kopf zog sich auseinander, beinahe wie ein Vorhang, der vor einem Bühnenstück geöffnet wurde, damit das Publikum freie Sicht auf das Geschehen haben konnte, weswegen sie gekommen waren. Ebenso ging es Melika. Der Wald spreizte seine Äste und Blätter um ihr den Blick auf eine große Ebene freizugeben. Gerade hatte sie den letzten Baum passiert - ein kleines, verkümmertes Ding, das ziemlich traurig anzusehen war – als das Knirschen des Kieselweges verstummte.
Ein kühler, erfrischender Wind wehte über die kleinen Hügel zu ihr herüber, strich ihr durch das Haar und spielte mit ihm. Die Ebene schien ihr so endlos, dass sie gar nicht sagen konnte, wie weit sie sich noch erstreckte. Der braune Weg wand sich wie eine Schlange zwischen den Erhebungen hindurch und entzog sich bald ihrem Blick.
„Sieh dir das an Dragan… eine so große Welt hat der Wald die ganze Zeit vor uns versteckt. Und sie wartet nur darauf, dass wir sie ansehen.“, sagte sie voller Bewunderung für die Dinge, die sie zu sehen bekam. Für den ein oder anderen mochte dies eine einfache Wiesenlandschaft sein, gespickt mit Kornblumen und Schafgarbe, die in dunklem Blau und strahlendem Weiß auf sich aufmerksam machten. Doch für Melika war es viel mehr als das. Es war der Anblick der Freiheit und Ungezwungenheit, der sie immer weiter lockte und ihr schlechtes Gewissen gegenüber ihrem Vater unbedeutend erscheinen ließ. Viel eher schien dieser Anblick Wut in ihr auflodern zu lassen. Wie hatte er sie nur all die Jahre in diesem Dorf festhalten können? Was war es, das er fürchtete, wenn sie in die Welt hinausging? Vielleicht würde sie ihn fragen, wenn sie zurückkehrte.
Mit einer Hand strich sie sich das kupferrote Haar aus dem Gesicht und wandte den Kopf zu allen Seiten. Es war ungewohnt Dragan nicht dicht an ihrer Seite zu haben, wie er es in der engen Hütte immer war. Doch nun hatte er eine ganze Wiese, auf der er sich austoben konnte. Er hatte viel entbehren müssen, seit er sich dazu entschieden hatte ihr nicht mehr von der Seite zu weichen und doch hatte er sich nie beklagt.
In Gestalt eines Rehkitzes sprang er durch das hohe Gras, leichtfüßig und flink, als würde die Erdanziehungskraft ihn nicht bändigen können. Auch wenn sie ebenso euphorisch war wie er, so blieb die junge Frau auf dem Weg, versuchte ihre Schritte zu zügeln. Erneut sah sie sich um. So schön und malerisch diese Landschaft auch war, so trügerisch und gefährlich schien sie ihr. Die Ebene war sehr flach und die Hügel waren nicht so hoch, dass sie einen erwachsenen Menschen verbergen konnten. Auch Bäume oder Sträucher waren nur vereinzelt auf der Wiese zu erkennen. Auf diesem Feld war man den Blicken aller, die es passieren wollten, ausgeliefert. Was einem jedoch zum Verhängnis werden könnte, würde ebenso zum eigenen Vorteil dienen. Auch Melika würde die Menschen rechtzeitig erkennen, die sich ihr näherten. Die einzige Möglichkeit sich vor unliebsamen Augen zu schützen, schienen die Ruinenfragmente zu sein, die sich hin und wieder zwischen dem hohen Gras zeigten.
Sie verließ den Weg und ging einen der Hügel hinauf, wo sie vor einer niedrigen Mauer stehen blieb. Genaugenommen konnte man es nicht einmal als Mauer bezeichnen. Viel mehr war es der Überrest einer solchen, von der nichts als einige schwarze Steine übrig geblieben waren, die sich wahrscheinlich auch nicht mehr lange aufeinander hielten. An vielen Stellen waren sie eingerissen, an anderen hatten sich Grashalme und andere Gewächse hindurch gefressen.
„Was hier wohl geschehen ist…?“, fragte sie sich, als ihre Fingerspitzen über den angegriffenen Stein strichen und ihre Augen die Weiten nach weiteren Ruinen absuchten. Sie waren überall zu sehen. Mal standen sie in kleinen Gruppen zusammen, andere wiederum waren nur umringt vom saftigen Gras. Doch sie schienen ein Muster zu ergeben.
„Es war der große Brand, der Teronia vor vielen Jahrhunderten zerstört hat.“, hörte sie, als Dragan als Maus auf den obersten Stein sprang und sie von unten ansah.
„Teronia?“, fragte Melika, während sie sich neben den Dämon auf die Mauer setzte, auch wenn sie für einen Moment befürchtete, dass sie unter ihrem Gewicht zusammenbrach. Doch sie hielt ihr stand. Zwar wusste Melika viel, was das Handwerk ihres Vaters anging oder wie man Leuten unbemerkt die Taschen leerräumte, aber alles was sich außerhalb des Dorfes abgespielt hatte, entzog sich nahezu vollkommen ihrem Kenntnisstand.
„Es ist lange her.“, setzte Dragan an. „Teronia war eine blühende Stadt. Vielleicht war sie nicht die größte, aber sie war angesehen und ein Knotenpunkt der damaligen Handelsrouten. Die Menschen die von der Hauptstadt zum östlichen Meer wollten, passierten diesen Ort, ebenso wie sich viele Seemänner hier von ihrer langen Reise über das Meer ausruhten um wieder zu neuen Kräften zu kommen. Jährlich fand hier das Frühlingsfest statt, bei dem die Menschen die Götter um eine erfolgreiche Ernte baten und ihnen dafür die Überreste des letzten Jahres opferten. Es waren Zeiten in denen man sorgloser war als heute, in denen man glaubte, dass die Götter über die Menschen wachen würden. Doch irgendwann…war diese Zeit vorbei. Teronia war eine von vielen Städten die fiel.“ Melika vergaß immer, wie alt Dragan doch eigentlich war. Zwar hatte er ihr nie verraten, wie viele Jahre oder Jahrhunderte er schon lebte, aber sie konnte sich vorstellen, dass er das hier alles noch gesehen hatte, als es in seiner vollen Blüte stand.
„Was ist passiert mit diesem Ort? Wie kann man eine Stadt, denn so vollkommen zerstören, dass man kaum noch erkennen kann, dass sie einmal existiert hat?“, wollte sie mit Ehrfurcht und Faszination in der Stimme wissen. Was waren es für atemberaubende Geschichten, die ihr die ganze Zeit verborgen geblieben waren. Wieso hatte Dragan ihr nicht schon viel früher von dieser Ebene und ihrer Vergangenheit erzählt? Die Antwort konnte sie sich selbst geben: Wahrscheinlich wäre sie dann schon viel früher von Zuhause ausgerissen um das alles hier zu sehen.
„Du musst wissen, die Zeiten damals waren bei weitem nicht so gefährlich wie sie heute sind. Heutzutage kreuchen und fleuchen überall Gestalten, denen man lieber nicht begegnet. Wesen von denen Eltern ihren Kindern erzählen, wenn sie ihnen Angst machen wollen. Doch zur Blütezeit Teronias, hat nicht einmal ein einziger Mensch daran gedacht, dass es solches Grauen geben könnte. Wie hätten sie sich also gegen etwas wehren können, dessen Schwächen sie nicht kannten, als es in der Nacht über sie hereinfiel? Lautlos waren sie gekommen…die Dämonen und Monster, wie sie die Menschen in ihren Geschichten nannten. All jene, die sich all die Jahre versteckt gehalten hatten, kamen aus allen Himmelsrichtungen…verbreiteten Furcht und Schrecken. Es waren die Drachen, die ihren tödlichen Atem auf diese Stadt niederregnen ließen. Alles was aus Holz bestand, war in der kürzesten Zeit niedergebrannt und schon am Morgen, war von der Schönheit der Stadt nichts mehr zu sehen. Es gab keine Überlebenden...nur die Schreie in der dunklen Nacht. Niemand traute sich mehr diesen Landstrich überhaupt zu betreten und die Menschen machten einen großen Bogen um diese Ebene. Doch irgendwann waren die Überreste der Häuser verfallen, während das Land zu blühen begann. Welche Ironie, dass ausgerechnet dieser Ort so vor Leben blüht. Kaum einer erinnert sich heute noch an das was damals geschehen ist und die Straßen werden wieder ohne Furcht befahren, die Ruinen keines Blickes gewürdigt. Nur manches Mal werden noch Geschichten erzählt…man sagt, des Nachts könnte man die Seelen derer sehen, die ihre Ruhe noch nicht gefunden haben. Aber wenn du mich fragst, ist das nur Aberglaube.“, schloss er und sprang mit einem Satz auf ihren rechten Oberschenkel, richtete sich auf und wandte den Kopf nach links und nach rechts, als würde er etwas suchen. Nachdenklich schwieg Melika, dachte über seine Worte nach und ließ ihre Hand noch einmal über das poröse Gestein gleiten, auf dem sie saß.
„Warum?“, war die einzige Frage, die ihr in diesem Moment in den Sinn kam. „Wieso sind diese Wesen wie aus dem Nichts gekommen? Welchen Grund gab es, dass sie sich entschieden die Menschen auf einmal anzugreifen? Wieso sind sie nicht in ihren Bergen, Höhlen und Wäldern geblieben, in denen sie sich all die Zeit versteckt hielten?“, fragte sie, ihre smaragdgrünen Augen nicht von Dragan abwendend, der noch immer auf ihrem Knie saß. Leicht zuckte er mit den Ohren, ehe er sich von ihr abwandte und von ihr heruntersprang. Kräftige, große Pfoten landeten auf der weichen Erde, als der Dämon aufkam.
„Du solltest nicht zu viel darüber nachdenken. Es ist eine Geschichte aus alter Zeit.“, bellte er mit kräftiger Stimme. „Wir sollten weiter gehen, solange die Sonne noch am Himmel steht.“ Damit setzte er sich in Bewegung und lief den Hügel herunter. Mit fragendem Blick, sah sie den beinahe eleganten Bewegungen des braunen Hundes hinterher. Melika wurde das Gefühl nicht los, dass Dragan ihr irgendetwas verheimlichte. Wieso hatte er ihre Frage bezüglich der Dämonen nicht beantwortet? Leicht runzelte sie die Stirn, ehe sie sich selbst von der kleinen Mauer erhob und Dragan folgte.
„Hey, warte auf mich!“, rief sie, ehe sie ihm hinterher rannte um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Vielleicht hatte er aber auch einfach Recht: Wahrscheinlich war es nicht gesund sich Gedanken um etwas zu machen, das man ohnehin nicht mehr zu ändern vermochte. Es war wohl einfach ein Zufall gewesen, der die Dämonen zum Angriff bewegt hatte. Eine höhere Gewalt…



***



Sie kamen langsam voran. Die Sonne, obwohl sie schon im Begriff war unterzugehen, brannte noch immer heiß auf das Land nieder. Alles was Melika hatte ablegen können, hatte sie ausgezogen und trug es als zusätzliche Last mit sich. Auch ihr letzter Wasservorrat war zur Neige gegangen und seit Stunden hielt sie Ausschau nach einem See, einer Quelle oder etwas anderem, dass ihrer trockenen Kehle Linderung bereiten könnte. Jedoch schien nichts in der Nähe zu sein. Nicht einmal eine Pfütze, aus der sie in dieser Situation durchaus auch trinken würde.
Melika verlangsamte ihre Schritte und schirmte die Augen gegen die gleißende Sonne ab, als diese den Himmel nach Dragan absuchten. Seit gefühlten Stunden hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Er war ihr vorausgeflogen um sich von dort oben die Eben genauer ansehen zu können. Wahrscheinlich hatte er selbst noch kein Wasser ausfindig gemacht.
Langsam ließ die die Hand wieder sinken, ehe sie sich am Wegesrand in das weiche Gras niederließ. Sie konnte den warmen Boden unter sich spüren und wie auch dieser nach kühlem Nass zu rufen schien. Doch der Himmel war so klar, dass nicht eine einzige Wolke an ihm zu sehen war, geschweige denn eine, die das trockene Land mit einem nassen Schauer beglücken konnte.
Ihr Körper fühlte sich an wie Blei, als sie sich langsam nach hinten ins Gras sinken ließ und die Augen schloss. Die Ruhe tat ihren Füßen gut, die so sehr schmerzten, wie sie es bisher noch nie getan hatten. Melika war schon immer viel unterwegs gewesen, aber sie war noch nie einen ganzen Tag durchgelaufen. Wenn sie einmal aus dem Dorf herausgekommen war, dann nur um nach Ayerron zu gehen und neue Lebensmittel für sich und ihren Vater zu kaufen, die es in ihrem Dorf selbst nicht gab. Es war ein langer Weg, zumindest hatte sie das bisher immer gedacht, doch in drei Stunden war sie dort. Zwischen den Marktständen, den Seemännern und an den Pieren hatte sie sich immer die Zeit vertrieben, ehe sie sich wieder auf den Heimweg begeben hatte. Sie war noch nicht einmal einen Tag von Zuhause weg und schon vermisste sie das kleine Dorf, das sie sonst immer so eingeengt hatte, die kleinen Gassen und verschlammten Straßen, in denen man immer eingesunken war, wenn die Regenzeit eingesetzt hatte. Aber vor allem vermisste sie ihren Vater. Wahrscheinlich würde er erst in wenigen Tagen merken, dass etwas nicht stimmte. Schon oft war sie einfach verschwunden und erst in der tiefsten Nacht wieder aufgetaucht, wenn ihr Vater schon fest schlief, erschöpft von der schweren Arbeit in der Werkstatt. Meist sahen sie sich tagelang nicht. Doch irgendwann würde ihm auffallen, dass sie fehlte, dass das Bett schon seit Tagen verwaist war und dass auch Dragan nirgends aufzufinden war, der kleine Bandit, wie ihr Vater ihn immer nannte. Die beiden hatten sich nie gut verstanden. Seit dem Tag, an dem Dragan sich entschieden hatte bei Melika zu bleiben, hatte zwischen den beiden eine seltsame Stimmung geherrscht…
Es war ein Schatten, der ihr flüchtig über das Gesicht strich, der sie die Augen öffnen ließ. Der Bussard ließ sich neben ihr im Gras nieder, während seine schwarzen Augen sie anblickten.
„Hast du etwas gefunden?“, fragte Melika, während sie sich langsam aufsetzte, ihren schmerzenden Körper somit aus dem Grad erhob. Wie gerne wäre sie einfach dort liegen geblieben und hätte geschlafen. Doch dafür war noch nicht die Zeit. Sie würde noch einige Meter zurücklegen müssen. Wenn sie weiterhin in diesem Tempo gehen würden, würde es eine Ewigkeit dauern, bis sie ihr Ziel erreichten.
„Keine Quellen in der nahen Umgebung. Wie es aussieht, werden wir noch eine Weile ohne Wasser auskommen müssen.“, antwortete die sanfte Stimme neben ihr. Ja so etwas hatte sie schon vermutet und sie konnte in Dragans Augen sehen, dass er ebenfalls keine große Hoffnung gehegt hatte. Dennoch schien er sich schuldig zu fühlen ihr keine Quelle anbieten zu können, an der sie ihre brennenden Glieder kühlen und ihren trockenen Hals befeuchten konnte.
„Das ist schon in Ordnung. Morgen werden wir sicherlich Wasser finden. Bis dahin müssen wir uns einfach am Riemen reißen. Du bist weit geflogen und bist sicherlich sehr müde. Komm, ich trage dich, damit du dich ausruhen kannst.“, bot sie ihm an, ehe sie ihm die blasse Hand entgegenhielt. Einen Moment schien er sichtlich zu überlegen, ob er ihr diese Bürde auferlegen sollte, dann aber schrumpfte seine Gestalt in sich zusammen, die Federn wurden zu seidigem, kurzen Haar, die Flügel und scharfen Krallen zu kleinen Füßen und der Schnabel zu einer spitzen Schnauze, dessen Nase sich schnell auf und ab bewegte. Sein Gewicht war nicht erwähnenswert, als sich die Maus auf ihre Schulter setzte und sich sanft an ihren Hals schmiegte.
Zwar hatte sich ihr Schritt deutlich verlangsamt, aber dennoch kamen sie voran. Bis die Sonne gänzlich hinter dem Horizont zu verschwinden drohte, legte sie keine Pause mehr ein. Ihr Körper schmerzte von dem langen Marsch, aber dafür konnte sie zufrieden sein, dass sie es schon so weit geschafft hatten.



***



Es war eine der Ruinen, die ihnen an jenem Abend Schutz vor dem kalten Wind bot, der über die Ebene fegte. Die Grashalme bogen sich und strichen über ihre Wange, während sie schweigsam dalag und dem Lied des Windes lauschte. Sie zog den Mantel, den sie wie eine Decke über sich und Dragan ausgebreitet hatte, strammer und zog ihre Beine an, damit sie nicht mehr allzu sehr fror.
Der Himmel über ihnen war übersäht mit Sternen, die die zwei vollen, runden Monde umringten, als würden sie um ihre Aufmerksamkeit buhlen. Das Licht des einen war in einen Goldton getaucht, war warm und einladend, während der andere kühl wirkte, durch den silbrigen Schein, den er auf die Erde warf. Doch beide verbanden sich zu einem Licht, das die Welt in der Nacht erhellte.
Während sie dalag und in den Himmel blickte, fiel ihr die Geschichte ein, die sich um die beiden Monde rankten. Es waren ein Bruder und eine Schwester, die beide die Herrschaft über die Nacht haben wollten. Doch da beide so schön waren, konnten sich die Sterne nicht entscheiden, welchen der beiden Geschwister sie lieber in der Nacht an ihrer Seite hätten. Und seither ließen sie beide ihr strahlendes Licht auf die Erde fallen, solange bis sich die Stern für einen der beiden entschieden hatten.
Es wäre wahrlich traurig, wenn einer der beiden irgendwann verschwinden würde, ging es Melika durch den Kopf. Wieso musste es immer nur einer sein, der alleine die Vorherrschaft hatte? Wieso musste es immer Streitereien geben um solche banalen Dinge, selbst in Geschichten, die man kleinen Kindern erzählte? Sie sahen doch beide so würdevoll aus und würde einer von ihnen fehlen, wäre die Nacht nur noch halb so hell.
Es war eine schemenhafte, verschwommene Gestalt, die sie aus den Augenwinkeln sehen konnte, als diese an der Ruine vorbeischwebte, in der sich Melika vor dem schneidenden Wind in Sicherheit gebracht hatte. Sie hielt in jeder Bewegung inne. Ein Heulen wurde vom Wind zu ihr herübergetragen, so herzzerreißend, dass sie sich mit einer Hand an die Brust fasste. Der Klang der Stimme schmerzte, schien sie einzunehmen und gleichzeitig zu bedrohen. Instinktiv griff ihre Hand nach dem Dolch, der an ihrem Gürtel hing, ehe sie näher an die Überreste der Mauer heranrutschte, immer darauf bedacht den Kopf nicht zu hoch zu heben. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, als sie ihren Oberkörper mit den Armen langsam abstützte, sodass sie gerade so einen Blick über die verrottete Mauer werfen konnte. Das Mondlicht erhellte die schimmernden Gestalten, die sich über die Ebene bewegten. Bleich waren sie und schienen nur ein Hauch dessen zu sein, was sie einmal gewesen waren. Ihre Körper waren lediglich Umrisse, schummrig und durchsichtig an den Stellen, an denen das Licht die Schemen nicht erhellen konnte. Suchend schwebten sie über die Wiese. Ihre Gesichter waren ebenso wenig zu erkennen wie der Rest ihres verschwimmenden Körpers. Nur wenige hatten ein Gesicht, das ausdruckslos in die Nacht hineinblickte. Ihre Augen waren dem Himmel zugewandt, ebenso wie die blassen Hände, die sie den Monden flehend entgegenstreckten.
„Dragan…“, flüsterte ihre Stimme leise und doch hatte sie das Gefühl sie würde solch einen Lärm machen, dass man sie gar nicht überhören konnte. Doch keiner der Geister, schien auch nur ansatzweise Notiz von ihrer Anwesenheit zu nehmen. So, als wäre es ihnen vollkommen egal, wer ihnen bei ihrer Suche nach dem Licht zusah.
„…sieh dir das an. Sind alle diese…Lichtgestalten…sind das die Menschen, die hier vor so vielen Jahren sterben mussten?“, fragte sie, auch wenn sie sich die Antwort schon selbst gegeben hatte. Noch immer sahen ihre Augen gebannt auf die Erscheinungen, die mal deutlicher, mal weniger deutlich zu sehen waren. Müde sprang Dragan neben ihrem Kopf auf die Mauer und riss das Maul mit den spitzen Zähnen weit auf, als er gähnte. Die kleinen Augen sahen sich um. Die Tatsache, dass sie von Geistern umgeben waren, schien ihn nicht halb so zu faszinieren, wie es Melika tat. War er es nicht gewesen, der davon gesprochen hatte, dass all das nur Aberglaube sei?
„Das sind sie. Auf der Suche nach dem endgültigen Tod, der sie von ihrem Dasein auf der Erde erlöst. Für viele, wird es diese Erlösung wohl niemals geben, andere wiederum haben mehr Glück. Aber mach dir keine Sorgen. Sie können dir nichts tun. Sie nehmen dich nicht einmal wahr. Sie wandeln zwar noch auf dieser Welt, doch ist ihr Geist schon lange in einer gefangen, die das menschliche Auge im Leben noch nicht erblicken kann. In ihrer Welt, in der sie ihr Licht suchen, existierst du gar nicht.“, sagte er ruhig, wobei er wieder von der Mauer heruntersprang und sich im Gras neben ihr einrollte, während ihr Blick noch immer gebannt an den emotionslosen Gestalten hing. Wie trostlos musste der Tod sein, wenn man sich darin nach und nach selbst verlor und sich vielleicht nicht einmal mehr an sein eigenes Gesicht erinnern konnte?
Nur eine der Gestalten schien sich ihrer Selbst noch bewusst zu sein und betrauerte sein verlorenes Leben. Ein kleiner Junge saß im Gras, seine Umrisse waren klar zu erkennen, ebenso sein Gesicht, das zu einer Grimasse verzogen war. Mit den Ärmeln seines zerrissenen Oberteiles, strich er sich immer wieder über die nassen, durchsichtigen Wangen, während er schluchzte und weiter weinte. Es brach Melika das Herz das Kind so traurig zu sehen und keiner schien es trösten zu wollen. Sie wollte aufstehen und zu ihm hingehen, ihm durch das ungepflegte Haar streichen und ihm zuflüstern, dass alles wieder gut werden würde. Doch würde diese arme Seele ihre Anteilnahme nicht einmal mitbekommen.
So verließ sie ihre Schlafstätte nicht, sondern senkte ihren Körper langsam wieder in das weiche Gras. Es hatte nie etwas gegeben, das sie in ihrem Leben wirklich gefürchtet hätte. Sie war behütet aufgewachsen in einer Welt die ihr so sicher vorkam, dass sie an all die schlimmen Geschichten nicht glauben mochte. Doch nun verspürte sie eine Furcht. Sie fürchtete sich vor dem Tod, der ihr sonst immer so fern schien, dass sie keinen Gedanken daran verschwendet hatte. Kalt lief ihr der Schauer über den Rücken, wenn sie daran dachte einmal ebenso im ewigen Nichts zu schweben wie diese armen Seelen, die dort draußen hilfesuchend wandelten. Niemand konnte ihr eine Garantie geben, dass nicht jeder Tod dieses Gesicht irgendwann einmal entblößen würde und sie mit einem hämischen Lächeln auf den Lippen einfach alleine zurückließ, ohne sie zu dem Ort zu bringen, der jedem Menschen verheißen war. Der Himmel oder die Hölle…gab es vielleicht noch viel mehr Orte, in denen sich ihre unsterblichen Seelen verlaufen konnten?
Mit einer Hand griff sie unter Dragans Bauch und zog seinen warmen Körper dicht an den ihren, schlug den Umhang über ihre beiden Leiber und schloss die Augen. Es dauerte lange, doch irgendwann trug sie das klagende Weinen des Kindes hinaus aus ihrem Körper. Sie ergab sich der Müdigkeit des langen Tages widerstandslos und glitt in einen traumlosen Schlaf, der sie dunkel und schwarz empfing.
Der Morgen brach feucht über sie herein. Die Luftfeuchtigkeit hatte in der Nacht so sehr zugenommen, dass sie nicht nur gefroren hatte, sondern sich nun auch noch viele kleine Tropfen auf ihrem Umhang gebildet hatten. Ihre Glieder waren Steif von der Kälte, aber sie erinnerte sich nicht daran, dass sie jemals so traumlos geschlafen hatte. Sie war nicht einmal aufgewacht, nachdem die weinende, klagende Stimme des Jungen sie in den Schlaf gewogen hatte.
Nun jedoch begann ihr Körper ein wenig zu zittern, als sie sich von dem feuchten Untergrund erhob und der recht kühle Morgenwind ihren Körper auskühlte. Sie schüttelte den Umhang aus, versuchte die Tropfen so gut es ging von ihm zu entfernen, doch die Feuchtigkeit, die in den Stoff gezogen war blieb. So sah sie davon ab ihn sich um die Schultern zu legen, denn er würde sie lediglich ebenfalls durchnässen und nicht wärmen. Melika hängte sich den dunklen Stoff über den Arm und blickte noch einmal über die Ebene. Im Licht der aufgehenden Sonne wirkte sie so friedvoll, so völlig anders, als in der letzten Nacht. Ihr Blick glitt zu der Stelle, an dem der kleine Junge gesessen hatte, doch er war nicht mehr zu sehen. Während sie über die Mauer kletterte um zurück zur Straße zu gehen fragte sie sich, ob er mittlerweile aufgehört hatte zu weinen, ob ihn jemand in den Arm genommen hatte um ihn zu trösten.



***



Die Schmerzen in den Füßen, die langsam aber sicher mit jedem Schritt zurückkehrten, versuchte Melika zu ignorieren, als die Sonne zum fünften Mal den Horizont hinaufkletterte und die Position über ihrem Kopf einnahm. Vier Tage lief sie nun schon durch die Ebene von Teronia, aber ihr Ende war noch nicht in Sicht. Erschwerend kam hinzu, dass sie nie wusste, für welchen der vielen Wege sie sich entscheiden sollte, wenn sich die Straße vor ihr auf einmal gabelte. Und so hatte sie beschlossen immer nur geradeaus zu gehen und den Weg nicht in eine andere Richtung zu verlassen. Zumindest hatten sie am gestrigen Tag Glück gehabt und eine Wasserquelle gefunden, an der sie ihre Flasche hatte füllen können. Melika hatte schon geglaubt, dass sie einfach verdursten müsste. Sie hatten viel Zeit an der Quelle verbracht. Während Melika ihre schmerzenden Füße in das klare, kalte Wasser hielt, schwamm Dragan als kleiner Fisch hin und her. Auch wenn Melika ihn manches Mal tragen konnte und er auch ihr das ein oder andere Mal anbot, dass sie sich auf ihren Rücken setzen konnte, so waren sie beide sichtlich erschöpft. Nie hätte sie geglaubt, dass die Nächte in freier Natur sie so mitnehmen würden.
Doch auch all diese Schwierigkeiten, die sie in ihrem Eifer nicht bedacht hatte, schmälerten ihren Entschluss nicht. Sie würde diese Ebene überqueren…irgendwie. Ihre Schritte hatten sich deutlich verlangsamt. Sie wusste nun, dass sie ihre Kräfte einteilen und sparen musste, damit sie am Ende des Tages nicht vollkommen erschöpft zusammenbrach.
Während sie dem Weg folgte, wie sie es die letzten Tage auch getan hatte, blickte sie in den Himmel. Sie versuchte sich vorzustellen, was sie erwarten würde, wenn sie ihr Ziel endlich erreicht hatte. Würde es ihr Leben verändern oder würde es eine Enttäuschung sein? Lief sie einem Mythos hinterher, den sie in einer schummrigen Hafenbar aufgeschnappt hatte? Doch die wichtigste Frage von allen war wohl, ob sie diese Stadt überhaupt finden sollte. Es gab keine Karte, die ihr den Weg weisen konnte. Doch vielleicht würde sie mehr erfahren, wenn sie erst einmal in Paristemilos angekommen war, der Hauptstadt des Landes. So wollte Melika sich erst einmal auf dieses Ziel konzentrieren, denn bis dorthin schien es schon ein ungeahnter, weiter Weg zu sein.
Suchend ließ sie den Blick über die Ebene wandern, während sie sich einer neuen Weggabelung näherte. Seit sie diese Gegend betreten hatten, waren sie noch kein einziges Mal einem anderen Menschen über den Weg gelaufen. Vielleicht gab es ja noch einfachere Wege hinunter zum Meer, den die Menschen bevorzugten. Wer lief, Melika einmal ausgenommen, schon freiwillig durch eine Gegend, in der des Nachts Geister erschienen. Obwohl sie feststellen musste, dass es nur diese eine Nacht gewesen war, in der sie die Seelen der Toten erblickt hatte.
Es waren schwere, metallische Geräusche, in die sich Stimmen und das blöken von Herdentieren mischte, die sie in der Bewegung inne halten ließen. Auch Dragan stellte sie Hundeohren auf um dem zu lauschen, was sich dort in ihre Richtung bewegte. Er hielt die Nase in den Wind. In geduckter Haltung schlich er voran, während Melika ihm – die Hand sicherheitshalber an dem Dolch gelegt – folgte und dabei den Blick auf den Weg richtete, der zur rechten Seite vor ihr Abgang. Nach und nach erhielt sie eine bessere Sicht auf die Straße, auf der sich ein ganzer Zug von Menschen näherte. Er wurde von großen Wagen begleitet. Insgesamt waren es vier Stück. Sie waren aus Metall gearbeitet und waren von der Witterung schon rostrot gefärbt, schienen aber noch immer stabil zu sein. Sie hatten die Form von riesigen Nashornkäfern, anstelle der Füße jedoch, waren große und robuste Räder angebracht. Im ‚Kopf‘ der Käferwagen saß eine Person, die mit den kleinen Hebeln und Rädchen so geschickt umgehen konnte, um das Gefährt zu bewegen. Die schwankten leicht, wann immer sie durch eine Bodenwelle fuhren, pendelten sich aber schnell wieder ein und standen wieder gerade auf der Straße. Nur der fünfte Wagen, der zwischen den beiden anderen fuhr, war aus Holz gearbeitet, hatte eine zylindrische Form und wurde von einem Ochsen gezogen.
Die Wagen ließen die Erde unter Melikas Füßen leicht erbeben, sodass es ihre Fußsohlen kitzelte, auch wenn das Leder unter ihren Füßen ein wirklich gut gearbeitetes war.
Die Menschen, die teilweise neben ihnen hergingen, auf deren Ränder saßen oder den Schluss des Zuges bildeten hatten alle die gleiche Erscheinungsform. Es waren hochgewachsene Menschen, ihre Haut war braun wie der Weg unter ihren Füßen und ihr Haar hob sich in einem rostroten Ton, ähnlich dem der Wagen, von ihr ab. Die Augen waren tiefschwarz, blickten teilweise wild, teilweise suchend über die Ebene. Die Männer trugen weder Schuhwerk, noch Oberbekleidung, sondern präsentierten ihren Oberkörper frei, einzig und alleine geschmückt von einer Vielzahl an Perlenketten, die in den Farben gelb, grün und rot um ihre Hälse hingen. Die einzige Bekleidung die sie trugen war eine sandfarbene Hose, die aus grobem Stoff geschneidert zu sein schien.
Die Frauen trugen ebenfalls kein Schuhwerk, ihre Körper aber waren in farbreiche Stoffe gehüllt und keine schien wie die andere auszusehen. Ihre Statur war weicher und zierlicher als die der Männer, aber dennoch schienen sie deutlich größer zu sein als normale Frauen. Neben ihnen liefen vereinzelt Kinder, manche trugen ein Kleinkind oder einen Säugling auf dem Arm, während die starke Hitze auf sie drückte.
Am Ende des Zuges gingen einige Männer, die eine Ziegenherde von etwa fünfzehn Tieren mit Stöcken vor sich hertrieben, damit sie den Anschluss zu der restlichen Gruppe nicht verloren.
Auch wenn Melika noch nie außerhalb von Ultrecht, ihrem kleinen Dorf gewesen war, so wusste sie, um welche Menschen es sich hierbei handelte. Sie wurden vielfach in Büchern erwähnt und in Chroniken über verschiedene Teile des Landes. Die Xehanither…das reisende Volk, dass sich den Regeln der restlichen Menschen nicht unterwarf. Sie zogen von Stadt zu Stadt, von Land zu Land und lebten in der Natur mit dem, was sie hatten. Sie waren so etwas wie Gesetzlose, den Spielleuten und Freibeutern gleichzusetzen und standen nicht unter dem Schutz eines Königs, oder eines Reiches. Sie waren vogelfrei…wie der Wind.


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Tag der Veröffentlichung: 19.02.2012

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