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Die Geschichte


Prolog



Ich - ein ganz normales Mädchen in dieser Stadt: Pietates. Vom Staat unterdrückt, so wie viele hier. Und so wie viele kennt meine Familie auch nur einen Ausweg, um irgendwie zu überleben: meine Mutter verkauft ihre eigenen Kinder an den Anführer.


Kapitel 1



"Und, hast du etwas gefangen?", fragte ich meinen Bruder, der gerade zur Tür hereingekommen war. Knarzend schloss sie sich wieder und Schritte näherten sich mir.
"Nein, nichts. Ich weiß nicht mehr, was ich noch machen soll, Keira", antwortete Jonas. Er machte die Schranktür auf und verstaute das Gewehr ganz oben; hinter Tüchern, Klamotten und Stofffetzen. Und das nicht, weil es illegal war, eines zu besitzen, sondern weil meine ganze Familie es nicht sehen konnte. Wir mussten sie sozusagen gegen meine kleine Schwester eintauschen, als wir mal wieder fast am Verhungern waren.
"Mom ist grade bei einer Hebamme. In einem Jahr können wir den Kleinen wieder gegen 50 Drakne eintauschen", versuchte ich ihn zu ermutigen. Ruckartig drehte er sich zu mir um. Seine großen braunen Augen funkelten mich böse an.
"Das ist doch krank. Wir betreiben Menschenhandel! Und das nur, um unsere eigene Haut zu retten. Der Staat macht sich dagegen ein schönes Leben und lebt in Sauß und Brauß." Wütend stampfte er die Treppe hoch und verzog sich in seinem Zimmer. Traurig verfluchte ich mich selbst für meine Kaltblütigkeit. Er hatte es mal wieder auf den Punkt gebracht. Er hatte recht. Das hatte er immer. Deswegen dachte ich immernoch über seinen Einfall nach.
Als Mom wiederkam machte ich mich auf den Weg zu meiner Freundin. Das kleine Baby wollte ich gar nicht erst anschauen, die Gefahr war zu groß, dass ich seinen süßen Kulleraugen verfiel. Lesley wohnte nur ein paar Häuser weiter. Sie war genauso arm wie wir auch und hat vor 3 Monaten ihren kleinen Bruder verkauft. Sie trauerte noch immer, doch so langsam wurde auch sie wieder in die brutale Realität zurückgeworfen. Nachdem ich an die Tür klopfte, öffnete Lesley mir und ich schlug vor, einen Spaziergang durch den Wald zu machen. Als wir in das dichte grün eingetaucht waren, fing ich an, ihr von der Idee zu erzählen. Ich wusste nicht recht, wie ich anfangen sollte, aber ich entschied mich für den direkten Weg.
"Du weißt doch, dass unsere Brüder und Schwestern an den Staat verkauft werden, die ihnen dann im Gehirn rumschnibbeln, um sie dann als Inamis für sich zu nutzen." Ich machte eine Pause und atmete geräuschvoll aus.
"Tja, welche Rasse dann aus ihnen wird, weiß vorher niemand, und selbst nach der Umwandlung werden wir nicht informiert, aber alle 1.ooo Jahre passiert es, dass Hygona ... naja, sozusagen geboren wird." Lesley, die bis jetzt den Boden angestarrt hatte, drehte den Kopf und sah mich an.
"Du weißt schon. Die Anführerin. Die einzige Inami, die von den Menschen nicht als Untertane dient. Sie wird von den Menschen verehrt, da sie die einzige ist, der die anderen Inamis vertrauen. Sie sind an Hygona gebunden und würden alleine total durchdrehen. Jedenfalls hat mein Bruder mir erzählt, dass sie exakt alle 1.ooo Jahre geboren wird. Gleicher Tag, gleiche Stunde, gleiche Minute. Auf jeden Fall wäre das unsere Chance! Ich lasse mich genau zu diesem Zeitpunkt operieren, werde Hygona und stürze mithilfe der anderen Inamis den Staat. Wir werden alle ein besseres Leben haben!" Ich schrie geradezu euphorisch, denn die bessere Zukunft schien mit einem Mal nicht mehr unerreichbar. Jedoch war Lesley noch skeptisch. Aber sie schien diese Idee gutzufinden und dachte angestrengt nach. Das sah ich ihr an, denn sie drehte mir ihrem linken Zeigefinger kleine Locken in ihre blonden Haare, die sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Für einen kurzen Moment, der mir unendlich lange vorkam war es total still im Wald. Man hörte nur das Rascheln der Blätter im Wind und hier und da zwitscherte ein Vogel. Das Licht, das durch die Baumkronen viel, ließen Lesleys Haare fast weiß wirken. Endlich antwortete sie mir:
"Und woher weißt du, wann Hygona geboren wird?" Ich zuckte innerlich zusammen; augenblicklich verblasste das Bild glücklicher Dorfbewohner vor meinem inneren Auge. Darüber hatte ich noch nicht nachgedacht. Um ehrlich zu sein, wollte ich gar nicht darüber nachdenken. Aber ich wusste, dass sie recht hatte.
"Keira. Wenn die alte Hygona stirbt, wir zur exakt gleichen Zeit ein Mensch auf dem OP-Tisch liegen und zu einer neuen Hygona verwandelt. Wir wissen nicht, wann das der Fall sein wird, geschweige denn, ob wir das überhaupt noch erleben."
"Aber es muss doch herauszufinden sein. Ich meine, im Staat bekommen die Leute doch mit, wann ihre Anführerin ausgetauscht wird. Ich kann mir gut vorstellen, dass sich das herumspricht." Ich erinnerte mich, dass meine Mom mich früher immer mit auf den Markt mitgenommen hatte. Die Frauen an den Ständen waren immer sehr geschwätzig und so kam es, dass meine Mom stundenlang dort blieb, sich mit ihnen über alles unterhielt, was gerade so passierte, und ich stand daneben und langweilte mich. Ich war damals noch ein kleines, glückliches Mädchen, das in ihrer heilen Welt mit ihren Puppen spielte und sie frisierte. Damals, als mein Daddy noch lebte. Er hatte eine anständige Arbeit, und so lebten wir unbeschwert - bis er krank wurde. Die Ärtzte gaben ihm keine Überlebenschance und so entschied er, ein Inami zu werden. Die 50 Drakne waren zu der Zeit alles, was uns von ihm geblieben war. In den letzten Jahren mussten wir sie allerdings auch noch weggeben.
"Wir hören uns einfach auf dem Markt um. Die Frauen dort wissen so gut wie Alles. Das weiß ich aus eigener Erfahrung."
"Und du glaubst wirklich, die sagen dir das? Ich meine, wir werden ganz bestimmt auffallen."
"Moment mal - hast du gerade 'wir' gesagt? Das heißt, du hilfst mir?"
Ein verschmitztes Lächeln bildete sich auf ihrem Gesicht. "Hab ich denn eine andere Wahl?"
"Mmh", überlegte ich. "Ich glaube nicht." Dann lächelte ich zurück.
"Wann hast du das nächste mal Zeit, auf den Markt zu gehen?"
Scheiße! Ich müsste eigentlich den ganzen Tag zu Hause sein, Wäsche waschen, kochen, putzen, .... Meine Mom kümmerte sich um meine kleine Schwester, mein Bruder musste jagen gehen. Sonst gab es keinen mehr. Lesley musste meine Unsicherheit bemerkt haben, denn vorsichtig fragte sie: "Keira?"
"Ich...ich kann nicht", stotterte ich, "ich habe keine Zeit. Vielleicht, wenn das Neugeborene 1 Jahr alt ist und verkauft wird."
"Keira?!" Jetzt hörte sich Lesley wirklich böse an. "Hygona könnte jeden Moment sterben. Wir haben kein Jahr mehr. Entweder wir packen das Projekt gleich an, oder wir lassen es ganz sein." Wütend stand sie auf und ging schnurstracks davon, in Richtung Dorf. Traurig schaute ich ihr hinterher. Das würde schwerer werden, als ich mir das vorgestellt hatte. Viel schwerer.


Kapitel 2



Ich saß noch eine ganze Weile auf dem Baumstamm. Als es langsam anfing zu Dämmern, stand ich schließlich schwerden Herzens doch auf, und ging auch nach Hause. Dort angekommen wurde ich von einem laut schreienden Baby empfangen. Ich ging in die Küche, schnappte mir ein Stück Brot, etwas Käse und verschwand nach Oben in mein Zimmer. Von dort aus rief ich schnell:
"Mom, bin wieder da." Auf keinen Fall wollte ich dem Baby begegnen. Ich wusste zwar, dass das nicht ewig möglich war, aber ich wollte es so lange wie möglich rauszögern. Ich setzt mich an den Schreibtisch und aß, bis kein Krümel mehr von dem Brot übrig war und stellte dann das übriggebliebene Kerngehäuse des Apfels auf die Tischkante.
Da es noch nicht spät genug war, um an's Schlafen zu denken, zog ich die Schublade auf und holte einen Stapel Papiere und einen Bleistift heraus. Ich zeichnete für mein Leben gerne, und holte mein liebstes Werkzeug heraus, wann immer ich ein paar Minuten für mein Hobby freischaufeln konnte. Plötzlich wurde mir jedoch bewusst, dass ich das nicht mehr lange machen konnte. In nächster Zeit würde ich nur noch auf dem Markt herumhängen und mit alten Frauen sprechen. Der einzige Lichtblick war, dass Lesley versprochen hatte, mitzukommen.
Ich fing an, ihr Gesicht zu skizzieren und vertiefte mich ganz in meine Arbeit, sodass ich nicht merkte, dass Jonas hereingekommen war.
"Wow, das sieht toll aus." Ich zuckte zusammen, dann drehte ich mich um und sagte:
"Danke. Ich hab übrigens mit Lesley über deinen Plan geredet."
"Und, was meint sie?", fragte er hoffnungsvoll.
"Naja, sagen wir so: nachdem wir ein paar Hürden überwunden haben, könnte es eigentlich ganz gut klappen." Ich widmete mich wieder meiner Zeichnung.
"Warte. Was genau meinst du mit Hürden?" Ich atmete tief ein. Dann wieder aus.
"Wir wissen nicht, wann die Operation genau durchgeführt werden muss."
"Na dann hören wir uns einfach um." Keck zog er eine Augenbraue nach oben.
"Ja, das hab ich ihr auch gesagt. Aber wann hab ich denn schon mal Zeit, auf den Markt zu gehen?"
"Ich kann mich doch auch umhören. Schließlich verkaufe ich doch das geschossene Wild gleich nach der Jagd und muss sowieso zum Marktplatz."
"Kannst du machen. Ich muss jetzt schlafen." Ich verstaute meine Utensilien wieder in der Schublade und gähnte herzhaft. "Gute Nacht."
"Nacht."
Er war kein Meister der großen Worte. Nachdem ich unter die Bettdecke geschlüpft war, versuchte ich, an gar nichts zu denken. Ich hatte zu große Angst vor der Zukunft. Wollte ich wirklich mein Leben aufgeben, um dieses Abenteuer durchzuziehen? Was, wenn es schiefgeht? Würden wir überhaupt an die benötigten Informationen rankommen?
Zwei lange Stunden zerbrach ich mir den Kopf und als ich dann immer noch hellwach an die Decke starrte, spürte ein trockenes Gefühl auf der Zunge und beschloss, etwas zu trinken. Als schlich ich auf Zehenspitzen runter in die Küche und füllte ein Glas mit Wasser. Dann wollte ich durch das Wohnzimmer wieder zur Treppe gehen, als plötzlich aus der anderen Ecke des Raumes ein leises Weinen hörte. Natürlich. Meine kleine Schwester. Unsere "Tauschware".
Ich seufzte und ging dann zu ihr herüber. Das Glas stellte ich auf dem Weg dorthin auf den Esstisch. Sanft hob ich das kleine Baby aus seinem waren, wenigstens ihr erstes Jahr lebenswert zu machen. Da sie aussah, als wäre sie wieder eingeschlafen, legte ich sie wieder auf die weichen Kissen und legte mich dann auch in mein Bett. Kurz darauf war ich auch im Land der Träume.


Kapitel 3



Am nächsten Morgen war ich noch sehr verschlafen, als ich Jonas die Treppe hinuntergehen hörte. Ich wusste, dass er nur zur Jagd ging, aber es war trotzdem anders. Denn heute würde er nicht nur vielleicht mit ein paar Drakne, die er gegen ein totes Tier eingetauscht hatte, nach Hause kehren, sondern auch mit Informationen. Mit Informationen, die hoffentlich unser Leben verändern werden.
Eigentlich war ich sehr aufgeregt deswegen, und konnte es kaum noch aushalten, bis er wiederkam, aber zum Aufstehen war ich noch zu müde. Letzte Nacht steckte mir immer noch in den Knochen und auch das schlechte Gewissen nagte noch an mir. Ich hatte den Menschenhandel mein ganzes Leben lang akzeptiert, einfach hingenommen. Doch erst jetzt wurde mir klar, dass so etwas grausam ist und es schon viel zu lange geduldet wurde.
Obwohl ich hundemüde war, wusste ich, dass ich jetzt nicht mehr einschlafen konnte. Deshalb setzte ich mich an den Tisch, holte meine Zeichensachen heraus und fing an, das zarte Gesicht von meiner kleinen Schwester Mary zu skizzieren. Ich war so in meine Arbeit vertieft, dass ich erst aufblickte und mir die Augen rieb, als unten die Haustüre zugeschlagen wurde. Das konnte nur eins bedeuten: Jonas war von seiner Jagd zurück! Ich sprang so schnell auf, dass ich mir das Knie mit voller Wucht am Tisch anschlug und ich fluchte leise. Dann humpelte ich so schnell es ging die Treppe hinunter, wo mein Bruder gerade das Gewehr im Schrank verstaute. Als ich auf ihn zuging, drehte er sich zu mir um.
"Oh, du bist's", meinte er kurz und gebunden. Ich runzelte die Stirn. Wer sollte es denn sonst sein? Mary? Ich grinste leicht, wodurch ich einen fragenden Blick von Jonas bekam.
"Jetzt sag schon - Hast du etwas herausgefunden?"
"Ja, sogar eine ganze Menge. Das hätte ich echt nicht gedacht." Und anstatt weiterzuerzählen, lief er erst mal in die Küche. Während ich vor Neugier fast platzte, suchte er in aller Seelenruhe das Brotmesser und säbelte sich dann eine Scheibe von dem Laib ab. Dann drehte er sich wieder zu mir um, wir setzten uns an den Esstisch und er begann endlich zu erzählen:
"Also. Ich war an zwei Ständen. Und ich habe höchstwahrscheinlich genug Informationen gesammelt, damit du das Abenteuer starten könntest. Es gibt nur einen Haken an der ganzen Sache. Aber der Reihe nach. Hygona wird alle 1.ooo Jahre geboren. Aber wann ganau das das letzte Mal geschehen ist, weiß kein Mensch. Aber in der alten Bibliothek am Stadtrand sollen Bücher stehen, in denen genau das dokumentiert ist. Also müsste es herauszufinden sein. Die eine Marktfrau hat erzählt, dass wenn du dich anmeldest, du erst mal zwei Wochen in, sagen wir, Untersuchungshaft gehalten wirst. Das soll zur Beruhigung beitragen, oder so was. Und wenn du dich um 12:00 Uhr anmeldest, wirst du auch um 12:00 Uhr operiert werden. Das Gleiche geschieht nach dem Eingriff noch einmal. Zwei Wochen in Untersuchungshaft. Danach wirst du, je nach Operationsergebnis in deine Aufgabe eingewiesen, und dein mehr oder weniger trostloses Leben beginnt."
Na, das hörte sich doch schon mal alles ganz gut an. "Und der Haken?", fragte ich unsicher.
"Tja, ich würde mal sagen, das ist ein großer Haken. Denn der Staat nutzt auch noch andere Inami - Rassen. Schon mal was von Warfis und Yondil gehört? Das sind so Vicher, die können zufälligerweise die Zukunft voraussagen!"
Ich starrte ihn mit offenem Mund an. Ich hatte schon von ihnen gehört. Natürlich. Aber ich hatte bei diesem perfekten Plan einfach nicht an sie gedacht. Oder ich wollte nicht an sie denken.
"Kann man da irgendetwas dagegen machen?" Hoffnungsvoll blickte ich Jonas an.
"Das ist hier die große Frage. Auf jeden Fall werden sie merken, dass du etwas im Schilde führst. Außer..." Hier machte er eine lange und wirkungsvolle Pause.
"Außer was? Sag schon!", drängelte ich ihn.
"Außer wir starten ein Ablenkungsmanöver. In der Zeit, in der sie dich in's System einschleusen, müssen wir irgendeine Aktion starten, damit Warfis nicht deinen Plan sieht. Denn wenn du einmal drin bist, gibt's kein Zurück mehr." Bei diesen Worten lief mir ein eiskalter Schauer über den Rücken. Aber es stimmte. Es gab kein Zurück mehr. Schon jetzt dachte ich nicht mehr ans Aufgeben.


Kapitel 4



Nachdem Jonas mir Bericht erstattet und geduldig meine Fragen beantwortet hatte, ging er nach oben, um sich zu Waschen. Ich nutzte die Zeit, um Lesley zu besuchen. Um keine Zeit zu verschwenden, gingen wir schon heute zur Bibliothek. Es war zwar ein weiter Weg dorthin, aber wir hatten auch viel zu besprechen. Am Nachmittag kamen wir dann etwas erschöpft an dem alten Gebäude an. Wir traten durch die großen Holztoren und befanden uns in einem riesigen Raum mit hohen Wänden, die bis oben hin mit Büchern gefüllt waren. Eine Weile standen wir einfach so da und staunten. Lesley fing sich als Erste wieder.
"Und wie hast du dir das vorgestellt? Irgendeine Idee, wie wir an die richtigen Informationen rankommen?"
Zugegeben, ich hatte noch nicht darüber nachgedacht. Aber spontane Einfälle waren meine Stärke. "Als erstes würde ich mal die Bibliothekarin fragen. Dann lesen wir das Inhaltsverzeichnis von allen Büchern, die sich mit diesem Thema beschäftigen. Irgendwo muss es ja schließlich stehen."
Mit dumpfen Schritten gingen wir an den Empfangstresen, hinter dem eine kleine, rundliche Frau, gerade einen Zettelhaufen sortierte. Als Lesley sich räusperte, blickte sie auf und sagte: "Oh, entschuldigung. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?"
"Wir bräuchten Informationen über die Inamis. Genauer gesagt über Hygona, und wann genau sie das letzte Mal erschaffen wurde", erklärte Lesley. Direkt wie immer.
Die Dame nickte. "Mhm, ja, da hab ich ein paar Bücher, wenn Sie mir bitte folgen?"
Gehorsam trabten wir hinter ihr her. Vor einem alten Holzregal blieben wir stehen und die Frau zeigte auf eine Reihe roter Buchrücken. "Also diese Reihe beschäftigt sich mit dem Thema Inamis. Genaueres weiß ich auch nicht, Sie müssten da vielleicht mal selber schauen, ja?" Und damit ging sie wieder davon.
"Na dann mal an die Arbeit", sagte Lesley, und während ich der Dame noch hinterher schaute, zog sie schon die ersten Bücher aus ihren Lücken. Ich tat es ihr gleich und in den nächsten Stunden waren wir damit beschäftigt, aus Millionen Buchstaben ein einziges Datum herauszusuchen, dass unser Leben verändern sollte.
Nach ein paar Büchern verschommen die einzelnen Buchstaben in meinen Augen zu dicken schwarzen Klumpen und ich war drauf und dran einzuschlafen, als Lesley plötzlich aufquiekte.
"Da! Da steht es. Siehst du, hier. Schwarz auf Weiß. Hast du Stift und Papier?", fragte sie aufgeregt. Da ich keins hatte, ging ich zu der Bibliothekarin, die wütend zu uns herübergestarrt hatte, weil wir Unruhe in die Stille gebracht hatten, und kam mit einem Notizzettel und einem Bleistift wieder.
Sie diktirte mir: "Nachdem unsere Hygona am 20. Mai 910 um 15:39 Uhr geboren wurde, warten die Anwohner von Pietates schon gespannt auf ihre neue Anführerin, ..."
Ich konnte es nicht fassen. Wir hatten es geschafft. Wir hatten das Datum. In 19 Tagen musste ich operiert werden. Das bedeutete, dass ich mich in 5 Tagen beim Staat einschreiben musste. Ein klitzekleines Problem gab es jedoch noch: Das Ablenkungsmanöver. Auf dem Nachhauseweg diskutierten Lesley und ich hitzig darüber, was am einfachsten, aber auch effektivsten wäre. Schließlich einigten wir uns darauf, dass sie und Jonas eine Flucht planen werden. Mein Bruder war zwar nicht so begeistert davon, - "Wenn wir mehr Zeit hätten, würde uns sicher noch etwas besseres einfallen" - aber es waren schließlich nur noch fünf Tage Zeit, und wir hatten noch eine Menge Arbeit vor uns. Schließlich mussten wir erstmal unsere Mom in den Plan einweihen. Doch wir hatten uns zu viele Sorgen gemacht, sie nahm es erstaunlich gelassen auf. Vermutlich war sie schon abgehärtet, schließlich hatte sie das schon einmal hinter sich gebracht. Außerdem konnte sie ja Jonas behalten, er war ja derjenige, der das Geld beschaffte, ich war nur ein Maul mehr, das gestopft werden musste. Es war ein Wunder, dass ich überhaupt noch hier war. Ihr war es zwar nicht anzumerken, aber ich fühlte, dass sie durch unsere Idde hoffnungsvoll nach vorne blickte.
Schweren Herzens erklärte Jonas sich einverstanden, morgen Früh nicht in den Wald zum Jagen zu gehen, sondern mit Lesley und mir ihre Flucht zu planen. Diese Nacht fiel es mir sehr schwer, einzuschlafen, denn der Tag war aufwühlend für mich gewesen und die Aufregung wurde von Tag zu Tag größer. Ich hatte mich gefühlte 3 Stunden im Bett herumgewälzt und war dann endlich eingeschlafen.


Kapitel 5



Die letzten vier Tage vergingen schleichend, aber Heute, am Tag, an dem sich alles entschied, bemerkte ich zurückblickend, dass sie eigentlich doch wie im Flug vergangen sind.Den ganzen Vormittag war ich hibbelig und konnte nicht stillsitzen. Aufgeregt tigerte ich im ganzen Haus hin und her, Mom war schon ganz genervt von mir, aber ich spürte, dass sie auch sehr nervös war. Nur ließ sie es sich nicht so anmerken, wie ich.
Da es ein weiter Weg zum Staat war, gingen wir um 14 Uhr los. Mom wartete vor der Tür, und ich wollte auch schon aufbrechen, da fiel mir ein, dass ich für die zwei Wochen ein paar persönliche Sachen mitnehmen durfte, also rannte ich noch einmal hoch in mein Zimmer, denn es gab noch etwas Wichtiges, das ich noch unbedingt mitnehmen musste. Ohne mein Papier und Stifte würde ich nirgens hingehen. Also holte ich mir eine Tasche aus dem Schrank und packte meine Sachen hinein. Dann stürmte ich die Treppe hinunter und ging vor die Tür, wo meine Mom schon auf mich wartete.
Wir legten den Weg zum Staat schweigend zurück. Bevor wir eintraten, blieben wir stehen und meine Mom tastete nach meiner Hand. Dann sah sie mir tief in die Augen.
"Bereit?", fragte sie mich.
"Bereit", antwortete ich bestimmt.
Dann gingen wir durch die große Glastür, die sich lautlos öffnete und betraten den großen Empfangsbereich. Dann brachte meine Mom mich zu dem Tresen, hinter dem zwei muskelbepackte Männer standen und meldete mich an.
"Keira Rowland", sagte sie ruhig und bestimmt.
"Ok, Ma'am. Füllen sie das hier bitte aus und unterschreiben sie ganz unten." Er hielt ihr ein Klemmbrett mit einem Fragebogen hin und reichte ihr dann einen Stift. Flink flog Moms Hand über das Papier und trug Buchstabe für Buchstabe in die Lücken. Da ich nie zur Schule gegangen bin und nie die Zeit hatte, Schreiben zu lernen, konnte ich auch nicht lesen, was jetzt dort stand. Also wartete ich aufgeregt neben ihr.
Nachdem sie das ausgefüllte Formular zurückgab, führte uns der andere Mann einen langen, dunklen Gang entlang. Am Ende deutete er auf ein kleines Zimmer, in dem nur ein Bett, ein Tisch und ein Stuhl standen. In einem anderen, abgetrennten Raum vermutete ich das Badezimmer. Das war also mein Zuhause für die nächsten zwei Wochen. Angewiedert verzog ich das Gesicht. Als hätte der Wachmann meinen Ausdruck gesehen, sagte er: "Keine Sorge. Das ist kein Gefängnis, deshalb sind die Räume aufgeschlossen, sodass sie hier frei herumlaufen kann. Frühstück, Mittag- und Abendessen werden gemeinsam im Speisesaal eingenommen. Dienstag in zwei Wochen wird sie um 15:00 Uhr operiert. Noch Fragen?"
Absolute Stille.
"Ok, dann verabschieden sie sich bitte von ihrer Tochter und kommen dann wieder mit mir mit."
Meine Mom drückte mich fest. Dann trat sie einen Schritt zurück. Es wunderte mich nicht, dass sie keine Träne vergoss. In einem so grausamen Stück Land wie diesem, muss man tapfer sein, um zu überleben. Sie kehrte mir den Rücken zu und schritt bestimmt den Gang entlang. Zurück in die Freiheit, während ich nun mein ganzes restliches Leben in Gefangenschaft leben musste. Nachdem der Wachmann mich auch noch verlassen hatte, war ich ganz alleine. Langsam ging ich in meine kleine Zelle und sah mich um. Dann packte ich meine Sachen aus, die ich in meiner Tasche mitnehmen durfte. Im Prinzip waren es nur meine Malsachen.
Als mich um 18:00 Uhr ein schrilles Geräusch aus meinen Gedanken riss, vermutete ich, dass es jetzt Abendessen gab. Ich hatte den ganzen Nachmittag aus dem Fenster gestarrt und vor mich hingeträumt. Jetzt war es wieder Zeit für die Realität. Also machte ich mich auf die Suche nach dem Speisesaal. Vermutlich mein zweites Zimmer für die nächsten paar Tage.
Nachdem ich über das Gewirr aus Gängen endlich die Oberhand gewinnen konnte, fand ich mich in einem großen Raum wieder, in dem es nach Gebratenem und Gekochtem roch. Es herrschte reges Treiben und viele - überwiegend ältere - Leute holten sich ihr Abendbrot aus der Essensausgabe. Ich nahm mir ein Tablett und stellte mich hinter einen sehr alten Mann in die Schlange. Nachdem mir die Küchenhilfe zwei Pfannkuchen auf den Teller geladen hatte, schaute ich mich nach einem freien Platz um. Am Ende saß ich bei einer Gruppe älterer Frauen, die sich allen Ernstes interessiert über die Pfannkuchen unterhielten. Genervt zog ich so schnell wie möglich wieder ab und verkroch mich wieder in meinem Zimmer. Nach einer Weile legte ich mich schlafen. Ich versuchte mich zu entspannen, leider ging das aber nicht so gut, denn das Bett war äußerst ungemütlich. Plötzlich Irgendwann nach Mitternacht musste mich der Schlaf dann schließlich doch übermannt haben.


Kapitel 6



Ich hatte eine unruhige Nacht hinter mir, trotzdem wachte ich vor dem Frühstücksläuten auf. Als ich gerade mein Bett machte, riss es mich aus meinen Gedanken. Meine Augen waren schwer, und so lief ich fast blind aus der Tür, was zur Folge hatte, dass ich fast mit einem Jungen zusammenstieß.
"Tschudigung", murmelte ich. Dann versuchte ich mich zu orientieren. Wo war nochmal dieser verdammte Speißesaal?!
"Zum Frühstück geht's da lang." Der Junge zeigte auf den Gang nach links und lächelte mich nett an. Ich lächelte zurück und schlurfte nach links.
"Du musst neu hier sein", begann der Junge. "Ich heiße James, und du?"
"Keira", antwortete ich ihm und kniff blinzelnd die Augen zusammen. Mir kam es so vor, als würde das Licht in den Gängen immer heller werden. "Bin gestern Nachmittag hier angekommen", fügte ich noch hinzu. Bevor ich ihn fragen konnte, wie lange er schon hier war, wurden wir vom lauten Gerede duzender Menschen empfangen. Wir reihten uns in die Schlange vor der Essensausgabe ein, und warteten schweigend darauf, dass sie kürzer wurde. Dann setzten wir uns an einen Tisch und begannen zu essen. Ich musste sagen, dass das Essen besser war, als zu Hause, obwohl wir gewissermaßen Gefangene waren. Als nur noch vereinzelt Krümel auf unseren Tellern lagen, räumten wir die Tabletts auf und da wir sonst nichts anderes zu tun hatten, lud mich James ein, mit in sein Zimmer zu kommen.
Er hatte auch nicht mehr Möbel als ich und ich sah überhaupt keine persönlichen Gegenstände, sodass ich plötzlich froh war, wenigstens meine Zeichensachen, bei mir zu wissen. Als hätte er meinen umherschweifenden Blick bemerkt, erklärte James:
"Ich hatte nicht die Gelegenheit, irgendetwas mitzunehmen. Meine Mutter hat mich mit der Anmeldung hier überrascht. Ich wusste zwar, dass das Geld knapp ist, aber dass sie mich verkaufen würde...damit hätte ich nie gerechnet." Traurig senkte er seinen Blick und setzte sich dann auf's Bett. Unschlüssig, was ich machen sollte, stand ich mitten im Zimmer und bewegte mich keinen Zentimeter.
"Hast du etwas bei dir?", fragte er dann. Ich nickte. "Ich hab meine Malsachen mitgenommen. Ich kann sie zum Mittagessen holen, wenn du willst", bot ich ihm an. Dankend nahm er das Angebot an. Weil ich es nicht mehr ertragen konnte, so hilflos im Raum herumzustehen, setzte ich mich schließlich doch zu ihm. Er begann, über sich und seine Familie zu erzählen. Dabei konnte ich meinen Blick nicht von seinem Gesicht abwenden. Ich blickte in seine karamellfarbenen Augen und beobachtete die Bewegungen seiner sanft geschwungegnen Lippen. Bei jedem zaghaften Lächeln erschienen kleine Grübchen in seinen Mundwinkeln. Sein fröhliches Äußeres wollte so gar nicht zu seiner traurigen Geschichte passen. Auch sein Vater existierte nicht mehr. Allerdings war er bei einem Jagdunfall gestorben. Geschwister hatte er, anders als ich, auch nicht mehr. Er wohnte also alleine mit seiner Mutter. Bis jetzt. "Du verstehst mich wahrscheinlich am Besten. Schließlich wurdest du ja auch verkauft, um ein bisschen Geld einzubringen."
Gerne wollte ich ihm zustimmen, aber so war es leider nicht. Also erzählte ich ihm im Gegenzug auch meine Geschichte. Gespannt hörte er mir zu und zu meiner Überraschung sah er danach sehr nachdenklich aus. Wir schwiegen eine ganze Weile, und schließlich umarmte er mich sanft. Es tat so gut, von jemandem getröstet zu werden, jetzt, da ich wusste, dass ich meine Mutter, Jonas und Lesley nie wieder sehen würde. Ich vergrub mein Gesicht in seinen Schultern und er stützte sein Kinn auf meinen Kopf. Wir saßen eine Weile einfach nur so da, bis das Zeichen zum Mittagessen durch die Gänge schallte. Langsam löste er die Umarmung und ich rannte schnell in mein Zimmer zurück.
Wir trafen uns im gut gefüllten Speisesaal wieder und wir verbrachten den restlichen Nachmittag damit, meine Bilder zu betrachten. Zu jedem einzelnen konnte ich ihm eine Geschichte erzählen. Ich spürte, dass ich James vertrauen konnte, es war, als würden wir uns schon ewig kennen. Deshalb war es am Abend unerträglich, zu wissen, dass ich nun wieder in meine Zelle zurück musste, um dort wieder mutterseelenallein im Bett zu liegen, an die Decke zu starren, und auf den Schlaf zu warten. Das war wohl auch der Grund dafür, dass ich, als wir nach dem Abendessen zurück zu meinem Zimmer liefen, immer langsamer wurde. Als James das bemerkte, drehte er sich zu mir um und sah mir tief in die Augen.
"Keira, du bist ein tapferes Mädchen. Du packst das schon."
Dann zog er mich sanft zu sich und drückte seine auf meine Lippen. Für einen Moment fühlte es sich so an, als würden wir zu einer Person verschmelzen. Dann trat er einen Schritt zurück, lächelte mich an und entfernte sich dann mit schnellen Schritten.
Ich stand noch eine Zeit lang so da, reglos, spürte noch die zarte Berührung auf meinen Lippen, und wurde erst in die Wirklichkeit zurückgeworfen, als mich ein paar andere Leute anstießen. Sie waren wohl gerade auf ihrem Weg ins Bett, und so tat ich es ihnen gleich.


Kapitel 7



Am nächsten Morgen wachte ich davon auf, dass ich ein warmes und weiches Gefühl auf meinen Lippen spürte. Ich schlug die Augen auf und erinnerte mich mit strahlenden Augen an gestern Abend. So gut gelaunt, wie man hier sein konnte, sprang ich aus dem Bett und machte mich für das Frühstück fertig. Gut gelaunt und pfeifend schlenderte ich die Gänge entlang, auf die Geräuschquelle zu. Im Eingang des gut gefüllten Saals blieb ich stehen und schaute mich um. Zu meiner Entäuschung konnte ich James nirgens sehen. Und auch als ich mein Essen bekam, war er noch nicht aufgetaucht. Ich setzte mich zu einem Mädchen an den Tisch, das etwas älter war als ich. Ihre rötlich schimmernden Haare fielen ihr locker über die Schultern. Als ich mich setzte, schaute sie zu mir auf und ich fragte sie spontan: "Kanntest du zufällig einen James?".
Am liebsten hätte ich die Frage zurückgenommen, denn es war lächerlich anzunehmen, dass genau dieses eine Mädchen ihn kannte. Umso überraschender war es, als sie nickte.
"Sein Zimmer ist direkt neben meinem." Mein Glück kaum fassend fragte ich sie: "Und weißt du, wo er ist?" Ich strahlte sie an, und hoffte, dass sie die Frage bejahte. Das tat sie auch.
"Ja, er wurde heute Morgen weggebracht."
Plötzlich spürte ich einen pochenden Schmerz in meinem Bauch, als hätte jemand mit voller Wucht seine Faust hineingeschlagen. Das Strahlen verschwand aus meinem Gesicht und ich musste mich zusammenreißen, dass ich nicht losheulte. Ich wusste die ganze Zeit, dass diese Augenblicke nicht ewig halten würden, denn wir waren nur aus einem Grund hier. Aber ich hatte es verdrängt, und jetzt traf es mich mit voller Wucht. Er wurde operiert. Er war nicht mehr der Junge, denn ich kennengelernt hatte. Er war nicht einmal mehr ein Mensch. Nur noch ein krankhaft verändertes Etwas. Verstümmelt von Menschen, die nie genug Macht haben können.
Ich wollte und konnte nichts mehr Essen, also ging ich ohne ein Wort zu sagen, und ohne mich umzusehen in mein Zimmer. Dort warf ich mich auf's Bett und weinte. Ich weinte pausenlos, die Tränen wollten nicht aufhören, aus meinen verquollenen Augen zu strömen. Abends weinte ich mich in den Schlaf und morgens wachte ich, von Albträumen gequält, schweißgebadet auf. So ging es die ganzen nächsten Tage.
Die Zeit verging so schnell. Eigentlich konnte ich es kaum erwarten, etwas verändern zu können, gleichzeitig wollte ich mein Leben anhalten, denn ich hatte schreckliche Angst vor dem Eingriff und seinen Folgen. Was, wenn es nicht klappte? Wenn etwas schief ging? Lesley hatte mir zwar versprochen, dass wenn es doch das falsche Datum war, sie noch einmal gründlich nachforschen würde, und sich auch einer Umwandlung unterziehen würde, um dem Wahnsinn ein Ende zu setzten, allerdings wolle ich ihr das nicht zumuten.
Dieses beklemmende, eingeengte Gefühl. Die Hilflosig- und Einsamkeit. Die unerträgliche Angst.


Kapitel 8



Ich bekam am Nachmittag des entscheidenen Tages nur in Trance und von Wasser verschleierten Augen mit, dass mich zwei Wächter aus meinem Zimmer hohlten und in die entgegengesetzte Richtung führten, in die der Speisesaal lag. Der Weg erschien mir viel zu lang, und doch viel zu kurz. Ich musste mich auf einen Tisch legen. Ich bekam eine Maske aufgesetzt, und fühlte, wie langsam die Müdigkeit über mich hereinbrach.
Ich fand mich in tiefer Finsternis wieder. Umhüllt von Mustern. Endlich konnte ich wieder normal träumen. Kein Monster, kein Blut, keine Unterdrückung, kein Schmerz. Stattdesen Leichtigkeit, Zufriedenheit, Geborgenheit, Sicherheit. Das, was mir in den letzten Tagen so gefehlt hatte. Im Moment ging es mir gut. Ich wollte unbedingt, dass es andauerte, wollte nicht aufwachen. Noch nicht. Nie.


Kapitel 9



Als ich die Augen aufschlug, fand ich mich in meinem alten Bett wieder. Ich wusste nicht, ob ich mir das nur einbildete, aber es fühlte sich bequemer an, und auch das Zimmer wirkte hell und freundlich, obwohl jetzt dicke Gitterstäbe meinen Weg in die Freiheit versperrten. Es machte mich unsäglich wütend. Ich wusste nicht warum, doch ich hielt es nicht aus, dass sie mir meinen Willen, heraus- und hereinzugehen, wann immer ich wollte, verboten. Ich versuchte mich im Sitzen aufzurichten, wodurch mein Schädel heftig anfing zu pochen. Dann sah ich an mir herunter:
Ich erschrak fürchterlich, als ich meine hervorstehenden Rippen und den abgemagerten Körper sah. Ich meine, früher war ich zwar auch nicht der wohlgenährteste Mensch, aber das hier war schon extrem. Ein Außenstehender würde höchstwahrscheinlich sagen, ich sei magersüchtig. Als mein Kopf langsam aufhörte zu protestieren, versuchte ich, mich hinzustellen, musste jedoch schmerzlich feststellen, dass das nur auf den Zehenspitzen möglich war. Meine Waden brannten wie Feuer, was mich dazu veranlasste, mich wieder hinzusetzen. Ich war noch ziemlich erschöpft von der OP, weshalb ich erst jetzt die zwei langen, schwarzen Zöpfe bemerkte, die mir über die Schultern fielen. Der breite Haarkamm, der sich von meinem Hinterkopf zur Stirn zog, war nochmal ungefähr so groß wie mein gesamter Kopf und schwang bei jeder Bewegung mit. Immerhin - Mein Plan war aufgegangen. Von jetzt an war ich nicht mehr Keira Rowland, sondern nur noch Hygona.
Auch die zwei nächsten Wochen wurden für mich zur Qual. Doch ich hatte keine Angst, und es war auch keine Einsamkeit. Es war tiefe Wut, die in mir Steckte. Ich war eine Anführerin, ich wurde als etwas Besonderes geboren, ich war eine Auserwählte. Man sollte mich nicht einfach so einsperren dürfen. Immer wieder versuchte ich, mich durch die Gitterstäbe zu zwängen, oder auszubrechen, wenn mir mein Essen gebracht wurde. Doch es half nichts. Ich saß hier erst einmal fest.
Umso erleichterter war ich, als meine zwei Wochen in Gefangenschaft vorbei waren.
Am letzten Tag, an dem ich gefangengehalten wurde, starrte ich den ganzen Nachmittag aus dem Fenster. Ich hatte mich äußerlich beruhigt, in mir brodelte es jedoch nach wie vor wie in einem Kochtopf.
Ruckartig drehte ich mich um, als Schritte hinter mir zu hören waren. Als ich auf den Mann herabblickte, sah ich, dass er seinen Kopf nach unten hielt und auf den Boden starrte. Ich konnte es kaum fassen: Er verbeugte sich vor mir! Endlich mal ein Angemessenes Verhalten eines Menschen gegenüber mir, der Anführerin. Stolz richtete ich mich auf, versuchte mich noch größer zu machen, um mächtig zu wirken.
"Würdet Ihr mir folgen, meine Herrscherin?", ich hörte ein leichtes Zittern in seiner Stimme. Gut so.
Ich nickte. Dann ging er hinaus und ich folgte ihm. Es war mühsam, den ganzen Weg auf Zehenspitzen zurückzulegen, sie hätten auch versuchen können, es mir etwas angenehmer zu gestalten, aber ich wollte dieses Mal Gnade walten lassen. Denn was ich danach sah, verschlug mir fast die Sprache.
Wir befanden uns in einem prunktvollen Raum, der an den Wänden mit schnörkeligem Stuck verziert war. Das ganze Zimmer war in einem hellen und freundlichen orangeton gehalten, die schweren Vorhänge aus rotem Samt umrahmten die riesigen Fenster, die vom Boden bis zur Decke reichten. Zwei Drittel des Raumes wurden mit glatt polierten, hellorangenen Fliesen ausgefüllt, dann führten Treppen auf eine Art Podest, auf dem ein Thron stand. Mein Thron. Die Wächter zeigten mir den Weg und ich ließ mich in den weichen, gepolsterten Stoff des prächtigen Stuhls sinken.
Es war so weit. Von hier aus würde ich für die nächsten 1.ooo Jahre über das Land herrschen.


Kapitel 10



Es war toll, einflussreich zu sein. Man konnte sich alles erlauben, alle Wünsche wurden erfüllt und es ging mir so gut, wie schon lange nicht mehr. Ich dachte nicht mehr an das Leiden der Dorfbewohner, hatte meine Vergangenheit verdrängt.
Eines Tages jedoch war ich besonders launisch. Ich konnte nicht mehr sitzen. Also stand ich auf und machte mich auf zu einer Besichtigung, schließlich wollte ich mein Zuhause kennen. Ich öffnete die große Tür, die zu meinem Regierungsraum führte und schlich nach draußen. Es gehörte sich nämlich eigentlich nicht für eine Herrscherin alleine irgendwo herumzugeistern. Heute war es mir egal. Ich lief einen hellen Korridor entlang und öffnete die nächstbeste Tür, die ich sah. Ich steckte meinen Kopf durch den Spalt und schaute mich um. Es sah aus, wie ein kleines Arbeitszimmer. Ein paar Bücherregale, die sich unter dem Gewicht der dicken Wälzer schon bogen, ein Kamin mit zwei Sesseln davor, ein Schreibtisch und ein künstlerisch geschnitzter Stuhl. Ich ging in das Zimmer hinein und schloss die Tür leise hinter mir.
Da ich sonst nichts anderes zu tun hatte, ging ich zu einem der Bücherregale und strich über die Buchrücken. Dann ging ich zum Schreibtisch hinüber und setzte mich auf den antiken Stuhl.
Unten an der Tischplatte war eine Schublade befestigt. Als ich an dem Eisenring, der an ihr befestigt war, ließ sie sich nach ein paar mal daran ruckeln öffnen. Es lag nur ein Stapel weißer Papiere darin. Ich holte sie heraus und blätterte sie durch. Auf die Blätter ganz hinten war etwas draufgezeichnet, und als ich die Bilder genauer betrachtete, fiel mir siedend heiß ein, wer darauf zu sehen war: Es waren Mary und James.
Ich hatte vor lauter Ruhm und Überschwang vergessen, warum ich eigentlich hier war. Es war Rache und der Wunsch nach einem besseren Leben. Doch davon war nach meiner Umwandlung nicht viel übrig geblieben, war geblendet worden. Ich wusste, dass ich jetzt anfangen musste, etwas zu verändern. Für Mary, die ein besseres Leben haben sollte, als andere Babys. Ich wollte und konnte nicht zulassen, dass sie dieses schreckliche Gefühl hat, überflüssig und ausgenutzt worden zu sein. Und für James, dem es wahrscheinlich noch schlechter erging wie mir, womöglich war er zu einem Sterlin mutiert, der verachteste aller Inamis. Er war vergleichbar mit einem Huhn. Und dieses menschliche Huhn musste den Mächtigsten in dieser Staat als Nahrungsquelle dienen.
Nein, so konnte es nicht weitergehen, es musste sich etwas ändern. Ich presste die zwei Portraits fest an meine Brust.
Es war Zeit für eine Revolution!

Impressum

Bildmaterialien: Die Figuren entstammen meiner Fantasie!, http://miss-lakune.deviantart.com/gallery/#/d5h1g0e, http://www.bauchtanzausbildung.de/wp-content/themes/wideandgorgeous/img/schnoerkel-li.jpg
Tag der Veröffentlichung: 21.10.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ein besonderes Dankeschön verdient Ramona, die mich mal wieder unterstützt und motiviert, gleich nachdem sie die ersten paar Zeilen gelesen hatte. - Hab dich lieb! Geschrieben im Zeitraum vom 4. Juni bis zum 18. Oktober

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