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Ramona, du bist die Beste.
Danke für Alles und dafür, dass du mich bei meinen Ideen immer unterstützt. - Hab dich lieb!




Prolog


Winter, 1951



Sie rannte. Immer weiter. Achtete nicht darauf, dass ihr die Puppe, mit der sie eben noch gespielt hatte, aus der Hand glitt. Sie fiel lautlos neben ihr in den im Mond glitzernden Schnee und versank in den klitzekleinen Eiskristallen. Ihr eigener, keuchender Atem klang unnatürlich laut in der kalten und stillen Winternacht. Kleine, weiße Wölkchen kammen aus ihrem Mund und sie fluchte leise, als das Gestrüpp immer dichter wurde, sodass sie fast stürtzte. Doch sie durfte nicht stehen bleiben. sie spürte, wie er immer näher kam, also bahnte sie sich ihren Weg durch die Bäume und Sträucher.
Bald schon spürte sie, wie ihr warmes Blut über die aufgeschlitzten Schienbeine lief. Doch sie rannte immer weiter und sagte sich selber, dass sie jetzt nicht aufgeben durfte. Plötzlich fand sie sich an einem Flussufer wieder und suchte verzweifelt nach einem Fluchtweg. Der Fluss war zwar zugefrohren, doch der Winter war gerade erst angebrochen, und so bezweifelte sie, dass die dünne Eisschicht, sie tragen würde.
Aber sie hatte keine andere Wahl, denn bald schon hörte sie wieder Schritte näherkommen. Zitternd schaute sie sich in alle Richtungen um, doch sie konnte ihn noch nirgens sehen. Vorsichtig setzte sie den ersten Fuß auf das Eis, den sie sofort wieder zurückzog, als es unter ihrem Schuh laut knackte. Hinter ihr raschelte es im Gebüsch. Sie drehte sich um um musste sich die Hand vor den Mund halten, um nicht laut aufzuschreien. dann starrte sie wieder auf den Fluss und setzte zögernd wieder ihren Fuß auf die schimmernde Oberfläche, verlagerte langsam ihr Gewicht und löste ihren anderen fuß schließlich auch noch von der sicheren Erde. Zögernd bewegte sie sich auf dem nassen Untergrund fort und hielt bei jedem Geräusch kurz inne.
Doch auf einmal fühlte sie seinen warmen Atem im Nacken. Ruckartig drehte sie sich um. Ehe sie registrierte, dass niemand mehr da war, fühlte sie, wie das Eis unter ihr nachgab und sie ins kalte Wasser fiel. Sie spürte, wie Kälte ihren Körper umgab und sich ihr Nachthemd mit Wasser vollsog. Kalte Hände griffen nach ihr und zogen sie immer weiter mit sich ins tiefe Schwarz.


Kapitel 1


Sommer, 1998



Erschrocken fuhr ich hoch, als ich registrierte, dass sich das Telefon im Schlafzimmer lautstark bemerkbar machte. Ich sprang auf meine Füße und versuchte mich zu orientieren. Ich stand mitten in einem Meer aus hunderten schwar-weißen Puzzleteilen, die alle darauf warteten, zu einem vollständigen Bild zusammengefügt zu werden.
Auf Zehenspitzen bahnte ich mir geschickt meinen Weg raus aus dem Wohnzimmer und griff nach dem Höhrer.
"Hallo, hier ist Mira!", meldete ich mich gut gelaunt.
"Hey. Was machst du grad?" Sofort erkannte ich die dunkle Stimme meines Kumpels Richard.
"Ich verzweifle gerade an meinem McEscher - Puzzle", antwortete ich ihm und warf einen erwartungsvollen Blick in den Kühlschrank. "Ähm naja, besser bekannt als der große Zeichner M. C. Escher, aber das hört sich so ... abgelaufen an." Mit einem Blick auf den Joghurtdeckel musste ich angeeckelt feststellen, dass dieser schon mehrr als einen Monat zu lange bei mir rumstand. Dann eben kein Snack!
"Okay ... Also der Grund warum ich eigentlich anrufe ist Folgender: Ich hab da bei diesem Gewinnspiel mitgemacht ... und rate mal, wer die Reise für 2 Personen nach Mexiko gewonnen hat?!" An seiner Stimme erkannte ich, dass der Junge am anderen Ende der Leitung strahlen musste, wie ein Honigkuchenpferd.
"Hm, mal sehen. Da ich die anderen 100.ooo Teilnehmer nicht kenn, würde ich mal auf dich tippen?"
"Richtig! Und da du so gut in Ratespielen bist: Wen werde ich wohl mitnehmen?" Ich war so geschockt, dass ich für einen Momen ganz vergaß zu Atmen.
"Oh mein Gott, Richie", quieckte ich ", das ist nicht dein Ernst, oder?"
"Ich fürchte schon."
"Danke, danke, danke!" Begeistert sprank ich auf und ab. "Wann geht's los?"
"In zwei Wochen. Also, bist du dabei?"
Lange überlegen musste ich bei so einem Angebot nicht mehr lange. "Aber so was von dabei." Entschlossen pfefferte ich den vollen Joghurtbecher nach einer mißlungenen Geschmacksprobe in den Müll. "Aber ich sollte jetzt besser schluss machen, schließlich muss ich noch für unsere Reise zusammenpacken. Bis in zwei Wochen." Schnurstracks ging ich wieder ins Schlafzimmer, zog den Koffer hervor, warf ihn auf's Bett und öffnete den Kleiderschrank. Nun hatte ich die Qual der Wahl! Und nur noch zwei Wochen Zeit, mich zu entscheiden...


Kapitel 2



Schwüle Hitze schlug uns entgegen, als wir in Mexiko-City aus dem klimatisierten Flughafen herauskamen. Wir flüchteten mit unseren Koffern in den Schatten, den ein großes Dach spendete, und riefen uns ein Taxi, das uns zu unserem exklusiven Ferienhaus kutschieren sollte. Unterwegs betrachtete ich neugierig die Umgebung, war dankbar, dass Richard mich mitgenommen hatte, denn ich liebte es, die Welt zu erkunden. Wir fuhren gerade durch einen kleinen Vorort namens Xochimilco, in dem die Menschen geschäftig umhereilten, als wir in einen schmalen Feldweg einbogen, langsamer wurden und schließlich vor einer schäbigen Hütte zum Stehen kamen.
"Da sollen wir wohnen?", fragte ich voller Entsetzen und stieg langsam aus dem Auto. Richie, der seine Sonnenbrille von seinen Augen in die dunkelbraunen Haare schob, stellte sich neben mich und musterte das Haus.
"Das glaub' ich jetzt nicht." Er machte sich daran, die Taschen aus dem Kofferraum zu hiefen und bezahlte anschließend den Taxifahrer.
"Dann werden wir hier wohl für die nächste Woche wohnen. Ist wohl nicht ganz so exklusiv, wie beschrieben, aber hey ... wir sind in Mexiko. Umsonst!" Wenn es eine Sache gibt, für die ich Richie beneidete, war es sein Optimismus. Na gut. so schlimm würde es schon nicht werden. Dann mal rein in die gute Stube.
Am Nachmittag machten wir uns erst einmal auf, den Strand zu besuchen. Wir sonnten uns, planschten im Meer und aßen Eis. Wir planten außerdem, was wir in den nächsten Tagen machen könnten und beschlossen, am nächsten Morgen in Mexiko-City shoppen zu gehen.
Als Richie kurz vor unserem Ferienhaus stehen blieb und sich zu mir umdrehte, sah ich ein Funkeln in seinen Augen, das ich nur zu gut kannte: Er hatte wieder einen seiner spontanen Einfälle.
"Richie, egal, was du vorhast - wir werden es nicht machen! Ich liebe Abenteuer zwar auch, aber ich bin ganz sicher nicht lebensmüde."
"Ach komm schon. Ich will wissen, was da hinten im Wald ist. Siehst du den sanften Schimmer? Das muss von einem Licht kommen. Ich wette mit dir, da wohnt eine alte Hexe, die uns Gruselgeschichten erzählt und dabei in ihrem Zaubertrank rumrührt."
"Nein, das wird sie nicht machen, weil wir sie gar nicht besuchen werden. Und jetzt komm, es wird schon ganz dunkel." Ich ging auf die Haustüre zu und sah im Augenwinkel, dass Richie nicht mir folgte, sondern dem Feldweg. Direkt auf den Wald zu. Ich verdrehte die Augen, seufzte und ging schließlich doch mit ihm mit. "Ich hasse dich. Das weißt du doch sicher, oder?"


Kapitel 3



Wir gingen schweigend nebeneinander her. Man hörte nur, wie unsere Füße sich auf der weichen Erde fortbewegten. Irgendwann, für mich viel zu bald, kamen wir am Waldrand an und bevor ich irgendetwas sagen konnte, zwängte Richard sich schon durch die Äste.
"Komm schon!", flüsterte er mir sichtbar begeistert zu und ich folgte ihm, zuerst widerwillig, aber dann wurde ich auch von der Entdeckerlust erfasst. Also hielt ich mir die Hände schützend vor mein Gesicht und quetschte micht auch hindurch. Dann waren wir von braunen Baumstämmen umgeben. Manche dicker, manche dünner. Nachdem wir uns kurz umgeschaut hatten, machten wir uns auf den Weg, und gingen dem schwachen Lichtschein entgegen.
Nach einer Weile, die mir unendlich lang vorkam, wurden meine Füße schwer wie Blei und sie schmerzten fürchterlich, denn natürlich hatte ich nicht die richtigen Schuhe an. Wer hätte bei einem Ausflug an den Strand denn schon daran gedacht, Wanderschuhe anzuziehen? Also musste ich wohl oder übel meine armen Füße mit Flip-Flops weiterquälen. Und obwohl wir schon so lange unterwegs waren, hatte ich nicht das Gefühl, dass wir dem Licht näherkamen. Das musste auch Richie bemerkt haben, denn er wurde allmählich langsamer, bis er schließlich ganz stehen blieb.
"Meinst du, wir sollen umdrehen?". Das fragte er mich jetzt nicht allen Ernstes, oder?
"Spinnst du? Jetzt sind wir schon so weit gekommen. Ein zweites Mal irre ich nicht durch die Wälder Mexikos. Und falls ich dich daran erinnern darf: du hattest diese hirnverbrannte Idee, jetzt mach keinen Rückzieher. Außerdem werden die Bäume da vorne schon weniger."
Tatsächlich standen nach ein paar Metern nur noch einzelne Stämme in der Gegend herum. Ich vermutete, die anderen waren schon alle abgestorben, denn diese hier sahen auch nicht mehr ganz gesund aus. Plötzlich trat ich auf etwas hartes und ich fühlte etwas glattes und plastigartiges an meiner Zehe. Da ich mich erschreckt hatte, schrie ich kurz auf, was zur Folge hatte, das Richie gleich zu mir hereilte und fragte, was los sei.
"Nichts", antwortete ich ihm. "Ich bin nur mit meinem Fuß gegen etwas gestoßen und hab mich ein wenig erschreckt. Keine große Sache." "Trotzdem wäre eine Taschenlampe sehr nützlich", fügte ich in Gedanken hinzu. Und als ob er ein Hellseher wäre, zog Richie sein iPhone aus der Hosentasche und leuchtete mir mit dem Display direkt ins Gesicht. Ich musste meine Augen wegen dem plötzlich so hellen Licht zusammenkneifen. Nach ein paar mal Blinzeln gewöhnte ich mich daran und Richie senkte den Lichtkegel auf den Boden. Doch da blieb er nicht lange, denn ich bekam in Trance mit, dass ihm das iPhone vor Schreck aus der Hand gefallen war und mit einem plumpen Ton auf der Erde aufschlug. Wir waren beide sprachlos und konnten unseren Blick nicht von dem Puppenkopf lösen, der da auf dem Boden lag. Unheimliche Schatten fanden sich in dem so zerbrechlich wirkendem Gesicht wieder. Da der Schädel hier im Dreck lag, und der Körper der Puppe nicht mehr da war, wo er sein sollte, könnte man meinen, er sollte total dreckig aussehen. Doch das war er nicht. Und ich glaube das ist der Grund, warum wir so fassungslos waren: er sah so gepflegt aus, als hätte hier vor wenigen Sekunden noch ein Kind mit ihm gespielt.
Als ich mich endlich aus meiner Schockstarre lösen konnte, blickte ich mich um und hätte sofort wieder rumschreien können. Ich hatte keine Ahnung, warum ich das nicht bei unserer Ankunft bemerkt hatte, doch in den Bäumen hingen dunkle Schatten zwischen den Ästen, genauso wie in dem, der einen Meter von uns wegstand. Bei genauerem Betrachten erkannten wir, dass die schwarzen Flecke ebenfalls Puppen waren. Manche genauso sauber wie das Exemplar auf dem Boden, andere wiederum sahen verwahrlost und schmuddelich aus.
Ohne es zu bemerken, hatte ich mich an Richies Arm geklammert, an dem ich Halt suchte und musste mich beherrschen, meine Tränen zurückzuhalten. Wir standen doch tatsächlich mitten in der Nacht auf einem Puppenfriedhof!
"Lass uns hier bitte endlich verschwinden", flehte ich ihn an und spürte, dass nun doch die Tränen kamen.
"Ja", hauchte Richie und wir gingen rückwärts in Richtung Wald zurück. Erst als wir in das tiefe Meer aus grün und braun eingetaucht waren, drehten wir uns gen Ferienhaus und begannen so schnell zu rennen, wie unsere Füße uns tragen konnten.


Kapitel 4



Als ich aufwachte, warf ich einen Blick auf den Wecker und registrierte, noch halb schlafend, dass es schon fast zwei Uhr Nachmittags war. Doch nachdem ich gestern Abend, als ich zitternd im Bett lag, gedacht hatte, dass ich nie wieder einschlafen könnte, war ich ganz froh um die paar Stunden Schlaf.
Ich rappelte mich auf und schlüpfte aus dem Bett, spritzte mir eiskaltes Wasser ins Gesicht und fühlte mich gleich schon viel wacher. Dann stapfte ich die Treppe hinunter, holte mir die Cornflakes aus dem Schrank und setzte mich gegenüber von Richie an den Frühstückstisch. Als ich ihn anblickte, sah ich, dass er dunkle Augenringe hatte, die auf der leichenblassen Haut besonders auffielen.
"Na, auch nicht gut geschlafen?", fragte ich, halb gähnend.
"Nein nicht besonders."
"Boah, das gestern Abend war echt der Horror. Die Angst steckt mir immer noch in den Knochen." Rasselnd fielen die Cornflakes in die Schüssel. Als sie fast ganz voll war, goss ich Milch dazu und startete mein Frühstück.
"Hör zu. Ich hab keine Ahnung was das war oder wer das gemacht hat, aber wir müssen noch mal zurück."
"Wir müssen was

?"
"Noch mal zurück..."
"Oh, nein. Wir müssen gar nix. "
"Aber ich hab mein iPhone dort liegen gelassen. Das Teil kostet mehr als einen halben Riesen. Ich brauch das wieder. Und du kommst mit."
"Kannst du vergessen. Da kriegen mich keine 10 Pferde mehr hin."
Vielleicht schaffen das keine 10 Pferde, aber Richie tat es, denn wenig später trotteten wir wieder nebeneinander durch den Wald. Keine Ahnung, warum ich letzendlich doch immer alles machte, was er wollte. War das blindes Vertrauen? Bedingungslose Liebe? Oder einfach nur Dummheit? Also ich persönlich tendierte eher zu Letzterem.
Ich hatte keine Ahnung warum, aber der Weg kam mir heute viel kürzer vor. Bei Tageslicht wirkte sowieso alles viel freundlicher und ich hatte komischerweise auch keine so große Angst mehr vor einer erneuten Begegnung mit den Puppen. Trotzdem hatte ich ein flaues Gefühl im Magen. Als man in einigen Metern schon die spärlich bewachsene Fläche sah, wollte ich am liebsten doch wieder umdrehen und verfluchte mich selbst, dass ich so ein Angsthase war. Als wir aus dem Wald heraustraten und ich die dunklen Schatten in den Bäumen sah wurde ich langsamer. Richard ging einfach weiter und im tiefsten Inneren bewunderte ich ihn dafür, dass er einfach so tun konnte, als ob nichts gewesen wäre. Ich wurde aus meiner Trance gerissen, als ich ihn rufen hörte:
"Mira, jetzt hilf mir doch mal suchen. Wo lag denn die Puppe, gegen die du gestern gelaufen bist?"
"Ähm, ich weiß nicht mehr genau." Nach wenigen Schritten stand ich neben ihm und suchte ebenfalls den Boden ab. Dieses blöde Handy musste doch hier irgendwo liegen, schließlich konnte es sich ja nicht in Luft auflösen. Wobei - an diesem Ort war das vielleicht sogar möglich.
"Was macht ihr ihr?" Als ich die Angst einflößende Stimme eines Mannes hörte, der offenbar sehr sauer war, erschrak ich. Und auch Richie richtete sich auf und starrte den alten Mann an, der uns ziemlich finster beäugte.
"Ich...wir...haben hier etwas verloren. Gestern Nacht...", fing ich an zu erklären. Ich war immer noch so erstaunt, dass ich keinen klaren Gedanken fassen konnte, geschweige denn, einen ganzen Satz zu formen.
"Ihr wart gestern Nacht schon mal hier?", fragte er ungläubig. "Dann habt ihr sicher schon Bekanntschaft mit meinem Kunstwerk hier gemacht."
Kunstwerk?! Wollte er uns auf den Arm nehmen? Offenbar nicht, denn er drehte sich im Kreis und zeigte Stolz mit seinem ausgestreckten Arm auf die unzähligen Figuren.
"Ja, allerdings. Das haben wir." Stirn runzelnd schaute Richie zuerst auf mich und dann wieder zu dem dunkelhäutigen Mann.
"Wollt ihr auf eine kleine Tasse Tee in meine Hütte kommen? Dann kann ich euch die Geschichte hinter diesem schauderhaften Anblick erklären", fragte er uns, diesmal schon etwas freundlicher.
"Gerne", antwortete ich und wir folgten ihm durch das Gruselkabinett, bis wir an einen kleinen Fluss kamen. Weiter unten gab es eine Brücke, die uns sicher über das Wasser auf eine Insel brachte. Auf ihr gab es nur eine Hütte. Sonst war die ganze Fläche mit Blumen zugewachsen. Das innere des Hauses war spärlich eingerichtet, es stand nur das nötigste im Raum: ein Bett, ein Tisch mit Stühlen, die Küche und in einem abgetrennten Raum vermutete ich das Bad, wobei mir durch den Kopf schoss, dass darin wahrscheinlich ein Plumpsklo stand. Doch ich vertrieb den Gedanken daran, als wir an dem Tisch platz nahmen und der Mann anfing, Wasser aufzusetzen. Dann gesellte er sich zu uns und fing an zu erzählen.


Kapitel 5



"Also, zu zuallererst: ich heiße Julián Santana Barrera. Aber nennt mich einfach Julián. Ich bin 67 Jahre alt, und habe auf dieser Insel die Felder meines Vaters übernommen. Er war Blumenzüchter, wie ihr vielleicht schon gesehen habt."
Der Wasserkocher pfiff, weshalb der Mann aufstand und das Wasser in Tassen goss, in die er vorhin ein paar Kräuter hineingeworfen hatte. Dann brachte er uns den Tee und fuhr fort.
"Ich wohne schon mein ganzes Leben hier und nie ist etwas aufregendes passiert. Bis zum Winter im Jahre 1951. Da war ich gerade 20 Jahre alt gewesen. Jedoch waren meine Eltern zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr unter uns. Jedenfalls wollte ich am Morgen ins Dorf gehen, um Lebensmittel einzukaufen, als ich bemerkte, dass etwas am Ufer angeschwemmt wurde. Also bin ich dorthin, um zu sehen, was es war und erschrak ganz fürchterlich, als ich bemerkte, dass es sich um einen Menschen handelte. Es war ein Mädchen, vielleicht 10 Jahre alt, nicht mehr, die letzte Nacht im Fluss ertrunken sein musste. Da ich nicht wusste, was ich mit dem leblosen Körper anfangen sollte, aber es nicht möglich war, ihn dort liegen zu lassen, schubste ich ihn wieder ins kalte Wasser und sah zu, wie er stromabwärts trieb. Auf dem Weg zum Dorf fand ich im Schnee dann eine kleine Puppe, die mit Raureif überzogen und ganz steif vor Kälte war. Ich erinnerte mich an das Mädchen und ich war mir ziemlich sicher, dass es ihre gewesen ist. Also setzte ich sie in einen Baum und lief weiter."
Der alte Mann trank einen Schluck heißen Tee aus seiner Tasse, der schon der Henkel fehlte. Sie war hellbraun und mit einem Schwarzen Strichmuster versehen.
"Als ich in der Nacht schlimme Albträume bekam, ich immer wieder das tote Mädchen mit ihren goldenen Locken vor Augen hatte und mich ihr Geist verfolgte, wusste ich, dass es ein Fehler gewesen war, sie nicht aus dem Fluss zu holen. Viele Nächte schlief ich extrem unruhig, wachte immer wieder schweißgebadet auf. Irgendwann beschloss ich, die Puppen, die ich immer wieder auf meinen Flussfahrten fand, zu sammeln. Ich nahm sie mit in meine Hütte, wusch sie, pflegte sie und kämmte ihre Haare. Ich versuchte, damit den Geist zu besänftigen, indem ich ihm zeigte, wie ich mich um die Puppen kümmere. Dann setzte ich sie zu der ersten in die Bäume. Da ich das Gefühl hatte, die schlechten Träume würden weniger werden, setzte ich meine Arbeit fort. Jahrelang habe ich die Bäume in der Gegend mit den Spielzeugen kleiner Mädchen behangen. Auch heute noch. Mittlerweile müssten es mehr als 1.ooo sein."
Mir lief bei dieser Vorstellung ein kalter Schauer über den Rücken. Dann folgte eine lange und stille Minute, die sich endlos zu ziehen schien. Dann fragte ich: "Wer war das Mädchen, und warum ist sie ertrunken?"
"Sie hieß Emilia Torres und kam aus einem Dorf, das eigentlich sehr weit von hier liegt. Warum sie in dieser Nacht draußen war, wusste keiner, genauso wenig, warum sie im Fluss ertrunken ist. Aber ihre Eltern haben erzählt, dass sie immer wieder unter Wahnvorstellungen litt, und Dinge und Menschen gesehen hat, die gar nicht existierten. Vielleicht war das auch in dieser Nacht der Fall und ist vor Panik in den Fluss gestürtzt."
Ich ließ meinen Blick auf die Teetasse schweifen und betrachtete sie gedankenversunken.
"Ich glaube, wir sollten langsam gehen, es wird schon langsam Dunkel draußen und wir haben noch einen weiten Weg nach Hause", sagte Richard schließlich, weshalb ich die Tasse an meinen Mund setzte und sie in einem Zug austrank. Dann standen wir auf, bedankten uns, und gingen zur Tür hinaus.


Kapitel 6



Auf dem Rückweg fanden wir wie durch Zufall Richies iPhone, an das wir gar nicht mehr gedacht hatten. Zu aufregend war der Zwischenfall, der sich 1951 hier ereignet hatte. Es fühlte sich plötzlich alles so kalt und grausam an, noch schlimmer, als wir die Geschichte noch nicht kannten.
In dieser Nacht konnte ich trotz der Vorfälle heute Nachmittag tief und fest schlafen, ganz anders als letzte Nacht. Richie vermutete, dass der Tee daran Schuld war, denn er hatte auch endlich wieder eine ruhige Nacht verbracht. Doch so genau wollte ich das gar nicht wissen, wer weiß, was in dem Gebräu alles drin war.
Die restliche Zeit verging so, wie man sich einen normalen Urlaub vorstellte: entspannend, lustig, unbetrübt. Doch hatten wir immer die tragische Geschichte im Hinterkopf, die wir am Ende der Woche mit nach Hause nahmen. Wir wollten nicht darüber reden, versuchten uns abzulenken, schweiften aber immer wieder vom Thema ab. Der Alltag zu Hause ließ uns zum Glück nicht so viel Freiraum und nach ein paar Tagen ging alles seinen gewohnten Gang, wie früher. Inzwischen hing das fertige Puzzle an der Wand über dem Sofa in meinem Wohnzimmer und ich war mega stolz auf mich, dass der "Cascade Wasserfall" endlich fließen konnte.


Kapitel 7


Frühling, 2001



Die Tage, Wochen, Monate vergingen und ich war mir sicher, dass Richie das Erlebnis weitgehend verarbeitet hatte. Umso überraschter war ich, als er mich eines Mittags anrief, und mir mitteilte, dass er vorhatte, Julián noch einmal zu besuchen. Er wusste selbst nicht genau warum er das machen wollte, aber ich verstand ihn. Ich hatte schließlich kurzzeitig auch schon mit dem Gedanken gespielt.
Diesmal buchten wir jedoch ein Ferienhaus direkt in Xochimilco und beschlossen spontan, selbst eine Puppe mitzunehmen, um sie zu den anderen zu setzen. Sie hatte gold-blondes Haar und kleine Locken, genau wie das kleine Mädchen, der Grund für dieses Ritual.
Nachdem wir uns an der Rezeption gemeldet hatten, gingen wir in unser Zimmer, packten unsere Sachen aus - dass heiß, wir verteilten sie im ganzen Raum und machten uns dann auf, um den Blumenzüchter zu besuchen. Mit der Puppe in der Hand schlenderten wir durch die engen Gassen und hingen unseren Gedanken nach. Jetzt, nachdem wir schon das dritte mal durch den Wald und den Puppenfriedhof gingen, kam uns der Weg nicht mehr ganz so lang und bedrohlich vor. Eher traurig. Und so setzten wir unsere Puppe neben die anderen auf einen alten, verdorrten Ast. Dann gingen wir weiter, über die kleine, vermooste Brücke, hinüber zur Hütte. Wir waren sehr erstaunt, als wir sahen, dass die Türe offen stand, und lugten vorsichtig ins Innere. Julián erblickten wir zwar nicht, aber dafür einen anderen, jüngeren Mann, der ebenfalls schockobraune Haut hatte.
"Ähm, entschuligung", fing ich höflich an und erkannte, wie der junge Mann zusammenzuckte. Dann drehte er sich zu uns um und lächelte. Dann fuhr ich fort: "Wir suchen Julián Santana Barrera, wissen Sie zufällig, wo wir ihn finden können?"
"Mein Vater weilt leider nicht mehr unter uns, tut mir leid. Waren sie Freunde von ihm?"
"Nicht direkt, wir wollten ihn nur besuchen kommen. Wie ist Julián den gestorben?"
"Ok, dumme Frage", verfluchte ich mich in Gedanken. "Schließlich war er ein alter Mann. Herzversagen..." Doch so war es nicht.
"Er ist 1999 im Winter im Fluss ertrunken. Ich kann mir das nicht erklären, schließlich wohnte er hier schon sein ganzes Leben und war ein guter Schwimmer."
"Oh", sagte ich nur.
"Eigentlich bin ich auch nur hier, um seine Habseligkeiten zusammenzupacken. Dann bin ich auch schon wieder weg. Eigentlich wohne ich in der Stadt. Ich habe es hier einfach nicht mehr ausgehalten. Ständig fastelte er von Geistern und Menschen, die ihn verfolgten. Als er mit diesem Puppenzeugs anfing, reichte es mir. So, und jetzt entschuligt mich bitte. Auf mich wartet noch eine Menge Arbeit."
Damit ging er aus der Hütte und ließ uns alleine. Ich starrte ihm ungläubig nach. Er hatte auch Wahnvorstellungen?


Kapitel 8



Da ich mehr erfahren wollte, beschloss ich einfach, zurück nach Xochimilco zu gehen. Als wir von der Straße auf die die Sonnte schon im Frühling erbarmungslos brannte, ins klimatisierte Haus kamen, fröstelte es mich. Ich wandte mich an den netten Rezeptionisten und fragte ihn nach Julián Santana Barrera.
"War das nicht der alte Mann mit den Puppen?", fragte er mich. Ich nickte. "Der ist letztes Jahr gestorben. Im Fluss ertrunken. Tragisch. Niemand wusste etwas, von ihm, und seinem Ritual, aber nachdem im Frühjahr 1999 städtische Reinigungsmaßnahmen auf der Insel durchgeführt wurden, entdeckte man seine Leiche und die Puppen."
Ich bedankte mich und er drückte mir noch schnell eine Broschüre in die Hand, bevor er sich um die nächsten Gäste kümmerten, die gerade laut lachend durch die Lobby stolzierten.
Widerwillig ließ ich mich von Richard mitziehen und wir schlichen die Treppen hinauf. Erschöpft von den ganzen Informationen und dem ganzen Tag, legte ich mich aufs Bett und schloss die Augen. Wenig später musste ich dann eingeschlafen sein.


Kapitel 9



Am nächsten Morgen wurde ich von Richie geweckt und wir gingen gemeinsam zum Frühstück in den Speisesaal. Um uns herum quatschten die Menschen ausgelassen und schmiedeten Pläne für den heutigen Tag. Mir war überhaupt nicht zum Reden zu Mute und auch ans Essen war nicht zu denken. Und so ging ich nur mit einem Gläschen Orangensaft im Bauch wieder nach Oben. In unserem Zimmer fiel mir dann wieder die Broschüre ein, die der freundliche Rezeptionist uns gegeben hatte und begann zu lesen:
"Sie blicken wie aus toten Augen auf ihre Besucher: Mehr als 1000 Puppen verteilen sich auf der „Puppen-Insel“ (Isla de La Munecas) in Mexico. Ein alter Mann aus der Region hatte sie aufgestellt, um den Geist einer Toten zu vertreiben!
1951 ertrank in den Kanälen der Region ein kleines Mädchen. Ihr Geist fand keine Ruhe. Er erschien dem Blumenzüchter Julián Santana Barrera, der in der Nähe wohnte, in quälenden Träumen.
Schließlich fand er ein Gegenmittel: Alte Puppen aus dem Kanal, die er in der Umbebung in die Bäume hängte, schienen den Geist fernzuhalten.
Ein glückliches Ende fand der alte Blumenzüchter jedoch trotzdem nicht: 2001, genau 50 Jahre später, ertrank er - an der gleichen Stelle wie einst das kleine Mädchen..."

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Texte:
Bildmaterialien: http://planetoddity.com
Tag der Veröffentlichung: 16.09.2012

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