Harry musste wohl etwas eingenickt sein, denn das Trappeln von Füßen auf der Treppe zum Schlafsaal ließ ihn auffahren. Es war schon dunkel geworden. Er setzte sich auf und wandte sich zur Tür, die mit einem Mal krachend aufflog.
„Sie kommen!“, rief Ron atemlos und stürzte ins Zimmer. Augenblicklich war Harry hellwach. Er sprang aus dem Bett, schlüpfte in seine Hausschuhe und lief hinter Ron her, der sich direkt wieder umgedreht hatte und die Treppe hinuntergesprungen war. Ron stand am Fenster im Gemeinschaftsraum. Er hatte einen Flügel geöffnet und sich hinausgelehnt.
„Das musst du dir anschauen!“, rief er begeistert und zeigte hinunter auf die Auffahrt zum Schloss.
Harry schob Ron etwas zur Seite und schaute hinaus. Entlang der Auffahrt schwebten Fackeln in der Luft und eine lange Prozession von Kutschen ohne Pferde zog den Weg herauf. Vor dem Eingangsportal hielten sie und spuckten drei, vier oder auch manchmal fünf Schüler aus. Dann fuhren sie den weiten Bogen der Auffahrt wieder hinunter zum See, wo noch eine schier unübersehbare Menge an Leuten wartete, nahmen erneut Schüler auf und stellten sich an der Schlange an. Auf dem See schwammen kleine Kähne mit Lampions an ihrem Bug, und auch darin saßen Schüler. Auch am anderen Ufer des Sees stand noch eine kleine Gruppe von Schülern. Harry wusste, dass es die Erstklässler waren, denn diesen Weg hatte er vor vier Jahren auch gemacht. Es war so etwas wie ein Ritual, jedenfalls wurden alle Erstklässler in den schaukelnden Booten über das schwarze Gewässer gefahren, während die anderen Schüler direkt am Bahnhof Hogsmead von den Kutschen abgeholt wurden. Die Luft war gefüllt mit Lachen und Schwatzen und aus der Eingangshalle drang fröhliches Leben durch die Flure bis hinauf in den Turm der Gryffindors.
Harry spürte, wie er beiseite gedrängt wurde, und als er sich umsah, erkannte er Hermine, die aus dem Mädchenschlafsaal gekommen war und nachsehen wollte, was los war.
„Ach, sie kommen!“, meinte sie. „Wollen wir nicht hinunter gehen?“
„Ja, lasst uns runtergehen. Ich freue mich auch schon auf das Essen!“, rief Ron begeistert und rieb sich den Bauch. Harry warf noch einen Blick auf den Vorplatz des Schlosses. Er war fasziniert von der geheimnisvollen Stimmung, die das Flackern der Fackeln erzeugte. Dann riss er sich los und nickte. Ron und Hermine waren schon beim Eingangsloch zum Gemeinschaftsraum. Hermine stupste gegen das Portrait, das mit leisem Knarzen aufschwang.
„Kommst du?“, fragte Ron ungeduldig.
„Ja!“, antwortete Harry und lief hinter seinen beiden Freunden her. Von der Halle her drang ein solcher Lärm zu ihnen herauf, dass sie ihre eigenen Schritte kaum hörten. Oben an der großen, geschwungenen Treppe blieben sie stehen. Wo heute Nachmittag nur der Hausmeister einsam in der Halle gearbeitet hatte, waberten unzählige Schüler durcheinander. Auch hier brannten Fackeln und der große Kronleuchter, der mitten in der Halle an einer langen Kette hing, erstrahlte im Licht von tausend Kerzen. Schüler aller Jahrgangsstufen strömten durch das Eingangsportal in die Halle und schlenderten gleich weiter, durch eine weit geöffnete Flügeltür in den festlich geschmückten Speisesaal. Professor McGonagall, die Hauslehrerin der Gryffindors und stellvertretende Schulleiterin, führte eine Gruppe verschüchtert dreinblickender Kinder in den kleinen Seitenraum. Harry erinnerte sich nur zu gut an die Mischung aus Angst und Neugierde, die er damals empfunden hatte, als er das erste Mal seinen Fuß in die Schule setzte und er wusste, wie die Erstklässler sich dieses Jahr fühlen mussten. Als die Gruppe im Raum verschwunden war, schlossen sich die Türen wie durch Geisterhand.
Harry blickte auf und sah Peeves, den frechen Poltergeist, der auf dem Kopf hängend den Kronleuchter umkreiste und sich die bunte Schar betrachtete. Offensichtlich hielt er Ausschau nach geeigneten Opfern für einen Streich, den er spielen wollte. Harry wollte sich gerade wieder den Schülern zuwenden, als er bemerkte, wie Peeves plötzlich in der Luft stillstand. Er schwebte auf den Kronleuchter zu und pflückte sich einige geschliffene Glasfacetten heraus. Dann zielte er und warf sie in schneller Folge in die Menge. Unruhe entstand. Harry konnte erkennen, wen es getroffen hatte. Crabbe und Goyle standen wie Felsen in der Brandung, rieben sich die Hinterköpfe und starrten irritiert nach oben. Das gackernde Lachen von Peeves schwebte herüber und Augenblicke später ertönte wütendes Geschrei. Jetzt war auch Draco Malfoy zu sehen, der zwar groß war und mit seinem silberhellem Haarschopf in der Menge auffiel, aber immer noch von seinen beiden Vasallen Crabbe und Goyle um fast einen Kopf überragt wurde. Draco hielt sich die Stirn und drohte mit der anderen Faust in Peeves Richtung. Harry stieß Ron an und zeigte grinsend auf die Gruppe. Ron grinste zurück.
„Da hat sich Peeves ausnahmsweise mal die richtigen ausgesucht.“, meinte er mit Genugtuung.
Langsam füllte sich der Saal und die drei beschlossen. auch hinunter zu gehen. Draco und seine beiden Freunde waren immer noch damit beschäftigt, sich über den Poltergeist aufzuregen, als Harry unmittelbar an ihnen vorbei zur Tür des Saales ging.
„Schöne Begrüßung!“, grinste er und sah Draco direkt ins Gesicht.
„Potter!“, rief Draco und sein Ärger wich sofort einem fiesen Grinsen. „Habe gehört, dass du dich in den Ferien bei Dumbledore eingeschleimt hast!?“
„Ach weist du, Malfoy“, meinte Harry überlegen, „Manche können halt nur in den Fußstapfen ihres Vaters laufen, und manche machen eigene Schritte!“
Dann hob er das Kinn und stolzierte an den verblüfften drei Slytherins vorbei in den Festsaal. Malfoy bekam den Mund nicht mehr zu und Crabbe und Goyle glotzten blöde. Malfoy schien nach einer passenden Antwort zu suchen, aber es glückte ihm nicht.
„Mensch, das war klasse!“, sagte Ron anerkennend, als sie den Gryffindor-Tisch erreicht hatten und sich einen Platz aussuchten. Der Saal war wieder einmal herrlich geschmückt. Große Fahnen mit den Wappen der vier verschiedenen Häuser schwebten über den langen, in den Farben der Häuser geschmückten Tischen. Über dem Lehrertisch schwebte das Hogwarts-Banner, das in seinem Wappen die Symbole der Häuser und darunter in Gold gestickt den Schriftzug „Hogwarts, Schule für Zauberei“ trug. Auf den Tischen standen zwölfarmige goldene Leuchter, deren Kerzen den Saal in strahlendes Licht tauchten. Die Gedecke waren ebenfalls aus purem Gold und gerade der Gryffindor-Tisch mit seiner blauen Tischdecke sah besonders festlich dazu aus.
„Komisch“, meinte Hermine. „Sonst ist Draco doch immer so schlagfertig! Schaut mal rüber! Da setzt er sich ganz kleinlaut an ihren Tisch. Ob er krank ist?“
„Das liegt bestimmt an dem Teil von dem Kronleuchter, das er an den Kopf bekommen hat.“, meinte Ron grinsend. „Das hat sein Gehirn so durcheinander geschüttelt, dass er nicht mehr klar denken kann.“
„Ja, irgendwie hast du recht, Hermine.“, sagte Harry, als er sich umgedreht und Draco eine Weile beobachtet hatte. „Er sieht auch ziemlich blass aus.“
„Ihr macht euch doch keine Sorgen um Malfoy!“, rief Ron entrüstet.
Harry grinste. „Keine Sorge, Ron. Soweit sind wir noch nicht heruntergekommen.“
„Ich bin mir da nicht so sicher, Harry!“, warf Hermine ein. „Wir kennen Malfoy doch als ziemliches Ekel...“
„Was er uns heute ja auch schon bewiesen hat!“, rief Ron entrüstet dazwischen. Hermine fuhr unbeirrt fort.
„...aber ich habe den Eindruck, es geht ihm nicht gut. Er hätte sonst nie zugelassen, dass du das letzte Wort hast. Wenn ihm nicht direkt etwas eingefallen wäre, hätte er es dir sicherlich nachgerufen! Schau mal, er sieht immer noch vollkommen überrumpelt aus...“
Sie deutete mit ihrem Blick hinüber zum Slytherin-Tisch, wo die drei sich gerade niederließen. Crabbe schaute finster zu den Freunden herüber, während Goyle mit dümmlichem Gesicht auf Draco einredete. Draco stützte müde den Kopf in die Hand und beachtete Goyle gar nicht. Er sah noch nicht einmal verärgert aus.
„Vielleicht hängt das damit zusammen, dass er jetzt endlich kapiert hat, dass sein Vater ein Todesser ist.“, meinte Harry nachdenklich. „Vielleicht ist sein Heldenbild kaputt gegangen...“
Der Saal füllte sich langsam mit aufgeregten Schülern. Fred und George kamen durch die Tür und steuerten auf die drei Freunde zu.
„Hallo ihr drei!“, begrüßten sie Harry, Ron und Hermine. Sie setzten sich direkt neben sie. „Wie war es in Rumänien? Was habt ihr da alles erlebt? Mom hat sich tierische Sorgen gemacht!“
Der letzte Satz war mit etwas vorwurfsvoller Miene an Ron gerichtet.
„Ich schicke ihr morgen eine Eule!“, verteidigte sich Ron. „Wir sind doch heute erst angekommen.“
„Erzähl mal, Harry!“, forderte ihn Fred auf.
„Das ist eine lange Geschichte.“, sagte Harry und machte eine abwehrende Handbewegung. „Wenn ihr nichts dagegen habt, machen wir das nachher, wenn wir wieder im Turm sind. Es muss ja auch nicht jeder mitkriegen, was passiert ist, oder?“
„Harry! Harry Potter!”, ertönte eine nur zu bekannte Stimme aus der Menge. „Seht ihr, da ist Harry Potter!“
Collin Creevy wühlte sich aus dem Pulk von Drittklässlern heraus und lief winkend auf Harry zu. Harry wandte sich ab und verzog das Gesicht.
„Der schon wieder!“, murmelte er.
„Hallo Harry!“, rief Collin begeistert. „Wie waren deine Ferien?“
„Langweilig...“, brummte Harry missmutig.
„Ich hoffe, dieses Jahr wird wieder Quidditch gespielt.“, plapperte Collin unbeeindruckt weiter. „Hast du in den Ferien trainiert? Gryffindor wird dieses Jahr bestimmt wieder den Pokal gewinnen. Was meinst du, Harry?“
„Schon möglich...“
Zum Glück kamen gerade die Lehrer durch eine Seitentür und setzten sich an den Lehrertisch. Das Stimmengewirr ebbte ab und verstummte. Hagrid, ehemaliger Wildhüter und jetziger Lehrer für die Pflege magischer Geschöpfe, erblickte Harry und winkte ihm mit einem breiten Grinsen zu. Auch Professor Dumbledore schickte einen freundlichen Blick über seine Brille mit den halbmondförmigen Gläsern in ihre Richtung. Professor Snape, der Lehrer für Zaubertränke, hatte ein selbstgefälliges Grinsen aufgesetzt. Dumbledore ging neben einer jungen Frau in festlicher Robe her. Galant zog er ihr einen Stuhl zurück, auf den sie sich setzte und ihm dafür ein bezauberndes Lächeln schenkte.
„Boahhh!“, hörten Ron, Hermine und Harry einen lauten Seufzer neben sich. Neville saß da und glotzte wie ein altes Auto zum Lehrertisch hinüber. Harry grinste und stieß Ron in die Seite.
„Schau dir Neville an. Ich wette, so eine Frau hat er sein Lebtag noch nicht gesehen...“
„Hey Neville!“, rief Ron eine Spur zu laut. „Liebe auf den ersten Blick?!“
Neville zuckte zusammen und sein rosa Gesicht schwoll dunkelrot an.
„N...N...Nein...Ähhh“, stotterte er und plumpste auf seinen Stuhl. Verschämt schlug er die Augen nieder.
„Wo bleibt Lupin?“, fragte Harry etwas ratlos „Dumbledore hat doch gesagt, dass er wieder ‚Verteidigung gegen die dunklen Künste’ geben soll...“
„Das hat er nie gesagt!“, sagte Hermine etwas schnippisch. „Er meinte nur, dass wir uns freuen dürfen.“
„Ja, aber er weiß doch, dass wir Lupin wieder haben wollen...“, meinte Ron.
„Das ist euer Wunsch. Aber warum soll nicht einmal eine Frau ein Fach geben, das sonst immer von Männern beherrscht wurde. Ist euch nicht aufgefallen, dass immer nur Männer in diesem Fach unterrichtet haben. Und dass diese Männer es nicht länger als ein Jahr ausgehalten haben? Ich finde, es wird Zeit, dass eine Frau einmal zeigen kann, dass sie dieses Fach mindestens genau so gut geben kann. Professor Dumbledore hat ja auch lange genug gebraucht, bis er das festgestellt hat.“
Harry und Ron sahen sich an und zuckten die Schultern. Sollte Hermine sich während der Ferien zu einer Emanze entwickelt haben? Einen eigenen Kopf hatte sie ja schon immer. Wenn das wahr war, dann konnten sie sich im nächsten Jahr auf einiges gefasst machen. Zu gut war ihnen die Elfen-Gewerkschaft B.Elfe.R in Erinnerung.
Alle Lehrer hatten sich herausgeputzt, nur Snape wirkte etwas schmuddelig mit seinem fettigen, strähnigen Haar. Auf die Ferne wirkten die hinter dicken Brillengläsern versteckten Augen von Professor Trelawney, der Lehrerin für Wahrsagen, noch riesenhafter als sonst.
„Na, gehst du dieses Jahr noch mal zu Wahrsagen?“, fragte Ron mit einem gehässigen Grinsen und schaute Hermine frech ins Gesicht.
„Vielleicht, um die alte Schnepfe zu ärgern!“, sagte Hermine schnippisch. „Aber bestimmt nicht, weil ich dort etwas lernen will!“
„Scheint doch nicht so schlimm zu sein, mit ihr...“, flüsterte Ron Harry zu.
Professor Dumbledore wartete noch einen Augenblick, bis sich alle gesetzt hatten, dann stand er auf, strich sich seinen langen silbernen Bart zurecht und sagte:
„Guten Abend, liebe Schülerinnen und Schüler. Ich freue mich, euch alle so wohlbehalten und gesund und munter hier in unserer Schule begrüßen zu können. Ich hoffe, ihr hattet eine angenehme Reise.“
Hier machte er eine kurze Pause und blickte in die Runde, als würde er eine Antwort erwarten. Hier und da schienen einige Schüler auch zu nicken.
„So“, fuhr Professor Dumbledore fort, „nachdem wir die offizielle Begrüßung hinter uns gebracht haben, wollen wir uns mal den neuen Schülern widmen. Ich bitte darum, sie herein zu holen.“
Er winkte zu der inzwischen geschlossenen Saal-Türe, die sich nun wieder auftat und setzte sich mit einem zufriedenen Lächeln.
Einen Augenblick später kam Professor McGonagall herein und führte die Erstklässler zwischen den Tischen hindurch direkt vor den Lehrertisch. Hier stand schon der dreibeinige Stuhl bereit, auf dem gleich der sprechende Hut liegen würde. Die Erstklässler ließen verschüchterte und staunende Blicke durch den Saal schweifen.
Professor McGonagall ordnete die Neuen in einem Halbkreis um den alten Stuhl, ging zu Professor Flitwick, einem Winzling von Menschen, hinüber und flüsterte ihm etwas zu. Er erhob sich, verschwand durch die Seitentür und kam nach wenigen Augenblicken mit einem alten, verbeulten und ausgefransten Zaubererhut wieder, den er auf den dreibeinigen Stuhl stellte. Dann hoppelte er auf seinen kurzen Beinen wieder um den Lehrertisch herum, zwängte sich an Professor Sprout und Hagrid vorbei und setzte sich wieder auf seinen Platz.
Jetzt schaute Professor McGonagall mit erhobenem Kopf in die Runde und das Gemurmel, das sich nach Dumbledores kurzer Begrüßung erhoben hatte verstummte wieder.
„Meine lieben Schülerinnen und Schüler!“, begann Professor McGonagall feierlich. „Wieder einmal ist es soweit, dass wir unsere neuen Schüler auf die vier Häuser aufteilen. Auch wenn sie es alle schon wissen, erkläre ich den Erstklässlern kurz wie es funktioniert.“ Dann wandte sie sich an die neuen Schüler, die sie gespannt ansahen.
„Dieser sprechende Hut erkennt für jeden von euch, zu welchem Haus er gehört. Ihr werdet jetzt einer nach dem anderen vortreten, den Hut auf euren Kopf setzen und genau zuhören, was er zu sagen hat. Er wird euch das Haus mitteilen. Sobald er es gesagt hat, setzt ihr den Hut wieder ab und begebt euch zu dem Tisch, der das Haus repräsentiert!“
Unruhe kam im Saal auf. Dieses war der spannendste Augenblick der ganzen Zeremonie. Einige der älteren Schüler hatten Geschwister, die dieses Jahr nach Hogwarts kamen und waren natürlich gespannt darauf, wohin sie geschickt wurden. Gemeinhin kam es so, dass die Geschwister dem gleichen Haus zugeordnet wurden, aber es waren auch Ausnahmen möglich. Dann gab es immer heftige Diskussionen und die Neuen, die nicht zu ihren älteren Schwestern oder Brüdern kamen, waren sichtlich irritiert.
„Aber zunächst wollen wir uns den Gesang des Hutes anhören!“, rief Professor McGonagall in den Saal, in dem wieder kurzzeitiges Gemurmel aufbrandete. Sie nahm sich einen Stuhl, der vor dem Lehrertisch stand und setzte sich. Der Saal war totenstill.
Nur diejenigen, die ganz vorne saßen, konnten sehen, wie sich über der zerfransten Krempe des Hutes ein kleiner Spalt auftat. Mit leiser, aber durchdringender, hoher Stimme begann der Hut zu singen.
„Die Neuen sind da und das ist gut,
Sie kommen zu hören vom alten Hut,
In welches Haus sie gehen mögen,
Auch wenn ein anderes sie vorzögen.
Doch ich kann lesen in ihrem Herzen
Kann die Wünsche ihnen ausmerzen
Und leite sie ihrem Schicksal zu
Auf dass ihre Sorgen geben ruh
In welches Haus sie auch kommen mögen
Ich werde es ihnen ins Ohr hinein legen.“
Der alte Hut verstummte für einen Moment. Dann sang er weiter, aber die Melodie, die bis hierher lieblich geklungen hatte wurde plötzlich düster und unheimlich.
„Doch gebt acht und höret gut zu,
zwei Feinde werden zu Freunden werden.
Der Streit geht für dieses Jahr zur Ruh,
denn sie werden ein Geheimnis bergen.
Ein Haus wird sein wie es nie zuvor war
Ein Lehrer muss sein Gewissen befragen
Ein Vogel wird es richten zwar
Zwei Schüler aber werden die Lasten tragen.“
Wieder folgte eine Pause und es hatte den Anschein, als hätte der Hut sein Lied beendet. Im ganzen Saal herrschte Totenstille. Alle hielten den Atem an. Dann begann der Hut wieder zu singen.
„Dennoch wird es auch Freude geben.
Die ganze Schule wird sprühen vor Leben.
Allen einen Gruß.
Ich mach’ jetzt Schluss!“
Kaum hatte der Hut sein Lied beendet, schwirrte der Saal von Stimmen. Aufgeregt tuschelten die Schüler miteinander. Die Lehrer sahen sich ratlos an. Was bedeuteten die düsteren Voraussagen des sprechenden Hutes? Harrys uns Dracos Blick trafen sich. Beide fragten sich, wen der Hut mit den „Feinden“ meinte.
Professor McGonagall stand auf. Sie holte ihren Zauberstab aus dem Ärmel und klopfte energisch auf den Tisch. Langsam ebbte das Gemurmel ab.
„Meine lieben Schüler!“, sagte sie mit erhobener Stimme. „Wir wissen nicht, was uns der sprechende Hut damit sagen wollte. Aber wir sollten auch seine letzten Verse nicht außer Acht lassen. Immerhin sagte er doch, dass es auch Freude geben wird.“
Sie schaute einen Moment in die Runde, dann wandte sie sich den Erstklässlern zu.
„Jetzt, meine Lieben, ist der große Augenblick gekommen. Ich werde euch nach dem Alphabet aufrufen. Ihr geht dann zu dem Stuhl, nehmt den Hut, den ihr euch auf den Kopf setzt und setzt euch dann auf den Stuhl. Sobald er euch den Namen des Hauses genannt hat, begebt ihr euch zu dem Tisch, der das Haus repräsentiert. Ich zeige euch noch einmal die Tische. Dieses...“
und sie deutete mit dem Arm auf den Tisch der Slytherins
„... ist der Tisch des Hauses Slytherin. Dieses der Tisch des Hauses Ravenclaw, dieses ist der Tisch von Hufflepuff und dieses der von Gryffindor.“
Sie kramte in ihrer Tasche nach einem Pergament, das sie ausrollte und las mit feierlicher Stimme den ersten Namen.
„Penelope Poolberry!“
Ein kleines Mädchen mit langen schwarzen Haar trat vor den Stuhl und griff unsicher nach dem Hut. Sie stülpte ihn sich über den Kopf und setzte sich tastend auf den Stuhl. Wenige Augenblicke später tönte der Hut „Ravenclaw!“. Penelope stand auf, riss sich den Hut vom Kopf, legte ihn wieder zurück und stolperte mit hochrotem Kopf auf ihren Tisch zu. Die Ravenclaws klatschten und rückten zusammen, so das sie sich setzen konnten.
„Lesley Palmer!“
Diesmal war es ein brünettes Mädchen mit vielen Locken.
„Gryffindor!“, rief der Hut und vom Tisch der Gryffindors war lautes Gejohle und Klatschen zu hören.
„Stanley Withers!“
„Gryffindor!“
„Berty Hagen!“
„Hufflepuff“
„Samantha Stone!“
„Ravenclaw!“
„Conny Rivers!“
„Hufflepuff“
Die Schüler vom Tisch der Slytherins begannen unruhig zu werden. Bislang war ihnen noch kein Schüler zugeordnet worden.
„Gryffindor!“
„Hufflepuff“
„Ravenclaw!“
„Ravenclaw!“
„Hufflepuff“
Die Lehrer begannen sich einander zuzuneigen und leise miteinander zu tuscheln. Professor Snape blickte verstört in den Saal, und als er angesprochen wurde zuckte er merklich zusammen.
„Ravenclaw!“
„Hufflepuff“
„Gryffindor!“
„Gryffindor!“
„Hufflepuff“
Professor Dumbledore stand auf. Nervös rieb er die Hände aneinander. Er ließ seinen vom Slytherin-Tisch zum sprechenden Hut und zurück schweifen. Dann schaute er hilflos zu Professor Snape hinüber. Auch Snape war aufgesprungen. Er fuchtelte mit den Armen herum, als wollte er Einwand erheben, aber er brachte kein Wort heraus. Jetzt warteten nur noch wenige Erstklässler darauf, ihr Haus zu erfahren, und noch immer war der Name Slytherin nicht gefallen. Snapes Gesicht wurde grau.
Schließlich war nur noch ein Erstklässler übrig. Professor McGonagall presste mühsam seinen Namen hervor.
„Benjamin Brighton!“
Der Junge schlich mit eingezogenen Schultern zum Stuhl und setzte den Hut auf den Kopf. Fast flehend schaute Snape auf den Hut, und als der den Namen „Gryffindor!“ ausrief, sackte er bestürzt auf seinen Stuhl. Betroffenes Schweigen herrschte. Die Schüler von Slytherin starrten mit einer Mischung aus Entsetzen und Angst auf den Lehrertisch. Professor McGonagall huschte um den Lehrertisch herum und begann mit Professor Dumbledore zu flüstern. Professor Trelawney kämpfte sich von ihrem Platz aus zu Snape und tätschelte ihm tröstend auf die Schulter.
Der blutige Baron, der Hausgeist der Slytherins stieß plötzlich einen grauenhaften Wutschrei aus, hob sich in die Luft und zischte erregt schimpfend durch den Saal. Dann verschwand er in dem großen Baldachin, der die Wand gegenüber den hohen Fenstern schmückte. Von oben ertönte ein heiseres und unsicheres Gegacker. Peeves schwebte kopfüber unter der Decke und versuchte kläglich, der Situation etwas lustiges abzugewinnen.
Professor Dumbledore richtete sich auf, rückte seine Brille zurecht und begann mit lauter Stimme zu sprechen.
„Tja, liebe Schüler. Das haben wir noch nie hier in Hogwarts erlebt. Diese Ereignis wird das Haus Slytherin für sieben Jahre zeichnen. So lange wird es einen Jahrgang in diesem Hause nicht geben. Wir wissen noch nicht, warum es so gekommen ist, ob es Zufall war oder Ausdruck einer höheren Fügung. Wir werden das in den nächsten Tagen prüfen...
Das hat mich jetzt erst einmal aus dem Konzept gebracht, muss ich zugeben...Nun ja, ...dennoch ... es gibt noch einige Neuigkeiten, die ich euch mitteilen möchte.“
Er machte eine kurze Pause. Dann blickte er in die Runde, schnitt eine Grimasse und fuhr etwas gelassener fort.
„Zunächst einmal möchte ich mich entschuldigen, dass wir das Schuljahr etwas verspätet angefangen haben. Leider musste ich mich aufgrund der politischen Situation und der Ereignisse am Ende des letzten Schuljahres auf eine Dienstreise begeben. Ich habe die Schulen Beauxbatons und Durmstrang, sowie die Enklave der Riesen besucht und diplomatische Beziehungen aufgenommen. Das hat natürlich einige Zeit in Anspruch genommen.
In unserer Lehrerschaft hat es dieses Jahr einige Veränderungen gegeben. Die Stelle des Lehrers für die Verteidigung gegen die dunklen Künste wird Professor Snape übernehmen.“
Zaghafter Jubel war von den verstörten Slytherins zu hören. Harry stand wie unter Schock.
„Professor Snape hegt schon sehr lange den Wunsch, diese Stelle zu bekommen und er konnte mich davon überzeugen, dass er sehr gut geeignet dafür ist, zumal er eingehende Erfahrungen im Kampf gegen die dunklen Mächte erlangt hat.
Dann darf ich euch noch ein neues Mitglied des Lehrkörpers vorstellen. Unsere Lehrerin für Zaubertränke, Magister Baumann, ist aus Deutschland zu uns gekommen. Sie wird hier ihr Refrendariat machen, und, wenn sie und ihr und ich mit ihrer Arbeit zufrieden sind, hat sie sich bereit erklärt, auch in Zukunft als Professor für Zaubertrankkunde an unserer Schule zu unterrichten.“
Neville war aufgesprungen und applaudierte mit hochrotem Kopf. Die anderen Schüler fielen ein. Magister Baumann erhob sich lächelnd und nickte den Schülern zu.
„Guten Abend. Vielen Dank für den herzlichen Empfang. Ich glaube, ich werde mich hier sehr wohl fühlen.“
„Hübsch ist sie ja!“, bemerkte Ron. „Sie spricht nur einen grauenhaften Akzent! Hey Neville, hast’n guten Geschmack!“
Magister Baumann nahm wieder Platz, und als der Applaus abebbte, fuhr Professor Dumbledore fort.
„Also, meine lieben Schülerinnen und Schüler. Ich denke, nach der langen Reise werdet ihr Hunger haben. Also: ich erkläre das Festmahl für eröffnet! Fahrt die Speisen auf!“
Er machte eine Handbewegung und sogleich füllten sich die goldenen Schüsseln und Platten auf den Tischen mit herrlichsten Speisen. Es gab Lammbraten, Kalbssteaks, Medallions vom Schwein, verschiedene klare und sämige Suppen, diverse Gemüse und Beilagen wie Herzogin-Kartoffeln oder schlichtweg Pommes Frites. In den Karaffen stiegen verschiedene Fruchtsäfte empor und Flaschen mit Mineralwasser ploppten auf die Tische. Die Luft wurde auf einmal mit wunderbaren Düften durchzogen und allen lief das Wasser im Munde zusammen.
Die Schüler, die mit dem Hogwarts-Express angereist waren, hatten enormen Hunger, denn die letzte Mahlzeit, die sie bekommen hatten, war das Frühstück in ihrem Elternhaus gewesen. Auf der Fahrt hierher gab es zwar einen Verkaufswagen, der permanent von einem Ende des Zuges zum anderen geschoben wurde, und an dem man sich für wenige Sickel schon leckere Snacks kaufen konnte, aber alle freuten sich auf das abendliche Eröffnungsfest, und allein die Vorfreude steigerte den Appetit.
Einzig die Slytherins machten einen verstörten Eindruck und zögerten beim Zugreifen. Sie diskutierten aufgeregt miteinander. Hin und wieder wurden von den anderen Tischen neugierige Blicke hinüber geworfen, aber über das köstliche Essen vergaßen die meisten, was soeben noch für größte Bestürzung gesorgt hatte.
Harry spürte ein heftiges grollen in seinem Magen. Auch er, wie seine Freunde, hatten seit ihrer Ankunft nur ein paar Süßigkeiten, die sie noch schnell in Hogsmead gekauft hatten, gegessen. Er konnte sich aber nicht so recht entscheiden, womit er anfangen wollte. Nach einigen Überlegungen beschloss er, einfach mit einer Suppe anzufangen und sich dann von allem nach und nach eine kleine Portion auf seinen Teller zu laden. Aber er schaffte es nicht, alles zu probieren. Nachdem er sich ein Schweinemedallion und ein Kalbssteak gegönnt, und jedes Mal ein bisschen Gemüse und Pommes dazu gewählt hatte, beschloss er, noch ein wenig Platz für die zu erwartenden Nachspeisen zu lassen.
Als alle Schüler mit den Hauptgängen abgeschlossen hatten, verschwanden die Schüsseln und Teller wie von Geisterhand vom Tisch. Kaum war Platz geschaffen worden, wurde der Tisch mit kristallenen Schalen und Tellerchen eingedeckt. Es gab verschiedene Cremes, Eis und frisches Obst. Harry schaffte nur noch einen kleinen Teller, auf den er sich von Allem nur ein kleines Bisschen lud, und als er den dann leer geputzt hatte, strich er sich zufrieden über den Bauch und lehnte sich zurück.
„Ahhh, das war lecker!“, grunzte er zufrieden. Ron bemühte sich immer noch, von dem Nachtisch in sich hineinzustopfen.
„Mpfgblmpfff!“, antwortete er mit vollen Backen und nickte zur Unterstützung seiner Zustimmung.
„Du frisst ja, wie ein Kanalarbeiter!“, bemerkte Hermine mit missbilligendem Blick. Sie hatte nur wenig genommen und war als erste des ganzen Tisches fertig geworden.
„Hast du keinen Hunger?“, fragte Harry und sah Hermine verwundert an.
„Ach nee, nicht so sehr...“
Hermine schien diese Frage etwas in Verlegenheit zu bringen. Ron stupste Harry in die Seite und sagte leise:
„Das haben die Mädchen alle. Die meinen immer, sie würden zu fett. Ginny fängt auch schon damit an.“
„Hermine ist doch gar nicht fett.“, meinte Harry. „Wenn ich mir die anderen anschaue, dann hat sie fast die beste Figur!“
„Ich glaube, das liegt an den Genen. Die sind so programmiert. Können nicht anders...“
Harry wusste nicht, ob er grinsen sollte. Es war ihm schon aufgefallen, dass Hermine in der letzten Zeit eigenartige Züge angenommen hatte. Als sie nach den Ferien auf Perpignans Place angekommen war, hatte sie sich eine neue Frisur machen lassen, eine punkige Frisur mit Fransen und Ecken, und ganz schwarz hatte sie ihr Haar gefärbt. Auf Durmstrang hatte er bemerkt, dass sie begonnen hatte, sich zu schminken. Er wusste, dass Frauen sich gerne Schminken, aber bei Hermine hatte er es niemals vermutet. Sie war doch Hermine! Und nicht eine von den Frauen... Dann musste er doch grinsen. Aber er lächelte nicht über die Eigenarten von Hermine, sondern über seine Gedanken. Natürlich wurde Hermine, genauso wie er und Ron, die den Stimmbruch hinter sich hatten, langsam erwachsen. Und sie interessierte sich ja schon fast ein Jahr lang für Jungen, und wenn Harry ehrlich zu sich war, dann ertappte er sich immer wieder dabei, dass er Parvati oder Cho oder anderen Mädchen hinterher schielte. Aber er würde niemals offen zugeben, dass er sich für Mädchen interessierte!
Inzwischen hatten die Gespräche am Tisch zu den Ereignissen mit dem sprechenden Hut zurück gefunden. Das Essen war nur eine kurze Ablenkung gewesen. Nun wurden offene Blicke zu den Slytherins hinüber geworfen, deren Tisch sich jetzt langsam leerte. Sie zogen sich in ihren Gemeinschaftsraum zurück, um ungestört über die Katastrophe, wie sie es mittlerweile nannten, zu sprechen. Professor Snape war ebenfalls und unbemerkt verschwunden. Auch Professor Dumbledore war auf einmal nicht mehr da und niemand hatte bemerkt, dass er aufgestanden und hinausgegangen war. Vermutlich fand jetzt im Haus Slytherin eine Krisensitzung statt.
„Ich verstehe das nicht.“, sagte Katie Bell, eine Gryffindor Schülerin und Jägerin in der Gryffindor Quidditch-Mannschaft, die ganz in der Nähe von Harry saß.
„Das hängt bestimmt damit zusammen, dass ‚Du weißt schon wer’ wieder da ist.“, sagte Dean Thomas. Mit ‚Du weist schon wer’ meinten die Zauberer Lord Voldemort, der so schreckliches Unglück über die Zaubererwelt gebrachte hatte, dass es als unglückbringend angesehen wurde, wenn man seinen Namen aussprach. Harrys Eltern waren von ihm, dem dunklen Lord, ermordet worden. Seit diesem schrecklichen Tag hatte Harry eine Zickzackförmige Narbe, die sich quer über seine Stirn zog, und die ihn berühmt gemacht hatte.
„Aber ich habe immer gedacht“, warf Angelia Johnson ein, „dass die Slytherins am ehesten mit ihm sympathisieren! Warum sollten denn ausgerechnet sie...“
„Vor allen Dingen“, meinte Lee Jordan, „wenn die Gerüchte stimmen, dann ist der Vater von Malfoy sogar einer der engsten Vertrauten von ‚Ihr wisst schon wer’. Dann kann es eigentlich nicht damit zusammen hängen...“
„Es sei denn, ‚Du weist schon wer’ hat sich mit Dracos Vater überworfen. Und nun nimmt er Rache an den Slytherins, weil er sich verraten fühlt!“ sagte Angelia und ihr Gesicht erhellte sich, weil sie glaubte, einem Geheimnis auf der Spur zu sein.
„Ja, genau!“, rief Ron aufgeregt. „Habt ihr das Gesicht von Draco gesehen? Der hat schon bei der Ankunft so komisch ausgesehen. Und erinnerst du dich an seine Reaktion vorhin?“
Vor Aufregung griff er nach Harrys Ärmel. „Was meinst du, Harry...sag doch was!“
Harry hatte bisher unbeteiligt da gesessen und nur zugehört.
„Ich weiß nicht, Ron. Ich glaube nicht, dass das mit Voldemort zusammenhängt.“
„Wie kannst du den Namen aussprechen!“, rief Parvati entrüstet. Alicia Spinnet nickte heftig mit dem Kopf.
„Mach mal Halblang!“, antwortete Ron für Harry. „Harry kann das eben. Er ist nicht so ein Schisser wie ihr!“
„Ach du...“
„Wie kommst du denn darauf, dass ‚Du weist schon wer’ nichts damit zu tun hat?“, hakte Lee Jordan nach.
„Hast du irgendeinen Verdacht?“, fragte Ron und sah Harry prüfend an. Harry schüttelte nachdenklich den Kopf.
„Nein, aber...“, begann er, sprach aber nicht weiter.
„Na los, rück schon raus!“, drängelte Ron.
„Ich weiß es nicht! Ich habe so ein bestimmtes Gefühl!“, sagte Harry etwas unwillig.
„Hey, komm, mach uns jetzt nicht neugierig!“, forderte Fred Weasley und George pflichtete ihm bei.
„Lasst Harry doch in Ruhe!“, sagte Hermine. „Wenn er es nicht sagen will, dann soll er es auch nicht sagen.“
„Ich muss darüber nachdenken.“, sagte Harry. „Ich glaube, ich geh jetzt mal hoch.“
„Du Harry, du wolltest uns doch noch erzählen, wie es in Durmstrang war!“, sagte George.
„Was, du warst in Durmstrang?“, fragte Parvati und sah Harry neugierig an.
„Hat das etwa mit Durmstrang zu tun?“, bohrte Angelia.
„Nein!“, sagte Harry und stand auf. „Mit Durmstrang bestimmt nicht.“
„Meinst du etwa, mit dem Zauberstab?“, fragte Ron, der jetzt auch neugierig geworden war.
„Das weiß ich eben nicht. Aber es könnte sein.“
Mit Harry erhoben sich fast alle vom Gryffindor-Tisch. Die neuen waren noch etwas zögerlich, unsicher, ob das, was sie taten richtig war. Der fast kopflose Nick, der die Zeit des Essens damit verbracht hatte, den Erstklässlern seine traurige Geschichte zu erzählen, kam nun herangeschwebt. Nick war der Hausgeist von Gryffindor, der vor über fünfhundert Jahren durch einen Schwerthieb hingerichtet worden war. Bedauerlicherweise hatte der Hieb seinen Kopf nicht vollständig vom Rumpf getrennt, so dass er heute noch von den anderen Geistern gehänselt wurde und auch nicht an dem Kopfball-Turnier der Geister teilnehmen durfte. Darunter litt er sehr.
„Der Blutige Baron ist ziemlich erzürnt.“, meinte er. „Aber wenn ihr mich fragt...Ich habe mich schon so oft über seine Bemerkungen geärgert, dass ich es ihm fast schon gönne. Und er wird seine Wut an Peeves auslassen, da könnt ihr sicher sein. Das, finde ich, hat fast schon wieder etwas schönes.“
Dann lachte er unbeholfen und schwebte davon.
Im Gemeinschaftsraum der Gryffindors versammelte sich fast das ganze Haus. Alle bedrängten Harry, von Durmstrang zu erzählen, und da er ihnen nicht entkommen konnte, erzählte er in knappen Worten und unter Auslassung vieler Ereignisse von seinen Ferienerlebnissen. Das viele Essen hatte ihn außerdem müde gemacht, und so war er sehr dankbar, dass er nach einer halben Stunde die Neugier der meisten befriedigt hatte und sich in den Jungen-Schlafsaal zurückziehen konnte.
Hier waren es jedoch noch Fred und George, die sich nicht damit zufrieden gaben, was Harry mit Rons und Hermines Unterstützung erzählt hatte. Harry ließ sich erweichen, nachdem sie ihm eine Kollektion der neuesten Erfindungen aus ihren Experimenten mit magischen Scherzartikeln versprochen hatten. Zum Glück musste er nicht alles noch einmal erzählen, denn Fred und George fragten gezielt nach und füllten die Lücken, die Harry unten im Gemeinschaftsraum gelassen hatte.
Irgendwann gähnte Harry herzhaft. Es war trotz der zunächst sehr angenehmen Anreise und den tollen Neuigkeiten sehr erschöpft. Erst jetzt, zurück in Hogwarts, bemerkte er die Anstrengung, welche die Reise nach Durmstrang mit sich gebracht hatte. Und da, als er an den Tag zurück dachte, fiel ihm ein, dass er Ron noch gar nichts von seiner „Strafe“ erzählt hatte. Er bat Fred und George, die es sich auf seinem Bett bequem gemacht hatten, während er mit Ron auf Rons Bett saß, Schluss zu machen. Die beiden willigten ein und kündigten ihm für die nächsten Tage ein kleines Paket an.
Schnell wusch Harry sich und zog seinen Schlafanzug an. Als er in sein Bett kroch, lag Ron schon flach und hatte die Decke bis zu seiner Nase gezogen.
„Das war ein Tag!“, murmelte Ron.
„Du wirst lachen, aber ich hab noch eine Überraschung!“, kündigte Harry im Flüsterton an.
„Was denn jetzt noch?“, fragte Ron etwas unwillig. „Reicht es denn nicht schon für heute?“
„Nee, pass auf! Ich habe doch in den Ferien gezaubert. Habe ich dir davon erzählt?“
„Ich glaube ja. Hast du jetzt Schwierigkeiten mit dem Ministerium?“
„Öh...Nicht direkt. Das Ministerium hat es der Schule überlassen, mir eine Strafe aufzubrummen.“
„Und, was musst du machen? Pokale putzen?“
Ron klang schon fast etwas hämisch.
„Nein, halt dich fest! Ich soll eine Schulmannschaft aufbauen!“
„Eine was?“
„Eine Quidditch-Mannschaft, aus Schülern aller vier Häuser! Und wenn wir gut sind, dann können wir vielleicht in die Liga. Und am Ende des Jahres wollen wir ein Spiel gegen Durmstrang organisieren!“
„Mensch, das ist ja klasse!“, sagte Ron, etwas zu laut in seiner Begeisterung.
„Was ist klasse?“, tönte es von Nevilles Bett herüber.
„Nichts!“, sagte Ron abwehrend. „Nichts für dich...“
Dann wandte er sich wieder an Harry.
„Und, wann fängst du an?“
„Ich muss erst mal mit Dumbledore nach London, Besen kaufen.“, antwortete Harry. „Das wollen wir nächste Woche machen. Und dann muss ich Schüler finden und eine Mannschaft bilden.“
„Und hast du schon jemanden im Visier?“
„Hmm“, überlegte Harry, „Cho vielleicht und...“
„Cho ist doch auch Fänger. Willst du etwa nicht mehr mitmachen?“
„Da hast du recht. Ich glaube, das wird gar nicht so einfach...“
„Und willst du auch von den Slytherins einen im Team haben?“, fragte Ron ungläubig.
„Nee! Bloß nicht! Das gibt nur Streit!“
„Würde ich auch nicht machen.“, murmelte Ron und gähnte. „Was haben wir eigentlich morgen als erstes?“
„Weiß nicht, muss mal nachschauen.“
Harry griff unter das Bett und zog seine Tasche hervor. Nach einigem Suchen kramte er einen zerknitterten Zettel heraus.
„Oh, nein! Wir haben ‚Verteidigung gegen die dunklen Künste’! Bei Snape! Das wird ein Desaster!“
„Na denn, gute Nacht!“, sagte Ron sarkastisch.
„Na ja, gute Nacht.“, sagte Harry. „Wir werden es überleben.“
So ging ein äußerst merkwürdiger Tag in dem Schloss zuende. Mehr als einer konnte keinen Schlaf finden. Die Schüler von Slytherin mussten fast unter Androhung von Strafe ins Bett geschickt werden. Sie hatten lange mit Professor Dumbledore und Professor Snape diskutiert. Aber sie hatten kein Ergebnis gefunden und ihr Gespräch drehte sich irgendwann nur noch im Kreise.
Snape war immer noch erschüttert. Wie sehr hatte er sich aus seine erste Stunde ‚Verteidigung gegen die dunklen Künste’ gefreut. Er hatte sich sogar vorgenommen Neville Longbottom in ruhe zu lassen und wenigstens höflich zu Harry Potter zu sein. Jetzt lag er nur noch mit offenen Augen in seinem Bett und starrte den Mond an, der durch sein kleines Kammerfenster schien.
Dumbledore wanderte unruhig in seinem Büro herum. Was hatte das zu bedeuten? Auch er stellte sich die Frage, ob Lord Voldemort seine Finger im Spiel hatte. Aber er konnte sich nicht vorstellen, dass ein, wenn auch außergewöhnlicher Zauberer wie der dunkle Lord, es schaffen könnte all die Schutz-Zauber von Hogwarts zu überwinden. Und warum ausgerechnet Slytherin?
„Was hat das zu bedeuten?“, fragte er Fawks, der ihm bei jeder Runde mit dem Blick gefolgt war. Der Phoenix sah ihn mit seinen weisen Augen an. Dann senkte er für einen kurzen Augenblick die Lider, als wollte er sagen, ‚Mach dir keine Sorgen, Albus!’.
Der nächste Morgen begann mit schmuddeligem Oktoberwetter. Der Himmel war grau verhangen und der Wind trieb einen feinen Nebel von Regentropfen vor sich her. Die Blätter der Bäume hatten über Nacht all ihr Grün verloren und wogten nun rot und gelb in den Kronen. Wirbelwinde trieben das Laub über die große Wiese vor der Schule.
Das einzig angenehme an diesem Morgen war das Feuer, das im Kamin des Gemeinschaftsraumes brannte. Die Hauselfen hatten morgens um sechs die zusammengefallende Glut mit neuer Nahrung versorgt und nun flackerten lustige Flammen über knackenden Holzscheiten und gaben eine wohlige Wärme ab. Nach und nach krochen die Schüler der Hauses Gryffindor aus ihren molligen Federbetten, reckten sich, zogen die Morgenmäntel über und suchten, wie von einer fremden Macht getrieben die Wärme des Feuers auf.
Müde waren sie, und verschlafen sahen sie aus, in ihren Pyjamahosen und Nachthemden, die unter den Morgenmänteln hervorschauten, fuhren sich durch das wirre Haar und streckten die Fäuste in den Kamin, um sie aufzuwärmen. „Guten Morgen“, wurde gemurmelt, aber sonst waren sie still. Viele standen noch unter dem Eindruck des vergangenen Abends und dachten mit Schaudern an die seltsamen Ereignisse. Andere hatten noch die Bilder von Harrys Erzählung vor Augen und konnten nur mühsam aus dem Traum der Nacht in den Morgen steigen.
Der erste, der an diesem Morgen an das Feuer trat, war Neville. Er hatte gut und tief geschlafen, aber als ihn in der Frühe die Blase drückte, und er aufstand, um sich zu erleichtern, kam die Erinnerung an Magister Baumann über ihn und fasste ihn mit fester Hand. Lächelnd und vollkommen geistesabwesend stand er da, als Hermine eine halbe Stunde später als zweite den Raum betrat. Hermine hatte sich in den letzten Schuljahren angewöhnt, früh aufzustehen, denn das war die beste Zeit, in Ruhe ein Buch zu lesen, oder sich auf eine Prüfung vorzubereiten. Es war ihr so sehr zur Gewohnheit geworden, dass sie auch während der Ferien die erste in ihrer Familie war und ihre Eltern jeden Morgen mit einem gedeckten Frühstückstisch verwöhnte.
Neville bemerkte sie zuerst gar nicht. Erst als sie neben ihm stand und leise „Guten Morgen, Neville.“, sagte, schreckte er aus seinem Tagtraum heraus und wandte den Kopf.
„Guten Morgen, Hermine.“, sagte er sanft. Er wirkte auf einmal gar nicht mehr so tollpatschig, wie in den letzten Jahren. Auch er war gewachsen, hatte jetzt eine tiefe Stimme, und sein Körper hatte sich gestreckt, so dass er langsam seine Schwammigkeit verlor.
„Puh, das ist ja ein Wetter da draußen!“, bemerkte Hermine.
Neville schaute zum Fenster. Er zuckte die Achseln.
„Aber hier ist es schön warm.“, stellte er fest. „Eigentlich liebe ich den Herbst. Er macht alles so geheimnisvoll...“
„Ja, das habe ich auch schon gedacht. Aber ich finde es viel schöner, wenn die Sonne scheint und das Laub leuchtet.“
Dann schwiegen sie wieder. Beide standen vor dem Feuer und streckten ihre Hände zu der Wärme. Nach und nach kamen die anderen hereingetröpfelt. Der Raum füllte sich mit Gähnen und dem Knacksen von Knochen, wenn sich jemand streckte. Langsam wurden aus dem Gemurmel leise Gespräche. Harry war einer der letzten, die auftauchten. Er hatte die Nacht mit einem tiefen, traumlosen Schlaf verbracht und war sehr plötzlich aufgewacht. Er fühlte sich ausgeruht und erfrischt, als er die Decke zurück schlug und die Beine aus dem Bett schwang.
Ein kurzer Blick auf das Nachbarbett sagte ihm, dass Ron schon aufgestanden war. Er zog sich schnell an, ging ins Bad und machte sich frisch und kam gutgelaunt in den Gemeinschaftsraum. Dieser hatte sich zum Teil schon wieder geleert, denn die meisten zogen sich gerade an. Es war kurz vor halb Acht, es war die Zeit, in der unten im Saal bereits hektische Betriebsamkeit herrschte. Die Hauselfen hatten aufgeräumt und bereiteten das Frühstück vor. Bevor die Schüler kamen, wollten sie fertig und wieder in der Küche verschwunden sein.
„Guten Morgen!“, grüßte Harry die Anwesenden. „Wie habt ihr geschlafen?“
Die Antworten kamen sehr unterschiedlich, von „Bestens“ bis „Mies“. Ron hatte ganz gut geschlafen. Auch ihn hatten die letzten Tage über Gebühr angestrengt.
„Wollen wir frühstücken gehen?“, fragte Harry in die Runde. Allgemeine Zustimmung ließ sie alle aufbrechen.
Der Saal war jetzt wieder in dem Zustand, den er das ganze Jahr über einnahm. Der Schmuck vom Vorabend war entfernt worden, auf den Tischen lagen weiße Tischdecken und das weiße mit dem Banner von Hogwarts bedruckte Alltagsgeschirr war gedeckt worden. In den Körben dufteten die frischgebackenen Brötchen und verschiedene Marmeladen und Honig stand in kleinen Glasschälchen bereit. Kannen mit heißem Malzkaffee schwebten eben herein, als sie durch die hohe Flügeltür den Saal betraten. Als Ausgleich für das schlechte Wetter hatte man die verzauberte Decke dazu gebracht, einen strahlend schönen Herbsthimmel zu zeigen. Das war auffällig, denn üblicherweise zeigte die Saaldecke immer genau den Himmel, der gerade über Hogwarts sein Gewölbe zu spannen pflegte. Zumindest konnte sich Harry nicht daran erinnern, dass der Himmel jemals geändert wurde.
Professor Dumbledore klärte sie bei seinem Morgengruß auf, was es für eine Bewandtnis damit hatte.
„Da wir gestern einen für unsere Schule sehr düsteren Abend hatten, habe ich heute Nacht beschlossen, für einige Tage wenigstens hier in unserem Speisesaal eine etwas schönere Stimmung zu erzeugen. Ihr werdet sicher schon das graue Wetter dort draußen bemerkt haben, und ich habe mir gedacht, dass uns ein bisschen Sonnenschein ganz gut tut. Je nachdem, wie sich die nächsten Tage entwickeln werden, werde ich noch ein bisschen die Sonne scheinen lassen. So, genug geredet. Ich habe Hunger und ihr sicher auch. Haut rein!“
Das ließen sich die Schüler nicht zwei mal sagen. Sie stürzten sich mit großem Appetit auf die Leckereien.
„Schaut mal!“, sagte Lee und deutete verstohlen auf den Lehrertisch. „Snape ist gar nicht da. Ob er krank geworden ist?“
Hoffnung schimmerte durch seine letzten Worte und alle an dem Tisch, die in der nächsten Stunde bei ihm Unterricht haben würden hegten die gleichen Gefühle.
„Das wäre schön, wenn wir die erste Stunde des Schuljahres nicht mit Snape verbringen müssten.“, sagte Neville, dem der Name allein kalte Schauer über den Rücken trieb. Neville war auserkorenes Opfer von Professor Snape, der Harry zwar hasste, Neville aber verachtete, und ihn das bei jeder Gelegenheit spüren ließ.
„Wäre viel schöner, wenn wir jetzt Zaubertränke hätten, was, Neville“, scherzte Ron, dem es ungeheure Freude machte, Neville auf den Arm zu nehmen, seit er wusste, dass dieser sich in die neue Lehrerin verliebt hatte. Neville sah ihn bestürzt an und wurde rot.
„Jetzt lass Neville in Frieden!“, blaffte Hermine. „Ich würde zu gerne mal wissen, wie du es aufnehmen würdest, wenn du verliebt wärest und dich jemand dafür hänseln würde!“
Neville wurde noch roter und verschluckte sich an dem Brötchen. Parvati, die neben ihm saß klopfte ihm heftig auf den Rücken, während Neville jetzt vor Husten fast blau wurde.
„Jetzt schau, was du angerichtet hast!“, sagte Hermine vorwurfsvoll und sah Ron strafend an. Ron grinste aber und entgegnete, dass sie das wohl selber gewesen sei.
„Blödmann!“
„Zicke!“
„Mann bin ich froh, dass ihr euch wieder streitet!“, sagte Harry gut gelaunt. „Ich hatte fast schon den Eindruck, ihr wäret erwachsen geworden.“
Lee lachte laut los und riss die Weasley-Zwillinge mit sich. Augenblicklich war der Ärger zwischen Ron und Hermine verflogen und auch sie mussten grinsen. Sogar Neville hustete ein gequältes Lachen hervor.
„Oh nein, da kommt er!“, flüsterte Parvati.
Sofort wurde es still und fünfzehn Augenpaare wanderten zum Lehrertisch. Snape sah übernächtigt und äußerst schlecht gelaunt aus. Er bemerkte die Blicke und schaute finster zurück. Schweigend ließ er sich an seinem Platz nieder und goss sich nur einen Kaffee ein. Dann saß er still brütend da und war für niemanden ansprechbar. Keiner seiner Kollegen schien große Lust zu haben, ein Gespräch mit ihm anzufangen, und nur Professor Dumbledore warf einen besorgten Blick zu ihm hinüber. Nach der vierten Tasse Kaffee entspannten sich die Züge von Professor Snape ein wenig und die Schüler vom Gryffindor-Tisch atmeten erleichtert auf.
„Ich hatte schon die Befürchtung, er lässt seine Laune gleich an uns aus.“, meinte Harry.
„Glaubt du etwa, dass er gleich besser gelaunt ist?“, fragte Ron. „Ich wette, er wird und heute das Leben zur Hölle machen. Meterweise irgendwelche Wehrwolf-Romane abschreiben, und das zu gestern!“
„Ihr solltet nicht so über ihn reden!“, fing Hermine wieder an. „Er hat gestern einen schweren Schock erlitten. Da ist es nur zu verständlich, dass es ihm nicht gut geht.“
„Jetzt sag bloß, du machst einen ‚Rettet Snape vor den bösen Zungen der Schüler-Verein auf!“, lästerte Ron. „Hermine, du nervst mit deiner karitativen Ader. Kannst du nicht mal mitlästern?“
„Ich brauche mich nicht auf dieses bedauernswerte Niveau hinunter zu begeben.“, sagte Hermine schnippisch. Sie stand auf und ging.
„So ist Hermine, wie wir sie lieben.“, bemerkte Harry, der die Spitzfindigkeiten zwischen Hermine und Ron mit Spaß verfolgt hatte. „Sie wird sich schon wieder einkriegen.“
„Wie spät ist es denn?“, fragte Lee.
„Oh, schon gleich Acht!“, stellte Parvati mit Schrecken fest. „Ich muss mich noch ein bisschen schön machen!“
Sie stand ebenfalls auf und verschwand.
„Weiber!“, bemerkte Ron abfällig.
Die anderen Jungs nickten.
„Ich finde das überhaupt nicht nett von dir!“, rief da plötzlich Ginny Weasley, die jüngste Schwester von Ron. Auch sie stand auf, knallte die Serviette auf den Tisch und stampfte hinaus.
„Sag ich doch...!“, grinste Ron.
Wieder nickten die anderen Jungs.
„Lasst uns auch mal gehen.“, sagte Harry.
Als sie vor der Tür zum Schulzimmer standen, konnten sie immer noch nicht glauben, dass ‚Verteidigung gegen die dunklen Künste’ ausgerechnet von Professor Snape gegeben wurde. Im Gegensatz zu dem Labor für Zaubertränke war der Flur vor dem Zimmer hell und freundlich und durch das Fenster am Ende des Ganges fiel zwar trübes, aber weißes Licht herein. In den Kellergewölben war es immer dunkel und stickig, die Fackeln stanken nach einer Mischung aus verbranntem Teer und Parafin, und alles an der Stimmung des Ganges beim Warten konnte einen langsam auf das Kommende vorbereiten. Oft waren sie schon mit düsteren Mienen in das Labor gegangen und sie wunderten sich nicht, wenn Snape sie direkt barsch begrüßte.
„Wie hat Snape Dumbledore nur weichgekriegt?“, fragte Ron, als sie vom Treppenhaus in den Flur einbogen.
„Ich glaube nicht, dass Snape es war. Diese neue Lehrerin hat Dumbledore bestimmt den Kopf verdreht.“, meinte Lee, der einen Schritt hinter Ron und Harry ging. „Wahrscheinlich hat Dumbledore Snape gebeten, ‚Verteidigung gegen die dunklen Künste’ zu geben.“
„Ich glaube, das Snape Dumbledore so lange bekniet hat, bis er den Job bekommen hat.“, sagte Harry. „Dumbledore lässt sich nicht so leicht den Kopf verdrehen.“
Sie erreichten die Tür zum Schulraum. Drinnen waren schon einige Schüler und auch sie diskutierten über Snape. Ron und Harry warfen ihre Taschen auf einen Tisch, der ganz hinten im Raum stand. Sie wollten so weit, wie eben möglich von Snape entfernt sein. Anders als bei Zaubertränke stand nicht zu erwarten, dass Snape ständig zwischen den Tischen hin und her schlich, um sich ein Opfer für seine Gehässigkeiten zu suchen. Hermine kam ein paar Minuten nach ihnen und ließ sich am Nachbartisch nieder.
„Ist euch eigentlich schon aufgefallen, dass keine Slytherins da sind?“, fragte sie.
„Stimmt, Verteidigung haben wir immer alleine!“, bemerkte Harry erfreut. „Dann bleibt uns wenigstens Malfoy erspart.“
„Ich hoffe, die neue Lehrerin steht nicht so auf der Seite der Slytherins!“, sagte Ron.
„Still, er kommt!“, rief jemand. Einen Augenblick später betrat Professor Snape das Zimmer. Er war bleich, wie immer, vielleicht noch etwas bleicher als sonst und dunkle Ringe unter den Augen zeugten von einer kurzen Nacht. Aber er schien außergewöhnlich guter Laune zu sein. Sein Blick war fast freundlich zu nennen, zumindest sah er nicht so grimmig drein, wie in dem Gewölbe des Labors. Er ließ die Bücher, die er in der Hand gehalten hatte auf das Pult fallen und baute sich vor der Klasse auf. Schweigend schickte er einen prüfenden Blick in die Runde. Dann räusperte er sich leise.
„Potter!“, sagte er unbeteiligt, „Potter und Longbottom, ihr zwei setzt euch hier hin!“
Dabei wies er auf einen Tisch, der genau vor dem Lehrerpult stand.
„Muss das sein?“, fragte Harry leise.
„Potter, sie wollen mir doch nicht etwa widersprechen?“, fragte Snape eigenartig gelassen. „Ich möchte Sie ein bisschen besser unter Kontrolle haben. Außerdem bin ich der Meinung, dass das, was wir in diesem Jahr durchnehmen, von besonderem Interesse sein dürfte. Ich befürchte, wenn ich sie bei ihren Freunden lasse, könnten ihnen wichtige Informationen entgehen. Und Longbottom ist immer so unkonzentriert, dass ihm ein Platz ganz vorne auch nicht schadet. Also?“
Neville erhob sich zögernd. Er war kalkweiß geworden und zitterte leicht. Harry grummelte ärgerlich.
„Er sollte vielleicht besser ‚Schwarze Magie’ geben als die Verteidigung dagegen!“, flüsterte Ron. Harry nahm seine Tasche und stand auf.
„Schlimmer als in Zaubertränke kann es nicht werden.“, flüsterte er zurück und ging nach vorne. Kaum saßen Harry und Neville, begann Snape.
„So, nachdem wir das Organisatorische hinter uns haben, sage ich erst einmal guten Morgen!“
Die Schüler schauten sich verdutzt an. Snape blickte erwartungsvoll in die Klasse.
„Ich sagte guten Morgen.“, wiederholte er.
„Guten Morgen!“, riefen die Schüler.
Zufrieden setzte Snape sich hinter sein Pult.
„In den letzten Jahren ist der Unterricht in diesem Fach ziemlich heruntergekommen.“, begann er. „Ich denke, dass wir das ein bisschen Ändern werden. Es ist mir durchaus bewusst, dass sie nicht viel dafür können, zumal es jedes Mal Dumbledores Entscheidung war, diese unfähigen und für das Fach sogar gefährlichen Lehrer einzustellen. Sicher hat er mit Madeye Moody durchaus einen passablen Versuch gemacht, der leider an der mangelnden Kontrolle in unserer Schule gescheitert ist.“
Unwilliges Gemurmel wurde laut. Hermine hob den Finger.
„Miss Granger?!“, fragte Snape und hob eine Augenbraue.
„Immerhin haben wir bei Barty Crouch Junior alias Madeye Moody eine Menge gelernt. Und Professor Lupin war einfach Spitze!“
„Ich weiß, Miss Granger. Bis auf die Tatsache, dass Crouch ein Betrüger und Lupin ein Wehrwolf ist. Und das, was sie bei Lupin gelernt haben, hätten sie bei mir im ersten Halbjahr ihres Schulbesuchs erfahren. Ich muss sagen, wenn sie das als großartige Leistung ansehen, dann werden sie in diesem Jahr ein Problem bekommen. Ich habe nicht vor, eine Kindergartenstunde mit ihnen zu machen.“
Harry starrte Snape wütend an. Professor Lupin war für ihn einer der besten Lehrer gewesen. Niemand zuvor hatte einen so einfühlsamen und guten Unterricht gemacht. Bei ihm hatten alle Schüler mit Begeisterung gelernt.
„Ist etwas, Mr. Potter? ... Ich habe von Dumbledore einiges erzählt bekommen. Sie haben ja haarsträubende Dinge in den Ferien erlebt. Ich habe mir vorgenommen, ihre Begegnung mit dem dunklen Lord in diesem Jahr mit ihnen zusammen zu analysieren und sie mit brauchbaren Gegenmaßnahmen bekannt zu machen.“
„Gegen einen Drachenstein hätten Sie auch kein Rezept gehabt!“, entfuhr es Harry. Snapes Augen verengten sich zu Schlitzen und einen Augenblick lang sah er Harry bösartig an. Dann rang er sich jedoch ein überlegenes Lächeln ab.
„Ich halte ihnen ihre Jugend und Unerfahrenheit zu Gute, Potter. Sie werden schon noch dahinter kommen, dass ihre Vorstellung vom Kampf gegen die dunkle Macht wie eine schlechte Seifenoper ist. Aber, um den Unterricht mit den notwendigen Informationen zu versehen, könnten sie doch bis nächsten Dienstag einen Bericht über ihre Erlebnisse schreiben. Er sollte so ausführlich, wie möglich sein, auch Kleinigkeiten enthalten. Um eine geeignete Strategie zu entwickeln, benötigen wir jedes Detail. Sagen wir also, etwa zwei Meter. Das sollte genügen.“
„Wie bitte?“, stöhnte Harry auf. „Das schaffe ich nie!“
„Keine Sorge, Potter. In der ersten Woche werden sie in den anderen Fächern keine Hausaufgaben auf bekommen. Da werden sie genügend Zeit haben.“
„Ich finde das nicht gerecht...“, versuchte Harry sich zu wehren.
„Potter! Was gerecht ist oder nicht, überlassen sie bitteschön noch mir. Nach den nächsten Ferien können sie das verhindern, wenn sie sich wie ein normaler Schüler benehmen, und nicht versuchen den Helden zu spielen. Zwei Meter. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?“
Harry nickte widerwillig.
„Gut. Das wäre geklärt. Worüber wir dieses Jahr sprechen werden, haben sie ja auch erfahren. Thema ist also der dunkle Lord. Gibt es irgendjemanden in dieser Klasse, der nicht weiß, wer Lord Voldemort ist?“
Einige Schüler erschraken. Fast alle hielten für einen Augenblick den Atem an. Dass Professor Snape diesen Namen aussprach, war äußerst ungewöhnlich. Normalerweise vermied man es, direkt von dem dunklen Lord zu sprechen. Weil fast alle Zauberer Großbritanniens davon überzeugt waren, dass die Nennung des Namens Unheil heraufbeschwor, sprach man nur von ‚Du weißt schon wem’.
Neville hob zögerlich die Hand. Snape war etwas überrascht, doch dann lächelte er gemein.
„Longbottom. Ich hätte es mir denken können. Jemand, der wie du zu begriffsstutzig ist, die einfachsten Zaubertränke und Formeln zu lernen, kann ja durchaus noch nichts von dem dunklen Lord gehört haben.“
„Entschuldigen sie, Professor Snape...“, begann Neville mit zittriger Stimme. „Ich... ich kenne ‚Sie wissen schon wen’, aber ich wollte sie bitten, den Namen nicht auszusprechen. Es bringt doch Unheil...“
„So, du kennst ‚Sie wissen schon wen’...Hast du schon einige Gespräche mit ihm gehabt?“
„N...nein..., na...na...natürlich n...nicht. Ich meinte, ich kenne den... den Namen...“
„Ein Wunder ist geschehen. Longbottom weiß etwas!“, sagte Snape gehässig. „Den Tag werde ich mir rot im Kalender anstreichen. So. Da sie ja alle so gut über den dunklen Lord bescheid wissen, schreiben sie mir bis zum Ende der Stunde auf, was sie über ihn und die Todesser wissen. Ich möchte gerne erfahren, bei welchem Wissensstand wir anfangen müssen. Potter, ich gehe davon aus, dass sie einige Erfahrungen mit dem dunklen Lord gemacht haben. Damit ich mir ihr Gejammer über ihren Vater ersparen kann, können sie mit dem Bericht über ihre Reise anfangen.“
Harry bebte vor Zorn. Er wusste jedoch, dass Snape nur auf eine Gelegenheit wartete, ihn fertig zu machen. Daher kämpfte er seine Wut nieder und begnügte sich mit einer Reihe vernichtender Blicke, die er Snape zuwarf.
Den Rest der Stunde verbrachten sie schweigend. Nur das Kratzen der Federn über das Pergament war zu hören. Professor Snape wanderte mit hinter dem Rücken verschränkten Händen durch die Bankreihen und schaute diesem oder jenem über die Schulter. Die Schüler, hinter denen er stehen blieb, zogen die Schultern ein und schrieben mit Eifer. Nach einer halben Stunde kam der erlösende Gong.
„Longbottom!“, befahl Snape, „Sie sammeln die Aufsätze ein und legen sie auf mein Pult. Bis zur nächsten Stunde lesen sie die Seiten vierundzwanzig bis neunundsiebzig in dem Buch ‚Dunkle Künste – wie man sie erkennt’. Ich erwarte, dass sie den Inhalt gut kennen. Wer es nicht gelesen hat, wird im ganzen Schuljahr keine Chance haben, dem Unterricht zu folgen.“
Harry drehte sich zu ihm um und hob den Finger.
„Potter?“
„Professor Snape, wenn ich den Bericht schreiben muss, werde ich kaum Zeit haben, diese Seiten zu lesen...“
„Das ist ihr Problem. Dann verzichten sie doch einfach auf ihren ohnehin sinnlosen Zeitvertreib mit ihren Kameraden. Es wird Zeit, Potter, dass sie lernen, in welcher Gefahr sie sich schon seit ihrer Geburt befinden.“
Als Harry auf den Flur kam, knurrte er zwischen den Zähnen:
„Ich hasse Snape!“
„Komm Harry!!“, versuchte Hermine ihn zu beschwichtigen. „Wir alle mögen ihn nicht. Bei dem Bericht kann ich vielleicht sogar helfen!“
„Aber du musst ihn nicht schreiben!“, sagte Harry wütend. „Schließlich muss es meine Handschrift sein!“
„Das lass mal meine Sorge sein.“, sagte Hermine gut gelaunt. „Kennst du noch die ‚Flotte Schreibefeder’?“
„Meinst du etwa, die von der Kimmkorn?“
„So ähnlich.“, sagte Hermine und lächelte. „Ich habe schon im letzten Schuljahr einen Zauber entdeckt, der aus einer ganz normalen Feder eine macht, die sogar deine Handschrift beherrscht. Du musst ihr nur das Stichwort sagen und ein bisschen an die Reise denken. Sie sucht sich schon den richtigen Text.“
„Mensch, das ist ja toll. Dann könnte ich jede Prüfung...“
„Nicht so schnell. Bei den Prüfungen stehen wir doch unter Aufsicht! Aber bei den Hausaufgaben hilft sie ungemein.“
„Wann können eine Feder von mir verwandeln?“, fragte Harry aufgeregt. Sein Zorn war so gut wie weggeblasen.
„Heute Abend. Wir treffen uns im Klo der maulenden Myrthe.“
„Hermine, du bist einmalig. Was würde ich ohne dich tun?“
„Hmmm“, machte sie und grinste.
Der Rest des Vormittags verlief weitaus angenehmer. Bei Professor Sprout legten sie Kulturen von Leuchtpilzen an. Zu diesem Zweck war ein Gewächshaus mit dicken Filzmatten verkleidet worden, so dass im Inneren eine undurchdringliche Finsternis herrschte. Es war stickig warm und die Luft war feucht, denn die Pilze waren an das tropische Klima von Indonesien angepasst.
„Was wollen wir denn in dieser Kälte mit Leuchtpilzen?“, fragte Ron und deutete zur Tür. Draußen waren die Temperaturen im Laufe des Vormittags auf kühle neun Grad zurückgegangen und es hatte den Anschein, dass sich ein erster Herbststurm ankündigte.
„Die wachsen hier doch nie!“
„Das ist richtig, Mr. Weasley.“, antwortete Professor Sprout. „Aus den Pilzen wird ein Pulver hergestellt, das, auf eine Fläche gebracht, von selbst leuchtet. Eine Flüssigkeit, die man auch aus den Pilzen herstellen kann, wird in der Heilkunde verwandt. Sie hat uns Zauberern schon vor Jahrhunderten den Segen gebracht, den die Muggel erst mit der Erfindung der Röntgengeräte erlangen konnten. Wenn man sie einnimmt, kann man das ganze Skelett von außen betrachten.“
„Das wäre was für Haloween.“, flüsterte Harry
„Gute Idee!“, meinte Ron. „Nur wie kommen wir an die Formel?“
„Ihr zwei dort. Ihr lasst es an der nötigen Aufmerksamkeit fehlen!“, sagte Professor Sprout. „Wenn ihr fertig seid mit Flüstern, können wir dann fortfahren?“
Harry und Ron zuckten zusammen. Sofort hoben sie die Köpfe und schauten aufmerksam in Richtung ihrer Professorin.
„Sie sehen also“, fuhr sie fort, „dass diese Pilze auch in unseren Breiten eine durchaus sinnvolle Wirkung haben. Unsere Aufgabe wird es nun sein, die Kultur auszubringen und die optimalen Wachstumsbedingungen für die Pilze zu schaffen. Fangen wir an!“
Die nächsten zwei Stunden verbrachten sie damit, Kompost zu sieben, ihn auf einem Ofen anzuwärmen und in lange Bottiche zu füllen. In die obersten zwei Zentimeter wurde ein Pulver aus versiegelten Plastiktütchen gestreut und untergearbeitet. In der stickigen Hitze des Treibhauses, die durch den Ofen noch verstärkt wurde, kamen sie schnell ins Schwitzen. Aber sie konnte miteinander reden und scherzen. Das verkürzte die Stunden erheblich, und als der Unterricht zuende ging, wussten sie gar nicht, wie schnell die Zeit vergangen war. Sie strömten aus dem Gewächshaus in die kühle Luft und atmeten tief durch.
Der Wind war aufgefrischt und hatte die schwer hängenden Wolken aufgerissen. Hier und da mogelte sich ein zaghafter Sonnenstrahl hindurch, nur um im nächsten Augenblick von einer dicken Wolke beiseitegeschubst zu werden. Schnell liefen sie über die Wiese, den Hang hinauf zum Schlossportal. Keiner hatte an diesem Morgen damit gerechnet, dass es schon so kalt werden würde, und sie waren froh, als sie in die Wärme der Halle kamen und den Duft des Mittagessens durch ihre Nasen zogen.
Im Saal war das vorherrschende Thema immer noch das Haus Slytherin. Inzwischen wurde nicht mehr hinter der Hand, sondern ganz offen diskutiert. War man heute morgen noch verstummt, wenn ein Slytherin aufgetaucht war, stand man nun bunt gemischt durcheinander und die armen Schüler der Slytherins wurden mit Fragen gelöchert.
„Was hat Snape dazu gesagt?“, hieß es, oder „und Dumbledore?“ oder einfach nur „Wisst ihr, warum es passiert ist?“. Die Slytherins wussten es nicht. Sie mochten sich auch nicht an den wilden Spekulationen beteiligen. Das einzige, was sie zu erzählen hatten, war, dass sie gestern Abend bis spät in die Nacht hinein mit Professor Dumbledore und Professor Snape zusammengesessen und auch von diesen Beiden keine Antwort erhalten hatten. Sie wussten auch, dass der blutige Baron in seinem Zorn über Peeves hergefallen war und ihn gnadenlos zusammengestaucht hatte. Das immerhin sorgte für allgemeine Erheiterung und wurde als eine positive Begleiterscheinung der Katastrophe empfunden. Das ganze Mittagessen hindurch wurde geredet und spekuliert. Danach traf man sich in den Gemeinschaftsräumen und diskutierte weiter. Harry hatte keine Lust mehr, darüber zu reden. Es ödete ihn an, wenn sich ein oder alle Gespräche nur um ein Thema drehten. Er zog sich in den Schlafsaal zurück, legte sich auf sein Bett und nahm ein Buch.
Er hatte noch nicht angefangen, darin herum zu blättern, als ein Pochen gegen die Fensterscheibe ertönte. Harry blickte auf und sah eine Eule, die um Einlass begehrte. Harry stand auf, ging zum Fenster und öffnete. Die Eule flog herein, beschrieb eine Kurve und ließ auf Rons und Harrys Bett jeweils einen Zettel aus ihrem Schnabel fallen. Dann schoss sie im Tiefflug durch das Fenster hinaus und flog zurück zur Eulerei.
‚Bestimmt eine Einladung von Hagrid!’, dachte Harry, als er den Zettel auffaltete. Er behielt recht.
‚Lieber Harry!’, stand da in Hagrids krakeliger Schrift zu lesen,
‚magst du um fünf zu mir zum Tee kommen? Meine Ma hat mir eine Menge leckerer Plätzchen mitgegeben und ich brauche Hilfe bei der Beseitigung. Solltest du Ron sehen, und natürlich auch Hermine, sag ihnen bescheid, sie sind auch eingeladen. Ich habe aber jedem eine Einladung geschickt.
Bis später
Hagrid’
Harry lächelte. Die Stunden in Hagrids Hütte waren immer sehr gemütlich, und jetzt, da Hagrid nicht mehr selber backen musste, sondern Plätzchen von seiner Mutter hatte, war sogar für den Leib gesorgt. Hagrid buk zwar für sein Leben gerne, aber entweder waren seine Plätzchen steinhart, so dass man sich die Zähne daran ausbeißen konnte, oder sie verklebten einem den Mund, dass man kein Wort mehr heraus bekam.
Der Nachmittag verging schnell, und als die Sonne, die immer wieder zwischen den immer eiliger über den Himmel rasenden Wolkenfetzen hindurchlugte, sich langsam dem Horizont näherte, machten die drei sich auf den Weg zu Hagrid. Sie mussten sich förmlich über die Wiese kämpfen, denn der Wind war inzwischen zu einem ausgewachsenen Sturm geworden. Er zerrte an ihren umhängen und pfiff durch die Kleider. Erst als sie in den Schutz des nahen Waldes kamen, wurde es etwas leichter für sie zu gehen.
Hagrid hatte sie schon kommen sehen und öffnete seine Tür, bevor sie klopfen konnten.
„Kommt herein“, brummte er. „Freut mich, dass ihr kommen konntet.“
„Hallo Hagrid.“, sagte Harry. „Das ist ja ein Wind da draußen.“
„Ja, wird wohl Sturm geben. Setzt euch. Wollt ihr Tee?“
„Ja gerne.“, sagte Hermine und kletterte auf die Eckbank. Hagrid hatte ein großes Feuer in seinem Kamin angebrannt. Es verbreitete eine angenehme Wärme. Harry stellte sich vor das Feuer und wärmte seine kalten Finger.
„Weist du etwas über Slytherin?“, fragte Ron, nachdem auch er sich an den Tisch gesetzt hatte.
„Keiner weiß etwas.“, sagte Hagrid. „Wir alle können nur vermuten. Und solange wir nichts wirklich wissen, nützt es auch nichts, ständig darüber zu reden.“
„Mich ödet das auch schon an.“, meinte Harry. „Die ganze Schule redet nur noch von gestern Abend. Als ob es nichts anderes gäbe.“
„Ha ha, weiß schon, was du meinst, Harry.“, grinste Hagrid. „Du meinst die Sache mit der Schulmannschaft. Muss schon sagen, da hat sich die gute Minerva was tolles einfallen lassen.“
„Schulmannschaft?“, fragte Hermine, die noch nicht eingeweiht war.
„Ach du weißt es noch nicht?“, fragte Hagrid. „Dann erzähl mal Harry. Ich brüh solange den Tee auf.“
Harry erzählte, was Viktor Krum zu ihm gesagt hatte, und dass er gestern in Professor Dumbledores Büro beordert worden war, um seine Strafe für unerlaubtes Zaubern entgegen zu nehmen. Er erzählte von der Aufgabe, eine Schulmannschaft aufzubauen. Hermine war begeistert. Hagrid hatte inzwischen den Tee fertig gemacht und die große, bauchige Kanne auf den Tisch gestellt. Aus seinem Schrank holte er vier Tassen und eine große Platte mit Plätzchen. Die Plätzchen hatten fast die Größe eines Tellers und da Hagrid annahm, dass wohl keiner seines Besuches einen ganzen Keks schaffen würde legte er ein Messer hinzu. Dann goss er in jede Tasse dampfend heißen Tee.
„Hast du dir schon Gedanken gemacht, wen du in das Team aufnehmen willst?“, fragte er jetzt.
„Hm, das ist nicht so leicht.“, sagte Harry. „Zuerst habe ich vor gehabt, Cho zu fragen, aber sie ist ja selber Sucherin, wie ich. Aber ich glaube, ich hab langsam ein paar Ideen. Zum Beispiel Angelina aus dem Gryffindor Team. Sie ist eine gute Jägerin. Dann dachte ich an Roger Davis von den Ravenclaws. Im vorletzten Jahr hat er mich ganz schön mit ein paar gezielten Klatschern in Bedrängnis gebracht. Dann ist da noch Katie. Von den Hufflepuffs... keine Ahnung...“
„Keine Slytherins?“, fragte Hagrid und hob eine Augenbraue.
„Nee, bloß nicht. Das gibt doch nur Streit!“
„Aber es soll doch eine Schulmannschaft sein.“, meinte Hagrid und kratzte sich am Kopf. „Und wie ich Professor McGonagall kenne, wird sie darauf achten, dass die Spieler gerecht verteilt sind.“
„Das kann ich nicht. Ich kann da nicht hingehen und einen Fragen. Wenn ich mir nur Malfoy vorstelle, dann wird mir schon schlecht.“
„Du solltest es aber. Was ist denn Bletchley? Er ist ein guter Hüter. Und ich glaube, er ist auch nicht ganz so eigensinnig wie unser Freund Draco.“
„Ich finde auch, dass du die Slytherins einbeziehen musst.“, meldete sich Hermine. „Stell dir vor, wie verärgert sie sein werden, wenn sie nicht mitmachen dürfen.“
„Muss ich nachdenken.“
Harry hatte keine Lust mehr, darüber zu sprechen. Er war sich im Innersten bewusst, dass er wohl nicht darum kam, einen der Slytherins zu fragen. Und es musste bald sein, denn wenn sie eine starke Mannschaft haben wollten, mussten sie viel trainieren.
„Wir müssen auch erst einmal die Besen aus London holen.“, versuchte er auszuweichen. Hagrid verstand.
„Du machst das schon richtig, Harry.“, sagte er und klopfte ihm leicht auf die Schulter. „Ach ja, und was London angeht, Dumbledore wollte mit dir dort hin fahren. Aber Dumbledore wird nicht können!“
„Was, warum?“, fragte Harry mit einem Anflug von Sorge. „Wann sollen wir dann die Besen holen?“
Hagrid grinste.
„Nächste Woche. Du bekommst den Dienstag frei. Wir beide werden reisen. Dumbledore hat mich beauftragt, dich nach London zu bringen. Wir werden per Portschlüssel zu Madeye Moody reisen. Damit ist sicher, dass dir nichts passieren kann.“
„Den echten Madeye Moody? Das ist ja ein Ding. Ich habe ihn im letzten Jahr ja nur ganz kurz gesehen, als sie ihn aus dem Koffer geholt haben.“
„Hm, ja, da wirst du einen ganz schön verrückten kennen lernen. Aber glaube mir, er ist in Ordnung. So und nun greift zu. Meine Ma hat mir so viel mitgegeben, dass ich sie allein nicht schaffe. Ich hoffe ihr helft mir.“
Natürlich griffen sie zu, aber mehr als ein Plätzchen schafften sie nicht. Es war sehr gemütlich in Hagrids Hütte und sie saßen bis kurz vor dem Abendessen beisammen, während draußen der Sturm um die Hütte tobte. Schließlich brachen sie auf. Hagrid, der ernsthaft befürchtete, die Leichtgewichte würden weggeblasen, kam direkt mit über die große Wiese. Und er musste auch einmal beherzt zugreifen, als Ron stolperte.
Der Abend verlief ruhig. Natürlich gab es am Kaminfeuer im Gryffindor-Gemeinschaftsraum eine heftige Diskussion um die Slytherins, aber Harry und Ron zogen sich zurück. Es reichte ihnen für diesen Tag.
Am nächsten Morgen, direkt nach dem Aufwachen, fiel Harry ein, dass er vollkommen vergessen hatte, sich mit Hermine am verabredeten Punkt zu treffen. Schnell kleidete er sich an und lief in den Saal hinunter. Als er sie am Frühstückstisch antraf, murmelte er eine Entschuldigung.
„Wofür?“, fragte Hermine.
„Ich hab dich gestern sitzen lassen.“, sagte er.
„Ach!...Ja!“ Hermine schlug sich vor die Stirn. „Nein, Harry, ich habe dich sitzen lassen!“
„Wie, du warst auch nicht da?“
„Nein. Das habe ich völlig vergessen! Das ist mir noch nie passiert!“
Sie sahen sich an und lachten.
„Wollen wir das gleich noch machen?“, fragte sie.
„Wir haben doch gleich Zaubertränke. Schaffen wir das denn in der Zeit?“
Hermine überlegte kurz. Dann sagte sie:
„Ich denke schon. Es sind nur ein par Worte, und ich habe es schon mal gemacht. Sollte eigentlich kein Problem sein.“
„Wenn das nur ein paar Worte sind“, fragte Harry verwundert, „Warum können wir es denn nicht auch im Gemeinschaftsraum machen?“
„Willst du, dass es irgendjemand mitbekommt? Stell dir vor, das macht die Runde und Snape erfährt es. Ich glaube, dann hast du ein Problem.“
„Hm...“ Harry kratzte sich am Kopf. „Na ja, ich meine, mir ist es egal. ... Gehen wir direkt nach dem Frühstück?“
„Ja, ist, glaube ich, das Beste.“
Direkt nachdem sie ihren Frühstückskakao ausgetrunken hatten, machten sie sich auf den Weg. Das Klo der Maulenden Myrthe lag im dritten Stock. Es war ein heruntergekommenes Mädchenklo, in das niemand freiwillig ging. Es wurde von dem Geist eines Mädchens bewohnt, das vor fast fünfzig Jahren dort ums Leben gekommen war. Es war Myrthe, die hier damals dem schrecklichen Basilisk begegnet war. Ein Blick des Basilisken hatte sie getötet. Seit dem spukte oder wohnte sie in dem Mädchenklo, und weil sie ständig jammerte und sehr schnell beleidigt war, hieß sie ‚Die maulende Myrthe’. Und weil eben dieses Klo aus den unterschiedlichsten Gründen nie besucht wurde, eignete es sich hervorragend für Dinge, die nicht jeder mitbekommen sollte.
Harry und seine Freunde Ron und Hermine hatten Myrthe schon vor langer Zeit kennen gelernt, damals, als sie herausfinden wollten, wer der Erbe Slytherins ist, und wer die Kammer des Schreckens geöffnet hatte. Sie hatten Draco Malfoy in Verdacht, und Hermine braute in einer der Klo-Kabinen den Vielsafttrank, mit dem man sich für eine Stunde in eine andere Person verwandeln konnte. Sie wollten Draco aushorchen, indem sie sich in Crabbe und Goyle und Millycent Bulstrote verwandeln wollten. Das Ganze war ein Flop, einerseits für Ron und Harry, weil sie nichts herausfinden konnten, andererseits für Hermine, die sich durch einen tragischen Fehler in eine menschliche Katze verwandelte. Noch heute mussten Harry und Ron heimlich grinsen, wenn die Sprache darauf kam.
Als Hermine und Harry, die zuvor noch eben eine Feder aus Harrys Schreibmappe geholt hatten, das Klo betraten, hörten sie in der letzten Kabine ein entsetzliches Wimmern. Hohl und unheimlich klang es.
„Das ist Myrthe!“, flüsterte Hermine.
„Die ist ja wieder drauf heute!“, flüsterte Harry zurück.
„Hey, Myrthe, wir sind’s!“, rief er und öffnete die Tür zur Kabine. Myrthe war nicht zu sehen, aber aus der Kloschüssel tönte ein lautes:
„Waaas wollt ihhhihr? Wollt ihr mich auch quälen?“
Harry schaute Hermine an, die sich gerade ebenfalls in die Kabine gezwängt hatte.
„Nein, Myrthe“, sagte sie. „Wir quälen dich doch nicht. Wir wollen dich besuchen.“
„Laaaaast mihich in Ruhe!“, heulte Myrthe und ihr Gejammer wurde durch die Kloschüssel wie durch ein Megaphon verstärkt. Es klang schauerlich. Hermine trat an die Schüssel und schaute hinein. Myrthe hatte sich in dem Abfluss zusammen gekauert und die Arme schützend über den Kopf gelegt.
„Was ist los Myrthe?“, fragte Hermine mit sorgenvoller Stimme. „Ist etwas nicht in Ordnung?“
„Nihichts ist in Ordnung!“, jammerte sie.
„Komm erzähl!“, sagte Harry. „Was ist denn passiert?“
„Der blutige Baron war hier!“, jammerte Myrthe und zog ihren Kopf ein.
„Was hat er denn gemacht?“, wollte Hermine wissen.
„Er hat fürchterlich getobt. Er hat über den sprechenden Hut geschimpft. Und er hat alle Lehrer und Schüler verflucht. Und dann hat er mich gesehen und hat all seine Wut an mir ausgelassen. Aber mit Myrthe kann man das ja machen! Er hat mich in das Klo gestopft und abgezogen!“
„Aber Myrthe, dir tut das doch nicht weh, außerdem sitzt du selber ziemlich oft im Klo. Und ab und zu landest du im See, wenn jemand abzieht.“, versuchte Harry zu beruhigen.
„Aber dann, dann will ich es selber. Weil mir langweilig ist. Aber der blutige Baron...“
Wieder heulte Myrthe laut auf
„Können wir irgendetwas tun, damit du dich wieder beruhigst?“, fragte Harry.
„Jaaa! Lasst mich in Ruhe...“
„Das geht nicht so schnell, wir müssen noch ein wenig zaubern.“, sagte Hermine. „Aber wenn es dir hilft, dann gehen wir in eine andere Kabine. Komm Harry!“
Sie schlossen die Kabinentür hinter sich. Im benachbarten Kabinett klappte Hermine den Deckel herunter und forderte Harry auf, seine Feder darauf zu legen. Dann holte sie ihren Zauberstab heraus, machte eine schreibende Bewegung über der Feder und murmelte:
„Ecrivate analogon!“
Mit einem Mal kam Leben in die Feder. Sie glühte hell auf und tauchte die Umgebung in grelles rosa Licht. Übermütig hüpfte sie hoch und fuhr an der Wand entlang. Mit unglaublicher Geschwindigkeit kritzelte sie allerlei Unsinn an die Wand und hörte erst auf, als kein Flecken mehr in der Kabine frei war. Dann fiel sie erschöpft und mit bebendem Kiel auf den Klodeckel zurück.
„Verstehst du jetzt, warum ich das unbedingt hier machen wollte?“, fragte Hermine.
Harry nickte. „Aber, warum macht sie das?“
Hermine lächelte.
„Sie tragen das ihr Leben lang mit sich herum. Jede Feder kann das und wartet nur darauf, dass man es mit dem Spruch aus ihr herausholt. Dann ist sie so überschwänglich, dass sie sich erst einmal all die Jahre von der Seele schreiben muss, die sie nicht selber schreiben kann. Wenn genügend Platz ist, kritzelt sie stundenlang. Drum sollte man immer möglichst kleine Räume nehmen, sonst muss man so lange warten, bis man weiter machen kann.“
„Wie, das war noch nicht alles? Sie schreibt doch?!“
„Wir müssen sie noch mit deinen Gedanken verbinden. Wie soll sie sonst für dich schreiben?“
Das sah Harry ein, auch wenn er sich noch gar nicht vorstellen konnte, wie das geschehen mochte. Von oben war ein leises Kichern zu hören. Harry sah hoch und erblickte das runde, durchsichtige Gesicht von Myrthe.
„Das ist toll! Diese Feder hat das ganze Klo vollgemalt. Ich kann es nur nass machen!“, kicherte sie.
„Ach, Myrthe, bist du jetzt doch heraus gekommen?“, fragte Hermine.
„Was macht ihr da?“, fragte Myrthe neugierig und schwebte nun langsam in die Kabine hinein.
„Wir machen eine ‚Flotte schreibe Feder’.“, antwortete Harry. Dann wandte er sich wieder an Hermine. „Wie geht es weiter?“
„Nimm die Feder in die Hand, aber sein vorsichtig. Sie könnte sich wehren!“
„Wie? Eine Feder ist doch nicht gefährlich!“, lachte Harry und griff hin.
„Au!“, rief er und betrachtete erstaunt einen kleinen roten Punkt an seinem Finger. Die Feder hatte sich hochgeschnellt und ihn in seinen Finger gestochen.
„Du blödes Ding du!“, rief er erbost und griff beherzt zu. Die Feder wand sich in seiner Hand und versuchte, sich zu befreien. „Schnell, Hermine, ich habe sie!“
„Augenblick!“, sagte Hermine gelassen, hob ihren Zauberstab und murmelte:
„Telegenesis!“
Augenblicklich wurde die Feder ruhig. Sie schien sich in Harrys Richtung zu neigen, gerade so, als würde sie ihm zuhören.
„Du solltest sie jetzt in die Tasche stecken.“, meinte Hermine und schob den Zauberstab wieder in den Ärmel. „Sonst fängt sie bei jeder Gelegenheit an zu schreiben und schreibt Dinge, die du gar nicht willst. Wenn du ihr den Auftrag gibst etwas bestimmtes zu schreiben, dann hol sie heraus und denke an das, was sie schreiben soll. Dann geht sie hin, und sammelt alles in deinen Gedanken, was damit zusammenhängt. Und das schreibt sie in ordentlicher Form auf. Natürlich in deiner Handschrift.“
„Danke, Hermine. Du hast mir echt geholfen.“
„Keine Ursache. Du hast mir auch schon geholfen. Eine Hand wäscht die andere.“
Dann wandte er sich um und sah Myrthe, die neugierig auf die Feder blickte.
„Wieder alles in Ordnung?“, fragte er. „Was hat denn der blutige Baron gehabt? Er ist zwar ein finsterer Geselle, aber ich habe noch nie gesehen, dass er so ausrastet.“
Myrthes Gesicht verdüsterte sich.
„Wisst ihr denn nicht, was mit Slytherin passiert ist?“, fragte Myrthe erstaunt.
„Doch, na klar, wir waren doch dabei!“, antwortete Harry. „Ist der denn immer noch sauer deswegen?“
„Natürlich. Stell dir vor, was das für Slytherin bedeutet.“, sagte Myrthe. „Er schrie, ‚Es wird zuende gehen mit Slytherin. Wir werden nie mehr neue Schüler bekommen’!“
„Na, ganz so schlimm wird es doch nicht werden.“, sagte Hermine.
„Oh doch!“ Myrthe hob den Finger und schaute sie wie ein Lehrer an, der etwas ganz wichtiges zu erzählen hatte. „Es ist der Anfang vom Ende. Der Blutige Baron hat etwas von einer Reliquie gesagt, die nun ein für alle mal vernichtet sei. Wisst ihr nicht, dass jedes Haus einige Gegenstände von seinen Gründern aufbewahrt? Gryffindor hat zum Beispiel das Schwert von Gothrick Gryffindor, und Hufflepuff besitzt noch das alte Kräuterbuch von ihr und noch einige Gegenstände. Es gibt aber auch Dinge, die nicht hier auf Hogwarts sind, sondern irgendwo da draußen. Und von Salazar Slytherin gab es wohl auch noch etwas, das da draußen war, und das es jetzt nicht mehr gibt. Der Erhalt von den Häusern wird aber von den Reliquien bestimmt.“
„Der Zauberstab!“, entfuhr es Harry.
„Was für ein Zauberstab?“, fragte Myrthe.
„Ich glaube, es ist besser, wenn wir noch nichts sagen.“, mischte sich Hermine ein. „Wir sollten erst einmal mit Professor Dumbledore reden.“
„Ich sehe schon.“, sagte Myrthe beleidigt. „Mir braucht man es ja nicht zu erzählen!“
„Ich würde sagen, es ist zu deinem Schutz.“, meinte Hermine. „Wenn du es nicht weißt, dann kann der Blutige Baron es auch nicht aus dir herausprügeln. Und wir wissen ja auch noch nicht, ob unsere Vermutung stimmt.“
„Ach so..., wenn ihr meint...“
„Was hat denn jetzt diese Reliquie mit dem Baron zu tun?“
„Der Blutige Baron glaubt, dass eine der Reliquien zerstört wurde, und nun wird Slytherin keine Schüler mehr bekommen. Was soll denn ein Hausgeist machen, wenn er kein Haus mehr hat. Er wird zum Nichts, so wie ich. Jeder kann mit ihm machen, was er will, sogar Peeves wird keinen Respekt mehr vor ihm haben. Und noch mal sterben kann er auch nicht. Was soll er denn machen?“
„Hm“, machte Harry, „meinst du denn, dass das damit zusammenhängt? Kann es nicht ein Zufall sein, dass dieses Jahr kein neuer Schüler für Slytherin ausgewählt wurde?“
„Nein, Harry.“, sagte Hermine. „Die Statistiken der letzten sechshundert Jahre haben gezeigt, dass immer fast genau die gleiche Anzahl für jedes Haus bestimmt ist. Hast du das denn nicht letztes Jahr in Geschichte von Hogwarts gehört?“
„Da bin ich nicht gewesen. Geschichte interessiert mich nicht. ... Aber es kann doch mal eine Ausnahme geschehen. Zufall oder so etwas. Die Schüler müssen doch auch in die Häuser passen, oder?! Schau dir Malfoy, Crabbe und Goyle an, würdest du jemals einen von den dreien in ein anderes Haus als Slytherin stecken?“
„Darum geht es, glaube ich, nicht.“, sagte Hermine. „Ich glaube, dass die Schüler in dem Augenblick für das Haus geschaffen sind, wenn der Hut es ihnen sagt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass da etwas dran ist, was Myrthe sagt.“
„Wir sollten echt mit Dumbledore reden...“, meinte Harry. Dann schlug er sich mit einem Mal vor den Kopf. „Mensch, Hermine, wir müssen los. Die Stunde hat ja schon angefangen!“
„Ohwei!“, sagte sie. „Ich bin noch nie zu spät gekommen! Und das ausgerechnet in der ersten Stunde! Was wird sie für einen Eindruck von uns bekommen? Myrthe, wir müssen los. Wenn du noch etwas davon hörst, erzählst du es uns?“
„Ja, mache ich. Ich freu mich auf Besuch. Vielleicht kommt ihr ja dann öfter!“
„Tschüß, Myrthe!“, sagte Harry, packte seine Tasche und lief los. Sie rannten zum Treppenhaus und die vier Absätze hinunter, in den Keller, in dem das Labor für Zaubertränke lag. Die Gänge waren ausgestorben und aus den Klassenzimmern drangen leise Stimmen.
„Wie spät haben wir es denn schon?“, fragte Hermine außer Atem.
„Keine Ahnung! Meine Uhr ist doch kaputt.“
Sie erreichten die Tür und rissen sie auf. Magister Baumann unterbrach ihren Vortrag und sah sie erstaunt an.
„Oh, da sind ja noch zwei Schüler! Guten Morgen!“, sagte sie freundlich.
„Es tut mir leid, dass wir zu spät kommen!“, keuchte Hermine. Sie und Harry drückten sich auf zwei noch freie Plätze. „Wir waren noch im... wir mussten noch dringend etwas erledigen und sind aufgehalten worden. Soll nicht wieder vorkommen.“
„Gut, ich freue mich, dass sie es doch noch geschafft haben. Ich bin übrigens Johanna Baumann, die neue Lehrerin für Zaubertränke. Mit wem habe ich das Vergnügen?“
„Ich heiße Hermine Granger.“, antwortete Hermine.
„Ach, Miss Granger. Es freut mich. Ich habe schon einiges von ihnen gehört. Sie sollen eine sehr gute Schülerin sein.“
Hermine wurde rot. Sie wusste nicht, was sie darauf sagen sollte.
„Dann sind sie Harry Potter?“, wandte sich Magister Baumann an Harry. Der nickte nur.
2Auch von ihnen habe ich schon gehört. Man erzählte mir, dass sie einer der besten Quiddich-Spieler der Schule sind?“
Wieder nickte Harry. Er war etwas abgelenkt, denn als er sich umsah, bemerkte er, dass kein Slytherin-Schüler an dem Unterricht teilnahm. Hatten sie die beiden Häuser getrennt? Er beugte sich zu Hermine hinüber und flüsterte leise:
„Hast du schon bemerkt, dass Draco und seine Konsorten nicht da sind?“
Hermine schaute sich um und zuckte die Schultern.
„Stimmt“, flüsterte sie zurück. „Vielleicht liegt es daran, dass Snape nicht mehr Zaubertränke gibt. Nur, warum sind sie dann nicht in ‚Verteidigung gegen die dunklen Künste’?“
„Keine Ahnung.“, meinte Harry. „Aber ich finde das voll in Ordnung so.“
Hermine grinste. Der Unterricht würde auf jeden Fall entspannter ablaufen, wenn sie nicht ständig den Angriffen der Slytherins ausgesetzt waren.
„Ich denke, wir werden gut miteinander auskommen.“, fuhr Magister Baumann fort. „Wo waren wir stehen geblieben?“
Neville Longbottoms Finger schnellte nach oben.
„Mister Longbottom?“
„Sie erzählten und von der Wirkungsweise der Schattenpilze.“
Neville wirkte gar nicht unsicher. Er hatte zwar den gleichen roten Kopf, wie immer, wenn er aufgerufen wurde, aber er stotterte überhaupt nicht und er wirkte eher aufgeregt. Einige Schüler feixten, aber Magister Baumann strafte sie mit einem strengen Blick.
„Das ist richtig, Mr. Longbottom. Vielen Dank. Also gut. Ich habe gerade erzählt, dass es in unseren Breitengraden verschiedene Pilze gibt, die magische Fähigkeiten ausbilden. Einige davon sind normale, allen bekannte Speisepilze, die von Muggeln wie von Zauberern gerne gegessen werden. Nehmen wir nur den Steinpilz, der sehr schmackhaft ist. Wenn er jedoch mit den richtigen Methoden behandelt wird, kann man die magischen Fähigkeiten aus ihm herausziehen und für wertvolle magische Tränke verwenden. Es ist jedoch sehr schwierig, seine Magie zu extrahieren, es kommt auf die absolut genaue Rezeptur an, und nur erfahrene Zauberer können mit dem Pilz umgehen.
Aus diesem Grund habe ich mich entschlossen, mit wesentlich eindeutiger magischen Pilzen anzufangen. Und zwar sind das die Schattenpilze. Weiß jemand, was Schattenpilze sind?“
Zwei Arme schnellten hoch. Es waren die Arme von Hermine und...Neville. Harry staunte nicht schlecht. Er kannte Neville nur als jemanden, der sich möglichst hinter dem Rücken seiner Mitschüler versteckte, wenn ein Lehrer eine Frage stellte. Wenn er aufgerufen wurde, dann stotterte er sich etwas zusammen, was kaum verstanden werden konnte, und aus diesem Grund wurde er nur noch aufgerufen, wenn zum Beispiel Professor Snape wieder einmal ein Opfer brauchte.
Sicher hatte Neville eine besondere Vorliebe für Pflanzen. Im letzten Jahr hatte ihm Barty Crouch Junior alias Madeye Moody ein Buch über Wasserpflanzen des mediterranen Bereiches geschenkt. Zwar war seine Absicht dabei nicht, Neville eine Freude zu machen, sondern er versuchte damit Harry bei der Lösung einer schwierigen Aufgabe für das trimagische Turnier zu helfen, aber damals hatte Harry zum ersten mal erfahren, dass es etwas gab, für das sich Neville interessierte, und wovon er offensichtlich Ahnung hatte. Aber das hätte niemals ausgereicht, Neville dazu zu bringen, freiwillig den Finger zu heben. Es musste wohl etwas mit der neuen Lehrerin zu tun haben.
Harry betrachtete sie. Sie war eine große, schlanke Frau mit einem dicken, geflochtenen Zopf aus blondem Haar. Ihr Gesicht war sehr ebenmäßig und ihre blauen Augen hatten schon eine gewisse Ausstrahlung. Sie war, bei genauer Betrachtung sogar eine schöne Frau. Sie verstand es auch, ihren himmelblauen Umhang mit Eleganz zu tragen, und den spitzen Hut hatte sie keck in den Nacken geschoben. Nur ihr Akzent war grauenhaft. Diese Deutschen konnte einfach kein vernünftiges Englisch sprechen. Es klang hart und abgehackt, fast tonlos, und es passte gar nicht zu der angenehmen Stimme von Magister Baumann.
„Mister Longbottom?“, fragte sie freundlich.
„Die Schattenpilze sind die einzigen rein magischen Pilze, die hier wachsen. Sie sind normalerweise unsichtbar. Man kann sie in Neumondnächten sammeln, indem man ein magisches Licht erzeugt, unter dem sie anfangen zu fluoreszieren. Sie werden für bestimmte Verwandlungstränke und für Tränke benutzt, die die Kampfkraft erhöhen sollen.“
„Sehr gut, Mr Longbottom. Ich hätte es kaum besser erklären können. Sie interessieren sich für Pilze?“
„Schon, aber auch für magische Pflanzen...“ Nevilles Gesichtsfarbe wurde noch dunkler, als sie ohnehin schon war.
„Das ist gut. Was halten sie davon, wenn sie mit in diesem Schuljahr assistieren? Ich bräuchte für die Vorbereitung der Stunden noch einen Schüler, der mir hilft die leider sehr leicht verderblichen Pilzessenzen herzustellen und zu konservieren. Möchten sie mir helfen?“
„Sehr...sehr gerne, Magister Baumann!“, stotterte Neville und strahlte über das ganze Gesicht.
Magister Baumann nickte ihm freundlich zu und begann dann, über die Schattenpilze zu erzählen.
„Wie Mr. Longbottom schon erwähnte, sind die Pilze unsichtbar. Man benötigt ein magisches Licht, um sie zu finden. Das allein ist die Schwierigkeit, denn das magische Licht ist nicht ganz einfach herzustellen. Ich würde vorschlagen, dass wir es einmal versuchen. Der Spruch lautet „Fluoreszenca“. Er wandelt jede künstliche Lichtquelle, wie diese Fackeln an der Wand in Lichtquellen des benötigten magischen Lichtes um.“
Harry erinnerte sich die Stunden im Labor von Henry Perpignan. Er hatte damals einen Brief an Hermine geschrieben und Henry hatte mit Hilfe des magischen Lichtes den Brief versiegelt und unsichtbar gemacht.
„Wer möchte es einmal versuchen?“, fragte Magister Baumann in die Runde. Wieder wurden zwei Hände gehoben, nur dass es diesmal die von Hermine und Harry waren. Neville kauerte sich ein wenig zusammen, denn er wusste, dass er im Zaubern eine äußerst klägliche Figur abgab.
„Mr. Potter! Wenn sie bitte nach vorne kommen würden, damit wir alle sehen, wie sie es machen.“
Harry erhob sich und ging nach vorne.
„Nehmen sie den Zauberstab, machen sie eine schwingende Bewegung und sagen sie ‚Fluoreszenca’, genau so wie ich es ihnen jetzt vormache.“
Sie hob ihren Zauberstab und schwang ihn durch die Luft. Als sie ‚Fluoreszenca’ sagte, knisterten die Fackeln kurz auf und wurden dunkel. Der ganze Raum war in schwarzes Licht getaucht, nur die Gegenstände und die Personen erhielten eine schwach bläuliche Aura. Auf dem Lehrerpult, auf dem eine kleine Schachtel gestanden hatte, begannen plötzlich mehrere Pilze hell zu leuchten.
„Sie sehen, wenn man das Licht einmal erzeugt hat, dann ist es überhaupt kein Problem mehr, die Pilze zu finden. Wir werden in der nächsten Woche einmal mit den Fackeln hinaus gehen. Sie werden sehen, dass die ganze Wiese voll mit Schattenpilzen steht. So, ich werde es jetzt wieder hell machen, und dann sind sie dran, Mr. Potter. Fin Fluores!“
Es wurde wieder hell im Raum.
„So Mr. Potter“, begann Magister Baumann aufs Neue, „jetzt nehmen sie den Zauberstab in die Hand, konzentrieren sich, beschreiben einen kreisförmigen Bogen durch die Luft und sagen ‚Fluoreszenca’. Dann werden wir sehen.“
Harry war sich sicher, dass er es schaffen würde. Er zog seinen Stab aus dem weiten Ärmel seines Umhanges und richtete ihn nach oben und schwang ihn durch den Raum. Dann sagte er mit lauter Stimme:
„Fluoreszenca!“
Augenblicklich begannen die Fackeln wieder zu knistern, flackerten noch einmal hell auf und wurden dunkel.
„Sehr gut, Mr. Potter!“, rief Magister Baumann erstaunt aus. „Das hat ja gleich beim ersten Mal geklappt! Ich bin erstaunt. So, dann machen sie es bitte wieder hell.“
Auch das klappte auf Anhieb. Nach Harry konnten es noch einige andere Schüler versuchen, die es mehr oder weniger gut zustande brachten.
„Wenn sie nichts dagegen haben, gehen wir in der nächsten Woche, am Abend vor der Zaubertrank-Stunde hinaus auf die Wiese vor dem Schloss und suchen dort nach Schattenpilzen. Bis dahin wäre es gut, wenn jeder von ihnen den Zauber beherrscht. Sie können sich ja immer zu zweit zusammentun und ihn üben. Wichtig dabei ist, dass sie selbstzündende Fackeln benutzen.“
Sie schaute kurz auf die Uhr.
„Ja, jetzt haben wir noch zehn Minuten. Ich würde vorschlagen, wir machen für heute Schluss. Es lohnt sich nicht, wenn ich ihnen noch mehr über die Pilze erzähle, es dauert schon eine Weile, bis ich die grundlegenden Fähigkeiten abgehandelt habe. ... Ich habe noch etwas. Meine Leidenschaft sind nicht nur die Zaubertränke, sondern auch das Kochen. Ich habe vor in den Nachmittagsstunden eine AG anzubieten. Wenn sie Interesse haben, würde ich mir gerne mit einigen Schülern das Thema ‚Magisches Kochen mit deutschen Rezepten’ vornehmen. Besteht bei ihnen das Interesse?“
Zögernd nickten einige Schüler, nur Neville entfuhr ein freudiges „Natürlich!“
„Gut.“, sagte Magister Baumann. „Wenn ich genügend Schüler zusammenbekomme, dann werde ich einen Zettel unten in der Halle aushängen. Dort können sie sich dann eintragen. So, für heute wünsche ich ihnen noch einen schönen Tag. Wir sehen uns dann am Dienstag Abend, ja?“
„Welch ein Unterschied!“, sagte Harry, als sie die Treppe zur Halle hinunter gingen. „Da könnte Zaubertränke ja durchaus mein Lieblingsfach werden.“
„Nevilles Lieblingsfach ist das schon.“, stellte Ron mit einem Grinsen fest.
„Was mag es wohl zu bedeuten haben?, dass die Slytherins nicht mehr am Unterricht teilnehmen?“, fragte Hermine.
„An Snape kann es wohl nicht liegen.“, meinte Harry. „Dann würde er sie mit in die ‚Verteidigung gegen die dunklen Künste’ genommen haben. Ich glaube eher, dass sie die Klasse verkleinert haben, weil die Baumann noch neu ist.“
Der Speisesaal war noch leer. Sie setzten sich an den Tisch der Gryffindors. Die Karaffen mit Wasser und Säften standen schon bereit und Harry nahm sich ein Glas und schenkte sich ein.
„Noch jemand?“, fragte er und hielt die Karaffe hoch.
„Ja, ich!“, sagte Ron. Er hielt Harry ein Glas hin.
„Das mit dem Kochkurs ist ja auch eine verrückte Idee.“, sagte Harry, während er einschenkte. „Wer will denn schon kochen lernen, wo wir doch den besten Service der Welt haben?“
„Neville!“, meinte Ron.
„Ich mache da auch mit!“, sagte Hermine. „Ich finde kochen sehr spannend. Und vielleicht bringt sie uns ja ein paar tolle Tricks bei, wie man ohne Herd kochen kann.“
„Kochen ist ja auch eher was für Mädchen!“, sagte Ron und schaute Hermine frech ins Gesicht.
„Hör mal, Ron!“, sagte Hermine ärgerlich. „Ich habe deine ewigen Sticheleien satt. Kochen ist nicht nur etwas für Frauen. Die Männer sind nur zu faul dafür. Nimm dir ein Beispiel an Neville. Ich habe vollen Respekt davor, dass er offen zugibt, gerne zu kochen. Das kommt nur, weil deine Mutter dir alles in den Hintern schiebt!“
„Neville ist doch nur bis über beide Ohren verliebt!“, verteidigte sich Ron. „Ich wette, er stellt sich beim Kochen genau so doof an, wie beim Zaubern.“
„Könnt ihr mal aufhören zu streiten?“, mischte sich Harry ein, dem das Herumgehacke auf Neville langsam auf die Nerven ging. „Lasst ihm doch seine Freude!“
Langsam füllte sich der Saal und ein Gewirr von Stimmen und Lachen schwirrte durch den Raum. Die Schüler verteilten sich an die Tische und schwatzten fröhlich miteinander. Bald wurde der Strom von Schülern, die durch die großen Flügeltüren hereinkamen dünner. Und das Schwatzen wurde leiser und leiser, bis es schließlich ganz verstummte. Betroffenheit machte sich auf den Gesichtern breit. Alle starrten zum Tisch der Slytherins hinüber. Er war leer.
Der Tisch der Slytherins blieb auch leer, als bereits das Mittagessen aufgefahren wurde. Kaum ein Schüler bediente sich an den reich belegten Platten. Auch am Lehrertisch fehlte jemand: Professor Snape. Dumbledore jedoch schien sich nicht im Mindesten darüber aufzuregen. Er unterhielt sich lächelnd mit Professor McGonagall. Dann stand er aber doch auf und klopfte mit der Gabel gegen ein Glas. Die Schüler, die aufgeregt miteinander diskutierten, verstummten.
„Meine lieben Schülerinnen und Schüler!“, begann Professor Dumbledore. „Sie werden sich sicher gewundert haben, dass der Tisch des Hauses Slytherin leer ist. Keine Sorge, sie sind nicht verschwunden. Jedoch in Anbetracht der Ereignisse, die vorgestern Abend geschehen sind, haben sich die Schüler von Slytherin für einen Streik entschieden. Ich verstehe ihre Argumente zwar nicht, aber ihre Aufregung ist durchaus nachvollziehbar.
Leider kann ich noch nichts genaues über den Grund für die Ereignisse von vorgestern sagen. Wir verfolgen einige Hinweise, aber für eine Aussage ist es noch zu früh. Ich bitte sie daher, sich nicht in unnötigen Diskussionen zu verstricken. Sobald wir etwas genaues wissen, werden wir sie darüber informieren.
Eine Bitte habe ich noch: Verhalten sie sich den Schülern von Slytherin gegenüber vollkommen normal. In der derzeitigen Situation können unbedachte Bemerkungen und Fragen zu einer unnötigen Eskalation führen. Da wir annehmen, dass sich das Problem in den nächsten Tagen lösen wird, wäre ein Streit zwischen den Häusern nur Zeitverschwendung.
So, und jetzt wünsche ich ihnen einen guten Appetit.“
Dumbledore setzte sich wieder. Seine Rede hatte jedoch nicht zu einer Beruhigung geführt. Jetzt brandete wieder eine Diskussion auf. Wofür sollte ein Streik nützen?. Was wollten die Slytherins damit bezwecken?. An einigen Tischen kamen Gerüchte auf, der Blutige Baron solle die Slytherins gefangen halten. Snape hätte gekündigt. Das Haus Slytherin würde aufgelöst und die Schüler auf die anderen Häuser verteilt.
Harry hatte seinen eigenen Verdacht, und dieser Verdacht gab ihm keinesfalls ein gutes Gefühl. Irgendwie musste das mit dem Zauberstab zusammenhängen, der bei seinem Kampf mit Lord Voldemort vernichtet worden war. Sollte es etwa so sein, dass diese „Reliquie“ für den Erhalt des Hauses Slytherin lebenswichtig war?
Hermine beobachtete Harry, der langsam und nachdenklich aß. Sie ahnte, womit er sich in seinen Gedanken beschäftigte. Schließlich dachte sie, genau so wie er, an das eigenartige Gespräch mit der Maulenden Myrthe, das ja nur wenige Stunden zurück lag.
„Wollen wir gleich ein bisschen spazieren gehen?“, fragte sie unvermittelt. Sie hatte das Gefühl, dass sie und Harry miteinander reden sollten. Harry fuhr aus seinen Gedanken auf und starrte sie an. Dann schien er die Frage verstanden zu haben.
„Ja, ich glaube, das sollten wir.“, sagte er tonlos.
Hermine, immer noch glaubend, dass sie zu dick sei, hatte sich nur etwas Salat genommen und war bereits fertig mit dem Essen. Sie lehnte sich zurück und wartete, dass auch Harry seinen Teller leer gegessen hatte.
„Vielleicht können wir ja zum See hinunter gehen.“, meinte Harry, als er sein Besteck zusammengelegt und den Teller von sich geschoben hatte.
„Wollen wir losgehen?“, fragte Hermine.
Harry nickte. Sie standen auf, gingen in den Gryffindorturm, um sich festes Schuhwerk und winddichte Kleidung anzuziehen, dann wanderten sie durch das Portal und über die große Wiese hinunter zum See. Es war kalt geworden und der Sturm von gestern Abend hatte das restliche Laub von den Bäumen gefegt. Es stürmte zwar nicht mehr, aber der immer noch starke Wind trieb dunkle Wolken über den Himmel. Aus den Kaminen des Schlosses wurde der Rauch auf die Wiese hinuntergedrückt und die Luft mischte sich mit dem Geruch verbrannten Holzes. Harry mochte den Geruch, denn er erinnerte ihn daran, dass Weihnachten nicht mehr lange auf sich warten ließ. Jetzt kam die Zeit der gemütlichen Stunden vor dem Kamin, des heimeligen Kerzenscheins und der leckeren Vorweihnachtsplätzchen, die die Hauselfen jeden Morgen in einer großen Schale auf den Tisch im Gemeinschaftsraum stellten. Es war aber auch die Zeit, in der die Mannschaften sich auf dem Quidditch-Feld trafen um zu Trainieren.
„Denkst du an den Zauberstab?“, fragte Hermine. Sie hakte sich bei ihm unter.
„Ja!“, sagte Harry und seufzte. „Wenn der Zauberstab wirklich diese Reliquie ist, dann sehe ich schwarz für die Slytherins. Er ist unwiderruflich zerstört.“
„Aber es kann doch nicht sein, dass Slytherin untergeht, nur weil der Zauberstab nicht mehr existiert. Ich frage mich, welches Haus noch so eine Reliquie hat, und was mit Hogwarts passiert, wenn diese auch zerstört werden...“
„Gryffindor hat so etwas, glaube ich.“, sagte Harry. „Damals als ich in der Kammer des Schreckens war, habe ich das Schwert von Godric Gryffindor in der Hand gehalten. Kann sein, dass es auch so etwas ist.“
Hermine lächelte. „Das kann wenigstens nicht so leicht kaputt gehen.“, sagte sie.
Sie kamen unten am Wasser an. Der See sah unheimlich und schwarz aus. Der Wind fegte kalt vom anderen Ufer herüber und ließ Wellen an das Ufer klatschen. Sie schwenkten auf den Pfad, der am Ufer entlang führte. Jetzt blies ihnen der Wind ins Gesicht, und sie schwiegen eine Weile.
Etwa auf halbem Weg um den See kommt eine Felsengruppe, die von ein paar windschiefen Kiefern umgeben ist. Hermine und Harry steuerten darauf zu, um sich ein wenig in den Windschatten der Felsen zu setzen. Von dort aus hat man einen herrlichen Blick auf das Schloss, das stolz und majestätisch über dem See am Hang thront. Sie erreichten die Felsen und suchten sich einen trockenen Platz unter einem Überhang. Sie setzten sich auf einen langen Steinbrocken, der wie eine Bank da lag. Dort saßen sie auch oft im Sommer, meist Abends, wenn die untergehende Sonne das graue Schloss mit einem sanftroten Schimmer überzog.
„Was können wir den überhaupt machen?“, fragte Harry. „Wenn das Weiterbestehen von Slytherin von diesem Zauberstab abhängt, dann werde ich das Gefühl nicht los, einen Teil Schuld daran zu haben, wenn es bald nicht mehr existiert.“
Hermine legte beschwichtigend ihre Hand auf seinen Arm.
„Das siehst du falsch, Harry.“, sagte sie leise. „Nur Voldemort trägt, wenn überhaupt, eine Schuld. Er war es doch, der den Zauberstab und den Drachenstein angefasst hat. Er war es doch, der dich mit dem Zauberstab vernichten wollte.“
„Schon, aber...“ Harry schüttelte den Kopf. „Ich habe nicht bemerkt, wie ich den Stein verloren habe. Ich war es, der den Stein in seine Hände gespielt hat. Wenn die Slytherins das erfahren, dann werden sie mich umbringen.“
„Sie werden dich doch nicht umbringen!“, rief Hermine empört. „Harry, mach dich nicht verrückt! Du kannst nichts dafür.“
„Das weiß ich doch, Hermine. Aber du kennst Draco und seine Freunde. Sie denken nicht nach, wenn sie einen Grund finden, jemanden fertig zu machen. Und ich mache mir außerdem Sorgen, dass Snape, wenn er den Bericht von mir liest, das alles brühwarm erzählt und sie gegen mich aufbringt. Für Snape ist das doch auch ein gefundenes Fressen, du weißt, wie sehr er mich hasst.“
Hermine schwieg. Insgeheim hatte sie genau so gedacht. Und sie hatte keine Argumente, um Harrys Sorgen zu entkräftigen.
„Weißt du, Harry, egal, was passiert, ich werde zu dir halten. Wenn schon, dann gehen wir gemeinsam da durch!“
Harry sah sie an und lächelte.
„Das ist sehr lieb von dir, Hermine.“, sagte er und machte eine kurze Pause. „Ich glaube auch nicht, dass ich Angst habe. Professor Dumbledore steht auf unserer Seite und Sirius und Lupin. Aber ich befürchte, dass die nächsten Wochen ganz schön schwierig werden. Ich bin froh, dass ich nächsten Dienstag nach London reise. Dann bekomme ich wenigstens nicht die erste Welle ihrer Wut mit.“
„Vielleicht musst du auch nicht alles aufschreiben. Kannst du nicht schreiben, dass Voldemort dir den Drachenstein weggenommen hat?“, fragte Hermine mit einem leisen Schimmer von Hoffnung in ihrer Stimme.
„Dann muss ich es selbst schreiben.“, meinte Harry. „Wer garantiert, dass die flotte Schreibefeder sich nicht irgend einen Mist ausdenkt, oder sich genau an die Wahrheit hält? Ich glaube, es ist egal. Snape wird es so interpretieren, wie er es braucht. Um den Ärger kommen wir nicht herum.“
Dann schwiegen beide lange. Jeder ging seinen Gedanken nach. Nach einer viertel Stunde fühlte Harry, dass es ihm kalt wurde. Er musste sich wieder ein bisschen bewegen.
„Wollen wir weitergehen?“, schlug er vor.
„Ja, ist gut.“, sagte Hermine und stand auf. „Mir wird auch langsam kalt. Wollen wir zurück, oder ganz um den See gehen?“
„Wenn wir weiter gehen, kommen wir an Hagrids Hütte vorbei. Wäre doch eine Gelegenheit, uns zum Tee einzuladen, oder?“
„Gute Idee!“
Sie gingen um den Felsen herum. Zufällig wandte Harry noch einmal den Kopf, um einen Blick auf das Schloss zu werfen. Er blieb stehen. Hermine bemerkte sein Zögern und drehte sich um.
„Was ist?“, fragte sie.
„Kennst du den?“, fragte Harry zurück. „Draco! Er muss uns belauscht haben! Verdammt!“
Draco Malfoy schlenderte am See entlang, auf dem Pfad, den sie gekommen waren zurück zum Schloss. Er schien es nicht eilig zu haben.
„Komisch...“, meinte Hermine. „Wenn er uns belauscht hätte, dann würde er sich doch beeilen, es seinen Freunden zu erzählen, oder?“
„Hm, vielleicht...“
Harry überlegte.
„Ich möchte zu gerne wissen, wo er gesteckt hat.“, sagte er dann. „Komm, lass uns nachschauen, das Gras müsste plattgetreten sein, an der Stelle, wo er gestanden hat.“
Er ging wieder zu der Felsengruppe zurück und untersuchte den Boden. Langsam bewegte er sich um die Felsen herum immer den Blick auf das Gras gerichtet. An einem Spalt blieb er stehen.
„Hier, hier hat er gesessen. Siehst du den Abdruck?“, sagte er und winkte Hermine herbei. Sie kam und betrachtete die Stelle. Überall lagen kleine Pergamentschnipsel herum.
„Hier kann er uns nicht gehört haben.“, sagte sie. „Hör doch, wie der Wind in den Bäumen rauscht. Weißt du was, ich glaube, er ist hierher gekommen, um ungestört eine Nachricht zu lesen. Schau mal, diese Schnipsel auf dem Boden.“
Sie hockte sich nieder und hob ein größeres Stück davon auf. Sie betrachtete es. Es war ein Teil eines Briefes, mit strengen und gleichmäßigen Buchstaben beschrieben. ‚Krank’, konnte sie entziffern und ‚...hause’ stand darunter.
„Das scheint ein Brief gewesen zu sein.“, meinte Harry, der ihr über die Schulter geschaut hatte. „Vielleicht von seinem Vater?“
„Ja, von einer Frau ist es nicht, die hat bestimmt eine andere Schrift. Und es muss von einem Erwachsenen sein...“
„Mensch Hermine, vielleicht steht da etwas drin von Voldemort. Meinst du, wir können die Fetzen aufsammeln und wieder zusammenfügen?“
Hermine sah Harry missbilligend an.
„Möchtest du, dass man deine Briefe von Sirius liest? Harry! Das macht man nicht!“
„Na ja, aber immerhin ist Dracos Vater ein Todesser. Das CI5 liest auch private Post, wenn es um Terroristen geht, oder? Und Voldemort und die Todesser sind doch auch so etwas wie Terroristen!“
Harry begann einige Schnipsel aufzusammeln.
„Was machst du da?“, fragte Hermine. „Harry, ich habe da kein gutes Gewissen.“
„Ich will doch nur sehen, ob da irgend etwas von Voldemort steht, oder von den Todessern. Ich lese ja nicht den ganzen Brief, ich schau doch nur, ob ich etwas finde. Wenn ich nichts finde, dann schmeiße ich sie wieder weg.“
Hermine seufzte. Aber sie half ihm, die Zettel aufzuklauben. Harry schaute sich die Worte an. Die Fetzen, die ihm unwichtig schienen, legte er schön sauber auf einen trockenen Platz in der Felsspalte.
„Da! Ich hab es doch gewusst. Schau hier! Da steht eindeutig ‚Lord...’! Siehst du. Damit kann nur Voldemort gemeint sein. Ich muss den Brief lesen.“
Hastig klaubte er die Stücke des Pergamentes zusammen, suchte noch einmal den Boden im näheren Umkreis ab, und als er nichts mehr fand, steckte er sie in seine Tasche. Hermine reichte ihm unsicher die Stücke, die sie noch in der Hand gehalten hatte.
„Ich habe kein gutes Gefühl dabei. Wir sind nicht der Geheimdienst. Wenn, dann sollten wir das Professor Dumbledore geben, und er sollte entscheiden, was damit gemacht wird.“
„Nee, das ist auch nicht gut.“, sagte Harry. „Wenn da wirklich nichts dran ist, dann blamieren wir uns bis auf die Knochen. Lass uns bis heute Abend darüber nachdenken. Ist dir das recht, Hermine?“
„Ja. Ich weiß es einfach nicht. Ich bin ... ja, ist Ok! Aber jetzt lass uns zu Hagrid gehen! Mir ist wirklich kalt.“
Sie gingen auf den Pfad zurück und folgten ihm um den See. Bald hatten sie den Wald erreicht und wenige Schritte weiter standen sie vor der Tür zu Hagrids Hütte. Harry klopfte. Drinnen hörten sie ein Poltern, dann schwere Schritte und die Tür wurde geöffnet.
„Harry, Hermine!“, brummte Hagrid freundlich. „Das ist ja nett, dass ihr mich besuchen kommt. Habe mir fast schon so etwas gedacht und einen Tee aufgesetzt. Habe euch auf der anderen Seite des Sees gesehen. Ron ist auch schon da. Na dann kommt mal rein!“
Sie betraten die Hütte. Am Tisch saß Ron und grinste sie an.
„Ich habe euch weggehen gesehen und habe mir gedacht, ich besuche mal Hagrid.“, sagte er.
„Hallo Ron.“, sagte Harry und quetschte sich auf die Bank.
„Das ist ein Ding, mit dem Streik.“, meinte Hagrid, der Wasser in die große Teekanne goss. Er stellte sie auf einem Untersetzer auf den Tisch und holte Tassen aus dem Schrank. „Hoffe, es gibt keine Krawalle. Ich trau dem Braten nicht so ganz.“
„Wieso streiken die denn? Weißt du etwas mehr darüber?“, fragte Harry.
„Ich glaube, sie haben Angst.“, antwortete Hagrid. Er setzte sich auf den Hocker. „Angeblich schieben sie das auf die nicht reinblütigen Schüler. Sie sagen, das vergiftet die Atmosphäre im Schloss, und da die Slytherins ausschließlich Reinblütler sind, sind sie als erste betroffen. Sie werden nicht mehr am Unterricht teilnehmen, in dem auch, wie sie sagen ‚Schlammblüter’ sitzen. Wenn ihr mich fragt, ich finde das reichlich überzogen.“
„Das kommt bestimmt von Malfoy.“, meinte Ron. „Ich wette, er hat sie alle geimpft.“
„Oh nein, Ron.“, sagte Hagrid. „Der Blutige Baron hat das schon vor vierzig Jahren verbreitet. Unser lieber Draco hat es von ihm.“
„Ich weiß noch, wie der Baron abgezischt ist“, bemerkte Hermine, „als Slytherin keine Neuen bekommen hat. Der war so etwas von stinksauer!“
Harry stand auf und griff nach der Teekanne. Fragend hielt er sie Ron hin, der auffordernd nickte. Harry goss der Reihe nach die Tassen voll und setzte sich wieder hin.
„Sind die Slytherins in Hungerstreik getreten?“, fragte Ron. „Sie waren heute nicht einmal beim Essen!“
„Sie essen in ihrem Gemeinschaftsraum.“, sagte Hagrid. „Sie wollen nicht einmal mehr mit Gemischtblütigen zusammen speisen. Dumbledore hat die Hauselfen angewiesen, sie zu versorgen.“
„Die spinnen doch total!“, rief Ron. „Was wollen die damit bezwecken?“
Hagrid zuckte mit den Schultern. „Vielleicht wollen sie Aufmerksamkeit erregen.“, meinte er.
„Sollen wir von heute früh erzählen?“, flüsterte Harry zu Hermine. Sie überlegte kurz und nickte dann.
„Wir haben heute früh ein interessantes Gespräch mit der maulenden Myrthe gehabt.“, begann Harry. Dann erzählte er in knappen Worten, was Myrthe über den blutigen Baron gesagt hatte. Als er die Reliquie erwähnte, hob Hagrid eine Augenbraue.
„Hm“, brummte er. „Wenn das wirklich mit dem Zauberstab von Slytherin zusammenhängt, dann sieht die Sache verdammt schlecht aus. Könnte eine Menge Ärger geben, wenn das heraus kommt.“
„Aber Harry kann doch gar nichts dafür!“, sagte Hermine.
„Ich weiß es, und du weißt es.“, sagte Hagrid nachdenklich. „Aber ob die Slytherins das so akzeptieren...?“
„Siehst du, Hermine!“, meinte Harry und machte ein sorgenvolles Gesicht. „Hagrid sieht das genau so, wie ich.“
Hermine zuckte mit den Schultern.
„Dann müssen wir es ihnen erklären.“, sagte sie.
„Ich glaube, die lassen es sich nicht erklären. Oder willst du dich vor sie stellen und sagen: ‚Nun passt mal auf, so wie ihr denkt ist es falsch?“, bemerkte Ron mit finsterem Blick.
„Das Schlimme ist“, sagte Harry, „dass ich für Snape einen genauen Bericht schreiben muss, was in Rumänien vorgefallen ist. Da muss ich auch schreiben, wie der Zauberstab vernichtet wurde. Wenn die Slytherins das erfahren, dann habe ich eine Menge Ärger am Hals.“
Hagrid nickte. „Das kann sein. Bis wann musst du denn den Bericht abgeben?“
„Nächsten Dienstag, wenn wir wieder Verteidigung gegen die dunklen Künste haben. Snape will seinen Unterricht darauf aufbauen. Mann, bin ich froh, dass wir nächsten Dienstag nach London fahren.“
„Du, Harry“, begann Hagrid und es war ihm anzusehen, dass er etwas schweres auf dem Herzen hatte. „Ich befürchte, dass wir am Dienstag nicht nach London reisen können. Der Streik, weißt du? Dumbledore will, dass ich da bleibe...“
Harry starrte ungläubig auf Hagrid. „Nicht nach London...?“, fragte er fassungslos.
„Ja, sieh mal, Harry, wir wissen nicht, in welcher Richtung der Schuss los geht. Wenn die Slytherins vor haben, Ärger zu machen, dann müssen alle Lehrer da sein...“
„Aber... was kannst du dabei machen?“, fragte Harry aufgeregt. „Ich meine, wieso ausgerechnet du? Du hast doch sonst nicht so viel mit dem Unterricht zu tun. Sollst du dann magische Wesen auf die Slytherins hetzen?“
„Nein, das nicht.“ Hagrid konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. „Aber wir Lehrer, egal welches Fach wir geben, müssen zusammenstehen. Dumbledore redet gerade mit Snape. Er will ihn dazu verpflichten, auf der Seite der Lehrerschaft zu stehen.“
„Das wird er nie schaffen. Snape ist doch der schlimmste Hetzer, wenn es um Harry geht.“, sagte Ron. „Und er ist der Hauslehrer!“
„Ich frage mich, wie ich den Dienstag überleben soll.“, sagte Harry niedergeschlagen. „Die Slytherins warten doch nur auf einen Grund, über mich herfallen zu können.“
„Kopf hoch, Harry!“, brummte Hagrid. „Wird schon nicht so schlimm werden. Vielleicht haben sie ja bis dahin ihren Streik beendet, dann fahren wir nach London. Dann bist du erst einmal aus der Schusslinie. Und außerdem, ich bin überzeugt, dass Snape vernünftig ist. Er wird das nicht einfach herausposaunen.“
„Dein Wort in Gottes Ohr.“, murmelte Harry.
Es begann bereits zu dämmern, als sie schließlich Hagrids Hütte verließen. Sie hatten noch lange diskutiert, bis Hagrid schließlich gesagt hatte, dass es keinen Sinn habe weiter zu spekulieren. Als die Drei sich zum Abendessen in den Saal begaben, herrschte hier einige Aufregung. Wie zu erwarten, war der Tisch der Slytherins auch diesmal leer. Allerdings schwebte ein schwarzen Transparent über dem Tisch, auf dem mit giftgrünen Buchstaben geschrieben stand:
„Schlammblüter raus aus Hogwarts!“
Über den Tisch tanzten verschiedene Plakate auf denen Sprüche wie „Schlammblut verdirbt Slytherin“ oder „Für ein reinblütiges Hogwarts!“ oder gar: „Wir speisen nicht mit Schlammblütern“. Natürlich sorgten diese Plakate besonders bei den Erstklässlern, und besonders bei denen, die nicht reinen Blutes waren, und das waren immerhin die Mehrzahl, für enorme Aufregung. Die Kleinen wandten sich ängstlich an die Größeren ihrer Häuser und wollten wissen, was das ganze solle, aber die älteren Jahrgänge wussten auch nicht mehr und machten sich in zum Teil ärgerlichen Äußerungen Luft. Argus Filch, der die Tumulte mitbekommen hatte – Miss Norris, seine Katze hatte ihn sicherlich herbeigeholt – versuchte, die Plakate einzufangen. Diese jedoch wichen ihm geschickt aus, so dass Filch schließlich schwer atmend und mit hochrotem Kopf auf einen Stuhl sank. Nach einem kurzen Augenblick fluchte er laut, sprang auf und stürmte durch die Tür, durch die die Lehrer den Saal immer betraten, hinaus.
Minuten später kam er laut schimpfend und auf Professor Dumbledore, den er an einem Ärmel hinter sich herzog, einredend, wieder.
„Schauen sie sich diese Sauerei an, Professor! Das ist eine Schande für die Schule!“
Wieder versuchte er nach einem Plakat zu greifen, doch er fasste in Leere.
„Die Schüler werden immer unverschämter! Es wird Zeit, Professor, dass sie drakonische Maßnahmen ergreifen!“
„Nun beruhigen sie sich doch erst einmal.“, sagte Dumbledore freundlich. „Diese Plakate machen doch nichts schmutzig oder kaputt.“
„Sie beschmutzen die Ehre Hogwarts!“, rief Filch. Sein Gesicht war zornesrot. Dumbledore zog seinen Zauberstab aus dem Ärmel und schwang ihn durch die Luft. „Finite corso!“ rief er. Die Plakate hörten auf zu tanzen und fielen auf den Tisch, wo sie liegen blieben. Das Transparent schwebte, wie eine Feder hin und her pendelnd, herunter und bedeckte die Plakate.
„So, mein lieber Mr. Filch. Ist der von ihnen gewünschte Zustand dieser Schule wieder hergestellt?“
„Hrmpf!“, schnaubte Filch. Er raffte die Plakate und das Tuch zusammen und wollte es sich unter den Arm klemmen.
„Nein, bitte, Mr. Filch.“, sagte Dumbledore und streckte eine Hand aus. „Würden sie das bitte mir geben? Ich denke, ich muss mich mal mit Professor Snape unterhalten, und da würde ich es ihm ganz gerne zeigen.“
Mr. Filch starrte Dumbledore mit zusammengekniffenen Augen an. Dann gab er sich einen Ruck, warf Dumbledore die Sachen in den Arm und stampfte wütend davon. Dumbledore runzelte die Stirn. Er schaute sich im Saal um und sah hundert Augenpaare auf sich gerichtet. Er besann sich kurz, lächelte dann und schlenderte auf die Lehrertür zu.
Natürlich gingen die Diskussionen auch während des Essens weiter. Harry hielt sich aber mit Äußerungen zurück. Er wollte nichts unbedachtes sagen, das ihn vorzeitig ins Spiel bringen konnte. Nach dem Essen zog er sich mit Hermine und Ron in ein leeres Klassenzimmer zurück. Er holte die Pergamentschnipsel aus seiner Tasche und erklärte Ron, was vor ihrem Besuch bei Hagrid passiert war. Ron war sofort Feuer und Flamme und ließ sich von Hermines Einwänden nicht beeindrucken. Während Harry und Ron eifrig damit beschäftigt waren, die Stücke des Briefes zusammen zu puzzeln, saß sie nur unbeteiligt neben ihnen und sah zu. Nach einer geraumen Zeit hatten Harry und Ron die Teile so zusammen gelegt, dass ein fast vollständiger Brief daraus wurde. Es fehlten zwar noch einige kleine Teile, aber der Text war lesbar. Der Brief war tatsächlich von Lucius Malfoy und an seinen Sohn gerichtet. Harry las vor.
„Mein lieber Sohn,
Deine Äußerungen bei deiner Abreise auf dem Bahnsteig von Gleis neundreiviertel haben mich zutiefst schockiert. Ich weiß, wie sehr Du Deine Mutter liebst. Ihr seid Euch auch viel näher, als Du mir, was ich oft bedauere. Dennoch ist es falsch, zu behaupten, ich und nur ich allein sei schuld an der Krankheit Deiner Mutter. Als sie krank wurde, war ich mit dem Lord in Rumänien, was auch Du weißt. Deine Mutter und ich haben uns vorher nicht gestritten, wir sind im Frieden auseinander gegangen.
Sie ist auch erst ein paar Tage vor meiner Rückkehr krank geworden. Und, wie du weißt, habe ich alles getan, um sie wieder genesen zu lassen. Nachdem die Ärzte keinerlei körperliche Krankheit festgestellt hatten, habe ich sie mit ihrem Einverständnis auf eine nervliche Krankheit untersuchen lassen, was ebenfalls negativ ausgefallen ist. Sie selbst sagt, dass sie nicht weiß, warum sie so krank geworden ist.
Du siehst also, mein lieber Draco, man kann nicht einfach ein Urteil über jemanden sprechen, ohne die genauen Umstände zu kennen. Es betrübt mich, dass du nicht auch den Weg gehen willst, den ich gehe. Der dunkle Lord wird für uns alle bessere Zeiten schaffen. Ich halte Dir zu Gute, dass du noch jung bist, und dich erst einmal orientieren musst. Aber dass Du so vehement gegen meine so wichtige Arbeit sprichst, verstehe ich nicht. Ich denke, wir sollten in den Weihnachtsferien noch einmal ausführlich darüber sprechen. Hoffentlich geht es Narzissa dann besser.
Viele Grüße
Dein Vater“
Harry war enttäuscht. Ein wenig rührte sich auch sein Gewissen. Es war doch ein sehr persönlicher Brief, und die Informationen, die er sich erhofft hatte, standen nicht darin. Jetzt hätte er es am liebsten ungeschehen gemacht. Auf eine andere Art war der Brief jedoch sehr aufschlussreich. Harry begann, über Draco nachzudenken. Er begann ihn mit etwas anderen und nicht so sehr von Abneigung gelenkten Augen zu sehen. Bislang hatte er sich nicht vorstellen können, dass Draco fähig war, Gefühle zu haben. Aber offensichtlich ging ihm die Krankheit seiner Mutter sehr nahe, was für eine tiefe Liebe sprach. Und da hatte Draco Harry, zumindest bis zu seinem 13 Lebensjahr einiges voraus. Harry kannte bis zu dem Augenblick, an dem sich Sirius als freund seiner Eltern und als sein Pate herausstellte dieses Gefühl nicht.
Harry wunderte sich auch, dass Draco seinen Vater angriff, weil dieser ein Anhänger Voldemorts war. Er hatte bisher fest daran geglaubt, dass Draco ebenfalls auf der dunklen Seite stand. Und, wenn er nachdachte, deuteten auch alle Handlungen und Aussagen, die von Draco kamen, darauf hin. Sollte Draco etwa seine Meinung geändert haben? Sollte das vielleicht mit der Krankheit seiner Mutter zusammenhängen? Was war das für eine seltsame Krankheit, die nicht körperlich und auch nicht psychisch zu sein schien?
All diese Gedanken schossen durch seinen Kopf, als er jäh von Hermine unterbrochen wurde.
„Harry!“, sagte sie harsch. „Ich hoffe, du hat ein schlechtes Gewissen. Ich habe es dir gleich gesagt, dass dieser Brief nur Draco etwas angeht.“
Harry sah sie unverwandt an. Dann nickte er langsam.
„Du hast recht, Hermine.“, antwortete er. „Es war nicht gut. Aber es ist nun einmal geschehen. Und ich muss sagen, dass der Brief auf seine Weise wichtig für mich ist. Ich glaube, ich habe Draco bisher ziemlich unterschätzt.“
„Hey, wirst du jetzt auch ein Slytherin?“, fragte Ron. „Harry Potter und Draco werden Busenfreunde. Das wäre doch die Schlagzeile für den Tagespropheten!“
Harry lächelte Ron mitleidig an.
„Du verstehst nichts, Ron.“, sagte er nur. Er fegte die Pergamentschnipsel zusammen in seine Hand und steckte sie wieder in seine Tasche. Als sie zurück im Turm der Gryffindors waren, nahm er sie und warf sie in die Flammen des Kamins.
Am Abend zog Harry sich in den Schlafsaal zurück. Er wollte mit seinem Bericht für Snape beginnen. Nachdem er aus seinem Koffer eine Rolle Pergament geholt und diese auf seinem Bett ausgerollt und mit Schuhen am oberen und am unteren Ende beschwert hatte, damit sie sich nicht mehr zusammenrollte, öffnete er sein Schreibmäppchen und holte die Feder heraus. Fast beschwörend sah er sie an und dachte:
‚Bitte schreib keinen Blödsinn! Snape soll nicht merken, dass ich es nicht selbst geschrieben habe! Und bitte! Denk dir etwas aus, wie der Zauberstab zerstört wurde. Bring mich nicht zu sehr ins Spiel.“
Dann setzte er die Feder auf das Pergament, legte sich daneben auf sein Bett und schloss die Augen. Er wanderte zurück in den Sommer, in die heißen Tage im Ligusterweg Nummer 4, als Onkel Vernon ihn aus der Küche gerufen hatte. Neben sich hörte er das Kratzen der Feder, die emsig Wort für Wort auf das Pergament schrieb. Als er sich an den Gartengnom erinnerte, musste Harry grinsen. Irgendwie war dieser kleine Kerl, so dumm wie er war, ziemlich drollig gewesen. Dann zogen die Bilder der Reise mit dem Flohpulver und seine Landung im Laden von Mr. Ollivander vor seinem geistigen Auge vorüber.
Mit einem Mal fuhr Harry hoch und die Feder hörte auf zu schreiben.
‚Stopp!’, dachte er. ‚Ich muss vorsichtig sein. Wenn die Feder irgendetwas zu den Druiden schreibt, dann bekomme ich Schwierigkeiten. Mal lesen...’
Harry nahm das Pergament, auf dem die Feder geduldig wartete und begann zu lesen.
„ Bericht über die Ereignisse am Ende der Ferien
’Harry!.....Haaarrrrrry!’ dröhnte Onkel Vernons Stimme aus der Küche. ‚Verdammt, wo bleibst du? Kerl!’
‚Ich...ich komme!’ rief ich und stolperte aus meiner Kammer. Ich nahm gleich 2 Stufen auf einmal, als ich die steile Treppe hinunterhastete. Onkel Vernon klang sehr wütend, und ich wusste aus Erfahrung, dass es besser war, sich zu beeilen, wenn mein Onkel mich rief....“
‚Mann, das liest sich ja wie ein Buch!’, dachte Harry. Er las weiter und fand, dass die Feder alles, was er erlebt hatte sehr detailliert aufgeschrieben hatte. Sogar das Gespräch mit John war erstaunlich genau aufgeschrieben. Etwa die Hälfte des Pergamentes war bereits verbraucht.
‚Wie viele Rollen werde ich noch benötigen?’, fragte er sich. ‚Aber von mir aus soll sie ruhig so weiter schreiben. Je länger der Bericht wird, um so länger braucht Snape, um ihn zu lesen. Vielleicht habe ich dann noch ein paar Tage Ruhe...’
Wieder legte sich Harry auf seinen Rücken und lenkte die Gedanken in die Vergangenheit. An der Stelle, wo es zu ersten Mal um die Druiden ging, setzte er sich auf und öffnete die Augen. Gebannt verfolgte er, was die Feder schrieb:
„Mit einem Plopp wurde die Verbindung unterbrochen und Mr. Ollivanders Kopf verschwand aus dem Kamin.
Henry ging zurück in die Bibliothek, wo Hermine und ich schweigend und gespannt warteten.
‚So Leute, jetzt wird es ernst.’, begann Henry. ‚Ich habe von George die Nachricht, dass Voldemort kurz davor steht, heraus zu finden wo ihr seid. Wir müssen jetzt einige Dinge vorbereiten, um einen ersten Angriff abzuwehren’...“
Dann, auf einmal machte die Feder eine Pause. Sie schien zu überlegen, oder in sich hinein zu horchen. Sie streckte sich kurz, als hätte sie eine Idee gehabt und fuhr fort zu schreiben.
„Hermine und ich starrten ihn gebannt an. Henry grinste. ‚Ich habe mir überlegt, dass ich daraus ein Fest für meine alten Freunde machen werde’, fuhr Henry fort. ‚Wisst ihr, wir haben damals auch gerne zusammen gearbeitet, wenn wir schwierige Aufgaben zu lösen hatten. Sie alle sind erfahrene Kämpfer...’“
Harry atmete erleichtert auf. Dankbar blickte er auf die Feder hinunter, die einen Moment inne gehalten hatte. Als sie sein Einverständnis fühlte, machte sie einen kurzen Hüpfer und flog dann wieder über das Pergament. Inzwischen näherte sich die Rolle, die immerhin fast vier Meter lang gewesen war, ihrem Ende. Harry stieg vom Bett und holte eine weitere Rolle aus seinem Koffer, die letzte. Er würde sich wohl von Hermine noch eine leihen müssen. Was Snape wohl sagen würde, wenn er so viele Meter von Harry bekam. Hoffentlich würde er nicht misstrauisch werden. ‚Ich sage einfach’, dachte er, ‚ich habe sowieso immer Tagebuch geführt, und das sei es halt. Dann kann ich ihn auch noch ein wenig ärgern.’
Irgendwann gingen ihm aber die Erinnerungen aus. Er wurde müde und konnte sich nicht mehr so gut konzentrieren. Draco Malfoy schlich sich in seine Gedanken. Immer wieder ertappte sich Harry dabei, wie er über Dracos Mutter nachdachte, und fuhr jedes Mal erschrocken hoch und starrte auf das Pergament. Aber die Feder ließ sich nicht beeindrucken, kam eine Unterbrechung, dann wartete sie geduldig, und sobald Harry sich wieder auf den Bericht konzentrierte, schrieb sie weiter.
Dann aber ging es nicht mehr. Harry nahm die Feder, bedankte sich bei ihr und steckte sie wieder in sein Schreibmäppchen. Zufrieden betrachtete er die Rollen, die dicht an dicht mit Zeilen gefüllt waren, und die sich wie ein spannender Roman lesen ließen.
‚Sollte ich irgendwann einmal nichts werden, dann werde ich Schriftsteller.’, dachte er. ‚ ‚Diese Feder hat einen verdammt guten Stil...’
Von unten, aus dem Gemeinschaftsraum drangen Stimmen und Gelächter. Es war anscheinend noch nicht so spät wie er dachte, und Harry beschloss, noch einmal hinunter zu gehen. Er rollte die Pergamentstreifen zusammen und klemmte sie sich unter den Arm. Hermine sollte sie lesen, und ihr Urteil dazu abgeben.
Als er die Treppe hinunter gegangen war und den Gemeinschaftsraum betrat, stand ein Pulk von Gryffindors um den Tisch. Sie schwatzten fröhlich durcheinander. Mitten drin konnte Harry Fred und George ausmachen. Sie hatten glänzende Gesichter und wurden von allen Seiten mit Fragen bestürmt. Harry bahnte sich eine Weg durch die Menge. Als er vor dem Tisch stand, sah er, was die Aufregung verursacht hatte.
Auf dem Tisch stand ein Karton mit allerlei Scherzartikeln, die Fred und George in der letzten Zeit entwickelt hatten. Direkt neben dem Karton tobte eine kleine Figur, die einen Zauberer mit weißem Rauschebart darstellte. Grelle Blitze schossen aus seinem winzigen Zauberstab hervor, und wen diese Blitze trafen, der bekam entweder eine dicke Nase, oder Fledermausohren oder Haare, die verdächtig nach Spaghetti mit Parmesan aussahen. Nach einigen Sekunden verschwanden die Missbildungen wieder, und die Schüler, die um den Tisch herum standen riefen immer wieder den Namen der kleinen Figur. Jedes mal, wenn Merlin gerufen wurde, fuhr die Figur herum und blitzte den Rufer mit einem Zauber an. Je nachdem, was für ein absonderliches Ergebnis dieser Zauber hatte, brachen die umstehenden in tobendes Gekicher aus.
„Hey, Harry, da bist du ja!“, rief Fred, als er Harry erblickte. „Schau, wir haben Wort gehalten.“
Harry bestaunte den kleinen Zauberer. Entzückt nahm er ihn in die Hand, hob ihn hoch, um ihn genauer zu betrachten und ehe er sich versah, hob der Kleine den Stab, richtete ihn auf Harry und schickte einen Zauber los. Harry wurde an der Stirn getroffen und bekam eine Beule, die fast auf Fußballgröße anschwoll und poppig bunt gestreift war. Ein kurzes Zischen ertönte und die Beule fiel flatternd in sich zusammen. Alle lachten. Auch Harry grinste und fühlte nach seiner Stirn. Es war aber alles wieder so wie vorher.
„Der ist klasse!“, sagte er lachend. „Wie seid ihr auf die Idee gekommen?“
„Eigentlich wollten wir Snape explodiert mal etwas realistischer machen.“, erklärte George. „Aber meinst du, wir hätten Snape hingekriegt? Wir haben bestimmt zwanzig Figuren gemacht, keiner hatte so ein mieses Gesicht und so fettige Haare, wie Snape.“
„Und dann hatten wir mitleid mit den armen Kerlen“, fuhr Fred fort. „Wir haben abends im Garten gesessen und haben über den Unterricht gesprochen. Irgendwie sind wir dann auf Bubotubler Eiter gekommen. Der macht doch so schöne Beulen im Gesicht. Na ja, dann haben wir die Sache immer weiter gesponnen, und schließlich ist Merlin daraus geworden.“
„Wir haben uns gedacht“, sagte George, „weil du uns die Geschichte mit dem Drachenstein erzählt hast, sollst du den ersten Original Weasleys Dussel-Merlin bekommen. Und, schau mal in der Kiste!“
George griff in den Karton und holte ein paar Päckchen heraus. In einer Klarsicht-Tüte lagen seltsame, grüne und flauschige Kugeln. George öffnete die Tüte und legte eine Kugel auf den Tisch. Zunächst passierte nichts, doch dann gab es einen Knall und die Kugel zerbarst. Einen Augenblick später waren alle Umstehenden mit einem ekligen, übelriechenden Schleim bekleckert. Alles schrie durcheinander, doch die Schleimfetzen glitten an ihnen herab und krochen, wie eine Schar von grünen, pelzigen Raupen zurück zu der Stelle, an der die Kugel gelegen hatte. Sie vereinigten sich und dann lag die Kugel, so als wäre nichts geschehen, friedlich auf ihrer Stelle. Schnell nahm George sie vom Tisch und ließ sie wieder in die Tüte fallen.
„Erinnert mich an die Stinkbomben, die Dudley immer und überall fallen gelassen hat.“, sagte Harry. „Aber die Dinger sind viel besser. Ich glaube, ich werde Dudley mal eine ins Bett stecken.“
Die anderen Päckchen enthielten nette Erfindungen von Fred und George. Es war zum Beispiel ein Kartenspiel dabei, das mehrere Spieler bei Snape explodiert ersetzen konnte. Für einsame und lange Reisen, bemerkte Fred. Ein kleines Büchlein war auch dabei. Als Harry es aufschlug, sah er, dass es voller herrlicher Zaubererwitze war.
„Es erfindet immer neue Witze.“, kommentierte George.
„Und das alles ist für mich?“, fragte Harry ungläubig und wühlte in dem Karton.
„Natürlich!“, sagte Fred. „So ganz uneigennützig ist das ja auch nicht. Viele Sachen konnten wir noch nicht richtig testen. Das einzige, was wir wissen ist, dass sie harmlos sind. Aber wir möchten zu gerne wissen, ob sie auch ankommen. Magst du sie für uns testen?“
„Hm. Wenn Ron und die anderen mithelfen dürfen?“, meinte Harry.
„Was du damit machst, ist deine Sache. Erzähl uns nur ab und zu, was du damit angestellt hast. Wir wollen auch ein bisschen lachen.“
An dem Abend war Harry sehr zufrieden. Noch lange hatten sie sich mit den Scherzartikeln befasst und sich überlegt, wen sie alles als Opfer nehmen würden. Professor Snape stand in der Liste ganz oben, nur als es darum ging, wer den ersten Schritt machen, und ihm einen solchen Scherzartikel unterschieben sollte, waren plötzlich alle unbeteiligt.
Kurz bevor sich die Gruppe zerstreute und ins Bett ging, gab Harry Hermine noch die beiden Rollen Pergament, die seine Feder vollgeschrieben hatte. Hermine versprach, es am nächsten Tag zu lesen. Sie würden viel Zeit haben, denn es gab Vormittags nur zwei Stunden Geschichte der Zauberei, bei der sowieso kaum einer zuhörte und am Nachmittag würden sie Pflege magischer Geschöpfe haben. Harry freute sich schon auf den nächsten Tag.
Harry schlief schlecht in dieser Nacht. Eigenartige Träume ließen ihn immer wieder aus dem Schlaf hochschrecken. In einem Traum durchlebte er noch einmal die Szene auf dem Friedhof, als er und Cedric Diggory mit dem Pokal des Trimagischen Turniers in die Hände von Lord Voldemort geraten waren. Er träumte, er sei es gewesen, der einen Todesfluch auf Voldemort gesandt hatte und mit einem Mal stand dort anstelle des dunklen Lords Cedric.
‚Harry, warum hast du das getan?’, hatte Cedric noch gestöhnt, bevor er zusammengebrochen war.
Harry schreckte hoch und fühlte, dass ihm der kalte Schweiß auf der Stirn stand. Er begriff nicht, was geschehen war, wollte zu Cedric stürzen, rief seinen Namen. Erst langsam erkannte er, dass er in seinem Bett saß, und dass er nur geträumt hatte. Aber das Bild war wieder vor seinen Augen, das Bild, das er inzwischen fast verdrängt hatte. Nur noch selten dachte er über diesen Abend nach; zu viel hatte sich inzwischen ereignet.
Langsam ließ er sich in die Kissen zurückgleiten. Aber an Schlafen war erst einmal nicht zu denken. Jetzt wanderten seine Gedanken, wie schon lange nicht mehr, zu Cedric, zu Voldemort, zu seinen Eltern. Mit offenen Augen starrte er an den Himmel seines Bettes. Und dann hörte er es leise, ganz leise und weit weg. Ein glockenheller Klang schwebte durch die Luft. Harry hatte ihn schon einmal gehört, damals, als er in den geheimen Verließen unter dem Schloss auf Tom Riddle gestoßen war. Tom Vorlost Riddle, der ehemalige Schüler von Hogwarts, der viele Jahre später als Lord Voldemort seinen Vater und seine Mutter getötet hatte. Damals hatte er sich in einer auswegslosen Situation befunden, und der Klang, der Gesang des Phoenix, hatte ihm angekündigt, dass der Phoenix Fawks ihm zu Hilfe eilte.
Harry wunderte sich, dass er sogar im Wachzustand weiterträumte, dass er sogar Fawks hören konnte. Aber der Klang ließ sich nicht mehr ausblenden und setzte sich in seinem Ohr fest, wie das leise und andauernde Pfeifen, wenn man lange und laut Musik gehört hatte. Harry pulte in seinem Ohr, in der Hoffnung, dass er das Geräusch herausholen konnte, aber als er den Finger in die Ohrmuschel schob, verstummte es, und als er den Finger wieder herausnahm, war es wieder da. Es war Wirklichkeit, kein Traum. Und es wurde stärker, klarer und deutlicher. Fast hatte Harry den Eindruck, der Phoenix würde nach ihm rufen.
Unwillig setzte er sich auf und schüttelte dem Kopf. Was wollte Fawks von ihm? Gerade in dem Moment, als Harry aufstehen und hinaus in den Flur vor dem Gemeinschaftsraum gehen wollte, um zu hören, ob der Gesang dort lauter war, verstummte der Klang wieder. Verwundert horchte Harry in die Stille der Nacht. Außer den regelmäßigen Atemzügen seiner Bettnachbarn und dem leisen Pfeifen des Windes draußen vor den Mauern des Turmes war nichts mehr zu hören.
‚Ich werde es mir eingebildet haben.’, dachte er und legte sich wieder hin. Bald dämmerte er ein, aber er blieb in einem Zustand von Halbschlaf. Seltsame Traumbilder zogen vor seinem Auge vorüber. Unruhig wälzte er sich hin und her. Seine Beine waren unruhig. So sehr er sich bemühte, sie ruhig zu halten, nach wenigen Sekunden verspürte er immer wieder den Zwang, sie zu bewegen. Dann, irgendwann, schlief er doch wieder ein.
Diesmal träumte er von Draco. Er sah, wie Draco sich über das Bett seiner Mutter beugte. Sie sah totenblass und ausgezehrt aus und Draco hielt ihre kleine magere Hand. ‚Ma, verlass mich nicht!’, hörte er Draco flüstern. Dann wandte Draco ihm das Gesicht zu. Es war tränennass. Draco sah ihn mit einer Mischung aus Verzweiflung und Zorn an. ‚Sieh sie dir an!’, sagte er. ‚Du hast es getan!’ Die letzten Worte hallten lange nach.
‚Draco! Was machst du am Bett deiner Mutter?!’, dröhnte eine herrische Stimme von der Tür her. Gigantisch groß und bedrohlich schwarz stand Lucius Malfoy unter dem Türrahmen.
‚Hier ist er, Lord Voldemort!’, brüllte er nach draußen. Wenige Augenblicke später trat der dunkle Lord ein und die roten Augen glühten aus dem Schatten unter seiner Kapuze hervor.
‚Endlich!’, hörte Harry die unheilvolle und kalte Stimme von Lord Voldemort. ‚Da haben wir sie ja alle drei!’ Dann zog Voldemort den Zauberstab hervor, und Harry wusste, dass es der Zauberstab von Salazar Slytherin war. ‚Wie hat er ihn wiederbekommen?’, fuhr es Harry durch den Kopf. Er tastete in seiner Umhangtasche nach seinem Drachenstein, aber alles, was er fand, war großes Loch. Zischend lachte Voldemort, hob den Zauberstab und richtete ihn auf das Bett. ‚Avada Kedavra’, zischte er und ein schwarzer Blitz traf Dracos Mutter. Dann richtete er den Zauberstab auf Draco und wieder ertönte das zischende ‚Avada Kedavra’ und Draco brach über seiner Mutter zusammen.
‚Jetzt zu dir, mein Freund. Wenn ich mit dir fertig bin, steht mir nichts mehr im Wege. Dann bin ich der einzige Erbe von Salazar Slytherin!’ Voldemort hob den Stab. Harry wollte schreien, aber seine Kehle war wie zugeschnürt. ‚Nein!’, dachte er verzweifelt.
„Nein!“, platzte es aus ihm heraus. Er fuhr hoch. Noch einmal schrie er „Nein!“, dann, langsam, bemerkte er, dass es nur ein Traum war, und er in seinem Himmelbett im sicheren Turm von Gryffindor saß. Draußen war es hell geworden. Verwirrt starrte er in die Gesichter von Ron und Neville. Beim ersten Schrei waren sie aus ihren Betten gehechtet und Harry gelaufen. Jetzt standen sie davor, hatten den Vorhang des Bettenhimmels auf gezogen und starrten Harry entsetzt an.
„Du hast geträumt!“, sagte Ron erschrocken. „Mein Gott, wie hast du geschrieen!“
Harry war immer noch verwirrt und er starrte auf Ron, als wäre er sich nicht sicher, ob er nun seinen besten Freund oder vielleicht doch seinen ärgsten Feind vor sich hätte.
„Was hast du denn geträumt?“, fuhr Ron fort. „Ich habe schon eine ganze Weile gehört, wie du dich hin und her geworfen hast. Und gesprochen hast du auch, irgendetwas unverständliches, wie ‚Erbe’ oder ‚Draco’. Hast du von Draco geträumt?“
Harry nickte. Dann rieb er sich die brennenden Augen.
„Ja...“, murmelte er und zog die Stirn in Falten. „Voldemort war da, und Draco und seine Mutter. Ich glaub’, Voldemort hat Draco umgebracht...“
„Der doch nicht!“, meinte Ron. „Jeder weiß, dass Malfoy ein Anhänger von Du-weißt-schon-wer ist.“
„Nein!“, sagte Harry abwehrend. „Draco ist kein Anhänger von Voldemort. Erinnerst du dich an den Brief?“
„Glaubst du das, was darin stand? Die Malfoys lügen doch alle! Und wer weiß, ob Malfoy dich den Brief nicht absichtlich finden lassen wollte.“
„Ich glaub, ich will jetzt nicht darüber reden.“, sagte Harry bestimmt. Dann gähnte er, streckte sich und warf die Bettdecke zurück. Er stand auf.
Nach den mehr oder weniger trüben und ungemütlichen Tagen, die hinter ihnen lagen, lachte heute morgen die Sonne durch das Fenster. Einzelne Sonnenstrahlen ließen den Staub glitzern, der in der Luft schwebte. Ein wenig versöhnte das Harry mit der schlechten Nacht. Er war zwar immer noch sehr müde, aber die seltsamen Träume rückten in den Hintergrund, und als er sich im Waschraum einen Strahl eiskalten Wassers in das Gesicht spritzte, fühlte er sich gleich wieder besser.
„Ich habe echt einen Mist geträumt!“, meinte er beim Frühstück zu Ron. „Ich bin froh, dass es wieder Tag ist, und das alles wirklich nur Träume waren. Was haben wir heute?“
„Erste Stunde bei Hagrid.“, antwortete Ron. „Ich hoffe, die Slytherins streiken auch heute, dann gehen sie uns wenigstens nicht auf die Nerven. Erinnerst du dich noch an Malfoy, was für ein Theater er gemacht hat, als Seidenschnabel ihn verletzt hatte?“
„Hmhmm:“, mampfte Harry, der gerade herzhaft in einen gebutterten Toast mit Honig gebissen hatte.
„Ich bin mal gespannt, welche Monster er uns heute vorführt.“, sagte Hermine.
„Gut, dass wir die Knallrümpfigen Kröter schon hinter uns haben.“, sagte Harry, nachdem er geschluckt hatte. „Ich glaube, etwas schlimmeres kann es nicht geben.“
„Da kennst du Hagrid aber schlecht.“, meinte Ron. „Er hatte doch immer schon einen Faible für die schlimmsten Monster, die es gibt.“
„Lassen wir uns überraschen.“, sagte Hermine. Sie stand auf und griff nach ihrer Tasche. „Ich gehe noch mal kurz in die Bibliothek. Bis nachher.“
Hermine verließ den Saal. Die Anderen beendeten ihr Frühstück ebenfalls. Das die Slytherins auch heute nicht zum Frühstück erschienen waren, deuteten sie als gutes Zeichen. So konnten sie in aller Ruhe an Hagrids Unterricht teilnehmen. Wahrscheinlich dachte Hagrid genau so, wie sie. Als sie aus dem Saal in die große Halle gekommen waren, trafen sie auf Roger Davies. Roger war der Quidditch - Mannschaftskapitän der Ravenclaws.
„Hallo Harry!“, grüßte er freundlich.
„Hallo Roger!“, sagte Harry und streckte ihm die Hand hin. Roger nahm sie und drückte sie.
„Du, sag mal Harry“, begann er, „ich habe gehört, dass du eine Schulmannschaft aufbauen sollst?“
„Ja...“, antwortete Harry etwas verlegen, denn er war sich bewusst, dass er sich noch gar nicht darum gekümmert hatte. Außer der Reise nach London, die ja nun verschoben war, hatte er keinerlei Vorstellungen, wie er es anfangen sollte.
„Hast du schon wen gefragt?“, bohrte Roger.
„Nein, du...du weißt doch, im Moment ist hier die Hölle los. Ich bin noch nicht dazu gekommen. Außerdem hat Snape mir eine Hausaufgabe aufs Auge gedrückt, die mir diese Woche keine Zeit dazu lässt. Warum fragst du?“
„Ich wollte dich fragen, ob du mich aufnehmen willst...“
Harry überlegte kurz. Roger war ein guter Jäger, und wenn er sich so freiwillig anbot, dann brauchte er nicht so viel zu suchen.
„Ja, ist vielleicht keine schlechte Idee. Aber, lass uns nächste Woche noch mal darüber sprechen, ja?“
„Ach, ich sehe, sie Arbeiten schon an der Schulmannschaft, Potter!?“ Die Stimme von Professor McGonagall ließ Harry herumfahren.
„Ja...“, stotterte er.
„Und? Haben sie sich schon Gedanken über die Mannschaft gemacht? Davies ist keine schlechte Wahl, herzlichen Glückwunsch, Potter.“
„Ja...“, stotterte Harry verlegen.
„Aber sie denken doch auch daran, dass aus dem Haus Slytherin wenigstens ein Schüler mit macht, ja?“
„Äh, natürlich, Professor...“, beeilte er sich zu sagen.
„Gut.“, sagte Professor McGonagall freundlich. „Ich wusste, dass sie der Aufgabe gewachsen sind. Wann soll denn das erste Training stattfinden? Ich würde es mir gerne ansehen.“
„Das haben wir noch nicht festgelegt!“, sagte Harry schnell. „Wir müssen doch erst einmal die Mannschaft zusammenstellen...“
„Wenn sie Hilfe brauchen, Potter, dann wenden sie sich ruhig an Madame Hooch. Ich habe noch heute morgen mit ihr darüber gesprochen. Was halten sie denn davon, wenn wir sie heute am späten Nachmittag aufsuchen? Da wären ja noch die Dinge wie das Schultrikot und die Trainingsbesen zu klären.“
„Ja, vielleicht...“, sagte Harry.
„Dann bis heute Nachmittag.“, sagte sie und ging zur Treppe.
Harry atmete tief durch.
„Wir sehen uns!“, nickte er Roger zu, dann lief er hinter Ron her zum Eingangsportal.
Eine viertel Stunde später versammelte sich Harrys Jahrgang von Gryffindor vor der Hütte von Hagrid. Die Slytherins waren erwartungsgemäß nicht erschienen und die Stimmung war ausgelassen und fröhlich. Neben Hagrids Hütte stand eine 2 Meter hohe, aus rohen Brettern zusammengezimmerte und mit Luftlöchern versehene Kiste. Durch die löcher konnte man ein feinmaschiges Gitter erkennen. Innen war es vollkommen dunkel, jedoch konnte man ein eigenartiges, dumpfes Poltern hören, und ab und zu zitterte die Kiste ein wenig.
„Was mag da drin sein?“, fragte Parvati.
„Bestimmt wieder so ein Riesenmonster!“, meinte Dean Thomas. Er ging zur Kiste hin und klopfte vorsichtig mit der Faust dagegen. Sofort wurde es still, aber nach ein paar Sekunden polterte und quiekte es aus der Kiste heraus, dass Dean erschrocken zurück sprang.
„Halt, halt!“, war nun die vertraute Stimme von Hagrid zu vernehmen, der gerade aus seiner Hütte getreten war. „Ihr dürft sie nicht erschrecken. Sie sind etwas empfindlich, und außerdem sind sie noch aufgeregt, weil sie heute erst geliefert wurden.“
„Wer...sie?“, fragte Hermine.
„Na, die Woolwoodys!“, brummte Hagrid und zog ein verschmitztes Gesicht. „Habe mir gedacht, dass ihr auch mal wieder Spaß braucht. Die Kröter waren schon ein bisschen heftig.“
Er ging zu der großen Kiste hinüber und legte seine Hand darauf.
„Hier sind sie drin.“, sagte er mit Stolz und tätschelte leicht auf die Bretter. Sofort war wieder dieses Poltern und Quieken zu hören.
„Hat mich einige Anstrengungen gekostet, sie zu bekommen. Wisst ihr, in unserem Land gibt es sie nicht, und ich habe erst im Ministerium anfragen müssen, ob ich sie einführen darf. Kommen aus Kanada. Sie leben dort in den Wäldern, ziemlich weit weg von den Menschen. Hat irgendeiner von euch schon mal von ihnen gehört?“
Hagrid blickte in die Runde und, als er sah, dass ihn alle nur erwartungsvoll ansahen, grinste er zufrieden und fuhr fort:
„Gut. Dann werde ich euch mal etwas über die kleinen Kerle erzählen. Woolwoodys sind nicht ganz einfach zu halten. Sie sind sehr selbständig. Das einzige, was sie an Pflege brauchen, ist klares Wasser und hin und wieder etwas frisches Holz. Also, in der Stadt wird es schwierig mit ihnen, aber hier haben wir genügend Vorräte. Vielleicht haben einige von euch schon gesehen, dass ich Holz geschlagen habe. Habe einen Haufen hinter meiner Hütte aufgeschichtet. Vielleicht sollten wir uns alle mal ein Scheit holen.“
Dabei wies er mit der Hand auf seine Hütte. Zögernd setzten sich die Schüler in Bewegung und folgten Hagrid. Hinter seiner Hütte war ein hoher Stapel frisch geschnittenen Holzes aufgestapelt. Harry und Ron nahmen sich je einen Knüppel und gingen zurück zur Kiste.
„Schwarzerle fressen sie besonders gerne.“, erzählte Hagrid weiter, als sie sich alle wieder mit Knüppeln in der Hand an der Kiste versammelt hatten. „Wenn ich gleich die Kiste öffne, dann werden sie herausklettern. Stellt euch einfach im Kreis um die Kiste herum und haltet das Holz vor euch hin. Die Woolwoodys werden auf euch zu kommen und sich das Holz greifen. Im Prinzip habt ihr dann schon bei ihnen gewonnen, sie werden euch dann als so eine Art Partner akzeptieren und auf euren Arm klettern, um am Holz zu nagen. Keine Sorge, sie sind im Großen und Ganzen harmlos.“
„Hat er das bei den Krötern nicht auch gesagt?“, flüsterte Ron. „Ich möchte mal wissen, was er als gefährlich bezeichnet.“
„Wahrscheinlich fressen sie einem nur die Ohren ab.“, bemerkte Harry hinter vorgehaltener Hand.
„So, dann werde ich sie mal raus lassen.“, kündigte Hagrid an. Er ließ ein Schloss aufschnappen und hob den laut quietschenden Deckel. Alle starrten gebannt auf die Kiste. Das Poltern hatte vollkommen aufgehört. Dann kam am oberen Rand der Kiste eine magere, langfingrige Hand zum Vorschein. Sie legte sich um die Kante. Dann kam eine zweite Hand hervor und schließlich schob sich ein eigenartiger, hellblauer Wollknäuel heraus. Das Wesen, das nun sichtbar wurde, sah aus wie ein Fußballgroßer Bommel einer Pudelmütze. Zwei große schwarze Murmeln, welche die Augen zu sein schienen wanderten neugierig hin und her. Eine Nase war nicht zu erkennen, aber unter den Augen zog sich ein lippenloser Mund von einer Seite der Kugel zur anderen. Das Verrückteste an dem Wesen waren seine Arme und Beine. Sie waren lang, unendlich lang und spindeldürr. Seine Arme maßen fast zwei Meter und waren noch ein Stück länger, als die Beine, und als es auf den Boden hinab geklettert war, stand es vor ihnen, wie ein Affe, der sich auf seine Hände stützt. Wenn es sich streckte, konnte es ohne Schwierigkeiten an Hagrids Bart ziehen.
„Nein, wie niedlich!“, kreischte Parvati. Ron stand mit bleichem Gesicht hinter Harry und rührte sich nicht.
„Spinnen!“, stammelte er und hielt sich an Harrys Ärmel fest.
„Quatsch!“, sagte Harry. „So sehen doch keine Spinnen aus!“
Nach und nach kletterten etwa zehn dieser Wollknäuel aus der Kiste, und als für jeden der Schüler ein Woolwoody herausgekommen war, schloss Hagrid die Kiste wieder. Die Woolwoodys standen unschlüssig herum und beäugten die Schüler neugierig. Das Erste, das anscheinend auch das mutigste war, löste sich aus der Gruppe und kam mit langsamen Bewegungen auf Harry zu. Dicht vor ihm blieb es stehen, knickte die Beine ein und hockte sich hin. Vorsichtig näherte es sich dem Ast, den Harry in der Hand hielt und schnupperte daran.
„Na los, Harry!“, sagte Hagrid sanft. „Gib es ihm!“
Harry hielt dem Wesen das Holz hin.
„Mimimi!“, machte es. Dann hob es einen Arm und nahm Harry das Holz mit spitzen Fingern aus der Hand. Es führte den Ast zu seinem Mund, streckte eine lange, himmelblaue Zunge heraus und begann den Ast genüsslich abzulecken. Mit einem Mal wurden lange, spitze Zähne sichtbar, das Woolwoody schob den Ast in sein Maul und begann, schnell wie eine Fräse, das Stück Holz in kleinste Stückchen zu zerraspeln. Harry wich erschrocken einen Schritt zurück. Als nichts mehr davon übrig war, leckte es sich zufrieden die nicht vorhandenen Lippen, fiepste leise und kletterte dann auf Harrys Arm, wo es sich feste an seine Schulter schmiegte.
Harry war einen Schritt zurück gewichen. Jetzt stand er da und schaute unsicher in die Runde. Er wusste nicht, ob er lachen, oder das Woolwoody abschütteln sollte. Hagrid lächelte wohlwollend.
„Siehst du, Harry“, brummte er glücklich, „ist doch halb so schlimm gewesen. Es hat dich als Freund akzeptiert. Du kannst ihm jetzt einen Namen geben.“
Dann wandte er sich an die anderen und sagte:
„Sie sind etwas schüchtern. Geht auf sie zu, gebt ihnen euer Holz!“
Ron, der gesehen hatte, dass die Woolwoodys nichts mit Spinnen gemein hatten, bekam wieder etwas mehr Farbe im Gesicht. Nachdem Hermine und Dean sich als Erste an die Tierchen getraut hatten, fasste er Mut und ging auf ein Woolwoody zu. Wenig später hatten alle eines der Wollknäuel auf dem Arm.
Hagrid freute sich, dass diese seltsamen Wesen so eine gute Aufnahme gefunden hatten. Er war sich dessen nicht sicher gewesen, als er sie in Kanada bestellt hatte. Er kannte sie selber nicht und hatte sich das, was er den Schülern über sie erzählte, nur in Büchern angelesen, die er vor den Ferien bestellt und zugesandt bekommen hatte. Für dieses Jahr war ihm von Dumbledore die Aufgabe gestellt worden, außereuropäische magische Wesen vorzustellen, und er hatte lange in der Bibliothek gesucht, bis er in einem Buch aus dem achtzehnten Jahrhundert auf einen eigenartigen Reisebericht eines Zauberers Namens Thomas Vanderbildt gestoßen war, der im Auftrag des Ministeriums den neuen Kontinent bereisen und beschreiben sollte. Daraufhin hatte er sich an das Kanadische Zaubereiministerium gewandt und war von einem alten indianischen Schamanen beraten worden. Dieser hatte ihm dann auch die Unterlagen zukommen lassen.
Hagrid erzählte den Schülern mit leuchtenden Augen für den ganzen Rest der Stunde, was es für Besonderheiten an den Woolwoodys gab. So sollten sie zum Beispiel von außerordentlicher Sensibilität für die Gefühle anderer Lebewesen sein. War ihr Gegenüber traurig, kamen sie an und schmusten ganz intensiv mit ihm. Auf Menschen, die böse Absicht hatten, reagierten sie mit schrecklichen Wutausbrüchen, wobei sie mit ihren dünnen Armen und Beinen erstaunliche Kräfte entwickeln konnten. Diese Kräfte brauchten sie auch, um junge Bäume abzubrechen, denn junges und frisches Holz war für sie die Leib- und Magenspeise.
In der Dunkelheit war ihre Farbe hellblau, was ihnen das Aussehen kitschiger Plüschkissen gab. Im Hellen behielten sie diese Farbe, sofern sie sich sicher wähnten. Waren sie aber gezwungen, sich zu verstecken, dann konnten sie die Farbe ihrer Umgebung annehmen, was zu einer perfekten Tarnung führte. Es war sehr schwer, sie in freier Wildbahn zu fangen, und die letzten wild lebenden Tiere waren noch im letzten Jahrhundert in die Fallen gegangen. Die Exemplare, die Hagrid von dem Schamanen erhalten hatte, stammten allesamt aus einer domestizierten Familie, die seit fast einhundert Jahren im privaten Zoo der Schamanenfamilie gezüchtet wurden.
„Und passt auf sie auf, rate ich euch!“, schloss die Unterrichtsstunde. „Sie haben einen verflixt eigenen Kopf. Wenn sie sich an jemanden gewöhnt haben, kann es sein, dass sie ihm nicht mehr von der Seite weichen. Und noch etwas. Sie treiben gerne Schabernack. Aber ich bin sicher, ihr werdet eine Menge Spaß mit ihnen haben. So, und nun zurück in die Kiste mit ihnen!“
Es war nicht einfach, sie wieder in die Kiste zu bugsieren. Einige der Tiere, so auch Harrys, klammerten sich ihre neuen Freunde. Sie waren nur mit viel gutem Zureden dazu zu bewegen, unter lautem Protestgepiepse in die Kiste zu klettern.
„Wenn ihr wollt, dann könnt ihr mir jeden Abend helfen, sie zu füttern!“, rief Hagrid den Schülern hinterher, als sie schon auf dem Rückweg über die große Wiese hinauf zum Schloss waren.
Den Nachmittag verbrachte Harry damit, sich auf die Suche nach Mitspielern zu machen. Zuerst suchte er Roger auf und teilte ihm mit, dass er gerne mitmachen könne. Einfach war es, Angelina Johnson und Katie Bell zu gewinnen. Sie erklärten sich sofort bereit, Jägerinnen in der neuen Schulmannschaft zu werden. So hatte er zwei Jägerinnen und einen Treiber. Er selbst würde natürlich den Sucher – Posten übernehmen.
Aber aus vier Leuten kann man kein Quidditch-Team bilden. Man brauchte schließlich nicht nur die aktiven Feldspieler, sondern auch eine Reservemannschaft, und es sah so aus, als könne er fast jeden fragen, der in irgend einer Weise auf Hogwarts mir Quidditch zu tun hatte. Über all dem schwebte wie das Schwert eines Henkers die Aufgabe, auch die Slytherins anzusprechen. Harry hatte eine Heidenangst davor und er schob es so weit wie möglich nach hinten.
Zuerst wollte er in den Häusern Ravenclaw und Hufflepuff vorsprechen, wobei er den Leuten aus Hufflepuff allenfalls einen Platz auf der Reservebank zusprach. In den letzten Jahren war es mit dieser Mannschaft stetig bergab gegangen und in den Schul-Turnieren hatten sie immer den letzten Platz belegt. Sicher, einzelne Spieler aus Hufflepuff hatten gewisse Qualitäten gezeigt, aber es fehlte ihnen der Biss. Die Ravenclaws waren da schon ein wesentlich ernst zu nehmenderer Gegner gewesen.
Am Abend jedoch, als er bei Madame Hooch an die Tür ihres Büros klopfte, war er nicht wesentlich weiter gekommen. Zwar hatte er noch kurz mit Kevin Withby von den Hufflepuffs gesprochen, aber Kevin war ein Anfänger und für eine Schulmannschaft überhaupt nicht zu gebrauchen.
Madame Hooch öffnete die Tür, begrüßte Harry freundlich und bat ihn herein. Professor McGonagall saß bereits auf einem Stuhl vor dem Schreibtisch und hatte eine Tasse Tee in der Hand.
„Schön dass sie kommen, Potter.“, sagte sie und stellte die Tasse wieder auf den Schreibtisch.
„Setzen sie sich!“, forderte ihn Madame Hooch auf. „Möchten sie auch einen Tee?“
Harry dankte und nahm auf dem zweiten Stuhl vor dem Schreibtisch platz. Nachdem Madame Hooch eine Tasse aus ihrem Schrank geholt, sie auf den Tisch gestellt und aus einer großen, bauchigen Tasse mit dampfendem Tee gefüllt hatte, setzte auch sie sich und fragte:
„Nun, Mister Potter, wie stehen die Dinge mit der Schulmannschaft?“
„Na ja, im Moment noch nicht so gut.“, sagte Harry etwas verlegen. „Bisher habe ich nur vier Spieler gefunden, die mitmachen wollen.“
Madame Hooch sah ihn mit hochgezogener Augenbraue an.
„Vier?“, fragte sie erstaunt. „Ich dachte immer, dass die Spieler sich um eine Position in der Schulmannschaft reißen würden. Wen haben sie denn gewinnen können?“
„Roger Davies, Angelina Johnson und Katie Bell.“, sagte Harry und blickte verlegen zu Boden. „Und dann habe ich noch bei den Hufflepuffs gefragt, aber die ganzen guten Spieler sind letztes Jahr abgegangen. Ich wüsste nicht, wer aus Hufflepuff mitmachen könnte...“
„Hm. Da haben sie recht, Hufflepuff hat nur sehr junge Spieler. Aber was ist denn mit Slytherin?“
Jetzt sah auch Professor McGonagall ihn erwartungsvoll an. Harry wand sich. Er wusste nicht, was er zu den Slytherins sagen wollte. Niemals würde er freiwillig hingehen und fragen. Dazu hatte er einfach zu schlechte Erfahrungen mit Draco, Crabbe und Goyle gemacht, und auch die meist sehr unfairen Quidditch-Spiele waren ihm noch in guter Erinnerung.
„Muss denn Slytherin auch dabei sein?“, fragte er unsicher. „Ich meine, sie spielen doch unfair, das hat man doch bei den letzten Turnieren gesehen. Außerdem streiken sie.“
Froh über seinen letzten Einfall, entspannte er sich ein wenig und ließ sich gegen die Lehne des Stuhls sinken.
„Sie werden doch hoffentlich Schüler aus Slytherin beteiligen!“, sagte Professor McGonagall streng. „Das soll eine Schulmannschaft werden, aber wie es im Moment aussieht, wird es eine fast reine Gryffindor Mannschaft. Potter, das kann ich nicht zulassen.“
„Beruhige dich, Minerva.“, sagte Madame Hooch und hob beschwichtigend die Hände. „Das was Mr. Potter zum Schluss gesagt hat, ist das eigentlich wichtige. Gerade, weil die Slytherins zur Zeit einer besonderen Belastung ausgesetzt sind, müssen wir sie einbeziehen. Das sehen sie doch ein, Mr. Potter, oder?“
Harry schluckte, aber er nickte. Es klang logisch.
„Aber vielleicht“, fuhr Madame Hooch fort, „Vielleicht sollten wir unserem jungen Freund ein wenig den Weg ebnen. Was halten sie davon, Minerva, wenn sie vorab einmal mit Professor Snape reden. Ich bin mir sicher, er freut sich über unser Ansinnen, und wird veranlassen, dass die Quidditch-Spieler von Slytherin für eine kurze Zeit ihren Streik unterbrechen und mit Mr. Potter über die Schulmannschaft reden. Ich möchte gar nicht so weit gehen, aber insgeheim hege ich die Hoffnung, dass das der Anlass für die Slytherins sein könnte, den Streik zu beenden. Das wäre doch das Symbol für sie, dass sie dazu gehören.“
Professor McGonagall nickte anerkennend. Dann sah sie Harry erwartungsvoll an.
„Sicher, das ist bestimmt eine gute Idee!“, beeilte Harry sich zu sagen, auch wenn er davon überhaupt nicht überzeugt war. Insgeheim beschloss er, die Gespräche mit den Slytherins so weit wie möglich hinaus zu zögern.
Zu seiner Erleichterung wurde er bald entlassen. Auch wenn er Professor McGonagall im Prinzip mochte, sie war eine sehr gerechte Lehrerin, aber er fühlte sich unter ihrer strengen Ausstrahlung nicht wohl und war immer froh, wenn er ihr entgehen konnte.
Das Wochenende nahte. Hermine verabschiedete sich jeden Abend, um zu Hagrid zu gehen. Sie und Parvati waren die einzigen Gryffindors, die Hagrids Aufruf gefolgt waren, und sich um die Woolwoodys kümmerten. Harry nutzte die Mahlzeiten, um sich nach dem Essen an die Tische von Ravenclaw und Hufflepuff zu setzen und mit ihnen über Quidditch und die Schulmannschaft zu sprechen. Roger schlug einen Schüler aus der zweiten Klasse vor, Linus Lonnigan, einen Nordiren. Er war beim Besenunterricht dadurch aufgefallen, dass er durch nichts von seinem Besen herunter zu bekommen war. Er konnte die unmöglichsten Verrenkungen machen, in den Ästen eines Baumes landen, aber er fiel niemals herunter. Roger meinte, dass das die perfekten Eigenschaften für einen Hüter wären, und dass man ihn nur ordentlich trainieren musste. Er würde ihn auf jeden Fall in das Ravenclaw-Team aufnehmen. Harry fühlte eine unbeschreibliche Dankbarkeit für Roger und nahm sich vor, ihn auf jeden Fall als aktiven Spieler für das Freundschaftsspiel Durmstrang – Hogwarts einzusetzen.
Mit den Hufflepuffs war es weitaus schwieriger. Mit dem Weggang von fünf Spielern am Ende des letzten Schuljahres war ihre Mannschaft zusammen gebrochen. Sie waren noch nie besonders gute Quidditch-Spieler gewesen, das letzte Mal, dass sie den Pokal gewonnen hatten, lag schon 2 Jahrhunderte zurück, und in den letzten Jahren war die Mannschaft nur mit Mühe und unter dem persönlichen Einsatz von Cedric Diggory am Leben gehalten worden. Cedric war im letzten Jahr, nach der letzten Aufgabe des Trimagischen Turniers von Lord Voldemort ermordet worden. Da im ganzen letzten Jahr kein Quidditch-Spiel stattgefunden hatte, hatte sich auch niemand mehr um das Team gekümmert und die meisten aktiven Spieler hatten ihre Abschlussprüfung gemacht und waren abgegangen.
Nur unter den Viertklässlern der Hufflepuffs war jemand, der Harry interessant schien. Geoffrey Rondstadt hatte vor zwei Jahren einiges Talent gezeigt, als Hufflepuff gegen Gryffindor gespielt hatte. Harry erinnerte sich noch gut daran, dass Geoffrey mehrmals den Klatscher ziemlich zielgerichtet auf ihn getrieben hatte, so dass ihm einige Chancen genommen wurden, den Schnatz zu fangen. Geoffrey hörte sich Harrys Wunsch in aller Ruhe an, dann jedoch sagte er:
„Dein Interesse ehrt mich. Du weißt aber sicher, dass das Quidditch-Team von Hufflepuff neu aufgebaut werden muss. Und ich fürchte, dass das als neuer Kapitän meine ganze Kraft in Anspruch nehmen wird.“
„Das verstehe ich schon“, meinte Harry, „aber ich muss aus jedem Haus mindestens einen Spieler dabei haben. Das sagt zumindest Professor McGonagall. Und ich kenne außer dir keinen von Hufflepuff, der so viel Ahnung von Quidditch hat, dass er in der Liga spielen könnte.“
„Liga? Hast du Liga gesagt?“ Geoffrey klang neugierig. Harrys Herz machte einen kleinen Hüpfer. Hatte er zufällig das Stichwort gesagt, mit dem er Geoffrey für seine Sache gewinnen konnte?
„Jaa!“, sagte er gedehnt und setzte einen leicht überlegenen Blick auf. „Wir machen zuerst ein Testspiel gegen Durmstrang, und dann wollen wir für die Liga trainieren. Professor McGonagall ist sich sicher, dass wir es schaffen. Sie hat schon mit Leuten vom NVQ gesprochen.“
Geoffrey sah ihn misstrauisch an. Der NVQ war der nationale Verband der Quidditch-Vereine. Er organisierte die jährlichen Spiele zum Britischen Pokal.
„Na, ich weiß nicht.“, meinte Geoffrey. „Selbst wenn wir das schaffen sollten, was meinst du, was für eine Arbeit das ist, für die Liga zu trainieren. Da wären wir ja nur noch auf dem Feld. Nein, Harry, beim besten Willen nicht. Das ist nichts für mich.“
Sofort bereute Harry seine Angeberei. Die Liga war zwar im Gespräch gewesen, aber lange nicht so, wie er es dargestellt hatte. Dass Professor McGonagall schon mit der britischen Quidditch - Organisation gesprochen hatte, war schlichtweg erfunden. Harry machte noch einen Versuch:
„Du kannst ja aufhören, wenn es dir zu viel wird.“, sagte er zaghaft. „Es geht mir ja erst einmal darum, dass wir das Spiel gegen Durmstrang machen können. Was meinst du?“
„Ich werde darüber nachdenken.“, antwortete Geoffrey etwas genervt. Er hatte keine Lust mehr darüber zu reden. Seiner Meinung nach, hatte er Harry deutlich zu verstehen gegeben, dass er kein Interesse hatte.
Harry ging deprimiert in den Gemeinschaftsraum der Gryffindors zurück. Viel hatte er nicht erreicht, und bis auf Roger und Linus von den Ravenclaws bestand das Team nur aus Gryffindor-Spielern. Professor McGonagall würde nicht sehr begeistert sein.
Die schlimmste Aufgabe stand Harry noch bevor. Er musste zu den Slytherins gehen, si in ihrem Gemeinschaftsraum aufsuchen, denn wegen ihres Streiks stand kaum zu erwarten, das er einen von ihnen irgendwo anders in dem Schloss treffen würde. Aber er schob es immer weiter hinaus. So verstrich das Wochenende, ohne dass er neue Ergebnisse vorzuweisen hatte.
Am Sonntag besuchten Ron, Hermine und er noch einmal Hagrid, verbrachten einige gemütliche Stunden bei Tee und den tellergroßen Plätzchen von Hagrids Mutter, und spielten ausgelassen mit den Woolwoodys, die in Hagrids Hütte frei herum turnten. Die Tiere hatten eine Menge Unsinn im Kopf, und wenn sie nicht so haarsträubend seltsam ausgesehen hätten, konnte man fast meinen, sie seien kleine Äffchen, die einen ausgeprägten Spieltrieb besäßen.
Als eines kopfüber an einem Deckenbalken baumelnd die Teekanne vom Tisch vom Tisch geangelt hatte und den Tee durch die ganze Hütte gespritzt hatte, stand Hagrid auf und schimpfte laut, aber mit einem lachenden Auge. Daraufhin zeigte sich, dass die Woolwoodys Meister in der Tarnung waren.
Der Übeltäter schwang sich zur Tür, öffnete sie und ließ sich nach draußen plumpsen. Wie ein Ball rollte er sich mit eingezogenen Armen und Beinen auf die Wiese und wurde langsam grün. Es sah aus, als würde es unsichtbar, es war nur noch an seinen Bewegungen zu erkennen, und als es schließlich liegen blieb, war es nicht mehr von der Umgebung zu unterscheiden. Die anderen hatten sich in die Ecken und Winkel gedrückt und imitierten Hagrids buntgecheckte Tagesdecke oder einen der Balken, mit denen die hohe Decke des Raumes abgestützt wurde. Über eine Stunde lang suchten sie nach dem Ausreißer, und wäre Ron nicht zufällig über die gut versteckte, grüne Kugel gestolpert, sie hätten es nie gefunden. Hagrid nahm das Woolwoody auf den Arm und sprach mit nie gehörter weicher Stimme auf das Kleine ein, bis es sich schließlich in den dicht verfilzten Bart kuschelte und leise fiepte.
Die drei waren begeistert. Ron konnte es nicht lassen, eine bissige Bemerkung zu Krummbein, Hermines Kater, zu machen.
„Magst du nicht so ein Tier zu deinem Haustier machen?“, fragte er mit ernster Miene. „Das würde uns das Leben um einiges leichter machen, als dein Katzenmonster!“
„Ron!...“, wollte Hermine aufbrausen, aber als sie sah, dass er plötzlich provokant grinste, stieß sie ihn heftig in die Seite und lachte mit.
Am Abend machte sich Harry noch einmal daran, seinen Bericht zu Ende zu schreiben. Hermine hatte das bislang fertig Geschriebene gelesen und sich im Großen und Ganzen damit einverstanden erklärt. Es sei nur viel zu ausführlich und würde ja schon fast ein Roman sein, sagte sie, betonte aber, dass sie es mit großem Vergnügen gelesen hätte. ‚Wenn nur Snape auch Vergnügen daran finden würde!’, dachte Harry, als er eine neue Rolle Pergament aus dem Koffer kramte und die Schreibsachen auf seinem Bett ausbreitete. Den ganzen Abend lag er da und dachte an seine Erlebnisse in Rumänien, und als die Anderen aus dem Gemeinschaftsraum heraufkamen, um zu Bett zu gehen, kratzte die Feder gerade die letzten Worte auf das Pergament. Harry betrachtete das Werk mit gewisser Zufriedenheit, dann rollte er es zusammen, legte es zu der anderen Rolle und ging zu Bett.
Am nächsten Morgen begegnete er in der Pause Professor McGonagall. Zuerst versuchte er, sich in einer Schar von Schülern zu verstecken, aber dem scharfen Blick der Lehrerin konnte man so leicht nicht entgehen.
„Potter!“, rieft sie mit ihrer schneidenden Stimme quer über den Flur. „Warten sie doch bitte, ich habe ihnen etwas mitzuteilen.“
Harry blieb stehen und ließ die Schüler an sich vorbei gleiten. Unsicher sah er die Professorin an.
„Guten Morgen erst einmal!“, sagte Professor McGonagall, als sie ihn erreicht hatte. „Ich habe gute Nachrichten für sie.“
„Das freut mich...“, presste Harry hervor. Er hatte eine Ahnung, was für gute Nachrichten das waren.
„Ich habe heute Morgen mit Professor Snape gesprochen. Über die Quidditch – Schulmannschaft. Wie weit sind sie denn damit gekommen?“
Harry berichtete in kurzen Worten von seinen Gesprächen. Er betonte dabei, dass die Schüler von Ravenclaw nicht geeignet waren und Geoffrey Rondstadt kein Interesse habe.
„Gut“, sagte Professor McGonagall mit einem leichten Seufzer. Sie legte Harry die Hand auf die Schulter und schob ihn mit leichtem Druck auf das Klassenzimmer zu. „Gerade eben habe ich von Professor Snape die Auskunft bekommen, dass sie morgen Nachmittag bei den Slytherins vorsprechen können. Arthur Bletchley und Draco Malfoy haben sich interessiert gezeigt. Ich denke, wenn wir diese Beiden noch für unsere Mannschaft gewinnen können, dann sollte es auch kein Risiko mehr sein, wenn wir in der zweiten Klasse der Hufflepuffs noch jemanden rekrutieren können. Was halten sie davon?“
Harry hatte kaum zugehört. Allein die Tatsache, dass er bei den Slytherins auftauchen und mit Malfoy und Bletchley verhandeln musste war schon schlimm genug. Aber dass das auch noch nach dem Unterricht von Professor Snape stattfinden sollte, war für ihn schlicht grauenhaft.
„Harry?“
Die schneidende Stimme von Professor McGonagall riss ihn aus seinen Gedanken.
„Ja, könnte sein!“, sagte er mit abwesendem Blick. Sie hatten nun die Tür zum Klassenzimmer erreicht.
„Ich muss jetzt in die Stunde!“, entschuldigte er und beeilte sich, den Raum zu betreten.
„Sie berichten mir, was das Gespräch ergeben hat?“, rief Professor McGonagall ihm noch hinterher. Dann kam zum Glück Professor Flitwick und schloss die Tür.
Am Dienstag Morgen fühlte Harry sich miserabel. Wieder hatte er eine katastrophale Nacht hinter sich. Er hatte von Draco Malfoy und seiner Mutter geträumt, den gleichen Traum, den er schon einmal geträumt hatte, nur viel deutlicher und schrecklicher. Schweißgebadet war er hochgeschreckt, und kaum dass er sich seiner Umgebung bewusst war, hörte er in seinem Inneren diesen eigenartigen Gesang. Alle versuche, diese Stimme von sich fern zu halten, alles Zuhalten seiner Ohren nützte nichts. Der Klang war klarer und deutlicher denn je und Harry hatte das Gefühl, als würde eine Alarmglocke schrillen.
Harry stand auf. Vor dem Fenster beschien der volle Mond eine mit Raureif überzuckerte Wiese. Es war eiskalt im Schlafsaal. Das Singen übertönte die Geräusche der schlafenden Anderen. Harry verließ den Saal und ging die Treppe hinunter in den Gemeinschaftsraum. Im Kamin glommen die Reste des heruntergebrannten Feuers und strahlten eine leichte Restwärme in den Raum.
Harry steuerte auf den Eingang zu. Der Gesang war unverändert laut, nur er wurde noch klarer, je mehr er sich der Hinterseite des Portraits näherte. Er stupste gegen die Leinwand und das Gemälde schwang auf.
„Musst du mich mitten in der Nacht wecken!?“, tönte von der anderen Seite her eine schläfrige Stimme.
„Entschuldigung“, murmelte Harry und trat aus der Öffnung. Auch hier war das Geräusch nicht lauter, als im Schlafsaal, nur es schien jetzt direkt in seinem Kopf zu entstehen und es begann sich in seine Gedanken zu schneiden, wie ein scharfes Messer. Es tat förmlich weh, und Harry schlug seine Beiden Hände auf die Ohren. Mit einem Mal verstummte der Gesang und es war totenstill. Harry schaute den Gang entlang, der durch die Fenster mit mildem Mondlicht gefüllt war. Wo war der Klang hin verschwunden? Verwundert schüttelte Harry seinen Kopf.
„Na, hast du jetzt erreicht, was du wolltest?“, fragte die fette Dame im Portrait beleidigt. „Und, was hat es gebracht? Ich bin jetzt wach.“
Damit schwang sie wieder zurück und verschloss den Eingang.
„Es tut mir leid.“, sagte Harry und drehte sich um. „Ich habe so ein komisches Geräusch gehört, und ich wollte nachsehen, ob es von hier draußen kommt. Aber ich habe mich wohl geirrt.“
„Das kann jeder behaupten!“, maulte die fette Dame und verzog das Gesicht. „Ich habe für solche Scherze nichts übrig.“
„Ich kann nur sagen, dass es mir leid tut.“, antwortete Harry und ging auf das Portrait zu. „Drachenstein!“
Das Passwort, das die fette Dame nach der Rückkehr von Ron, Hermine und Harry aus Rumänien vergeben hatte war immer noch gültig. Jedenfalls bis jetzt. Denn das Portrait bewegte sich keinen Millimeter.
„Lass mich bitte hinein.“, sagte Harry und unterdrückte ein Gähnen.
„Warum sollte ich?“, fragte die fette Dame mit unschuldiger Miene.
„Ich habe mich doch schon entschuldigt!“ Harry wurde langsam ärgerlich. Die fette Dame meinte, sich an Harry rächen zu können, indem sie von einem Moment zum Anderen das Kodewort für den Zugang geändert hatte. Es war kalt im Gang und Harry begann zu frieren. Er rieb sich die Arme, um ein wenig wärme zu erzeugen.
„Muss ich jetzt die ganze Nacht vor ihnen auf den Knien rutschen, dass sie mich hineinlassen?“, fragte er müde.
Die fette Dame verschränkte ihre Arme und starrte an die Decke. Harry wartete.
„Ich habe wirklich ein Geräusch gehört.“, begann nach einer Weile von Neuem. „Es war wie der Gesang des Phoenix. Ich wollte einfach nachschauen, ob ich mir das eingebildet habe, oder ob es wirklich da war.“
„So so, der Phoenix!“, sagte die fette Dame und erstaunlicherweise wirkte sie jetzt nicht mehr beleidigt, sondern aufmerksam. „Das ist seltsam...“
„Was ist seltsam?“, merkte Harry auf.
„Das Portrait vom alten Dippet erzählte mir, dass der Phoenix letztens gesungen hat...“
„Wann war das?“ Harry war aufgeregt. Sollte es wirklich der Phoenix sein, der ihn jetzt schon zum zweiten Mal aus dem Schlaf gerissen hatte?
„Ach Junge, was fragst du mich. Zeit ist für mich wie eine Wolke. Sie vergeht einfach... Wie soll ich mich erinnern, wann das war?“
„Das ist wichtig für mich!“, rief Harry fast. „War es vielleicht in der Nacht von letzten Mittwoch auf Donnerstag?“
„Lass mich nachdenken!“ Die fette Dame schwieg für einen Augenblick.
„Das kann sein“, sagte sie dann, „aber nagle mich nicht darauf fest. Doch, es war in der Nacht, denn Dippet sagte mir, dass er in der Nacht kein Auge zugetan hätte. Der Vogel sei die ganze Nacht wie wild im Büro herumgeklettert. Und auf seinen Rahmen sei er gestiegen und stell dir vor, er hat dann ganz ungeniert von dort herunter ge... gemacht.“
„Es ist doch der Phoenix gewesen!“, sagte Harry triumphierend. „Dann habe ich mich doch nicht geirrt!“
Die fette Dame sah ihn prüfend an. Dann sagte sie:
„Na gut. Das neue Passwort heißt ‚Rosenhain’. Du hast Glück, dass ich so ein großes Herz habe.“ Dabei legte sie ihre Hand auf den wogenden Busen.
Harry nannte das Passwort und wurde hinein gelassen. Seine Füße waren wie Eisklumpen. Er ging zum Feuer, legte ein paar Späne auf und blies in die Glut. Einen Moment später züngelte ein kleines Flämmchen auf, erfasste die Späne und loderte dann hoch. Harry legte sogleich ein paar Holzscheite in die Flammen, dann zog er sich einen Sessel heran und setzte sich. Die Füße legte er auf die immer noch warmen Steinplatten vor dem Kamin. Schnell wurde es ihm wieder warm.
Was wollte der Phoenix von ihm? Es schien ja sicher, dass nur er den Gesang gehört hatte. War Tom Riddle wieder aufgetaucht? Das konnte nicht sein, denn das Tagebuch war durch den Giftzahn des Basilisken für immer zerstört, und Tom Riddle somit für alle Ewigkeiten ausgelöscht worden. War es Voldemort, der wieder etwas plante? Nein, auch das kam nicht in Frage, seine Narbe war ein untrüglicher Sensor für Voldemort und hatte Harry noch nie im Stich gelassen.
Er beschloss, irgendeinen Vorwand zu benutzen, um Professor Dumbledore in seinem Büro aufzusuchen. Vielleicht würde er etwas Näheres erfahren, wenn er dem Phoenix gegenüber stand. Irgendeinen Grund musste es für das seltsame Benehmen von Fawks geben, denn ansonsten saß er tagein tagaus auf seiner Stange und wartete auf seine Verbrennung und sein Wiederauferstehen.
Harry wartete noch ein paar Minuten, bis seine Füße merklich wärmer geworden waren. Dann stand er auf, legte noch ein paar dicke Hölzer in das Feuer und ging zurück in den Schlafsaal. Alles war ruhig. Nur das gleichmäßige Schnaufen seiner Zimmergenossen war zu hören. Er legte sich unter seine Decke, zog sie bis zur Nase herauf und fiel bald in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Als Harry dann am nächsten Morgen aufwachte, fühlte er sich unendlich müde. Er wusste nicht, wie lange er in dieser Nacht gewacht hatte, aber nach dem brennen seiner Augen zu schließen, mussten es wohl einige Stunden gewesen sein. Sofort erinnerte er sich an das seltsame Gespräch mit der fetten Dame und an seinen Entschluss, möglichst bald Professor Dumbledore aufzusuchen und Kontakt mit dem Phoenix aufzunehmen. Mühsam erhob er sich aus seinem warmen Bett. Im Winter war die Luft im Schlafsaal morgens immer sehr kalt, erst im Laufe des Tages, wenn die Wärme des Gemeinschaftsraumes durch die offene Tür drang, wurde es erträglicher. Noch schlimmer war es im Badezimmer, und so beeilte er sich mit der Morgenwäsche.
Beim Frühstück gähnte er mehrmals und genoss es, dass er als inzwischen fünfzehnjähriger schon Bohnenkaffee trinken durfte. Das belebte ihn ein wenig, aber die Aussicht, heute wieder Unterricht bei Professor Snape zu haben drückte seine Stimmung ins Bodenlose. Mürrisch beantwortete er Hermines Frage, ob er mit seinem Bericht fertig geworden sei und er beteiligte sich nicht an dem fröhlichen Geschnatter, das um ihn herum herrschte.
Mit einem äußerst unguten Gefühl schlich er schließlich den Gang entlang zum Klassenzimmer. Die beiden Pergamentrollen hatte er in seine Tasche gesteckt. Schweigend setzte er sich auf seinen Platz neben Ron. Ron kannte Harry inzwischen ganz gut und wusste, dass man ihn, wenn er mit so einem Gesicht herumlief, am Besten in Frieden ließ. Wenige Minuten später kam Snape in das Klassenzimmer. Er schmiss seine Mappe auf das Lehrerpult, stellte sich vor die Klasse und verschränkte die Hände hinter seinem Rücken. Dann sah er die Schüler mit einem lauernden Blick an, bis auch der letzte sein Flüstern eingestellt hatte.
„Guten Morgen!“, zischte Snape kalt. „Ich habe mir ihre Aufsätze angesehen und ich muss sagen, dass sie meine Erwartungen bei weitem übertroffen haben. In den letzten vier Jahren haben sie so gut wie nichts über die dunklen Künste gelernt. Ihr Wissensstand ist katastrophal!“
Er begann, unruhig vor den Schülern hin und her zu laufen.
„Ich befürchte“, begann er aufs Neue, „dass unser junger Freund Harry Potter“ und den Namen betonte er mit besonderer Schärfe „der einzige ist, der schon einige Erfahrungen gemacht hat, was die dunklen Kräfte zustande bringen können. Allerdings wird auch sein Wissen nur äußerst rudimentär sein.
Das werden wir in diesem Schuljahr ändern. Sie können sich darauf einstellen, dass ich den Stoff der vergangenen Jahre mit ihnen bis zu den Sommerferien durchnehmen werde. Und ich werde sie prüfen. Ich gebe ihnen einen guten Rat:“
Jetzt wurde seine Stimme leise und drohend.
„Lernen sie so viel sie können. Ich gebe keinem eine zweite Chance. Und sie, Miss Granger, werden mit ihrem Büchereiwissen auch nicht weiter kommen, denn in diesem Jahr geht es um praktische Erfahrungen. Bilden sie sich nicht ein, dass sie mich mit oberlehrerhaften Wortmeldungen beeindrucken können.“
Snape kehrte zum Lehrerpult zurück und setzte sich. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. Scharf musterte er einen Schüler nach dem anderen. Dann fiel sein Blick auf Harry.
„Potter!“ Seine Stimme zerschnitt die Stille wie ein Peitschenhieb. „Haben sie ihren Bericht fertig?“
Harry wurde blass. Hastig kramte er in seiner Tasche und zog die beiden Pergamentrollen hervor.
„Hier...hier ist er!“, stotterte er und hielt sie hoch. Snape zog verwundert eine Augenbraue hoch. Für einen Augenblick wich seine finstere Miene ehrlicher Anerkennung.
„Sie überraschen mich.“, sagte er. „Ich hatte gesagt, das sie etwa zwei Meter schreiben sollen. Wo haben sie die Zeit her genommen, gleich zwei Rollen zu beschreiben?“
„Ich habe...ich...die Ereignisse sind so kompliziert, dass ich nicht weniger schreiben konnte, um sie alle aufzuschreiben.“
Snape streckte seine Hand aus und bedeutete Harry, ihm die Rollen zu bringen. Harry stand auf und brachte sie nach vorne. Er wollte sich wieder zu seinem Platz begeben, doch Snape hielt ihn zurück.
„Warten sie!“, sagte er scharf.
Harry blieb unschlüssig stehen. Snape nahm die Rolle, auf die eine große Eins gemalt war, löste das Band, das sie zusammen hielt und begann, den Text zu überfliegen. Nach einer Weile sagte er:
„Alles Geschwafel! Ich wollte von ihnen einen Bericht, und keinen Roman. Zugegeben, ihr Stil ist nicht schlecht, aber er passt nicht in meinen Unterricht. Sei’s drum. Ich möchte, dass sie der Klasse vorlesen, was in dem Kloster geschehen ist. Ich nehme an, es ist auf der zweiten Rolle.“
Er reichte Harry die Rolle, und Harry löste das Band. Nach einigem Suchen hatte er die Stelle gefunden und begann zu lesen. Harry nannte ohne zu zögern den Namen des dunklen Lord und jedes Mal, als der Name fiel, zuckten einige Schüler zusammen. Snape dagegen hörte aufmerksam zu und hier und da schlich sich ein gemeines Grinsen in sein Gesicht. Als Harry von den Ratten vorlas, die Voldemort auf ihn gehetzt hatte, hielten die Schüler den Atem an. Schließlich kam er zu der Stelle, an der Voldemort den Drachenstein fand und aufhob. Snapes Gesicht drückte höchste Aufmerksamkeit aus.
Nachdem Harry die Zerstörung des Zauberstabes beschrieben hatte, hob Snape die Hand und zischte:
„Bis hier hin. Geben sie mir den Bericht und setzen sie sich!“
Harry kehrte zu seinem Platz zurück. Alle sahen ihn mit Bewunderung an. Der Bericht war sehr eindrucksvoll und ohne jede Beschönigung geschrieben. Das fand bei den Schülern Anerkennung.
„So!“, begann Snape. „Jetzt wissen wir, was sich in dem Kloster zugetragen hat. Und wir wissen noch etwas. Voldemort ist nicht besiegt, es ist ihm nur ein Werkzeug genommen worden. Stimmt es, Potter, dass der Zauberstab der ist, der einst Salazar Slytherin gehört hat?“
Harry durchfuhr es eiskalt. Vor dieser Frage hatte er sich den ganzen Morgen und die ganze letzte Woche gefürchtet.
„Ja.“, sagte er schwach.
„Ist es möglich“, fragte Snape gedehnt, „dass der Verlust dieses Zauberstabes nicht nur Voldemort die Macht nahm, sondern auch Einfluss auf unsere Schule hat?“
Dabei sah er Harry mit stechenden Augen an. Harry wollte am liebsten unter seiner Bank versinken.
„Du kannst nichts dafür!“, flüsterte eine Stimme hinter ihm. Es war Hermine, die genau so wie er befürchtete, dass Snape seine Schlüsse weiter ziehen würde. Snape begnügte sich jedoch damit, Harry in Angst versetzt zu haben. Er grinste leicht, dann stand er auf und stellte sich vor die Klasse.
„Ich habe bemerkt, dass sie alle bei dem Namen Voldemort“ – den Namen dehnte er besonders – „das große Zähneklappern bekommen. Das ist nur ein Ausdruck ihrer Verweichlichung. Sie werden sich daran gewöhnen müssen, diesen Namen auszusprechen. Nur wenn sie die Angst vor Voldemort verlieren, haben sie eine Chance gegen ihn zu bestehen. Es scheint, als sei unser kleiner Draufgänger Voldemort furchtlos entgegengetreten, was ich nicht glaube, denn ich bin überzeugt, dass es nur bodenloser Leichtsinn und reine Selbstüberschätzung war. Und in seinem Leichtsinn hat er einige gravierende Fehler gemacht.
Nehmen wir zum Beispiel die Ratten. Die einzig richtige Antwort wäre eine Schar Greifvögel gewesen. Der Versuch mit der Feuerwand war geradezu lächerlich. Damit haben sie Voldemort nur gezeigt, dass sie ihm hoffnungslos unterlegen sind. Und nahezu tollpatschig war, dass sie den Stein verloren haben. Man muss sich das vorstellen: Da hat jemand einen der mächtigsten magischen Gegenstände, und hat nichts Besseres zu tun, als ihn zu verlieren. Dass sie das überlebt haben, verdanken sie nur ihrem unverschämten Glück!“
Die Klasse hielt den Atem an. In Harry begann der Ärger hoch zu kochen. Mühsam hielt er sich zurück. Am liebsten hätte er Snape angeschrieen. Aber er wusste, dass Snape es nur darauf anlegte, dass Harry die Kontrolle über sich verlor. Dann hätte er eine Gelegenheit gehabt, Harry eine Strafarbeit aufzubrummen. Inzwischen kannte Harry Professor Snape so gut, dass er ihn in dieser Beziehung durchschaute und nicht mehr so reagierte wie früher. Ein hasserfülltes Lächeln zog sich um die schmalen Lippen von Snape. Auch er kannte Harry und wusste, was in ihm vor ging. Er genoss es, Harry bis an den Rand der Weißglut zu reizen, in dem Wissen, dass Harry all seine Kraft aufbot, gelassen zu wirken.
Zum Glück beendete der Gong die Stunde und alle atmeten auf. Harry war froh, dass er ungeschoren davon gekommen war. Er wollte gerade aufstehen, und sich seine Tasche über die Schulter werfen, als Snapes Stimme noch einmal die Luft zerschnitt.
„Potter!“, sagte er kalt, „Professor McGonagall hat mich angesprochen, dass sie noch Spieler für die Schulmannschaft suchen. Sie können heute Nachmittag um zwei Uhr in den Turm der Slytherins kommen. Bletchley wird vor dem Eingang auf sie warten, und sie hineinlassen. Ich erwarte, dass sie wenigstens zwei unserer Spieler in das Team aufnehmen.“
Harry nickte.
„Zwei Uhr...“, sagte er, dann lief er aus dem Raum.
Obwohl zu Mittag die köstlichsten Speisen aufgefahren wurden, stocherte Harry lustlos und ohne Appetit auf seinem Teller herum. Nur der knurrende Magen veranlasste ihn, ein paar Bissen zu sich zu nehmen. Zu sehr lag ihm der Termin um zwei Uhr auf der Seele. Er wünschte sich, es wäre Abend und er würde mit Magister Baumann und den anderen aus seiner Klasse diese magischen Schattenpilze auf der Wiese suchen. Magister Baumann war in jedem Falle in diesem Schuljahr die angenehmste Lehrerin, wenn man einmal von Hagrid absah, der aber eher zu den persönlichen Freunden gezählt wurde.
Es war nicht nur die Aufgabe, sich in die Höhle des Löwen zu wagen, ein mal war er schon in den Räumen der Slytherins gewesen, damals, als er herausfinden wollte, ob Malfoy der Erbe von Slytherin war, sondern er fürchtete sich davor, dass die Quidditch-Spieler von Slytherin ihm in der Schulmannschaft das Leben zur Hölle machten. Zu gut kannte er Draco und Flint und auch Bletchley, der sich als äußerst unfairer Spieler erwiesen hatte.
Nach dem Essen machte er einen kleinen Spaziergang vor dem Schloss. Die frische und kalte Luft tat gut. Sie fegte durch seinen Kopf und blies die schweren Gedanken beinahe weg. Als er kurz vor zwei Uhr die Treppe zum Portal hinaufstieg, fühlte er sich ein wenig besser. Oben blieb er kurz stehen, holte noch einmal tief Luft, dann öffnete er die Tür und ging mit großen Schritten durch die Eingangshalle. Der Eingang zu den Gemächern der Slytherins lag in einem Kellergang, der gespenstisch mit flackernden Fackeln ausgeleuchtet wurde. Wahrscheinlich lag es daran, dass der Slytherin-Turm zwar der mächtigste, aber auch der niedrigste der vier Türme war, in denen die Häuser von Hogwarts untergebracht waren. Vermutlich musste der Gemeinschaftsraum deshalb in das Untergeschoss verlegt werden. Harry ging den langen, düsteren Gang entlang und hörte das Hallen seiner eigenen Schritte. Vor dem Gemälde, das die Tür zu dem Gemeinschaftsraum verschloss, stand, mit verschränkten Armen an die Wand gelehnt Bletchley und grinste Harry schon von weitem an.
„Hallo.“, sagte Harry unsicher.
Bletchley nickte nur kurz, löste sich von der Wand und murmelte das Passwort. Harry verstand es nicht, aber es interessierte ihn auch nicht sonderlich. Das Gemälde schwang auf und gab die Öffnung zum Gemeinschaftsraum frei. Bletchley trat einen Schritt zurück, bedeutete Harry mit der Hand, einzutreten und stieg nach ihm durch die Öffnung. Das Gemälde fiel mit einem Krachen wieder zu.
In dem Gemeinschaftsraum hatten sich offensichtlich alle Slytherins versammelt. Sie standen in einem Halbkreis um Harry herum, in der Mitte stand Draco Malfoy, links und rechts von ihm Crabbe und Goyle wie zwei Leibwächter. Sie hatte äußerst dämliche Mienen aufgesetzt, anscheinend wollten sie aufmerksam und wichtig wirken. Kaum war Harry eingetreten, schloss sich der Kreis hinter ihm. Ein komisches Gefühl schlich seinen Rücken hinauf.
Die Slytherins ließen sich Zeit und sahen Harry unverwandt an. Verlegen trat er von einem Bein aufs andere.
„Hallo.“, sagte er noch einmal und blickte unsicher in die Runde. „Äh, ich, äh...ich bin gekommen...weil...“
Harry machte eine kleine Pause um seine Gedanken zu sammeln. Warum hatte er sich auch keine Gedanken gemacht, was er sagen wollte. Er ärgerte sich über seine Nachlässigkeit. Er straffte sich.
„Äh, ich bin gekommen, weil ich euch fragen wollte, ob ihr in der Schulmannschaft mitmachen wollt...“
Wieder kam nur Schweigen.
„Ihr wisst doch, dass ich eine Schulmannschaft aufbauen soll, oder?“
Jetzt trat Draco einen Schritt vor. Gedehnt sagte er:
„Wir wissen es schon, dass du dich wieder einmal profilieren willst.“
„Nein, ..., so ist das nicht.“ Harry schüttelte den Kopf. „Professor McGonagall möchte das...“
„Hört, hört!“, grinste Draco. Er ging auf Harry zu und baute sich vor ihm auf. Draco war im letzten Jahr gewachsen. Jetzt war er etwa einen halben Kopf größer als Harry, dabei schlank und bleich und mit fadendünnem blonden Haar, dass er manchmal fast wirkte, als wäre er nicht von dieser Welt. Er sah zu Harry herab und sein Blick strahlte die Arroganz eines Jungen aus, der sein Leben lang auf andere herabsehen konnte, weil er aus einer sehr reichen Familie kam.
„Ich frage mich“, sagte Draco herablassend, „welchen Grund McGonagall haben könnte, ausgerechnet dich damit zu beauftragen. Du bist ein Nichts, wie dein Vater, nur ein dummer Zufall hat deinen Namen an die Öffentlichkeit gespült. Welchen Grund kann sie gehabt haben?“
„Dir steht nicht zu, etwas über meinen Vater zu sagen!“, rief Harry ärgerlich. Draco lächelte einen Augenblick, dann gefror sein Gesicht.
„Dein Vater interessiert mich nicht. Im Moment, glaube mir, interessierst nur du mich.“
Harry schloss für eine Sekunde die Augen, atmete tief durch, dann sagte er mit ruhiger Stimme:
„Hör zu, Draco. Ich möchte mich nicht mit dir streiten. Ich habe nur ein Interesse, und das ist die Schulmannschaft. Rein von der sportlichen Seite. Ja? Verstehst du mich? Oder schwebst du schon so über den Anderen, dass man Latein mit dir reden muss?“
Wieder lächelte Draco.
„Der wird frech, soll ich ihm einen auf die Glocke geben?“, meldete sich Goyle und trat einen Schritt vor.
„Halts Maul!“, herrschte Draco ihn an. Dann wandte er sich wieder an Harry.
„Gut. Du willst also über Quidditch mit uns reden. Sei’s drum. Also?“
Harry atmete auf. Einen Augenblick hatte er geglaubt, Draco wolle ihn angreifen. Dann hatte Snape wohl doch nicht mit ihnen über seinen Bericht gesprochen. Aber ganz offensichtlich wollte er sich nur vor den Slytherins profilieren.
„Ja“, begann Harry und überlegte, wie er es am besten sagen konnte. „Eigentlich war es die Idee von Victor Krum. Er hat vorgeschlagen, dass die Schulmannschaft von Durmstrang einmal gegen Hogwarts spielen sollte.“
Er machte eine kurze Pause und wartete die Reaktion der Slytherins ab. Die standen jedoch mit unbeweglichen Gesichtern um ihn herum. Nur Draco nickte. Beruhigt fuhr Harry fort.
„Dumbledore hat es McGonagall erzählt, und die hat mir gesagt, ich solle mich um den Aufbau einer Schulmannschaft kümmern. Sie würde uns auch helfen, dass wir, wenn wir gut sind, in die Liga kommen.“
Jetzt zeigten einige Slytherins eine Reaktion. Hier und da wurde kurz miteinander geflüstert. Harry fühlte, dass er auf dem richtigen Weg war.
„Ich habe bereits mit den Ravenclaws und den Hufflepuffs gesprochen. Euch habe ich leider seit einer Woche nicht gesehen, sonst wäre ich früher auf euch zu gekommen.“
„Gut. Und wer macht mit?“, fragte Draco kurz.
„Von den Ravenclaws wird Roger Davies mitmachen. Als Treiber. Und Linus Lonnigan könnte Hüter werden. Vielleicht bekommen wir auch Geoffrey Rondstadt von den Hufflepuffs. Aber er ist der Einzige von ihnen, der in Frage kommt. Und aus Gryffindor werden noch Angelina Johnson und Katie Bell mitmachen. Und ich natürlich.“
„Und du natürlich!“, wiederholte Draco.
„Ja!“, sagte Harry verwundert. „Sollte ich nicht mitmachen?“
„Ich sehe nur, dass du dir wieder einmal die Rosinen herauspickst. Ich würde wahrscheinlich sogar mitmachen. Aber nur als Sucher!“ Draco grinste ganz eigenartig, als wäre er noch nicht ganz fertig. Er hatte irgend etwas vor, und Harry, der das sehr wohl bemerkte, begann, sich unwohl zu fühlen. Auf der Anderen Seite hatte er vielleicht die Chance, Draco von der Schulmannschaft fern zu halten, und das war ihm durchaus recht. Im Vergleich zu Draco waren ihm die anderen Slytherins fast sogar sympathisch.
„Das wird nicht gehen.“, sagte er daher mit fester Stimme. „Den Sucher der Schulmannschaft werde ich machen. Aber wir brauchen noch zwei Treiber und einen Jäger. Überleg es dir.“
Dracos Augen verengten sich zu Schlitzen. Er trat ganz dicht an Harry heran.
„Du hast mich nicht verstanden, Potter.“, sagte er leise und drohend. „Es wird keine Schulmannschaft geben, an der du teilnehmen wirst, wenn Slytherins mitspielen sollen.“
„Was soll das?“, fragte Harry verärgert und wich einen Schritt zurück. „Auf dich kann ich sehr gut verzichten, Malfoy. Du bist eh kein guter Spieler. Du kannst nur mit Fowls gewinnen!“
Draco lächelte ihn arrogant an. Dann winkte er Crabbe zu sich.
„Zeig’s ihm!“, sagte er gelassen.
Crabbe kam zu den Beiden, griff unter seinen Umhang und holte zwei Rollen Pergament hervor. Langsam und genüsslich rollte er eines der Pergamente auf und hielt es Harry unter die Nase.
„Kennst du das?“, fragte Draco mit triumphierendem Unterton in seiner Stimme. Harry starrte auf das Pergament. Ein eisiger Schreck war ihm in die Glieder gefahren.
„Wo...woher habt ihr das?“, stammelte Harry.
„Nun, sagen wir, wir haben es gefunden. Es ist ein ganz netter Bericht. Wir haben auch gelesen, wie es zu der Schulmannschaft gekommen ist. Du hast uns nichts Neues erzählt. Wir haben noch etwas gelesen. Du ahnst, was?“
Harry schüttelte den Kopf. Seine Gedanken waren wie gelähmt. Snape! Schoss es ihm durch den Kopf. Snape hat es tatsächlich getan!
„Habt ihr das von Snape bekommen?“, fragte er fassungslos.
„Wenn du es genau wissen willst“, antwortete Draco, „wir haben es ihm abgenommen. Ein kleiner Tipp vom Baron! Also, wie war das noch mit dem Zauberstab von Salazar Slytherin?“
„Wenn ihr es schon gelesen habt, warum fragst du dann noch?“, fragte Harry mit dem Mut der Verzweiflung. Er hatte plötzlich das Gefühl, in eine Falle geraten zu sein, aus der es kein Entrinnen mehr gab. Instinktiv ballte er seine Hände zu Fäusten, bereit sich mit allen Mitteln zu verteidigen.
„Er sagte, dass da etwas über den Zauberstab von Salazar Slytherin drin stände“, sagte Draco gelassen, „was uns interessieren würde. Und er hat recht behalten. Ich nehme an, du weißt, was es mit diesem Zauberstab auf sich hat?“
Draco sah Harry prüfend an. Harry fühlte eine Eiseskälte seinen Rücken empor steigen. Unsicher sah er sich um, musste aber feststellen, dass die Slytherins einen engen Kreis um ihn geschlossen hatten.
„Natürlich...“, antwortete er zögerlich. „Es ist ein Zauberstab mit einem Kern aus dem Pulver eines Drachensteins. Ein sehr mächtiger Zauberstab, den Voldemort dafür verwenden wollte, mich zu töten.“
„Ja sicher, ein mächtiger Zauberstab...“, wiederholte Draco. „Kennst du die Bedeutung des Zauberstabes?“
Harry setzte eine möglichst unschuldige Miene auf.
„Was soll er für eine Bedeutung haben?“, fragte er. „Es ist ein Zauberstab mit Drachensteinkern gewesen. Ein sehr mächtiger Zauberstab...“
„Ja, ein sehr mächtiger Zauberstab“, wiederholte Draco. Sein Gesicht verfinsterte sich. „Ein Zauberstab mit einer besonderen Bedeutung für das Haus Slytherin.“
„Ach, wirklich?“
Draco trat einen Schritt auf Harry zu. Seine Augen blitzten.
„Willst du mir wirklich weis machen, dass du es nicht weißt?“, zischte er wütend. „Was war letzte Woche in dem Mädchenklo der maulenden Myrthe?“
„Wieso? Nichts war...“
„Doch!“, rief Draco triumphierend. „Myrthe hat dir von der Reliquie erzählt. Und du hast sofort gewusst, dass es sich um den Zauberstab handelte. Du wusstest, dass es an dem Zauberstab lag, dass wir in diesem Jahr keine neuen Schüler bekommen haben. Du hast es schon gewusst, als du bei diesem Henry warst. Du und dein Freund Perpignan habt euch das ganz fein ausgedacht. Ihr habt die ganze Zeit gewusst, was es mit dem Zauberstab auf sich hat. Ihr wusstet, dass er für den Erhalt von Slytherin lebensnotwendig war. Du hast nur eine Gelegenheit gesucht, uns zu schaden. Und das ist dir gelungen!“
„Ich hatte keine Ahnung davon!“, rief Harry und wich einen Schritt zurück. „Kannst du dir vielleicht vorstellen, dass ich mit Voldemort ein ernstes Problem habe? Ihr Slytherins interessiert mich nicht die Bohne.“
Harry begann ebenfalls wütend zu werden. Er drehte sich um und wollte zum Ausgang gehen. Aber die Slytherins hatten einen dichten Ring um ihn gezogen. Sie standen wie eine Mauer vor ihm und feixten ihn an.
„Jetzt werden wir dir zeigen, was passiert, wenn man sich mit den Slytherins anlegt!“, hörte er Draco hinter sich sagen.
Harry versuchte sich einen Weg durch die eng stehenden Slytherins zu bahnen. Vielleicht schaffte er es zum Ausgang zu kommen, wenn er jetzt schnell loslief. Aber der Kreis hatte sich so eng geschlossen, dass er schon von den Ersten aufgehalten wurde. Er versuchte, sich hindurch zu kämpfen, aber duzende Arme griffen nach ihm und rissen ihn zu Boden. Schon waren Crabbe und Goyle da, die nur auf ein Signal gewartet hatten, und stürzten sich auf ihn. Crabbe setzte sich mit seinem ganzen Gewicht auf seine Brust und drückte seine arme auf den Boden. Dann hagelten Schläge und Tritte auf ihn ein.
Mit einem Mal hörte Harry einen schrillen Ton, fast wie eine Alarmglocke. Es war der Gesang des Phoenix, der immer lauter und schriller wurde. Er begann, in seinen Ohren zu schmerzen und bohrte sich in sein Bewusstsein, dass er den Schmerz der Schläge kaum noch spürte. Harry keuchte, dann begann er zu schreien. Der Gesang wurde immer lauter, dröhnender, er begann sein Gehirn aufzufressen und Harry fühlte seinen Schädel platzen. Ein bohrender Schmerz breitete sich hinter seiner Stirn aus, nicht so, wie wenn seine Narbe brannte, viel tiefer und viel eindringlicher. Der Schmerz nahm ihm seine Gedanken.
Wild warf er den Kopf herum. Mit schier übermenschlicher Kraft schaffte er es, Crabbe abzuwerfen, aber nun war seine Brust frei und die Schläge trommelten auf seine Rippen. Harry versuchte, sich zusammen zu krümmen, schützend seine Arme vor seinen Bauch zu halten, aber der Schmerz in seiner Stirn lähmte ihn. Er riss die Augen auf, vor denen sich ein roter Schleier breit machte. Da sah er Draco. Draco hatte die Hände hoch gerissen und hielt sich seine Ohren zu. Auch er schrie und sein Gesicht spiegelte den Schmerz wieder, der hinter seiner Stirn toben musste. Draco hob seinen Kopf und sein Blick traf den von Harry. Augenblicklich verschwand der Schmerz in Harrys Kopf. Das Klingen des Gesangs wurde erträglicher und dann hatte Harry das Gefühl, in Dracos Kopf schauen zu können. Er sah Dracos Gedanken, seine Verwunderung. Und er wusste, dass Draco in seinen Kopf sah. Dann verlor er das Bewusstsein.
„Sehen sie, Professor, er wacht auf.“ Harry hörte die Stimme von Madame Pomfrey. „Jetzt müssen wir nur noch ein Bisschen warten, dann ist der junge Malfoy auch wieder unter uns.“
Harry schlug die Augen auf. Sein ganzer Körper schmerzte dumpf. Aber Harry dachte nicht an die Schläge, die er von den Slytherins empfangen hatte. Etwas viel eindrucksvolleres schob sich in sein Gedächtnis. Er hatte eine seltsame Erinnerung, keineswegs ein Traum, der sich vor seinen Augen abgespielt hatte, es war viel realer gewesen. Er und Draco waren durch einen endlosen dunklen Raum geschwebt. Sie hatten sich an den Händen gehalten und ihr Bewusstsein hatte sich vereint. Harry hatte aus Dracos Augen seine kranke Mutter gesehen, die bleich und abgemagert, fast durchscheinend wie der Tod unter den weißen Laken ihres Bettes gelegen hatte.
Er wusste, dass Draco durch seine Augen Henry und die Höhle, in der er den Drachenstein gefunden gesehen hatte. Er wusste, dass Draco in seinem Körper dabei war, wie er auf Voldemort gestoßen war. Was war geschehen? Wieso hatte er sich mit Draco verbinden können, wieso ausgerechtet mit diesem Draco, den er hasste wie die Pest?
Dann waren sie vor dem Phoenix gestanden, der riesenhaft wie ein Drache herunter geschwebt und vor ihnen gelandet war.
‚Fawks!’, hatte Harry gerufen. ‚Was ist los Fawks?’
Die Stimme des Phoenix hatte einen seltsamen und unwirklichen Klang gehabt. So, als würden sie in einer großen Kathedrale stehen, ganz am Ende und Fawks am Altar. ‚Habt keine Angst!’, hatte der Phoenix gesagt. Seine Stimme hatte sich im endlosen Raum verloren. Draco hielt immer noch die Hand von Harry. Er hatte sie gedrückt und Harry angelächelt.
Harry schüttelte sich bei der Erinnerung. Draco und lächeln? Höchstens, wenn er wieder etwas gemeines vor hatte! Aber das war ein freundliches Lächeln gewesen.
‚Es ist an der Zeit, dass ihr den gemeinsamen Weg findet.’, hatte der Phoenix gesagt. ‚Nur ihr zwei seid in der Lage Slytherin zu retten.’
‚Wie?’, hatte Harry erstaunt gefragt.
‚Ihr werdet den wahren Erben von Slytherin finden. Jeder von euch wird einen Teil dazu beitragen. Jeder von euch wird dem anderen etwas geben, um eure Kraft zu vereinen. Du Draco und du Harry, ihr werdet eure Feindschaft begraben müssen, denn nur zwei Freunden ist es erlaubt, die Lösung zu finden.’
‚Aber, warum kann ich den nicht mit Ron...wir sind doch Freunde?’
‚Du Draco bist der, der die Macht hat. Du Harry bist der, der das Wissen hat. Nur gemeinsam könnt ihr den Weg gehen.’
Damit breitete der Phoenix seine Flügel aus und schwang sich in die Luft. Immer kleiner wurde er, und schließlich verschwand er in der Endlosigkeit. Dann hatte Harry die Stimme von Madame Pomfrey gehört.
„Ich danke ihnen, Poppy.“, sagte Professor Dumbledore. Er stand auf der einen Seite des Bettes und blickte freundlich zu Harry hinab. „Hallo Harry, da bist du ja wieder.“
Madame Pomfrey stand auf der anderen Seite des Bettes, in dem Gang, der zwischen Harrys und dem Bett lag, in dem Harry zu seiner Überraschung Draco liegen sah. Draco war bleich wie immer, nein, noch bleicher, mit fast wächserner Haut. Er begann sich gerade zu bewegen.
„Da sehen sie, Professor, auch Draco kommt wieder zu sich.“, sagte sie.
„Dann bin ich ja froh.“, entgegnete Professor Dumbledore. „Hallo Draco, wie geht es dir?“
Draco richtete sich auf, wurde aber sofort von Madame Pomfrey wieder in die Kissen zurück gedrückt.
„Sie bleiben schön brav liegen!“, sagte sie in strengem Ton. „Solange wir nicht wissen, was ihnen fehlt, dürfen sie sich auf keinen Fall anstrengen!“
„Poppy, ich bitte sie!“, sagte Dumbledore begütigend. „Es geht ihm doch anscheinend wieder ganz gut. Seien sie doch nicht gar so streng mit den Jungs.“
„Mein lieber Dumbledore. Noch bin ich hier in diesem Hause für die Gesundheit der Schüler verantwortlich. Und so lange überlassen sie es bitte mir, zu entscheiden, ob jemand liegen bleiben muss oder nicht.“
Dumbledore sah sie über den Rand seiner halbmondförmigen Brille an und lächelte. Dann beugte er sich über Harrys Bett und sah Harry ernst an.
„Was ist passiert?“, fragte er. „Ron Weasley kam ganz aufgeregt in das Lehrerzimmer gelaufen und hatte großes Glück, dass er auf Professor Trelawney gestoßen ist. Sie ist gleich zu mir gekommen und wir sind hinunter zum Eingang des Slytherin-Hauses gelaufen. Es war eigenartig, Die ganzen Slytherin-Schüler standen im Kreis um euch beide herum, und ihr beide habt auf dem Boden gelegen und euch nicht mehr gerührt. Habt ihr euch gestritten?“
„Nein...äh, ja, nein, eigentlich nicht.“, Harry versuchte eine Erklärung zu finden. Er schaute kurz hinüber zu Draco, der aber auf dem Rücken lag und die Decke anstarrte.
„Es war so...“, begann Harry. „Ich wollte mit den Slytherins über die Schulmannschaft reden. Professor McGonagall hatte Professor Snape gefragt, und Professor Snape hat mir einen Termin bei den Slytherins verschafft. Wir haben dann noch über den Streik geredet, und auf einmal habe ich so ein komisches Geräusch gehört, das immer lauter geworden ist. Das wurde dann so laut, dass ich ohnmächtig geworden bin.“
„Hm“, machte Dumbledore. „Könnte es wie eine Glocke geklungen haben?“
„Ja, woher wissen sie das?“
„Hm, nun, ich war in meinem Büro, als es passiert ist. Du kennst ja den Phoenix. Es war sein Gesang. Er war außerordentlich unruhig und ist immer im Büro herumgeflattert.“
„Aber, warum sind sie denn nicht ohnmächtig geworden? Das muss in ihrem Büro ja noch viel lauter gewesen sein!“
Dumbledore lächelte geheimnisvoll.
„Das, mein lieber Harry, ist eines der Geheimnisse des Phoenix. Er kann sich direkt in die Gedanken einschalten. Daher habe ich von alledem nur mitbekommen, dass er unruhig war. Aber ich habe mir schon gedacht, dass irgendetwas gelaufen ist. Ich wusste nur nicht, was.“
Er sah Harry freundlich an, dann hob er seinen Blick, schaute zu Draco hinüber und sagte:
„Jetzt werde ich mich einmal um den jungen Mr. Malfoy kümmern. Es ist schon seltsam, dass er genau so betroffen ist, wie du.“
Damit ging er hinüber zu Dracos Bett. Harry war froh, dass Dumbledore ihn nicht weiter ausgefragt hatte. Irgend etwas hatte ihn zurück gehalten, Dumbledore von dem Überfall der Slytherins zu erzählen. War es die Anwesenheit von Draco? Oder hing es mit seinem seltsamen „Traum“ zusammen? Harry wusste es nicht.
Dumbledore ließ sich von Draco erzählen, was aus seiner Sicht passiert war. Draco versuchte, die Geschichte so zu erzählen, dass es für ihn nicht allzu unangenehm wurde. Die unangenehme Szene im Gemeinschaftsraum der Slytherins unterschlug er gänzlich und schloss sich damit Harrys Version an. Als er jedoch über den Gesang des Phoenix und über seinen Traum berichtete, wurde Harry aufmerksam. Natürlich erzählte er nicht, dass er und Harry sich an der Hand gehalten hatten, das wäre ihm doch zu peinlich gewesen, aber was die Prophezeiung des Phoenix anging, deckte sich seine Erzählung haargenau mit dem, was Harry im Traum erlebt hatte. Dumbledore bemerkte, wie Harry aufmerksam wurde, sich auf die Ellenbogen stützte und zuhörte. Er sah Harry fragend an und sagte:
„Du hast das Gleiche erlebt! Sehr seltsam.“
Harry nickte nur. Dumbledore lächelte wieder.
„Ich habe übrigens noch eine gute Nachricht. Die Slytherins haben ihren Streik aufgegeben. Es weiß zwar keiner außer euch beiden, was genau vorgefallen ist, aber es muss sie sehr beeindruckt haben. Mr. Flint hat mir, als wir euch hier her gebracht haben, gesagt, dass sie den Streik beenden wollen.“
Draco nahm die Nachricht ohne eine Regung entgegen. Harry jedoch merkte auf.
„Wenn sie den Streik beendet haben“, überlegte er, „dann können wir ja vielleicht doch noch nach London fahren, und Besen kaufen!“
„Ja, Harry. Das können wir. Ich denke, wir sollten es gleich in der nächsten Woche tun. Lass uns zuerst das Hall oween-Fest hinter uns bringen. Hagrid wird mit uns beiden fahren. Er freute sich so sehr darauf, wieder mal im Tropfenden Kessel einen Humpen Ale zu trinken.“
Harry freute sie ungemein. Fast klatschte er in die Hände, und für einen Moment vergaß er, dass ihm jeder Knochen im Leib weh tat.
„Gut. Ich werde euch mal allein lassen.“, sagte Dumbledore. „Erholt euch gut, und ich hoffe, ihr seid heute Abend wieder fit.“
„Keine Sorge.“, meldete sich Madame Pomfrey. „Ich fürchte nur, dass der junge Potter noch eine Weile einen mächtigen Muskelkater haben wird, nach den vielen blauen Flecken zu schließen, die wir alle entfernt haben.“
Dumbledore zwinkerte Harry noch einmal zu, dann verließ er das Krankenzimmer. Madame Pomfrey holte aus ihrem Behandlungszimmer zwei Gläser mit einer trüben rosafarbenen Flüssigkeit. Sie stellte jedem ein Glas auf den Nachttisch und meinte:
„Das sollten sie noch trinken. Es wird sie stärken und die Nachwirkungen ihres Unfalls ein wenig lindern. Vielleicht schlafen sie ja noch ein Stündchen, dann können sie wieder aufstehen. Bei ihnen, Harry muss ich allerdings sagen, dass sie sich in den nächsten Tagen schonen sollten. Ich weiß nicht, warum sie so viele Blessuren davon getragen haben, und Mr. Malfoy keine. Haben sie auf dem Tisch gestanden, als es passiert ist?“
Harry nickte. Draco grinste.
„Ich sehe schon.“, sagte Madame Pomfrey mit einer Mischung aus Strenge und Mütterlichkeit. „Ein kleines Geheimnis...“
Sie rauschte davon. Jetzt setzte Harry sich auf und schaute zu Dracos Bett hinüber. Draco hatte sich wieder in die Kissen fallen lassen und starrte nun unverwandt zur Decke.
„Hast du das selbe geträumt, wie ich?“, fragte Harry vorsichtig.
Draco drehte seinen Kopf zu Harry. Misstrauen und Verachtung lagen in seinem Blick.
„Sieht so aus.“, meinte er.
„Aber warum?“, fragte Harry. „Warum ausgerechnet wir beide?“
„Weiß ich’s? Du kannst Fragen stellen...“
„Was meinte der Phoenix damit, du hast die Macht und ich das Wissen? Ich verstehe das nicht. Meint er, dass wir beide den Zauberstab zurückzaubern können?“
„Hör auf mit dem Zauberstab!“, knurrte Draco. „Sonst vergesse ich mich!“
„Aber es geht doch ganz offensichtlich genau darum.“, beharrte Harry.
„Halts Maul“, herrschte Draco ihn an. „Es ist schon schlimm genug, dass der Phoenix sagt, wir beide müssten Freunde werden. Ich weiß nicht, wie er sich das vorstellt!“
„Ich auch nicht.“, sagte Harry resigniert.
„Wenn ich nur daran denke“, begann Draco nach einem Moment des Schweigens, „Dass ich deine Hand gehalten habe...Buärks, da wird mir richtig schlecht!“
„Hihi“, lachte Harry, „hab ich mich auch gewundert. Wusste gar nicht, dass du so anhänglich bist!“
„Pass auf!“, zischte Draco wütend. „Ich komm dir da gleich rüber. Du hast wohl noch nicht genug!?“
„Doch. Das hat gereicht. Und irgendwann zahle ich es dir heim!“
„Pah!“
Die nächsten Minuten verbrachten sie schweigend. Dann begann Harry wieder zu sprechen.
„Ihr habt mir nicht die geringste Chance gegeben.“, sagte er.
„Warum sollten wir?“, fragte Draco verwundert.
„Ihr habt anscheinend nur gelesen, was ihr lesen wolltet. Das ist doch an den Haaren herbeigezogen, dass ich mir das mit Henry zusammen ausgedacht und geplant habe. Gib’s doch zu!“
„Und was ist das für ein Geheimnis zwischen dir und diesem Henry? Kannst du mir das erklären?“
Harry stockte für einen Augenblick der Atem. Er durfte niemandem erzählen, dass er dem Orden der Druiden beigetreten war. Aber wie sollte er Draco erklären, dass dieses Geheimnis nichts mit dem Zauberstab zu tun hatte? Fieberhaft überlegte er, aber schließlich musste er einsehen, dass er keine Erklärung fand.
„Hör zu, Draco“, begann er, „dieses Geheimnis hat nichts mit euch zu tun. Ich darf es nicht erzählen, weil dann mein Leben bedroht ist. Aber ich kann dir nur versichern, dass es mit euch nichts zu tun hat.“
„Du verlangst von mir, das ich das glaube?“, fragte Draco erbost.
„Ich musste schwören, dass ich nichts davon erzähle.“, versuchte Harry zu erklären. „Es hat etwas mit Henrys Arbeit zu tun. Ich bin mir sicher, dass es bei dir auch Geheimnisse gibt, die du nicht verraten darfst. Denk doch nur an deinen Vater! Er ist Anhänger von Voldemort. Bestimmt weißt du etwas von ihm, das...“
„Wage es nicht, so über meinen Vater zu sprechen!“, schrie Draco. Er hatte sich ruckartig aufgesetzt und starrte Harry mit leichenblassem, wutverzerrtem Gesicht an. Harry bemerkte, dass er einen Fehler gemacht hatte.
„Entschuldige.“, sagte er schnell. „Ist mir nur heraus gerutscht...“
Entgegen seiner Erwartung, dass Draco sich auf ihn stürzen würde, ließ dieser sich in die Kissen zurück sinken. Teilnahmslos starrte Draco an die Decke. Madame Pomfrey war durch den Schrei aufgeschreckt worden und kam jetzt aufgeregt in das Krankenzimmer.
„Was ist hier los?“, fragte sie mit schriller Stimme. „Ihr werdet euch doch nicht streiten?“
Draco hob den Kopf.
„Ist schon gut.“, sagte er müde. „Ich bin noch ein bisschen aufgeregt. Es ist nichts passiert.“
Misstrauisch ließ Madame Pomfrey ihren Blick zwischen Draco und Harry hin und her schweifen, dann räusperte sie sich theatralisch und ging wieder hinaus.
„Ihr solltet jetzt eure Medizin zu euch nehmen!“, sagte sie mit befehlendem Ton, bevor sie den Raum verließ.
„Tut mir leid, Draco.“, sagte Harry leise. „Ich wollte dich nicht verletzen. Aber verstehe doch, Ich kann dich nicht in das Geheimnis einweihen, aber wie soll ich dir klar machen, dass ich nicht mit Henry geplant habe, den Zauberstab zu zerstören. Zumindest habe ich nicht gewust, dass dieser Zauberstab so wichtig für Slytherin ist. Er war doch nie in der Schule, Voledmort hat ihn doch bei Ollivanders gekauft...“
„Hör auf.“, sagte Draco. „Ich glaube dir ja. Auch wenn ich nicht weiß warum. Aber ich glaube dir. Was wollen wir jetzt machen?“
„Wie? Was wollen wir machen?“
Draco holte genervt tief Luft und ließ sie langsam wieder heraus.
„Mit dem Phoenix.“, sagte er. „Kannst du mir erklären, was das soll?“
„Nein. Keine Ahnung. Vielleicht will er uns sagen, wie wir den Zauberstab wiederfinden. Vielleicht ist er ja nicht zerstört, sondern nur ... na ja, wie soll ich sagen, ... so etwas ähnliches, wie disappariert?“
„Was soll das“, fragte Draco eindringlich, „mit dieser Freundschaft? Was soll der Quatsch? Von Freundschaft kann man bei uns beiden wirklich nicht sprechen.“
„Ich glaube, er weiß, dass nur wir beide es schaffen, ihn wieder zu finden. Und dass wir beide dabei zusammen halten sollen, sozusagen die Feindschaft ruhen lassen sollen, oder so. Verdammt, ich kann mir auch keinen Reim darauf machen!“
„Lass mich darüber nachdenken.“, sagte Draco. „Wir reden später noch einmal. Ich werde jetzt dieses Zeug da nehmen und versuchen zu schlafen.“
„Gut.“, sagte Harry. „Vielleicht ist das das Beste. Ich denke auch noch darüber nach. Irgendeinen Sinn muss das Ganze ja geben.“
Er nahm das Glas, das neben seinem Bett auf den Nachtkästchen stand und roch daran. Es duftete leicht süßlich, wie künstliche Himbeere.
„Prost!“, sagte er und schüttete den Saft mit einem Zug herunter. Er schmeckte einfach scheußlich, schlimmer noch als der Vielsafttrank, den er als das bisher ekelhafteste Getränk in Erinnerung hatte. Dann lehnte er sich zurück und ließ seinen Gedanken den freien Lauf.
Am späten Nachmittag, das Licht des Tages war von einem düsteren Grau in undurchdringliches Schwarz übergegangen, ließen Fußgetrappel und aufgeregt fröhliche Stimmen Harry aus seinen Gedanken hochfahren. Seit zwei Stunden hatten er und Draco dumpf brütend in ihren Betten gelegen, nur einmal gestört durch Madame Pomfrey, die hereingekommen war und das Licht angeknipst hatte, und hatten kein Wort mehr miteinander gesprochen.
Jetzt merkte auch Draco auf, hob den Kopf und sah in Richtung der Tür, ließ ihn dann aber enttäuscht sinken, als er merkte, dass diese Stimmen Hermine und Ron gehörten.
„Ich will erst einmal nachsehen, ob die Beiden wach sind.“, hörten sie Madame Pomfrey streng sagen. „Ihr wartet hier!“
Ron und Hermine stürmten jedoch direkt hinter Madame Pomfrey ins Krankenzimmer, die zuerst ärgerlich war, als sie aber sah, dass Harry und Draco wach waren, zuckte sie mit den Schultern, ließ ein beleidigtes „Pfff!“ hören und rauschte hinaus.
„Hallo Harry!“, rief Ron. „Ey, Mann, was haben sie mit dir gemacht?“ Dann sah er, dass in dem Nachbarbett Draco lag.
„Hast du ihn fertig gemacht?“, fragte Ron begeistert. Draco sandte ihm einen missbilligenden Blick, drehte sich auf die Seite und sah unbeteiligt aus dem Fenster.
„Hallo Ron, hallo Hermine!“, antwortete Harry. „Nein, ich habe ihn nicht fertig gemacht. Wir leiden nur, äh, an der selben...Krankheit.“
„Wieso Krankheit?“, fragte Ron. „Wir haben gehört, dass die Slytherins dich zusammengeschlagen haben! Wieso redest du da von Krankheit?“
„Das stimmt, Harry“, pflichtete Hermine ihm bei. „Was ist passiert?“
„Woher wisst ihr, dass ich verprügelt worden bin?“, fragte Harry. „Ich habe niemandem so etwas gesagt.“
„Harry, ich verstehe dich nicht!“, sagte Ron aufgebracht. „Das ist doch schon in der ganzen Schule rum. Die Slytherins haben ihren Streik abgebrochen und Crabbe und Goyle erzählen jedem, der es nicht hören will, dass sie dich fertig gemacht haben. Wieso nimmst du sie in Schutz? Wieso nimmst du dieses Ekel da in Schutz? Harry, das verstehe ich nicht.“
„Komm, Ron, reg dich nicht auf.“, versuchte Hermine ihn zu beschwichtigen. „Wer weiß, was Crabbe und Goyle für einen Blödsinn erzählen. Aber mal wirklich, Harry, was ist passiert? Wir haben von Professor Dumbledore nur gehört, dass er dich auf die Krankenstation gebracht hat, und dass wir dich jetzt besuchen könnten. Du musst dir mal vorstellen, was wir den ganzen Nachmittag durchgemacht haben. Du warst zu den Slytherins gegangen, und bist einfach verschwunden. Als wir nachgeschaut haben, war niemand mehr da, und keiner hat uns gesagt, was los ist. Du bist den ganzen Nachmittag verschwunden geblieben. Dann haben die beiden Gorillas von Malfoy angefangen Geschichten herum zu erzählen. Du glaubst ja nicht, was für Sorgen wir uns gemacht haben.“
„Es ist nichts weiter passiert“, sagte Harry, „als dass ich mit den Slytherins über die Schulmannschaft gesprochen habe, und dann sind wir plötzlich umgefallen. Madame Pomfrey weiß auch nicht warum.“
„Aber warum ausgerechnet ihr beide?“, fragte Ron verwundert.
„Keine Ahnung!“, meinte Harry. Er wusste selbst nicht, warum er seine Freunde belog, aber irgendetwas hatte ihn zurückgehalten, die Wahrheit zu sagen. Ron sah ihn misstrauisch an. Harry machte jedoch ein unschuldiges Gesicht, in dem Ron vergeblich danach suchte, was Harry gerade dachte. Schließlich, auch wenn es ihm schwer fiel, verdrängte er sein Misstrauen.
„Bist du heute Abend wieder fit?“, fragte er. „Wir wollen doch die Schattenpilze mit Magister Baumann suchen gehen. Wirst du dabei sein?“
Harry war froh, dass er nicht mehr mit Fragen gelöchert wurde. Fast erleichtert sagte er:
„Ich hoffe es. Wenn ich es richtig verstanden habe, können wir heute raus.“
Ron beugte sich zu Harry hinunter und senkte seine Stimme.
„Wir haben etwas vor, mit den Pilzen. Kannst du dich an die Leuchtpilze erinnern, die Professor Sprout uns gezeigt hat?“
Harry nickte.
„Was ist damit?“
Ron senkte seine Stimme zu einem Flüstern.
„Wir haben etwas vor, für Halloween. Jetzt am Wochenende ist doch die große Party. Hermine und ich haben einige dieser Pilze aus dem Gewächshaus geklaut.“
Er grinste.
„Neville ist auch dabei. Er hat mit der Baumann geredet. Sie würde uns helfen, diesen Trank daraus zu machen, mit dem man das Skelett sichtbar macht. Stell dir vor, Neville hat sie gefragt. Ist ein Ding, oder?“
„Bei der Baumann wundert es mich nicht.“, sagte Harry und grinste.
„Das wird ein Spass, sag’ ich dir!“, sagte Ron begeistert. „Also, was meinst du, bist du heute Abend wieder raus?“
„Ich glaube schon. Mir geht es gut. Ich bin nicht krank, warum sollte Madame Pomfrey mich nicht rauslassen?“
Hermine hatte sich bis jetzt etwas im Hintergrund gehalten. Jetzt beugte auch sie sich zu Harry hinunter und fragte leise:
„Was ist denn jetzt passiert, Harry? Du hast vorhin nicht die Wahrheit gesagt.“
Harry sah sie ungnädig an.
„Ich kann es jetzt nicht sagen.“, flüsterte er und nickte andeutungsweise zu Draco hinüber. „Aber vielleicht erzähle ich es heute Abend. Ok?“
Hermine nickte zufrieden. Sie schien etwas zu wissen. Ron blickte erstaunt in die Runde, zog es aber vor, nichts zu sagen. Sie redeten noch ein paar Minuten, dann verabschiedeten sich die Beiden und ließen Harry und Draco allein.
„Warum hast du ihnen nicht alles erzählt?“, fragte Draco unvermittelt. „Sie sind deine Freunde!“
„Ich weiß nicht. Ich habe das Gefühl, dass das nur eine Sache zwischen uns beiden ist.“
„Ich werde nicht schlau aus dir. Wahrscheinlich bist du genau so ein verrückter Oberedelheini, wie dein Vater. Meine Güte“, brummte er eher zu sich, „In was bin ich da nur reingeraten!“
In dem Moment kam Madame Pomfrey in das Krankenzimmer.
„Na, meine beiden Jungs, wie geht es uns denn jetzt?“ Sie war so ekelhaft freundlich, dass Harry versuch war, eine freche Antwort zu geben. Er konnte sich gerade noch zurückhalten und presste ein „Sehr gut“ hervor.
„Na, ich glaube, dann dürft ihr aufstehen. Es ist ja gleich Zeit fürs Abendessen. Aber ich warne euch. Strengt euch nicht zu sehr an. Und geht nicht allein irgendwo hin, nehmt immer jemanden mit, der Hilfe holen kann, wenn ihr einen Rückfall erleidet. So, und jetzt raus aus den Betten, ich will auch einmal fertig werden.“
Das ließen sie sich nicht zweimal sagen. Wie zwei Grashüpfer waren sie aus den Betten geschlüpft, zogen ihre Klamotten an und liefen mit einem knappen „Tschüss“ aus dem Zimmer.
Nach dem Abendessen, bei dem die drei Freunde über ihre Halloween-Verkleidung sprachen, und sich begeistert in Vorfreude hineinsteigerten, versammelten sich die Gryffindor-Schüler aus Harrys Jahrgang und, zu ihrem Leidwesen auch die Slytherins in der Vorhalle. Eigenartigerweise hielten diese sich mit bissigen Bemerkungen zurück. Harry blickte verstohlen zu ihnen hinüber und bemerkte, dass Draco fast heimlich zu Harry herübersah, und, als sich ihre Blicke begegneten, schnell wegschaute.
Magister Baumann hatte sich einen glänzenden dunkelgrünen Umhang mit pelzbesetzter Kapuze angezogen. Ihr langes blondes Haar trug sie heute offen und es quoll seidig aus der Kapuze hervor. Als Harry Neville sah, wie der ihr mit hochrotem Kopf und freudig strahlendem Gesicht entgegenging und ihr den Korb abnahm, in den sie die Pilze sammeln wollten, musste er unwillkürlich lächeln. Einerseits verstand er Neville, denn auch er fand, dass Magister Baumann eine außergewöhnlich schöne Frau war, und wenn sie ihn mit ihren rehbraunen Augen ansah, lief auch ihm ein wohliger Schauer über den Rücken.
Aber er wusste, dass sie viel zu alt für ihn war, und sich mitnichten für einen der Schüler interessieren würde. So bewunderte Harry seine Lehrerin und mochte sie einfach nur. Neville dagegen hatte es voll und ganz erwischt. Nachts sprach er im Traum von ihr, und wenn er am nächsten Morgen von den Schlafsaalgenossen damit aufgezogen wurde, war es ihm höchst unangenehm. Aber er saß oft verträumt am Fenster und schaute gedankenverloren auf den herbstlichen See hinaus und wenn er Magister Baumann begegnete, bestand er aus purem Glück.
Magister Baumann begrüßte die Schüler, ganz besonders die neu hinzugekommenen aus Slytherin und ging dann voraus, durch das Eingangsportal auf die große Wiese. Sie wurde nur schwach von den hohen Fenstern des Speisesaales beleuchtet. Die Schüler stellten sich im Halbkreis vor ihre Lehrerin und hörten aufmerksam zu, als sie eine kurze Wiederholung der letzten Unterrichtsstunde gab. Schließlich waren die Slytherins mit dem nötigen Wissen ausgestattet und jetzt suchte Magister Baumann unter den Schülern einen, der das magische Licht heraufbeschwören sollte. Ihr Blick blieb bei Draco Malfoy hängen, dessen weißblondes Haar in dem schwachen Licht ein wenig heller schien, als das der anderen Schüler.
„Sie, junger Mann“, sagte sie. „Wie heißen Sie?“
„Mein Name ist Malfoy.“, antwortete Draco. „Draco Malfoy.“
„Ach sie sind Draco Malfoy!“, sagte sie mit einem bezaubernden Lächeln, das ihre weißen Zähle in der Dunkelheit blitzen ließ, „Dann sind sie der zweite Junge, der heute diesen eigenartigen Unfall hatte. Wie geht es ihnen?“
Harry hätte schwören können, dass Malfoy eine freche Bemerkung auf der Zunge hatte, aber auch er schien sich nicht der Ausstrahlung dieser Frau entziehen zu können.
„Danke, Magister Baumann!“, sagte Draco und klang überraschenderweise etwas verlegen. „Mir geht es gut.“
„Mr. Malfoy, möchten sie es versuchen?“
Draco nickte und trat einen Schritt vor. Er hob den Zauberstab.
„Warten sie noch einen Augenblick“, sagte Magister Baumann. Sie hob ihren Stab, murmelte ein paar Worte und wie durch Geisterhand wurden die langen grün-weißen Fensterläden vor die hohen Fenster des Speisesaales zugeklappt. Jetzt lag die Wiese in völliger Dunkelheit.
„Bitte Mr. Malfoy!“, war ihre weiche Stimme mit der fürchterlichen Aussprache durch die Schwärze zu hören.
Draco hob wieder den Zauberstab. Er schwang ihn durch die Luft und rief „Fluoreszenca“. Ganz schwach breitete sich um ihn herum ein leises Glimmen von schwarzbläulichem Licht aus und zog sich wie eine Ölspur auf einer Regenpfütze über die Wiese. Und dann, als hätte man tausend kleine Kerzen angezündet, leuchtete ein Pilz nach dem Anderen in strahlendem Blau auf und die Wiese wurde in ein geheimnisvolles Licht getaucht.
Harry wunderte sich. Damals, als der dunkle Lord das Anwesen von Henry Perpignan angegriffen hatte, war auch das magische Licht erzeugt worden. Aber er hatte keine Pilze entdeckt, und so wie es hier aussah, musste es Tausende und Abertausende von diesen seltsamen Pilzen geben. Hatte Henry ein anderes Licht gemacht?
„Äh, eine Frage!“, meldete er sich.
„Ja, Mr. Potter?“
„Hm, ich ...ich habe dieses Licht schon einmal gesehen, in der Nähe von Newcastle. Da waren aber keine Schattenpilze zu sehen. Kann das sein, dass die nicht überall vorkommen?“
„Das haben sie gut beobachtet, Mr. Potter“, antwortete Magister Baumann, die nun von einer schwachen bläulichen Aura umgeben war, „wenn ich es recht in Erinnerung habe, liegt Newcastle in der Nähe des Meeres? Ach, ich bin in Geographie noch nie besonders gut gewesen. Aber, wenn es so ist, dann kann es durchaus sein, dass die Schattenpilze dort etwas seltener sind, als hier im Inland. Sie vertragen den Salzgehalt in der Luft nicht so gut. Aber es gibt sie auch dort, es ist eine andere Form, die sich angepasst haben. Sie wachsen dort nur im Wald, aber es gibt sie auch an der Küste.“
„Ach so.“, sagte Harry. Es schien ihm eine plausible Erklärung zu sein. Magister Baumann forderte die Schüler nun auf, jeder ein paar, aber nur ein paar zu sammeln. Sie sollten möglichst mit einem Messer abgeschnitten werden, und da sie angenommen hatte, dass keiner der Schüler eines dabei hatte, verteilte sie Messer aus ihrem Korb. Schon nach wenigen Minuten war der Korb voll und leuchtete wie ein großer japanischer Lampion.
„Vielen Dank, meine Lieben.“, sagte Magister Baumann. „Ich denke, das wird für unseren Unterricht ausreichen. So, bevor wir nun hineingehen, möchte ich noch einen kurzen Hinweis geben. Morgen Nachmittag möchte ich meine erste Stunde ‚magisches Kochen’ geben. Wenn sie Lust haben, daran teilzunehmen, dann möchte ich sie bitten, sich um fünfzehn Uhr in der Küche von Hogwarts einzufinden. Jetzt wünsche ich ihnen noch einen schönen Abend.“
Draco durfte das magische Licht auch wieder löschen, und Magister Baumann öffnete mit einem kurzen Zauberspruch die Flügel der Fensterläden, so dass sie mit dem herausfallenden Licht ohne Stolpern wieder zu der Treppe kamen.
Oben in der Eingangshalle, Neville hatte den Korb getragen und händigte ihn ihr gerade aus, rief sie Ron, Hermine und Harry mit geheimnisvollem Lächeln zu sich.
„Ich finde ihre Idee für Halloween wirklich bezaubernd. Am Freitagabend, nach dem Essen kommen Sie doch bitte zu mir in das Klassenzimmer. Ich werde den Trank dann fertig haben. Er hält etwa drei Stunden an, wenn ich etwas mehr von den Pilzen hinzufüge, vielleicht sogar dreieinhalb. Ist das in Ordnung?“
„Ja, natürlich!“, nickten alle Vier und grinsten. „Das wird ein Spaß!“
Plötzlich schlug sich Ron vor den Kopf.
„Wir sind so blöd!“, rief er.
„Wieso?“, fragten Hermine, Harry und Neville gleichzeitig. Auch Magister Baumann sah etwas überrascht aus.
„Mann, wir haben doch Klamotten an!“, sagte Ron und hob beschwörend die Hände. „Da sieht man das doch gar nicht. Oder sollen wir nackt rumlaufen?“
Harry grinste bei dem Gedanken, und Neville wurde wiedereinmal rot.
„Hm, stimmt.“, sagte Magister Baumann nachdenklich. „Daran habe ich auch nicht gedacht. Aber ich glaube, ich habe da schon eine Idee. Ich muss nur noch einmal in einem Buch nachsehen. Wenn ich mich recht erinnere, gibt es ein Elixier...“
„Was für ein Elixier?“ Alle starrten gebannt auf die Lehrerin. Die aber schmunzelte nur und meinte:
„Lassen sie sich überraschen. Wir sehen uns am Samstag. Vielleicht eine halbe Stunde, bevor das Fest beginnt?“
Die Vier stimmten zu. Magister Baumann lächelte zum Abschied noch, ließ sich von Neville den Korb geben. Der hätte sie am liebsten noch begleitet und ihr geholfen, die Pilze zum Trocknen auszubreiten, aber sie lehnte dankend ab. Dann glitt sie die Treppe hinauf und verschwand hinter der Tür, die zum Lehrerflügel führte.
„Was für eine Frau...“, stöhnte Neville mit glänzendem Gesicht.
Ron musste sich den Mund zu halten, um nicht los zu prusten und erntete von Hermine einen strengen Blick, der so viel heißen sollte, wie ‚Lass Neville in Ruhe!’
„Was wollen wir machen, wenn sie keine Lösung findet?“, fragte Harry.
„Sie wird eine Lösung finden!“, sagte Hermine bestimmt. „Schließlich ist sie eine Frau!“
„Was hat das denn damit zu tun?“, fragte Ron und verdrehte die Augen.
„Ganz einfach, mein lieber Ron.“, sagte Hermine schnippisch. „Frauen haben wesentlich mehr Ausdauer bei der Suche nach Lösungen. Sie geben einfach nicht so schnell auf, wie Männer.“
„Ey, was soll der Quatsch den jetzt schon wieder!“, warf Harry ärgerlich ein. „Ich habe eine ganz normale Frage gestellt und Ihr nutzt sie nur wieder um euch in die Wolle zu kriegen. Ich frag noch mal: Was machen wir, wenn sie keine Lösung findet?“
„Warts doch einfach ab!“, sagte Hermine, hob die Nase und lief die Treppe hinauf.
„Mann ist die doof!“, murmelte Ron. „Will die jetzt hier so einen Emanzen-Club eröffnen? Dann gute Nacht!“
Harry musste auf einmal gähnen. Er sah müde aus.
„Ich glaub, ich geh jetzt hoch und lege mich ins Bett. War ein ganz schöner Misttag.“
Er fühlte wieder seine Knochen schmerzen, und mit einem Mal kam ihm die Erinnerung an die Geschehnisse des Tages. Nur der Abend war einigermaßen vergnüglich gewesen. Er musste sich eingestehen, dass er Neville durchaus verstehen konnte. Was für eine Frau!
Die nächsten Tage verliefen ruhig und gingen schnell vorüber. Ein absoluter Höhepunkt war die Unterrichtsstunde bei Hagrid. Die Woolwoodys tollten mit den Schülern in ihrer unbeholfen wirkenden Art über die Wiese und spielten Verstecken mit ihnen. Hermine ging jetzt jeden Abend zu Hagrid und half ihm, die Tiere zu füttern. Eines Abends brachte sie eines dieser Wollknäuel mit in den Gemeinschaftsraum und sagte, dass es so anhänglich geworden sei, dass sie überlege, es zu adoptieren. Ron fragte sie, ob sie vielleicht ihren fetten Kater dafür in die Wüste schicken wollte, aber er erntete nur einen kühlen Blick.
Die ganze Zeit gingen Harry und Draco sich aus dem Weg. Wenn sie sich einmal begegneten, was in dem Trubel der Festvorbereitungen unvermeidbar war, dann sahen sie sich unsicher und äußerst skeptisch aber nicht ohne Neugier an. Sie sprachen nicht miteinander, warfen sich aber auch keine Beleidigungen mehr an den Kopf. Vielmehr beobachteten sie einander, jeder darauf wartend, dass der Andere einen ersten Schritt machen würde. Sie mussten noch einmal miteinander reden, aber sie trauten sich nicht, aufeinander zuzugehen, vor allem wollten sie sich keine Blöße vor dem eigenen Haus geben.
Überraschenderweise kam am Donnerstag Mittag, als er in der Halle auf Hermine wartete, die vor dem Essen noch einmal auf die Toilette gegangen war, Bletchley auf Harry zu. Etwas unbeholfen und sichtlich verunsichert brummte er „Hallo.“ Dann schien er einen Augenblick nach Worten zu suchen und presste dann hervor:
„Wir haben nachgedacht. Malfoy und ich, wir wollen mitmachen. Ich als Treiber und Draco als Jäger.“
Harry war höchst überrascht, und er staunte Bletchley offen an. Dann grinste er.
„Find ich gut.“, sagte er. Das war das Einzige, was er heraus bekam.
„Hör mal!“, sagte Bletchley und schaute unsicher zu seinen Füßen hinunter. „War `n Missverständnis. Ist das wieder Ok?“
Harry kratzte sich verlegen am Ohr, dann sah er Bletchley an, wusste zunächst nicht, was er sagen sollte, nickte einmal bedächtig und meinte:
„Jaaa. Ist Ok.“
„Gut. Kannst ja mal an unseren Tisch kommen. Dann können wir darüber reden, ja?“
„Mach ich.“
Bletchley schien sichtlich erleichtert. Er drehte sich um, wandte noch einmal den Kopf und hob kurz die Hand, dann schlurfte er davon. Harry stand kopfschüttelnd in der Halle und konnte es nicht fassen. Er fühlte sich ungemein erleichtert.
Am Freitag Abend kam Post. Hedwig war ein paar Tage verschwunden gewesen. Harry hatte sich aber keine Sorgen gemacht, denn er wusste, dass die lange Zeit in der Eulerei für die Vögel oft langweilig war und sie daher gerne mal für ein paar Tage ausflogen. Seltsamerweise waren sie immer dann wieder zurück, wenn man sie mit einem Brief irgendwohin schicken wollte.
Hedwig war mit einem ganzen Schwarm von Eulen in den Speisesaal geflattert und hatte auf Harrys Teller zwei Briefe fallen lassen, die er nur mit Mühe davor bewahren konnte, mit Sauce durchtränkt zu werden. Es waren Briefe von Perpignans Place, einer hatte die Handschrift von Sirius und der Andere trug die Schriftzüge von Henry. Harry schob sie in seinen Umhang, beeilte sich mit dem Abendessen und brach schon nach wenigen Minuten in den Gryffindor-Turm auf.
Kaum dass er sich auf sein Bett gesetzt hatte, nestelte er schon die Briefe aus seiner Tasche und brach hastig das Siegel, das auf Sirius Pergament befestigt war. Er begann zu lesen.
„Mein lieber Harry,
Es freut mich, Dir einmal gute Nachrichten mitteilen zu können. Dein Freund Henry ist ein wunderbarer Mensch und wir verbringen so schöne Abende miteinander, wie ich sie schon seit vielen Jahren nicht mehr erlebt habe. Fast möchte ich meinen, wir könnten Freunde werden, so viel verbindet uns schon nach so kurzer Zeit.
Ich fühle mich hier ausgesprochen wohl, kann mich endlich einmal erholen und muss nicht ständig auf der Flucht sein. Ich habe sogar ein paar Pfund zugenommen. Du solltest mich sehen, nichts erinnert mehr an den Sirius, wie er aus Askaban geflohen ist. Henry war so freundlich, seinen Schneider kommen zu lassen und mir ein paar Maßanzüge und Umhänge nähen zu lassen. Sie müssen ein Vermögen gekostet haben und ich hoffe, dass ich irgendwann wieder nach London komme, so dass ich ihm die Summe aus meinen Ersparnissen zurückzahlen kann.
Henry hat viele Abende mit mir und Remus über Strategien gesprochen, wie wir meine Rehabilitation vorantreiben können. Leider ist das Ministerium zur Zeit wegen der Todesser etwas in Aufregung, so dass sie meinen Fall erst einmal auf Eis gelegt haben. Ich hatte mich schon gewundert, wann das Schreiben endlich kommt. Henry hat ein paar Freunde im Ministerium und konnte so an Insider-Informationen kommen.
Er rät mir, einen offiziellen Revisions-Antrag beim Magier Gerichtshof zu stellen. Inzwischen haben wir auch einige wirklich stichhaltige Beweise für meine Unschuld in der Hand. Henry hat einen Anwalt zum Freund, einer aus seinem Orden, der in Britannien ein sehr hohes Ansehen hat und einer der Besten sein soll. Er kommt uns nächste Woche besuchen und wird sich meine Geschichte anhören und die Beweise sichten.
Es sieht so aus, als könnten wir Anfang nächsten Jahres den Prozess neu aufrollen. Das wird zwar noch einmal ein sehr schwerer Gang, aber ich bin inzwischen sicher, dass alles gut ausgeht. Wirst Du an Weihnachten zu uns kommen? Wir alle würden uns sehr freuen.
Schreib mir mal, wie es Dir jetzt geht. Es soll ja einiges los sein in Eurer Schule.
Viele liebe Grüße sendet Dir
Dein Sirius.“
Harry hatte Tränen in den Augen. Er fühlte unbändiges Glück durch seinen Körper strömen. Langsam ließ er den Brief sinken und starrte ins Leere. Er konnte sich kaum vorstellen, wie Sirius in ordentlichen Kleidern aussah, vielleicht war er dem Sirius auf dem Hochzeitsphoto seiner Eltern wieder ein wenig ähnlicher geworden. Schließlich gab Harry sich einen Ruck, legte den Brief zur Seite und nahm sich das Pergament von Henry.
„Sei gegrüßt, Bruder.
Dein Pate ist ein sehr angenehmer Zeitgenosse und ich genieße es, nicht mehr allein auf dem großen Anwesen zu sein. Arthur lässt Dich grüßen, und George Ollivander, der inzwischen wieder in seinen Laden zurück gekehrt ist, lässt dir einen Gruß von John ausrichten. Es geht ihm jetzt wieder einigermaßen besser, und er ist aus dem Krankenhaus entlassen. Vielleicht schafft er es noch, dieses Jahr nach Hogwarts zu kommen, aber ich fürchte, die Schulbehörde wird seine Einschulung um ein Jahr verschieben. Erst muss er sich ganz erholen.
Der eigentliche Grund, warum ich schreibe, ist, dass ich Dich und Deine beiden Freunde gerne über Weihnachten zu mir einladen möchte. Ich könnte mir vorstellen, dass Du Deinen Paten gerne wiedersehen möchtest, außerdem freue ich mich auch, ebenso Arthur, der jetzt schon über das Weihnachtsmenü nachdenkt, und wir werden noch ein paar Brüder zu Gast haben. Es wird Zeit, dass Ihr unseren Orden ein wenig kennen lernt.
Schreibe mir bitte, ob Du kommst, und ob Du jemanden mitbringst.
Bis dann
Henry.“
Harry ließ den Brief sinken. Eine Mischung von Aufregung und Freude durchströmte ihn. Er griff noch einmal zu dem Brief von Sirius, den er auf seine Bettdecke gelegt hatte. Der Brief war jedoch verschwunden und an seiner Stelle lag ein kleines Häufchen gelblichen Pulvers. In dem Moment fühlte er, wie das Pergament, das er noch in der Hand hielt, weich wurde und sich ebenfalls in Pulver auflöste.
‚Schade!’, dachte Harry, als er sich bewusst wurde, dass Henry die Briefe präpariert hatte, so dass sie sich selbst zerstörten. Zu gerne hätte er die Zeilen von Sirius noch einmal gelesen, zu schön waren die Nachrichten und zu gerne hatte er von der Erholung seines Paten gelesen. Aber er verstand sehr wohl, dass diese beiden Briefe Informationen enthielten, die, so sie in falsche Hände gerieten, für ihre Schreiber und natürlich auch für Harry eine große Gefahr bedeuteten.
Konnte er Ron mitnehmen? Hermine stand außer Frage. Sie war selbst in die Geheimnisse eingeweiht, und er konnte sich vorstellen, dass auch sie darauf brannte, mehr über die Gemeinschaft der Druiden zu erfahren. Aber Ron? Ron kannte das Geheimnis nicht, und er durfte es zumindest nicht aus Harrys oder Hermines Mund erfahren. Hatte Henry vor, Ron ebenfalls einzuweihen? Und wie hatte er es zu verstehen, dass Sirius vom „Orden“ schrieb? War Sirius etwa schon ein Druide geworden?
Eine Menge Fragen türmten sich vor Harry auf, und sein Besuch auf Perpignans Place gewann immer mehr an Spannung. Aber in jedem Falle freute er sich über die Einladung. Endlich konnte er einmal in sicherer Umgebung ein paar Tage mit Sirius verbringen, und Henry, das wurde Harry mit einem Mal in aller Deutlichkeit bewusst, hatte er auch in sein Herz geschlossen. Mit einem Lächeln auf den Lippen erinnerte er sich an die gebeugte und steinalte Gestalt von Arthur, und als er an die gemütlichen Stunden am Kamin der Bibliothek in Henrys Anwesen dachte, wurde ihm warm ums Herz.
In dieser Nacht schlief Harry ruhig und traumlos, und, als er am nächsten Morgen aufwachte fühlte er sich ausgeruht und entspannt, wie schon lange nicht mehr. Sein Körper hatte sich von den Prellungen erholt, nichts tat mehr weh, wenn er sich streckte, und er genoss es, die Arme hinter seinen Kopf zu legen und den Rücken durchzubiegen, um den Schlaf aus seinen Muskeln zu drücken.
Heute war der große Tag, das Fest, auf das sich alle Schüler im neuen Schuljahr freuten. Heute Abend würde es nicht nur ein tolles Essen geben, sondern sie würden in einer perfekten Verkleidung eine Menge Spaß haben. So verflog der Vormittag wie im Nu. Im Unterricht hatte kaum ein Schüler die nötige Aufmerksamkeit aufgebracht und die Lehrer nahmen es mit strenger Miene aber auch einem lustigen Augenzwinkern zur Kenntnis.
Den Nachmittag verbrachten die Drei kurzentschlossen bei Hagrid, der sich über den Besuch sehr freute. Eine dampfende Tasse Tee vor sich stehend und ein Stück von Friedwulfas Keksen mampfend fragte Harry, ob Hagrid jetzt mit nach London reisen würde, wenn Dumbledore und er die Besen besorgen wollten.
„Natrürlich, Harry!“, brummte Hagrid gemütlich. „Glaubst du denn, ich würde mir solch eine Gelegenheit entgehen lassen? Allein das Bier im tropfenden Kessel ist es Wert, in die Winkelgasse zu kommen. Und wir werden Madeye Moody besuchen. Er wird mitkommen und ein wachsames Auge auf uns haben, man weiß ja nie in den düsteren Zeiten...“
„Glaubst du, dass wir Ärger mit den Todessern bekommen?“, fragte Harry. „Ich dachte, sie wären jetzt ruhiger geworden. Henry hat mir einen Brief geschrieben, in dem er gesagt hat, dass Mr. Ollivander wieder in seinen Laden zurückgekehrt ist.“
„Ach, ich denke, es ist ein wenig Gras über die Sache gewachsen. Dein spezieller Freund weiß ja jetzt, dass du in Hogwarts bist und er nicht an Dich herankommen kann. Ich schätze, er wird auf eine passende Gelegenheit warten.“
„Ich wäre da sehr vorsichtig.“, meldete sich Hermine. „Die Todesser sind ganz schön miese Typen!“ Sie erinnerte sich an die Zwei, die sie auf offener Gasse bedrängt hatten.
„Mach dir keine Sorgen, Harry!“, sagte Hagrid beruhigend. „Ich glaube kaum, dass Voldemort dich ausgerechnet am nächsten Dienstag auf offener Straße angreifen wird. Er fürchtet sich zwar nicht mehr vor dir, seit er auf diesem Friedhof dein Blut mit seinem gemischt hat, aber er ist auch ein politisch denkender Mensch. Eine so offene Konfrontation schadet ihm in seiner derzeitigen Situation eher, als dass sie ihm nützt. Er ist sich seiner Anhänger noch nicht ganz sicher, und er weiß, dass das Ministerium alles tut, seiner habhaft zu werden. Moody und alle anderen Auroren sind wieder aktiv, und das ist eine Truppe, die sogar er fürchten muss.“
„Ich freue mich darauf, Moody kennen zu lernen.“, meinte Harry und lehnte sich entspannt zurück. „Und wenn er dabei ist, dann brauchen wir uns auch keine Sorgen zu machen.“
„Hm, da fällt mir ein,“ sagte Hagrid, „es kommt noch jemand mit. Diese neue Lehrerin, die wollte sich auch mal London, oder besser, die Winkelgasse ansehen. Professor Dumbledore hat sie eingeladen, er meint, dass das eine gute Gelegenheit wäre, einmal etwas über Land und Leute zu lernen.“
„Meinst du, Hagrid“, fragte jetzt Ron, „wir beide könnten auch mitfahren?“ er deutete dabei auf Hermine und sich. „Ich habe nach den Ferien noch keine Gelegenheit gehabt, dort einzukaufen, und mir fehlen noch ein paar wichtige Sachen. Federn zum Beispiel...“
Hagrid überlegte kurz, dann sagte er:
„Ich werd mal mit Dumbledore reden. Was habt ihr am Dienstag für Unterricht?“
„Verteidigung ...“ Ron sprach das Wort mit deutlicher Abneigung aus.
Hagrid grinste.
„Bei Snape? Mal schauen, was ich machen kann...“
„Danke, Hagrid!“, rief Ron erfreut. Hagrid wiegelte aber ab, denn er konnte keinen Erfolg versprechen. Inzwischen hatte es draußen zu dämmern begonnen. Hermine wollte sich noch ein Bisschen schön machen, wie sie es ausdrückte. Ron und Harry sahen sich an und grinsten. Hagrid lächelte verständnisvoll und begleitete die Drei zur Tür.
„Viel Spaß heut Abend!“, rief er hinter ihnen her. „Bin mal gespannt, als was ihr geht!“
„Lass dich überraschen!“, rief Harry zurück. Dann folgte er den beiden über die Wiese zum Schloss hinauf.
Um halb Acht stiegen sie aufgeregt die Treppe hinunter zu dem Verließ, in dem die Unterrichtsstunden für Zaubertränke statt fanden. Magister Baumann erwartete sie bereits. Sie hatte ein kleines violettes Feuer auf einem der Labortische entfacht und in dem Kessel, der auf einem Dreibein über der Flamme stand, brodelte ein interessant nach Waldboden duftendes Gebräu. Es hatte eine gelbe Farbe und kleine braune Stückchen wurden darin herum gewirbelt.
„Na, ihr seid ja pünktlich auf die Minute!“, begrüßte Magister Baumann sie. „Der Trank ist fertig. Aber ich möchte erst einmal eure Kleider behandeln, sonst sieht man ja nichts.“
Sie nahm aus ihrer Handtasche ein kleines Flakon mit einer klaren Flüssigkeit. Hermine war als erste an der Reihe. Magister Baumann bat sie, ihren Umhang auszuziehen, besprühte ihre Hose und ihren Pullover mit einem feinen Nebel und legte dann den Umhang auf den Tisch, um mit ihm ebenso zu verfahren. Nachdem Ron, Neville und Harry die gleiche Prozedur hinter sich gebracht hatten, verteilte Miss Baumann den Trank auf fünf tönerne Becher, nahm einen und bedeutete den vieren, sich ebenfalls einen zu nehmen. Wie auf Kommando hoben sie ihren Becher zu den Lippen und tranken ihn in einem Zug aus.
Harry erinnerte sich an den scheußlichen Geschmack des Vielsafttrankes und all der anderen Tränke, die sie im Unterricht gebraut und an sich ausprobiert hatten. Daher war er angenehm überrascht, dass dieser Trank durchaus gut schmeckte.
Magister Baumann schien seine Gedanken zu erraten.
„Ich habe etwas hinzugefügt, das den Geschmack angenehmer macht.“, verkündete sie mit einem leichten Lächeln. Dieses Lächeln jedoch wurde immer breiter und lippenloser, bis nur noch ein kahler Kranz ihrer ebenmäßigen Zähne zu sehen war. Das Gesicht verlor an Form und begann in einem unheimlichen grünen Licht zu glimmen. Harry sah sich nach den Anderen um. Nur noch als Umrisse konnte er erkennen, dass es sich um menschliche Wesen handelte. Das ganze Skelett glomm nun durch die Umhänge hindurch und überstrahlte die Körper seiner Freunde. Ein wohlig-gruseliger Schauer lief über seinen Rücken, als eines der Skelette anfing zu sprechen, und dabei nur die Bewegung des Kiefers zu sehen war.
„Das sieht ja toll aus“, hörte er Hermine sagen.
„Harry, wer bist du denn?“, meldete sich Ron und wedelte mit einer Knochenhand in der Luft herum.
„Hier bin ich!“, sagte Harry und versuchte sich in einem tiefen, hohlen Lachen. Dabei hob er beide Arme, spreizte die Finger und ging bedrohlich auf das Skelett zu, das gerade mit Rons Stimme gesprochen hatte. Neville zuckte ein wenig zurück.
„Mannomann, mannomann“, stöhnte er. „Das ist ja richtig unheimlich!“
„Neville!“, lachte Ron. „mach dir nicht ins Hemd! Meinst du, du siehst besser aus?“
„Ich hätte nicht gedacht, dass das so schrecklich aussieht.“, gestand Neville mit einem leichten Zittern in der Stimme.
„Ich glaube, wir werden eine Menge Spaß haben, heute Abend!“, ließ sich Magister Baumann vernehmen. „Wollen wir aufbrechen?“
Sie verließen das Gewölbe und wanderten den Gang entlang.
„Ich finde es toll, dass sie auch mitmachen!“, sagte Hermine.
„Ach, wissen sie, Hermine“, antwortete Miss Baumann, „Ich war auch einmal Schülerin in einer Zaubererschule. Wir haben damals jede Menge Unsinn gemacht. Wir waren eine Clique von fünf Mädchen, die nichts ausgelassen haben. Wenn ich daran denke, wie wir unseren Hausmeister immer hochgenommen haben.“
Sie musste lachen.
„Hatten sie auch so einen wie unseren Mr. Filch, so ein Ekel?“, wollte Ron wissen.
„Mr. Filch ist ein Ekel? Das ist mir neu. Zu mir ist er immer ausgesprochen höflich!“
„Zu uns nicht.“, stellte Harry fest. „Er sucht immer einen Grund, einen von uns Schülern zu bestrafen oder bei den Lehrern zu verpetzen. Aber am schlimmsten ist Miss Norris. Sie kennen doch seine Katze?“
„Dieses kleine Ungeheuer, das überall herumstreift? Wo man immer den Eindruck hat, sie hört einem ganz genau zu? Die kenn ich. Nein, unser Hausmeister war an sich ein ganz netter Mensch. Er hatte sieben Kinder, die selber alle Schüler auf Burg Rabeneck waren. Er hat auch nur geschimpft, wenn wir es zu arg getrieben hatten.“
Sie stiegen gerade die Treppe hinauf und betraten die große Halle. Hier war wunderbar geschmückt worden. An jeder der Säulen hingen Lampions, die unterschiedlichste finstere magische Wesen darstellten und durch kleine flackernde Kerzen erleuchtet wurden, wodurch sie fast lebendig wirkten. Kleine, durchscheinende Gespenster und Fledermäuse flatterten durch die Halle und umschwirrten den großen Kronleuchter, wie die Motten das Licht.
Im Speisesaal waren die Tische mit schwarzen Tüchern gedeckt, auf denen kristallenes Geschirr wie Eisblumen blitzte. Überall auf den Tischen standen leuchtende Kürbisse, und auch an den Wänden hingen sie und tauchten den Saal in ein geheimnisvolles, düsteres Licht. Der Himmel des Saales zeigte, obwohl draußen inzwischen undurchdringlicher Nebel herrschte, einen klaren Sternenhimmel und der Mond hatte ein Gesicht, als wäre er selber ein geschnitzter Kürbis.
Mitten in diesem Himmel schwebte ein gigantischer Kürbis, der aus Hagrids Monsterzüchtung stammen konnte, und statt einer Kerze loderte ein magisches Feuer in seinem Bauch und aus den Öffnungen für Mund, Nase und Augen waberte künstlicher Nebel herunter und legte einen unheimlichen Schleier in die Luft. Auch hier flogen Gespenster und Fledermäuse durch die Luft. Links neben dem Lehrertisch war eine kleine Bühne errichtet worden, auf der einige Musikinstrumente und ein Schlagzeug standen.
Die Schüler, die an den verschiedenen Tischen saßen oder zwischen ihnen herumwieselten hatten die tollsten Gewänder an. Einige hatten sich als Gespenster verkleidet, andere liefen als Vampire herum und wieder andere hatten sich Masken von schrumpeligen Hexen oder Monstern auf den Kopf gesetzt. Das beliebteste Spiel schien das Anschleichen und Erschrecken von Mitschülern zu sein. Immer wieder drang ein erschrecktes Gekreisch durch Stimmengewirr. Dumbledore hatte sich wieder einmal selbst übertroffen.
Er hatte bereits am Lehrertisch in Gesellschaft von Hagrid, Professor Sprout und Professor McGonagall platzgenommen und betrachtete die Szene mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen. Ein ungeheurer Lärm von Stimmen, Lachen und Giggeln drang aus der weit geöffneten Tür heraus. Als die fünf Skelette von der Halle aus den Speisesaal betraten, schrieen einige der Mädchen aus den jüngeren Jahrgängen entsetzt auf und lenkten die Aufmerksamkeit auf die Ankömmlinge. Stille kehrte ein.
Harry und seine Freunde steuerten auf den Tisch der Gryffindors zu, während Magister Baumann sich aus der Gruppe löste und gespenstisch schwebend auf den Lehrertisch zuglitt. Professor Sprout war aufgestanden.
„Aber das...!“, begann sie. „Das sind ja Leuchtpilze! Woher haben sie das?“
„Ach bitte, Professor Sprout!“, sagte Magister Baumann begütigend. „Lassen sie den Kindern doch ihren Spaß!“
„Ich...ich kann nicht glauben, dass sie... sie können sie nur gestohlen haben! Und dass sie da mitmachen! Magister Baumann! Das hätte ich ihnen nicht zugetraut!“
„Ich bitte dich, meine Liebe“, mischte sich Dumbledore nun ein. „Es ist ein Schülerspaß. Wir haben Halloween, da gelten andere Gesetze!“
„Ich finde aber, sie sollen betraft werden, für diesen Frevel. Sie hätten mich fragen sollen!“ Professor Sprout war sichtlich erregt. „Sagen sie mir die Namen dieser Schüler, Magister!“
Magister Baumann öffnete die blitzende Reihe von Zähnen, was allem Anschein nach ein Lächeln darstellen sollte.
„Nein!“, sagte sie vergnügt, aber bestimmt.
„Gut“, meinte Professor Sprout beleidigt. „Da ich sehe, dass es Gryffindors sind, kann ich nur das Haus bestrafen. Fünfzig Punkte Abzug!“
Damit setzte sie sich wieder und verschränkte die Arme vor ihrer Brust.
„Hättest du ihnen denn von den Leuchtpilzen gegeben, wenn sie gefragt hätten?“, fragte Dumbledore und sah sie grinsend über den Rand seiner Halbmondbrille an.
„Wo denkst du hin, Albus? Natürlich nicht!“, sagte Professor Sprout spitz.
„Siehst du.“, meinte Dumbledore gelassen. „Aber ich muss sagen, das sind die schönsten Verkleidungen für heute. Richtig einfallsreich. Ich finde, das muss belohnt werden. Ich würde vorschlagen, wir geben jedem der vier zwanzig Punkte. Was meinst du, Minerva?“
Professor McGonagall sah sichtlich irritiert zwischen Professor Dumbledore und Professor Sprout hin und her. Dann lächelte sie eines ihrer sehr selten Lächeln, nickte und sagte:
„Wie du meinst, Albus.“
Jetzt war Professor Sprout richtig beleidigt, was sich erst legte, als sie das vierte Glas Glühwein heruntergekippt hatte. Nun begann sie über den Vorfall zu lachen, lallte einiges unzusammenhängendes Zeugs und wankte später nach einigen weiteren Gläsern laut singend aus dem Speisesaal hinaus.
Inzwischen waren Harry, Ron, Hermine und Neville zuerst mit schierem Entsetzen empfangen worden. Sie sahen auch einfach unheimlich aus. Parvati klammerte sich an Seamus Finnigan, der, nachdem er den ersten Schrecken überwunden hatte, vorsichtig seinen Arm um sie legte und es durchaus als angenehm empfand, eine so reizende Mitschülerin neben sich sitzen zu haben und ihr seinen schützenden Arm reichen zu können.
Lavender Brown fand als erste ihre Fassung wieder.
„Wer seid ihr?“, fragte sie und versuchte ein Grinsen, das aber nicht so ganz zu ihrem entsetzten Blick passte.
„Darf ich vorstellen?“, brummte Harry mit der tiefsten und hohlsten Stimme, die er zustande brachte. „Das hier ist Neville, das Hermine und das ist Ron, meine Wenigkeit nennt sich Harry.“
„Stimmt nicht! Ich bin Ron“, meckerte das Skelett, das Harry mit Hermine bezeichnet hatte. Dann schwang es sich auf einen Stuhl, griff sich eine Walnuss aus der Kristallschale, knackte sie mit den Zähnen und ließ sie in seinem Gebiss verschwinden. Es sah urkomisch aus, wie sein Gebiss darauf herummahlte.
„Hey, wie habt ihr das gemacht?“, wollte Angelina wissen. „Das sieht richtig unheimlich aus!“
Ron senkte seine Stimme. „Neville und ich“, sagte er leise, „wir haben uns in die Gewächshäuser geschlichen, und ein paar von diesen Leuchtpilzen geklaut.“
Er blickte kurz zum Lehrertisch hinüber und sah, wie Professor Sprout, mit einer Hand zu ihnen herüberwinkend, aufgeregt mit Magister Baumann sprach. Sie stritten gerade über die Leuchtpilze. Wenige Sekunden später zog Professor Sprout dem Haus Gryffindor die Punkte ab und Dumbledore prämierte ihre Verkleidung als die beste des Abends. Harrys Blick wanderte zu Hagrid, der lächelnd herüberwinkte und seinen Daumen in die Höhe hielt. Offensichtlich wollte er damit andeuten, dass ihm die „Verkleidung“ gefiel.
„Wie?“, fragte Lee Jordan, „Neville war dabei? Der macht sich doch sonst immer in die Hose, wenn es spannend wird?“
„Ach so denkt ihr über mich?“, fragte Neville beleidigt. Lee wurde rot, er hatte nicht daran gedacht, dass Neville genau neben ihm saß, diese Skelette sahen auch wirklich Eines wie das Andere aus.
“Ach Neville, so hat er es sicher nicht gemeint.”, versuchte Dean Thomas zu vermitteln. „Ich mein’, besonders mutig bist du ja wirklich nicht. Aber ich finde es klasse, dass du dabei warst.“
„Danke.“, murmelte Neville.
„Tschuldigung, Neville!“, sagte Lee. „Find ich auch gut. Ist mir nur so rausgerutscht.“
„Und wer ist der fünfte?“, fragte Lavender und zeigte zum Lehrertisch hinüber.
„Das ist Magister Baumann!“, sagte Neville stolz, denn er schrieb sich einiges davon auf seine Fahne, dass sie mitgemacht hatte. „Sie hat uns den Trank gemacht.“
„Ist ja irre.“, meinte Dean. „Ich hab sie immer für so `ne ganz brave gehalten. Wie man sich irren kann...“ Ein wenig Bewunderung lag in seiner Stimme.
Mit einem Mal tönte Professor Dumbledores Stimme durch den Saal. Er hatte sie mit Hilfe des Sonorus-Spruchs verstärkt.
„Meine lieben Schülerinnen und Schüler, darf ich um etwas Ruhe bitten?“, sagte er laut und wartete, bis das Gemurmel und Gelache abgeebbt war. „Heute ist der einunddreißigste Oktober und wir feiern das Halloweenfest. Ich wünsche euch viel Spaß dabei. Wir haben natürlich auch etwas Besonderes für heute vorgesehen. Auf dieser Bühne, die ihr dort sehen könnt“, und dabei wies er mit dem Arm in die Richtung, „wird heute eine Gruppe von Jungen Leuten ihr Debüt geben. Es ist eine Gruppe, die von Schülern der siebten Klasse aufgebaut wurde, und die die Ferien genutzt hat, einige Songs einzustudieren. Begrüßt mit mir zusammen die ‚Roaring Dragons’!“
Beifall brandete auf, die Tür hinter dem Lehrertisch wurde aufgestoßen und fünf in wildesten Kostümen verkleideten Gestalten stürmten auf die Bühne. Sie griffen nach den Instrumenten und begannen einen schnellen Rock’n Roll anzustimmen. Im Saal wurde es düster, aber die Kürbisse drehten sich zur Bühne und begannen, mit bunten Lichtblitzen im Takt der Noten zu leuchten. Sofort war der Platz vor der Bühne gefüllt mit verkleideten Schülern, die im Takt der Musik auf und nieder hopsten und in die Hände klatschten.
„Die sind gut!“, brüllte Ron gegen die Lautstärke an und begann zu tanzen. In der Dunkelheit leuchteten seine Knochen hell und es sah sehr komisch aus, wie er und die anderen Skelette in der Menge tanzten. Harry antwortete nicht, aber er nickte heftig.
Das Konzert dauerte fast eineinhalb Stunden. Neben einigen selbst geschriebenen Liedern spielten sie eine Reihe von bekannten Stücken, und der ganze Saal tobte vor Begeisterung. Dann machten sie eine Pause, spielten danach aber noch fast bis Mitternacht. Langsam begannen die Skelette zu verblassen und die Gesichter von Ron, Hermine, Neville und Harry nahmen wieder Gestalt an. Auch Magister Baumann, die sich zum Tanzen zu ihnen gesellt hatte, erhielt ihr Aussehen wieder zurück.
Kurz nach Mitternacht war das Fest zu Ende. Die Schüler strömten gut gelaunt aus dem Speisesaal und in ihre Türme zurück. In der Halle gingen die Vier neben Magister Baumann her.
„Vielen Dank, dass sie das gemacht haben.“, sagte Harry. „Ich glaub, sie sind echt in Ordnung!“
Magister Baumann lächelte ihn an und zeigte ihre weißen Zähne.
„Ich hab’s gern getan.“, sagte sie. „Außerdem wusste ich nicht, wie ich mich verkleiden sollte. Ihr habt mich auf eine tolle Idee gebracht. Eigentlich muss ich mich bedanken.“
Harry wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Schnell verabschiedete er sich und lief die Treppe zum Gryffindor-Turm hinauf. Oben drehte er sich noch einmal um und winkte. Sie winkte zurück. Ron, Hermine und Neville kamen hinter ihm her, die Treppe herauf.
Einige der Gryffindors standen noch im Gemeinschaftsraum und scherzten miteinander. Als die Vier durch das Portraitloch stiegen, kam Fred direkt auf sie zu. Es schien, als hätte er auf sie gewartet.
„Ihr müsst unbedingt an das Rezept kommen.“, sagte er aufgeregt. „Das brauchen wir für unseren Scherzartikelladen!“
„Dafür brauchst du aber auch Leuchtpilze.“, bemerkte Hermine.
„Ich glaube, Professor Sprout hat sich ganz schön aufgeregt.“, meinte Neville. „Habt ihr gesehen, wie sie mit Magister Baumann geredet hat?“
„Ach, die Sprout!“, sagte George und winkte ab. „Die ist das geringste Problem. Wir besorgen uns eine Kultur und züchten selber Pilze. Bei uns zuhause haben wir so schön feuchte Keller, da werden wir irgendwann nicht mehr wissen, wohin mit dem Zeug.“
„Damit werden wir Tausende von Galeonen verdienen.“, freute Fred sich händereibend. „Sie werden es uns aus den Händen reißen.“
„Ich frag sie.“, sagte Neville plötzlich. „Ich glaube, sie zeigt es mir.“
Alle starrten Neville an. Das war ein Zug von ihm, den sie noch nicht kannten. Fred klopfte ihm auf die Schultern.
„Finde ich total in Ordnung, dass du das machen willst.“, sagte er anerkennend.
Harry war sehr zufrieden mit dem Tag. Lange flüsterte er noch mit Ron, als sie in ihren Betten lagen. Sie lachten über die lustigen Szenen des Abends und sie fanden beide Anerkennung für Neville, der sich seit neuestem in einem ganz anderen Licht zeigte, und natürlich auch für Magister Baumann.
„Sie ist eine tolle Frau!“, flüsterte Ron.
„Echt!“, bestätigte Harry.
Harry war froh, dass er an diesem Dienstag Professor Snape und seinem katastrophalen Unterricht entgehen konnte. Bislang hatte Snape die Stunden nur genutzt, um Harry herunter zu machen oder ihm übermenschliche Hausaufgaben aufzugeben. Gelernt hatten sie alle noch nichts, sie hatten nur seinen widerlichen Ergüssen über Harrys Fehler und Voldemorts Macht lauschen müssen. Im Zaubertränke-Unterricht hatten sie wenigstens einige Tränke brauen können, und bei allem Hass, den Snape versprüht hatte, vergingen sie Stunden doch wenigstens in halbwegs vernünftiger Zeit. Aber das, was er den Schülern aus Gryffindor in Verteidigung gegen die dunklen Künste bot, konnte an Langweiligkeit und Selbstbeweihräucherung kaum noch übertroffen werden.
Harry hatte sich einen Wecker von Neville geliehen, der sogar funktionierte. Schon frühmorgens, noch bei tiefer Dunkelheit, hatte er sich angezogen und war in den leeren Speisesaal hinunter gegangen. Die Hauselfen waren über Nacht fleißig gewesen, hatten vom Abendessen des letzten Tages alle Reste beseitigt, gefegt und gewischt, und sauber und ordentlich die Tische für das Frühstück eingedeckt. In den Karaffen schimmerte schon golden der Orangensaft und wie jeden Morgen waren die Schalen mit frischem Obst gefüllt.
Professor Dumbledore saß allein am Lehrertisch. Als er Harry eintreten sah, lächelte er und winkte ihn zu sich. Harry mopste sich eine Traube vom Gryffindor-Tisch, ließ sie in seinem Mund verschwinden und schlenderte durch die Tischreihen zum Lehrertisch hinüber.
„Guten Morgen!“, begrüßte ihn Professor Dumbledore gut gelaunt. „Schön, dass wir es doch noch geschafft haben, nach London zu fahren.“
„Guten Morgen, Professor Dumbledore.“, sagte Harry und unterdrückte ein Gähnen. „Noch sind wir nicht da!“
„Na, seit wann bist du so pessimistisch?“ Dumbledore lächelte. „Setz dich zu mir, allein frühstückt es sich nicht besonders gut. Und, hast du dir außer den Besen noch etwas vorgenommen?“
Harry setzte sich. Er griff in den Brotkorb und zog einen Toast heraus. Dann strich er sich dick Butter darauf, ließ den Honig in einem feinen Faden von einem Löffel fließen, malte eine Spirale auf den Toast und biss dann herzhaft hinein.
„Ich weiß noch nicht.“, sagte er dann und schluckte. „Vielleicht möchte ich Mr. Ollivander besuchen. Er hat mir sehr geholfen. Schade, dass Ron und Hermine nicht mitkommen können.“
„Ja, es tut mir leid, aber ich sehe keine Möglichkeit dafür. Wenn das herauskommt, kann ich wirklich Ärger bekommen.“
„Und wegen mir nicht?“, fragte Harry.
„Nun, bei dir ist es etwas Anderes. Hermine hat Muggel-Eltern, die Hogwarts als ganz normale Schule verstehen. Und Rons Vater ist im Ministerium, und seine Mutter ist auch nicht ohne. Stell dir vor, den beiden passiert etwas. Aber du hast keine Eltern mehr, deine Verwandten haben dich in die Obhut von Hogwarts gegeben und ich bin, solange du hier oder in der Zaubererwelt bist, so etwas, wie dein Vormund. Natürlich nicht im rechtlichen Sinne. Und Sirius hat, als ich ihn auf dem Landgut deines Freundes gefragt habe, zugestimmt.“
„Wie? Haben sie da schon gewusst, dass wir nach London fahren?“
Dumbledore lächelte wieder.
„Sagen wir, gewusst habe ich es noch nicht, aber ich hatte die Ahnung, dass die gute Minerva das Schreiben des Ministeriums ernst nehmen würde. Und ich habe lange darüber nachgedacht, was ich sagen soll...“
Harry starrte Professor Dumbledore mit einer Mischung aus Ungläubigkeit und Bewunderung an. Wieder einmal zeigte sich, dass Dumbledore nicht nur der Direktor der Schule, sondern ein ganz besonderer Freund zu sein schien.
Schwere Schritte und das Schlagen der Eingangstür ließen ihn aufblicken. Hagrid kam herein. Auch er machte einen fröhlichen Eindruck. Er stapfte durch den Saal und ließ sich auf seinem Platz am Lehrertisch nieder.
„N’Morgen.“, brummte er. „Ihr seid ja Frühaufsteher. Kannst es nicht erwarten, neue Besen zu kaufen?“
Harry grinste. Hagrid kannte ihn. Er hätte es nie im Leben verschlafen, zu sehr hatte er sich darauf gefreut. Und jetzt, da auch die Slytherins am gleichen Strang zogen, war ihm auch ganz leicht ums Herz. Als hätte Hagrid in seinen Gedanken gelesen, fragte er:
„Wie hast du das gemacht? Ich meine wie hast du Malfoy und seine Jungs überredet?“
„Woher weißt du das? Ich habe mit niemandem darüber gesprochen?“
„Du weißt doch, dass hier die Wände Ohren haben. Irgendjemand schnappt etwas auf, erzählt es seinen Freunden, und die erzählen es anderen und irgendwann schafft’s das dann über die große Wiese bis in meine Hütte.“
„Ich glaube“, meldete sich Dumbledore mit einem verschmitzten Blick, „Unser Harry möchte lieber darüber schweigen. Lass ihm Zeit...“
„War es so schlimm?“, grinste Hagrid.
Harry nickte. Er nahm sich einen zweiten Toast, der, genau wie die anderen, durch irgendeinen seltsamen Zauber heiß war, als ob er gerade eben getoastet worden wäre, und wiederholte die Prozedur, ihn mit Butter und Honig zu tränken. Inzwischen hatte er sich seine Tasse mit heißem Kakao vollgegossen, etwas Zucker untergerührt, und verspeiste jetzt den Toast, indem er abwechselnd einen Bissen und einen Schluck aus der Tasse nahm. Er genoss es, mit den beiden Freunden am Lehrertisch zu sitzen und fast als ihresgleichen zu gelten.
Dann kam Magister Baumann hereingeglitten. Sie hatte sich in einen smaragdgrünen Umhang geworfen, ihr Haar zu einem Knoten gedreht und mit einer ebenso grünen, samtenen Schleife gebunden. Sie war geschminkt und schien es gerne zu sehen, dass die beiden Männer und der Schüler mit einer gewissen Bewunderung ihren Weg durch den Speisesaal verfolgten.
„Sie sehen blendend aus, Miss Baumann.“, sagte Dumbledore charmant. „Setzen sie sich zu uns. Freuen sie sich, einmal aus diesem Nest heraus und in das große London zu kommen?“
Magister Baumann lächelte ihn geschmeichelt an, wünschte einen guten Morgen und nahm Platz. Sie schenkte sich einen Kaffee ein und trank ihn, die Tasse wärmend in ihren schmalen Händen haltend, langsam aus.
Nachdem sie gefrühstückt hatten, schlug Dumbledore vor, nun aufzubrechen. Vorher zauberte er jedoch noch vier Taschen mit etwas Reiseproviant herbei, von denen jeder sich eine nahm. Dann standen sie auf, gingen die große Treppe hinauf und folgten dem Gang, der zum Eingang zu Dumbledores Büro führte. Im Büro angekommen, bat er sie, noch einen Augenblick Platz zu nehmen, er wolle den Portschlüssel vorbereiten. Professor Dumbledore verschwand durch einen kleine Tür, die unscheinbar zwischen zwei Regalen hinter seinem Schreibtisch in ein Hinterzimmer führte.
Harry sah sich um. Es hatte inzwischen gedämmert und das Büro, nur von einer spärlichen Lampe und dem milchigen Morgenlicht beleuchtet, lag geheimnisvoll im Halbdunkel vor ihm. Er kannte das Büro nun schon mehrere Jahre, zum ersten mal war er in seinem zweiten Schuljahr hier gewesen und hatte beobachtet, wie der wunderschöne Vogel sich in Rauch und Flammen aufgelöst hatte. Damals hatte Dumbledore ihn über die seltsamen Eigenschaften eines Phoenix aufgeklärt. Harrys Blick wanderte zu der Stange, auf der Fawks, der Phoenix immer saß. Fawks hatte, als sie das Büro betreten hatten, seinen Kopf unter dem Flügel hervorgezogen. Jetzt saß er da und sah Harry ins Gesicht.
Seine Augen hatten einen eigenartigen, aber vollkommen ruhigen Ausdruck. Fast blickten sie freundlich, jedenfalls beschlich Harry das Gefühl, Fawks würde ihn ansehen, als wolle er sagen: ‚Du machst es schon richtig. Vertraue mir.’ ‚Ich werde irgendwann noch einmal zu dir kommen.’, dachte Harry. ‚Ich weiß zwar noch nicht wie, aber ich muss mit dir reden...’ Der Phoenix senkte seinen Kopf, und in Harry entstand der Gedanke, dass der Vogel genickt hatte.
Dann kam Professor Dumbledore zurück. Er hatte einen alten Socken über seinen Zauberstab gehängt, der zwar offensichtlich frisch gewaschen, aber über und über mit Löchern versehen war.
„Tut mir leid“, sagte er. „aber ich habe auf die Schnelle nichts anderes gefunden. Wenn es euch nichts ausmacht, dann fassen wir ihn jetzt alle mit unserer rechten Hand an und werden dann in wenigen Augenblicken im Wohnzimmer von Alastor Moody sein. Miss Baumann? Harry, Hagrid?“
Auffordernd hielt er den Zauberstab mit dem alten Socken in die Mitte und machte eine einladende Handbewegung. Zögernd bewegte Harry seine Hand in Richtung des Sockens, und als alle ihn auf das Kommando „Eins, zwei,...drei!’ berührten, spürte er das wohlbekannte aber immer noch gewöhnungsbedürftige Gefühl, es würde ihm jemand der Bauchnabel herausziehen. Augenblicklich verschwamm das Büro, er wurde wie an einem Haken in die Luft gezerrt, sah in dem Sog das Schloss in der Ferne verschwinden und landete nach einem höllischen Ritt durch die Lüfte unsanft auf einem alten, mottenzerfressenen persischen Teppich.
„Uups!“, hörte er Magister Baumann aufstöhnen. „Daran werde ich mich nie gewöhnen.“ Im nächsten Augenblick schrie sie spitz auf und klammerte sich an den Arm von Hagrid. „Mein Gott, wer ist das?“, fragte sie entsetzt.
„Gestatten...Mein Name ist Moody, Alastor Moody.“, knurrte eine Stimme aus der Tiefe des Raumes heraus. Harry fuhr herum und sah in ein vertrautes schreckliches Gesicht. Madeye Moody saß in einem zerschlissenen Ohrensessel, die Hände auf einen knorrigen Stock gestützt, sein Holzbein über das gesunde geschlagen und versuchte, mit seinem zerstörten Gesicht ein freundliches Lächeln zustande zu bringen. Sein magisches Auge, das wie eine übergroße weiße Murmel in der Augenhöhle lag und dem Moody den Beinamen ‚Madeye’ verdankte, rotierte blitzschnell um seine Achse, und fand nur mühsam einen Ruhepunkt, nur um dann mit brennender Intensität auf die Ankömmlinge zu starren.
Magister Baumann erholte sich von ihrem ersten Schreck. Sie hielt die Hand vor den Mund, als wolle sie einen weiteren Schrei zurück halten, dann versuchte auch sie ein Lächeln und stotterte:
„Oh, es tut mir so leid, dass ich mich erschrocken habe. Professor Dumbledore hat mir schon so viel über sie erzählt, aber ich...“
„Oh, es ist schon in Ordnung.“, sagte Moody freundlich mit seiner krächzenden, tiefen Stimme. „Ich weiß, dass ich kein Adonis bin, und ich verstehe ihre Reaktion durchaus. Ich vergrabe mich schon seit Jahren in diesem Haus, und gehe nur an die frische Luft, wenn ich getarnt bin, oder wenn es dunkel ist. Machen sie sich mal keine Sorgen.“
„Ich muss zugeben, dass ich etwas...überrascht war.“, antwortete Magister Baumann. „Aber ich muss ihnen sagen, dass es mich freut, einen so berühmten Auroren, wie sie, kennen zu lernen.“
Moody verzog sein Gesicht zu einem maskenhaften Lächeln, das freundlich wirken sollte, ihn aber wegen seiner immensen Blessuren, die er bei der Arbeit davon getragen hatte, nur noch mehr entstellte.
“Danke.“, sagte er, dann sah er auf die anderen Ankömmlinge und sein Blick blieb bei Harry hängen. Das magische Auge klappte kurz nach hinten. Harry wusste, dass Moody ständig, auch in sicheren Umgebungen mit diesem Auge prüfte, ob eine Gefahr im Anmarsch war. Dann drehte sich das Auge wieder nach vorne und fixierte Harry.
„Du bist der junge Potter, nicht war?“, knurrte Moody.
Harry nickte ehrfürchtig. Auch er war sichtlich beeindruckt von seinem Gegenüber. Er kannte Moody von seinem letzten Schuljahr her. Zumindest kannte er eine exakte Kopie von Moody, denn dieser war von einem der treuesten Anhänger Voldemorts in einen Hinterhalt gelockt und betäubt worden. Das war Barty Crouch Junior, der Sohn des Ministeriumszauberers Barty Crouch Senior, der im letzten Jahr noch der Chef von Rons älterem Bruder Percy war. Crouch Junior hatte sich mit Hilfe des Vielsafttrankes die Gestalt von Moody verschafft, hatte sich in Hogwarts und das Vertrauen der Schüler eingeschlichen und Harry über die schweren Prüfungen des Trimagischen Turniers geholfen. Dabei hatte er nur ein Ziel verfolgt. Er wollte Harry in die Hände Voldemorts spielen, was ihm schließlich auch gelang, indem er den Pokal des Turniers in einen Portschlüssel verwandelt hatte. Dieser hatte Harry und Cedric Diggory auf einen alten Friedhof verfrachtet, Voldemort hatte Harry Blut stehlen können und war damit zu seiner alten Gestalt und Macht zurückgekehrt.
Harry hatte Moody nur kurz gesehen, als Dumbledore ihn aus Crouchs Koffer befreite, in dem er durch einen Zauber gefesselt fast ein ganzes Jahr verbracht hatte. Aber die Wesensart des alten Kämpfers war Harry vertraut, Crouch Junior hatte es verstanden, ihn täuschend echt zu imitieren.
„Freut mich.“, sagte Moody. „Wir hatten ja nicht viel Zeit, vor den Ferien. Und du möchtest heute in die Winkelgasse?“
„Wir wollen neue Besen kaufen, für unsere Schulmannschaft.“, sagte Harry etwas verlegen.
„Alastor, alter Junge.“, sagte nun Professor Dumbledore, der sich zunächst ein wenig im Hintergrund gehalten hatte, und trat ein paar Schritte vor. „Wie geht es dir?“
„Albus! Habe dich zuerst gar nicht gesehen, hast dich hinter diesem Riesen versteckt. Hallo Hagrid! Danke der Nachfrage. Habe mich inzwischen wieder ganz gut berappelt, aber ich muss schon sagen, in meinem Alter fast ein ganzes Jahr in einen Koffer eingesperrt zu sein, das hinterlässt Spuren.“
Hagrid grinste. Auch er kannte Moody von früher, wenn auch nicht so gut wie Albus Dumbledore, der ein ehemaliger Schulkamerad von Moody war, aber er wusste genug über ihn, um sich nicht von seinem Aussehen schrecken zu lassen.
„Hallo Mr. Moody.”, sagte er.
„Ja, dann...“, begann Moody und sah sich in seinem unaufgeräumten Wohnzimmer um. „Nehmt euch einen Stuhl und setzt euch. Ich meine, wir müssen noch ein paar Dinge besprechen, bevor wir uns nach draußen wagen.“
Harry sah sich um. Eine solche Unordnung hatte er noch nicht einmal im Hause der Weasleys gesehen, obwohl dort ein herrliches und herzerfrischendes Chaos herrschte. Moody lebte allein, und er war ein alter Knochen. Das sah man an jedem Winkel seiner Wohnung, die mit allen möglichen und unmöglichen Dingen vollgestopft war. Ein Tisch schaute verzagt unter Bergen von Büchern, Pergamenten und allerlei magischen Instrumenten hervor. Überall standen Geräte in der Gegend herum, die der Beobachtung der Gegend und der Warnung vor schwarzer Magie dienten. Auf den Pergamenten standen mehrere gebrauchte Tassen mit Kaffeeresten, ungespülte Teller und Schachteln mit Cornflakes und anderen Trockenspeisen herum.
Regale an den Wänden waren zum Bersten mit Büchern und Zeitungen gefüllt, zwischen denen Kristallkugeln, Spiktometer und andere Anzeigeinstrumente nahezu verschwanden. Alles war mit Staub bedeckt. Die Stühle, die Moody gemeint hatte, trugen Stapel alter Zeitungen, Schriftstücke und Pergamente, die mit seltsamen Zeichen vollgekritzelt waren. Die noch freien Stellen an der Wand waren mit Zeitungsberichten allerlei magischer Verbrechen und den Photos der schlimmsten schwarzen Zauberer, die in den letzten dreißig Jahren ihr Unwesen getrieben hatten, in heillosem Durcheinander bepflastert. Nur eines fehlte: ein Photo des schlimmsten aller Magier. Das Photo von Lord Voldemort.
Moody bemerkte die leichte Ratlosigkeit seiner Besucher.
„Wartet einen Moment. Ich glaube, ich habe schon lange nicht mehr aufgeräumt.“, sagte er entschuldigend. Er holte seinen Zauberstab unter einem Stapel Pergament hervor, schwang ihn mit ausladender Geste durch die Luft und knurrte „Clarificem“. Ein Wirbelwind brauste auf, packte das gebrauchte Geschirr und trug es in einen anderen Raum, der allem Anschein nach die Küche war. Dann bemächtigte er sich der Bücher, legte sie auf einen Stapel vor den Regalen, fuhr durch die Regalböden, holte die Instrumente heraus und schaffte sie auf einen freien Fleck des Fußboden vor dem Fenster, steckte die Bücher in die frei gewordenen Stellen der Regale und widmete sich dann den Zeitungen und Zeitschriften. Schließlich hatte der Zauber im Wohnzimmer einigermaßen Platz geschaffen, sauste durch die Tür und begann nun in der Küche herumzuklappern.
Die vier Besucher fanden nun jeder einen Stuhl, zogen ihn herbei und setzten sich vor den Ohrensessel, in den sich Moody in der Zwischenzeit ächzend niedergelassen hatte.
„So“, begann er aufs Neue. „Dann wollen wir mal zum Wichtigen kommen. Ich habe in den letzten zwei Wochen die Winkelgasse und die Nocturngasse unter die Lupe genommen. Die Lage sieht nicht besonders gut aus. Mich wundert, dass die Todesser sich in der Woche vor Ferienende zurück gehalten haben. Ich vermute fast, dass sie ihre eigenen Kinder nicht erschrecken wollten. Jetzt sieht die Sache ganz anders aus. Jeder, der in die Gasse kommt und einen der offiziellen Eingänge benutzt, wird gründlich kontrolliert. Finden sie einen, den sie auf ihrer Liste haben, verschwindet er einfach sang und klanglos. Keiner traut sich nachzufragen.“
„Mein Gott, das ist ja schrecklich!“, sagte Magister Baumann ganz bestürzt.
„Ja, schön ist das nicht. Wir werden noch finstere Zeiten erleben. Was ich euch sagen will ist, dass wir uns in höchste Gefahr begeben, wenn wir in die Winkelgasse gehen. Zumindest, wenn wir so tun als wäre nie etwas geschehen. Jeder von uns, bis auf sie, junge Dame, hat einen Grund, Voldemort und den Todessern nicht über den Weg zu laufen. Und ganz besonders betrifft das unseren jungen Schützling.“
Er deutete auf Harry. Magister Baumann ließ ihren Blick zwischen Moody und Harry hin und her schweifen, dann besann sie sich, murmelte ein „Ich hätte nie gedacht, dass es so schlimm ist!“ und fragte aufgeregt:
„Aber, warum sind wir dann hier? Es kann doch nicht sein, dass wir unser Leben riskieren, nur weil Hogwarts eine Schulmannschaft aufstellen will.“
„Meine liebe Miss Baumann“, schaltete sich Dumbledore jetzt ein. „Natürlich ist es gefährlich. Das will ich gar nicht in Frage stellen. Aber stellen sie sich vor, alle Welt würde jetzt in eine Schreckenslähmung verfallen. Dann hätten sie doch erreicht, was sie wollen. Nein, im Gegenteil, gerade jetzt, wo eine Gruppe fanatischer Dunkelmagier meint, die Weltherrschaft erringen zu müssen, ist es von ungeheurer Wichtigkeit, ihnen zu zeigen, dass es Magier gibt, die sich nicht von ihrem Gehabe beeindrucken lassen.
Sehen sie, jeder von uns, die wir hier in diesem Zimmer versammelt sind, hat besondere Fähigkeiten. Ja, ich spreche auch von Ihnen, Miss Baumann, stellen sie ihr Licht nicht hinter den Scheffel! Und unser junger Freund Harry hat sein Können nun schon oft genug bewiesen. Aber zu unserer eigenen Sicherheit haben wir uns zusammen gefunden, um diese an sich ganz leichte Aufgabe zu erledigen, die leider etwas gefährlicher geworden ist, als wir ursprünglich angenommen haben. Alastor ist nur noch der fehlende Baustein in unserem Puzzle, und ich habe ihn angesprochen, weil er der einzige ist, der uns vor einer nahenden Gefahr rechtzeitig warnen kann. Seien sie also ganz beruhigt, wir werden einen schönen Einkaufsbummel durch die Winkelgasse machen. Das verspreche ich ihnen. Alastor, was hast du geplant?“
Moody erhob sich langsam von seinem Sessel und humpelte mit hinter dem Rücken verschränkten Armen zum Fenster.
„Wir werden uns tarnen“, sagte er, „genau so, wie ich es immer tue, wenn ich mich an die Öffentlichkeit begebe. Ich habe ein paar schwarze Kutten besorgt, so dass wir uns von den Todessern zumindest äußerlich nicht unterscheiden. Sie, Miss Baumann“, und er drehte sich zu ihr um, „bitte ich, sich anders zu schminken. Legen sie blasse Farben auf und malen sie sich Schatten unter die Augen. Das ist weniger auffällig. Hier finden sie die nötigen Utensilien.“
Er zeigte auf eine kleine Schachtel, die mitten auf dem Tisch lag.
„Dann werden wir den Schattenzauber anwenden. Du kennst ihn noch, nicht wahr Albus? Er ist mir ein treuer Begleiter geworden. Der Schattenzauber wird uns so gut wie unsichtbar machen, wenn wir uns dem Tageslicht aussetzen. Er wird unser Licht schlucken und uns zu Schatten unserer selbst machen. Jeder, der uns begegnet wird nur eine Verdunklung wahrnehmen. Die meisten weichen intuitiv einem solchen Lichtspiel aus, ohne zu wissen warum, so dass wir nicht in die Gefahr kommen mit jemandem zusammen zu stoßen. Sollten wir Freunde treffen, genügt ein einziges Wort, um uns für sie sichtbar zu machen. Also, Albus, meinst du, das wird genügen?“
„Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann.“, sagte Dumbledore zufrieden. „Dann lasst uns mal anfangen. Ich jedenfalls möchte heute Abend nicht zu spät zum Abendessen nach hause kommen.“
„Gut, ziehen wir uns um. Wir werden übrigens mit Flohpulver reisen. Ich habe mir gedacht, dass Ollivanders ein geeignetes Ziel ist, und habe mit Ollivander schon Kontakt aufgenommen. Er erwartet uns.“
Ohne Eile legten sie ihre Umhänge ab und streiften sich die Schwarzen über. Magister Baumann entfernte ihre Schminke und puderte sich das Gesicht weiß ein. Dann malte sie sich mit unglaublich sicherem Strich dunkle Schatten unter die Augen. Mit etwas Rouge auf den Wangen, hatte sie nun etwas von einem Vampir, der gerade von seiner nächtlichen Wanderung nach Hause gekommen war. Ihr Haar band sie zu einem festen Knoten und zog die Kapuze tief in ihr Gesicht. Es sah schon eigenartig aus und hatte etwas verschwörerisches an sich, als die fünf Schwarzen Gestalten sich vor Moodys Kamin versammelten. Moody zündete mit seinem Zauberstab ein Feuer an, entnahm dann einer kleinen Blechdose, die er aus seiner Tasche gezogen hatte, eine Prise Pulver und warf sie ins Feuer. Das loderte sogleich grünlich auf und hob seine Flammen.
„Wird ganz schön eng.“, brummte Hagrid etwas unwillig. Moodys Kamin war ein ganz normaler Einfamilienhaus-Wohnzimmerkamin, und Hagrid befürchtete, dass er in dem engen Loch stecken bleiben würde.
Moody schob Hagrid zum Feuer.
„Nur hinein, mein Kamin ist nicht zu eng!“, sagte er. Hagrid bückte sich tief hinunter, stellte sich, so gut er konnte in das Feuer und rief:
„Ollivander“
Augenblicke später sah man nur noch einen bunten Wirbel, und Hagrid war verschwunden. Als nächstes ging Magister Baumann, dann Harry. Harry hatte das Flohpulver bisher nur zwei mal benutzt und jedes Mal war es fast zu einem folgenschweren Unfall gekommen. Er hatte kein gutes Gefühl, als er in die Flammen trat, holte aber wegen seiner Erfahrungen schon vorher tief Luft und rief nun klar und deutlich:
„Ollivander!“
Alles begann sich um ihn zu drehen. Es fühlte sich an, als würde er durch den Schlauch eines Staubsaugers gezogen. Es schwirrte und heulte um ihn herum, die Farben verschwammen zu einem bunten Nebel und nach wenigen Sekunden machte es „Ploff“ und er landete in der Asche eines Kamins. Nach Atem ringend stolperte er aus dem Kamin heraus und sah sich um. Er war wieder bei Ollivander im Hinterzimmer gelandet. Er war erleichtert, dass diesmal alles glatt gegangen war.
Mr. Ollivander saß an seinem Schreibtisch. Davor standen schon Hagrid, der seinen Kopf zwischen die Schultern gezogen hatte, damit er nicht an die Decke stieß und Magister Baumann, und sie sahen erwartungsvoll zum Kamin.
„Hallo Harry!“, sagte Mr. Ollivander erfreut. “Schön dich zu sehen. Wie geht es dir?“
„Oh, hallo Mr. Ollivander”, sagte Harry. “Danke, mir geht es gut.“
Mr. Ollivander musste lächeln.
„George“, sagte er, „nenn mich doch George.“
„Danke, Mr. Ollivander, ... George, natürlich, ich vergaß…”
Harry war es etwas unangenehm, George Ollivander bei seinem Vornahmen zu nennen. Ollivander war für ihn so etwas, wie eine Respektsperson, er strahlte eine Würde aus, die Harry automatisch in das „Sie“ rutschen ließ. Aber Ollivander gehörte zum Orden der Druiden, genau so wie Henry Perpignan und, seit einigen Wochen auch Harry und Hermine. Unter den Brüdern dieses Ordens war das „Du“ die übliche Art, sich anzureden, aber Harry befürchtete, dass es ihm sehr schwer fallen würde..
Es rumpelte wieder im Kamin und jetzt plumpste Professor Dumbledore durch den Schornstein in das Hinterzimmer. Einen Augenblick später kam auch Alastor Moody an. In dem jetzt folgenden Begrüßungstrubel fand Harry keine Gelegenheit, Ollivander nach seinem Befinden und den schweren Tagen im September zu fragen. Auch wollte er gerne wissen, wie es John ging, John, der kleine Junge, der Harry mit Informationen über die Vorgänge in der Winkelgasse versorgt hatte, als Voldemort noch den Zauberstab von Salazar Slytherin besaß und auf der Suche nach Harry war. John war von den Todessern auf üble Art zugerichtet worden und genas nur langsam von dem Überfall.
Aber jetzt, im Augenblick, spielte er nur eine Nebenrolle. Dumbledore kannte Mr. Ollivander auch schon viele Jahre und hatte ihn lange nicht mehr gesehen. Daher drehten sich alle Gespräche zunächst um das Wiedersehen und um die gesamtpolitische Lage und vieles mehr, für was sich Herren in gesetzterem Alter interessieren. Auch war es nötig, sich über die aktuelle Lage in der Winkelgasse zu erkundigen, und als man die wichtigsten Dinge geklärt hatte, empfahl Dumbledore, man solle nun aufbrechen um in den Laden Qualität für Quidditch zu gehen.
Madeye Moody ließ sein magisches Auge umherschweifen, dass Harry von dem Anblick fast schwindelig wurde. Dann bat Moody alle um die nötige Aufmerksamkeit, denn er wollte nun den Schattenzauber anwenden.
„Wir werden uns gleich selber nur noch als Schatten wahrnehmen.“, sagte er. „Wenn wir uns jemandem zu erkennen geben wollen, dann sagt das Wort resplande, wenn ihr wieder zu Schatten werden wollt, dann sagt sombra. Also...“
Er hob seinen Zauberstab, richtete ihn auf seine Begleiter und sagte bei jedem „Sombroses!“. Kaum war das Wort ausgesprochen, verdunkelte sich die ganze Person und verlor an Kontur. Schließlich war nur noch eine dunkle Färbung in der Luft an der Stelle, an der die Person gestanden hatte, wahrzunehmen. Einzig die Schattengestalten selber erkannten sich und konnten sogar die groben Gesichtszüge ihres Gegenübers erkennen, nur waren sie so dunkel, als wäre es Nacht geworden. Harry probierte sofort aus, wie er wieder licht werden konnte, denn jetzt wollte er die Gelegenheit ergreifen, Mr. Ollivander zumindest zu sagen, dass er nachher noch einmal zu Besuch kommen und mit ihm reden wolle.
Er murmelte „Resplande!“ und löste sich sofort aus dem Schatten. Sein Körper nahm wieder Form an.
„Ähm...George..., ähm...ich, ich möchte gerne, wenn wir fertig sind, noch einmal vorbeikommen. Ich habe noch viel zu Fragen, und ich möchte gerne auch noch etwas erzählen. Ist das in Ordnung?“
„Aber natürlich, Harry.“, antwortete George Ollivander. „Ich hätte dich auch noch darum gebeten. Nur es wäre sinnvoll, wenn du allein kommen könntest. Lässt sich das machen?“
„Ja. Irgendwie bekomme ich das schon hin. Danke, George...“
„Harry, wo bleibst du?“, schallte plötzlich Hagrids Stimme durch den Raum.
„Ja, ich komme!“, rief Harry, tarnte sich wieder und lief hinter den Anderen her durch den Laden und auf die Winkelgasse hinaus.
Madeye Moody war schon voraus gegangen. Immer wieder blieb er stehen und betrachtete prüfend die Umgebung. Es war ruhig auf der Winkelgasse. Ganz im Gegensatz zu den herbstlichen Tagen, an denen die Schüler sich mit allerlei Dingen versorgten, die sie für die Schule benötigten, und man kaum einen Schritt vor den Anderen setzen konnte, ohne mit jemandem zusammen zu stoßen, war die Gasse jetzt fast menschenleer.
Die wenigen Zauberer, die mit tief in die Gesichter gezogenen Hüten die Gasse entlang liefen, hielten sich im Schatten der Häuser und nutzten immer wieder die Geschäfts- und Hauseingänge, um stehen zu bleiben, und sich umzusehen. Nirgendwo sah man mehrere Leute zusammen stehen und miteinander reden. Alles schien in einer panischen Hast zu sein. Nie verweilte jemand länger, als dringend nötig an einer Stelle, sogleich wurde weitergehastet und schnellstmöglich ein Geschäft aufgesucht. Moody hielt die Anderen ebenfalls an, trotz ihrer Tarnung, den Schatten der Häuser zu nutzen und sich zu beeilen.
Harry erkannte die Eisdiele von Florean Fortescue, aber was er sah, erfüllte ihn mit Schrecken. Eine Fensterscheibe war notdürftig mit Brettern geflickt worden, das Schild über seiner Eisdiele hing schief herunter und auf einen großen Karren wurden Tische und Stühle verladen. Gerade kam Fortescue mit einem Karton auf dem Arm heraus und lud ihn auf den Karren.
„Was ist denn da los?“, fragte Harry und Hagrid, der neben ihm ging antwortete mit düsterer Stimme:
„Florean gibt auf. Das Geschäft ist diesen Sommer katastrophal gelaufen, und vor kurzem ist er angegriffen worden, wie er einen nicht reinblütigen Zauberer bedient hat. Er hat die Schnauze voll und geht nach Italien.“
„Ja, aber, ... er hatte die beste Eisdiele der ganzen Welt. Er kann doch nicht einfach abhauen...“
Harry war sichtlich irritiert. Das, was er in den letzten zwei Minuten gesehen hatte, erinnerte ihn gar nicht mehr an die Winkelgasse, die er gekannt und so sehr geliebt hatte.
„Harry, die Zeiten haben sich geändert.“, sagte Hagrid leise. „Und du solltest nicht so laut reden. Keiner weiß, wer gerade zuhört.“
„Aber Hagrid.“, flüsterte Harry heiser. „Das können wir uns doch nicht gefallen lassen. Wir müssen doch etwas tun. Voldemort macht alles kaputt. Er zerstört alles, was schön war!“
„Ich weiß Harry.“ Hagrid klang niedergeschlagen. „Und ich glaube, es wird noch schlimmer kommen. Aber wir müssen erst zusammenfinden, bevor wir etwas tun können. Das geht nicht von jetzt auf gleich. Hab Geduld, Harry.”
Harry schwieg bedrückt. Ein großes Unwohlsein beschlich ihn. Nach wenigen Metern hatten sie den Laden Qualität für Quidditch erreicht. Auch hier hatte sich etwas geändert. Die großen Schaufenster waren durch schwere Gitter geschützt. Aber die Auslage ließ Harrys Herz sofort höher schlagen. Neben reichverzierten Kästchen mit Bällen fand er Besenpflege-Sets, Trikots und natürlich einige herrliche Besen ausgestellt. Mitten im Fenster schwebte, wie damals schon, ein Feuerblitz. Darunter stand ein kleines goldumrahmtes Täfelchen mit der Aufschrift „Der beste Besen aller Zeiten. Exklusiv bei Qualität für Quidditch“ und dem Preis von vierhundertfünfundneunzig Galleonen. Moody stellte sich vor den Laden und sah sich um. Dann winkte er den Anderen und flüsterte:
„Geht hinein. Ich halte hier Ausschau. Wenn etwas ist, klopfe ich an die Scheibe. Dann tarn euch schnellstens wieder.“
Professor Dumbledore öffnete die Tür und die Vier glitten in den Laden hinein. Der Verkäufer, der hinter einem schweren, eichenen Tresen stand, blickte erstaunt zum Eingang. Dann griff er schnell unter die Theke und holte seinen Zauberstab hervor.
„Wer ist da?“, fragte er.
Professor Dumbledore murmelte “Resplande“ und machte sich wieder sichtbar.
„Bitte...“, sagte er und hob die Hände. „Wir wollen nichts schlechtes, wir mussten uns nur tarnen. Mein Name ist Albus Dumbledore, Schulleiter von Hogwarts.“
Der Verkäufer senkte den Stab und ließ erleichtert die Luft aus seinen Lungen entweichen. Jetzt hoben auch Hagrid, Harry und Magister Baumann ihren Schatten auf.
„Professor Dumbledore!“, sagte der Verkäufer freundlich, „welche Ehre, dass sie in unseren Laden kommen. Was kann ich für sie tun?“
„Wir wollen ein paar Besen kaufen.“, antwortete Dumbledore. „Wir brauchen sie für eine Schulmannschaft. Ich denke...“, und dabei schob er Harry vor, „dass unser junger Freund hier ihnen sagt, was er braucht.“
Der Verkäufer lächelte Harry freundlich zu, dann fiel sein Blick auf Harrys Stirn und er erschrak.
„Sie,...sie sind Harry Potter!?“, fragte er mit leiser Stimme und es hatte den Anschein, dass er sich im Laden umsah, ob ihn jemand hören konnte.
„Kommen sie bitte mit nach hinten.“, fuhr er fort, ohne eine Antwort abzuwarten. „Hier vorne ist es zu unsicher.“
Er öffnete eine Tür hinter dem Tresen und ließ die vier in einen Raum eintreten, der offensichtlich als Lager diente. Hier waren an den Wänden Haken angebracht, an denen unzählige Besen hingen. Als sie eingetreten waren, ging er noch einmal zur Ladentür und schloss sie ab. Dann eilte er hinter ihnen her ins Lager uns schloss die Tür.
„Es freut mich, sie in meinem Laden begrüßen zu dürfen, aber in den schlechten Zeiten, die wir erleben, ist es für Leute wie sie sehr gefährlich, in die Winkelgasse zu kommen. Ich bewundere ihre Kühnheit. Also, um was für Besen soll es sich handeln?“
Harry sah zu Professor Dumbledore hinüber. Der nickte nur freundlich.
„Ich dachte an Feuerblitze, oder zumindest den Nimbus 2001. Wir wollen Turniere machen, gegen andere Schulen, und vielleicht schaffen wir es auch in die Liga. Da müssen es schon gute Besen sein.“
Der Verkäufer nickte. Er ging zu einem großen Schrank hinüber, öffnete die Türen und holte einen Besen heraus. Diesen hielt er in die Luft und ließ ihn los. Es war ein Feuerblitz, der nun in der Luft stand, als wäre er an Seilen aufgehängt.
„Das ist unser neuestes Modell, der Feuerblitz ligero, es ist das Nachfolgemodell des vor zwei Jahren erschienenen Feuerblitzes. Er wurde noch einmal gründlich überarbeitet, der Feuerblitz hatte noch einige Schwächen, zu viel Eigengewicht, und die Aerodynamik stimmte noch nicht hundertprozentig. Er sehr schönes Stück.“
Damit schwieg er und beobachtete, wie Harry andächtig um den Besen herum ging, unfähig, ihn zu berühren. Er betrachtete alle Details und freute sich an der eleganten Form. Der Stiel war etwas abgeflacht, nur dort, wo die Hände lagen wies er eine leichte Verdickung auf.
„Nehmen sie ihn ruhig in die Hand.“, forderte ihn der Verkäufer auf.
Harry berührte vorsichtig den Besenstiel. War der alte Feuerblitz noch aus dunklem und schwerem Holz, so hatte der neue ein helles und ganz leichtes Holz vom Ginko-Baum. Das Reisig war von japanischer Trauerweide gefertigt und glitt geschmeidig durch seine Finger. Harry spürte den Besen ganz leicht vibrieren und er fühlte, dass allein Gedanken ihn schon steuern konnten.
„Er ist wunderbar.“, sagte er. Er sah zuerst den Verkäufer, dann Professor Dumbledore fragend an.
„Was kostet er denn?“, fragte Dumbledore.
„Nun ja, er ist ein klein Wenig teurer als der ursprüngliche Feuerblitz. Als einzelnes Exemplar steht er mit sechshundertundfünfzig Galeonen in der Liste.“
„Oh“, sagte Harry enttäuscht. „Das ist viel zu teuer für uns.“
„Wie viele brauchen sie denn, Mr. Potter?“, fragte der Verkäufer.
„Nun ja, für eine komplette Mannschaft. Aber ich habe ja schon einen Feuerblitz, also brauchen wir nur sechs. Auf der anderen Seite müssen wir wenigstens zwei Reservebesen haben...“
„Warten sie einen Augenblick.“, sagte der Verkäufer. „Ich werde mal kurz mit dem Hersteller reden. Vielleicht findet sich ein Weg, dass sie direkt ab Werk kaufen. Dann könnte es sein, dass sie ihn billiger bekommen.“
Er verschwand durch eine Seitentür und kam nach ein paar Minuten mit strahlendem Gesicht wieder.
„Ich denke, es kann so gehen. Sie sagen, dass, wenn sie eine Menge von zehn Stück abnehmen, wissen sie, dass ist die kleinste Großhandelsmenge, dann können sie ihn zum Großhandelspreis bekommen.“
„Und wie hoch liegt der?“, fragte Dumbledore.
„Vierhundertzwanzig. Zuzüglich Versand, es sei denn, sie holen sie selbst ab, dann entfällt das natürlich.“
„Was meinst du, Harry?“, fragte Dumbledore, obwohl er Harrys Antwort schon wusste. Er hatte mit Vergnügen das Leuchten in Harrys Augen beobachtet, als er ehrfürchtig um den Besen geschlichen war.
„Können wir uns das leisten?“, fragte Harry zurück und sein Gesicht begann zu glänzen.
„Ich würde sagen, ... ja.“ Dumbledore grinste.
Harry freute sich unbändig. Fast wäre er Dumbledore um den Hals gefallen. Hagrid klopfte ihm auf die Schulter und brummte:
„Dann kann ja fast nichts mehr schief gehen, mit der Schulmannschaft. Lässt du mich beim Training zuschauen?“
Harry lächelte.
„Klar!“, sagte er.
Nachdem Professor Dumbledore die Formalitäten erledigt hatte, tarnten sie sich wieder als Schatten und verließen den Laden. Moody nickte ihnen zu und sagte, dass alles ruhig gewesen sei. Jetzt wollte Magister Baumann noch bei Madame Malkins vorbeischauen. Sie musste einfach die Gelegenheit nutzen, in einem Londoner Kleiderladen zu stöbern. Die Verkäuferinnen erschraken nicht schlecht, als mitten im Laden plötzlich vier Gestalten sichtbar wurden, nachdem sich die Tür ohne erklärbaren Grund geöffnet hatte und auf einmal eine eigenartige Düsternis herrschte. Moody war wieder draußen geblieben und beobachtete die Gasse.
Die Umstände konnten rasch geklärt werden. Wie auch der Laden für Quidditch-Zubehör war Madame Malkins Geschäft für Roben und Zaubererkleidung menschenleer.
Dumbledore kannte Madame Malkins und bat eine der Verkäuferinnen, ihn in ihr Büro zu führen. Inzwischen suchte Magister Baumann einige schöne Festumhänge aus und verschwand in den Umkleidekabinen. Madame Malkins freute sich über den Besuch. Sie kam mit Dumbledore in den Laden zurück, um sich selbst um Magister Baumann zu kümmern. Man sah es ihr an, dass sie schwere Sorgen hatte.
„Die Geschäfte laufen sehr schlecht.“, klagte sie. „Wenn das Haus nicht mir gehören würde, hätte ich schon längst schließen müssen. Zum Glück bin ich von Angriffen bisher verschont geblieben. Aber es kommt kaum noch jemand in die Winkelgasse. Nur die Stammkunden kaufen noch bei mir, aber sie bestellen oft nur per Eule, und wir verschicken die Sachen dann. Albus, wann wird das nur aufhören?“
Dumbledore zuckte betrübt die Schultern.
„Es tut mir leid, meine Liebe. Aber das kann ich dir nicht sagen. Versuch durchzuhalten, es werden bessere Zeiten kommen.“
„Ein schwacher Trost.“, antwortete sie. „Wenn das Weihnachtsgeschäft dieses Jahr nichts wird, dann werde ich wohl meine Leute entlassen müssen. Du weißt, wie weh mir das tut. Es sind gute Leute...“
Magister Baumann entschied sich für eine Bordeauxfarbene Robe mit Pelzbesatz, ließ sie sich einpacken und zahlte. Dumbledore verabschiedete sich und nahm Madame Malkins tröstend in den Arm. Dann verließen sie das Geschäft.
Harry musste noch im Auftrag von Ron ein paar Schreibutensilien kaufen. Dann gingen sie zur Gringotts-Bank. Hagrid begleitete Harry hinunter, in die Kammer 713, in der Harry Geld abholte. Irgendetwas flüsterte ihm ein, dass er diesmal mehr holen müsse und Harry packte sich die Tasche so voll mit Galeonen, dass sie schwer an dem gespannten Trageriemen hing.
„Warum nimmst du so viel?“, wollte Hagrid wissen, als sie wieder in der Lore saßen und nach oben fuhren.
„Ach, ich weiß nicht. Ich habe das Gefühl, dass ich so schnell nicht mehr hierher komme. Da ist es wohl besser, ich nehme etwas mehr mit.“
Hagrid brummte zustimmend. „Wer weiß...“, sagte er leise.
Magister Baumann war ein Bisschen enttäuscht, dass ihre hohen Erwartungen nicht n Erfüllung gegangen waren. Sicher, sie hatte einiges über die Todesser und die bedrückende Situation in England gehört, aber in Hogwarts und auch in Hogsmead war nicht viel zu davon spüren. Dort befand sich alle im Einfluss des Pulses der schule, dort herrschte unbeschwertes Leben. Hier aber, in London, in der Winkelgasse schien alles nur noch traurig und düster zu sein.
Schnell verlor sie die Lust, als Schatten von einem Laden zum nächsten zu hetzen, auch wenn die in den Schaufenstern ausgestellten waren allemal ihr Interesse erregten, waren doch die äußeren Umstände einem Einkaufsbummel sehr abträglich. Nachdem sie noch einige Läden besucht hatten, sagte sie mit einem tiefen Seufzer:
„Ich glaub, ich habe gesehen, was ich sehen musste. Von mir aus können wir wieder nach Hause.“
Das es aber gerade auf die Mittagszeit zu ging und Hagrid, der nichts besorgen musste, sich als einziges Ziel des Besuches ein Glas Bier im tropfenden Kessel gewünscht hatte, beschlossen sie, dort hin zu gehen und einen Imbiss einzunehmen. Nachdem sie durch das Loch in der Mauer in den Hinterhof gelangt waren, ging Hagrid allein voraus in die Kneipe. An einem Tisch saßen zwei dunkel gekleidete Gestalten und unterhielten sich leise. Hagrid ahnte, dass es sich um Posten der Todesser handelte, die nur darauf warteten, dass jemand den Tropfenden Kessel betrat und sie ihn direkt in Augenschein nehmen konnten. Tom stand hinter dem Zapfhahn und lehnte sich an einen Schrank. Misstrauisch schaute er zu den beiden Gestalten hinüber. Hagrid schlich leise sich bis zur Theke, nahm sich einen Stift und einen Bierdeckel und kritzelte mit krakeliger Schrift darauf:
„Hallo Tom,
können wir in Dein Hinterzimmer?
Hagrid“
Dann nahm er den Bierdeckel in die Hand und hielt ihn so, dass Ton darauf aufmerksam werden musste. Zuerst erschrak Tom, doch dann schien er die Handschrift von Hagrid zu erkennen. Er stieß sich von dem Schrank ab und machte einen Schritt zu dem Zapfhahn hinüber. Mit einem Blick hatte er die Nachricht gelesen, nahm den Bierdeckel aus Hagrids Hand und zerknickte ihn mehrmals. Er warf ihn in den Mülleimer und flüsterte:
„Hallo Hagrid. Klar könnt ihr. Wie viele seid ihr?“
Dabei klapperte er ein wenig mit den Gläsern herum, die neben dem Zapfhahn standen und darauf warteten, mit Bier gefüllt zu werden.
„Wir sind fünf. Dumbledore, Harry, Moody und eine junge Lehrerin.“, antwortete Hagrid kaum hörbar.
„Geh schon mal nach hinten, ich hole die anderen rein.“, raunte Tom. Er klapperte noch mehr mit den Gläsern, dann rief er durch den Schankraum den beiden finsteren gestalten zu:
„He, ihr zwei! Wollt ihr ein Bier? Das muss doch langweilig sein, den ganzen Tag da zu sitzen!“
„Halts Maul, Tom. Du weißt, dass wir nicht zum Vergnügen hier sind!”, rief einer der beiden zurück.
„Ey Mann, ich geb’ einen aus. Bevor mir das ganze Bier schal wird, wie sowieso keiner kommt. Vielleicht kommt dann mal ein Bisschen Stimmung in die Bude!“
„Wenn das so ist! Dann lass mal rüberwachsen!“
Tom schenkte zwei Krüge bis zum Rand mit Lager. Sorgfältig strich er den Schaum ab, setzte die Krüge auf ein Tablett und gab diesem einen kleinen Schubs. Das Tablett schwebte durch den Raum und landete auf dem Tisch, an dem die beiden saßen. Sie nahmen die Krüge, prosteten Tom zu und tranken.
Währenddessen holte Tom den Mülleimer unter der Theke hervor und ging nach draußen, in den Hof. Als er die Schatten mehr erahnte, als sah, flüsterte er:
„Freut mich, dass ihr kommt. Geht ins Hinterzimmer, Hagrid ist schon da.“
Mit lautem Scheppern klappte er den Müllcontainer auf und leerte den Eimer hinein. Harry erkannte eine Gelegenheit, sich zu Mr. Ollivander zu begeben. Er mochte eh kein Bier, und das Lunchpaket, das er dabei hatte, reichte ihm vollkommen aus.
„Professor Dumbledore“, flüsterte er. „Ich würde jetzt gerne zu Mr. Ollivander gehen. Ich muss noch einiges mit ihm besprechen.“
„Harry!“, flüsterte Dumbledore zurück. „Ich kann dich nicht allein gehen lassen. Versteh mich bitte.“
„Bitte, Professor, man kann mich doch nicht sehen, und ich werde vorsichtig sein.“
„Ist schon in Ordnung!“, meldete sich jetzt Moody. „Ich gehe nicht mit hinein, und da kann ich auf Harry aufpassen. Lassen sie ihn ruhig gehen.“
„Gut Harry.“, sagte Dumbledore leise. „Wir kommen dann zu Ollivander. Wartest du dort auf uns?“
„Klar, mach ich. Danke, Professor Dumbledore!“
Tom hatte den Container wieder zugeklappt und ging auf die Tür zu. Schnell schlüpften Dumbledore und Magister Baumann in den Schankraum und Tom schloss die Tür hinter ihnen.
Als Professor Dumbledore und Magister Baumann im tropfenden Kessel verschwunden waren, wandten Harry und Moody sich zu der Wand am hinteren Ende des Hofes, drückten den Ziegel hinein und stiegen durch das Loch, das sich öffnete, zurück in die Winkelgasse. Mit schnellen Schritten eilten sie zum Laden von Mr. Ollivander. Moody erklärte, dass er wieder vor dem Laden warten und die Umgebung beobachten wolle. Das kam Harry mehr als gelegen.
Er betrat das Geschäft. Die kleine Glocke, die durch einen Nagel in der Tür angestoßen wurde klingelte. Mr. Ollivander kam aus seinem Büro und sah sich erstaunt um. Da hob Harry seine Tarnung auf und sagte:
„Hallo Mr. Ollivander. Ich bin es nur.“
„Meine Güte, Harry, komm in mein Büro, wenn dich jemand sieht!“
Er schob Harry schnell durch den Vorhang hinter der Ladentheke.
„Setz dich Harry.“, sagte Mr. Ollivander und deutete auf einen Stuhl neben seinem Schreibtisch. Harry sah sich um. Im September waren auf dem Schreibtisch noch Stapel von Aufträgen gelegen, jetzt war er leer.
„Die Geschäfte laufen nicht gut, nicht wahr?“, fragte er.
„Nein, sie laufen nicht gut. Da hast du recht. Manchmal könnte ich diese Verrückten verfluchen. Sie wissen gar nicht, was sie alles kaputt machen. Wie geht es dir, Harry?“
„Danke. Mir geht es ganz gut. Die letzten Wochen waren ziemlich aufregend. Ich bin richtig froh, dass ich wieder in Hogwarts bin.“
„Henry hat mir auch schon etwas erzählt“, sagte Ollivander, „aber wir hatten nicht viel Zeit. Magst du mir berichten, wie es in Rumänien war?“
Harry begann zu erzählen. Er schilderte die Tage bei Henry und seine Augen leuchteten dabei. Er erzählte, wie Lord Voldemort das Anwesen angegriffen hatte, und wie sie geflohen waren. Mit Begeisterung berichtete er von der Reise nach Rumänien und von dem Besenritt, die Donau entlang. All die Bilder strömten wieder auf ihn ein, und als er von der Burg Durmstrang erzählte, war er fast wieder dort. Was hatte er alles in den paar Wochen erlebt!
Bei der Schilderung der Ereignisse in der Klosterruine wurde Ollivander besonders aufmerksam. Gebannt lauschte er, wie Voldemort in den Besitz des Drachensteins gekommen war und der Zauberstab vernichtet wurde.
„Das hätte ich nicht erwartet...“, murmelte er nachdenklich.
„Mr. Ollivander...“, begann Harry.
„Harry, nenn mich doch George, wie es unter Druiden üblich ist.“
Harry sah Mr. Ollivander etwas unglücklich an.
„Es fällt mir schwer...“, sagte er und nach einem Augenblick des Nachdenkens: „Ich will es versuchen... George, mit diesem Zauberstab...weißt du etwas über ihn? Ich meine, mehr, als wir herausgefunden haben?“
„Warum?“, fragte Ollivander und hob eine Augenbraue.
„Du sagtest gerade: Das hätte ich nicht erwartet!“
„Mich wundert es ein Wenig, dass du nachfragst. Der Zauberstab ist zerstört und kann dir nicht mehr schaden. Gibt es irgend etwas, was du mir noch nicht erzählt hast? Etwas Wichtiges?“
„Ja“, sagte Harry gedehnt. Er überlegte kurz, dann erzählte er von den Ereignissen, die sich in den letzten Wochen auf Hogwarts zugetragen hatten.
„Was hat diese Reliquie zu bedeuten? Ich meine, Gryffindor hat das Schwert, und die anderen Häuser haben bestimmt auch ihre ... ihre Reliquien. Heißt das, wenn das Schwert von Gryffindor zerstört wird, dann wird Gryffindor aussterben?“
Ollivander dachte nach, dann schüttelte er langsam den Kopf.
„Ich glaube nicht, dass es wirklich mit einer Reliquie zusammenhängt. Damals, als die Schule gegründet wurde, war das ganze Land noch eher auf der Seite der alten Götter. Ich bin mir sicher, dass die vier Schulgründer mit dem Christentum nicht allzu viel am Hut hatten. Und diese Reliquienverehrung ist doch eher eine Sache der Christen gewesen.“
Ollivander stand auf und ging langsam im Raum auf und ab.
„Weißt du, Harry“, fuhr er fort, „Damals, als Hogwarts gegründet wurde, waren die Druiden und die – ich sage mal – die ‚normalen’ Zauberer viel näher beieinander. In Urzeiten gab es nur den keltischen und davor den megalithischen Zauberkult, der noch sehr eng mit einer Art Naturreligion verknüpft ist. Die vier Gründer von Hogwarts gehörten einer Gruppierung an, die sich ‚Die neue Schule’ nannten. Das hatte nichts mit einer Schule zu tun, sondern es hieß, dass sie sich einer neuen, und vielleicht auch moderneren Lehre angeschlossen hatten, die nur wenige Jahrzehnte alt war.
Diese Lehre löste sich von der Naturreligion und damit ließ sich ein leichterer Weg gehen. Wenn sich Zaubern nur mit uralten Riten ausüben lässt, ist die Anforderung an die Ausbildung sehr hoch. Gryffindor und Slytherin hatten erkannt, dass es für Menschen, die die Fähigkeit in sich hatten oft zu schwer war, neben ihren alltäglichen Arbeiten ihr Zauberhandwerk zu erlernen. So sind viele, sicherlich begabte Zauberer im Nichts verschwunden, weil sie es nie lernen konnten.
Und das war der Ansatzpunkt für die vier Gründer. Sie wollten auch einfachen Leuten den Weg zum Zauberertum ermöglichen, ohne dass die all den religiösen Kram zu lernen hatten. Dadurch konnte die Zahl der Zauberer erhöht und natürlich auch ihre Ausbildung um etliche Jahre verringert werden. Stell dir nur vor, was das für eine Erleichterung für die Zaubererfamilien waren.
Slytherin war allerdings nicht ganz so überzeugt von der neuen Lehre, wie die anderen Drei. Seiner Meinung nach sollte es einen gesunden Mix aus der alten und der neuen Lehre geben. Er war einfach überzeugt, dass die Zauberei, die auf den alten Methoden beruhte, mächtiger und nachhaltiger war. Die neue Methoden waren ihm zu oberflächlich und produzierten zwar eine große Masse an Zauberern, die aber bei weitem nicht die Fähigkeiten der alten Druiden hatten.“
Ollivander schwieg einen Moment lang. Er sah Harry an und überlegte. Harry hatte gebannt zugehört, jetzt schien er wie aus einem Traum aufzuwachen.
„War...war Slytherin ein Druide?“, fragte er.
„Hm, nein. Er war kein Druide. Ich sagte schon, er war ein Anhänger der neuen Lehre. Sie versprach einfach zu viele Vorteile. Aber er kannte eine Reihe von Geheimnissen, denn sein Vater war Druide. Du musst dir das als eine ganz normale Vater Sohn Beziehung vorstellen. Auch heute noch ist es so, dass Söhne gerne gegen ihre Väter aufbegehren, weil diese ihnen zu altmodisch erscheinen. Aber in der Druidenfamilie, in der Salazar aufgewachsen ist, wurden die Rituale in Ehren gehalten, und so erlangte er Kenntnis von Dingen, von denen Gryffindor und die Anderen keine Ahnung hatten.“
„Aber was hat das jetzt mit dem Zauberstab zu tun?“, fragte Harry, der den Sinn des Ausflugs in die Geschichte nicht ganz nachvollziehen konnte.
„Zunächst einmal gar nichts.“, sagte Ollivander. „Du hast sicher schon gehört, dass Slytherin mit den anderen Gründern von Hogwarts in Streit geraten ist.“
Harry nickte.
„Gut. Der Streit hat seine Wurzeln darin, dass Slytherin seine Herkunft eben nicht verleugnen konnte. Ravenclaw und Hufflepuff waren absolut von den neuen Lehren überzeugt. Sie hassten das alte System, besonders Helga, die für damalige Verhältnisse eine außerordentlich emanzipierte Frau war. Sie konnte es ihr ganzes Leben lang nicht akzeptieren, dass Frauen keinen Zugang zu dem Druidentum hatten.“
„Wusste sie denn von den Druiden?“, fragte Harry, der immer noch nicht verstand, was Ollivander ihm sagen wollte. „Ich meine, die Druiden, die sind doch ein Geheimbund. Wie konnte sie davon wissen, wenn sie kein Druide war?“
„Dafür gibt es eine ganz einfache Erklärung.“ Ollivander lächelte. „Weißt du, was die Kirche mit den Druiden gemacht hat? Die Kirche hat sich in Britannien etwa vor zwölfhundert Jahren rasant verbreitet. Die Kirchenfürsten konnten es nicht zulassen, dass die Druiden eine solche Machtstellung im Volk hatten. Sie metzelten alles nieder, was in ihren Augen nach Zauberei und Druidentum aussah. Uns blieb nichts anderes übrig, als uns zu verstecken. So ist erst viele Jahre nach der Gründung von Hogwarts der Geheimbund entstanden.
Aber ich wollte dir noch etwas zu Slytherin erzählen. Der Streit führte damals dazu, dass Slytherin Hogwarts verließ. Es dauerte ein paar Jahre, bis sein Entschluss fest stand, aber in diesen paar Jahren hatte er immer schon eine Ahnung, dass es eines Tages zu einer Trennung kommen musste. In diesen Jahren bereitete er sein, nun ja, wie soll ich es nennen, sein Testament vor. Einen Teil scheinst du ja schon kennen gelernt zu haben. Die Kammer des Schreckens. Aber, soweit ich die Gerüchte kenne, und jetzt begebe ich mich auf den wackeligen Boden der Spekulation, ist die Kammer des Schreckens nicht sein eigentliches Testament. Ich vermute vielmehr, dass es der Zauberstab war.“
„Meinst du etwa, er hat, ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll...er hat den Zauberstab verhext?“
Ollivander lachte leise.
„Das hast du schön ausgedrückt. Vielleicht kann man es so sagen. Ich glaube, er hat damals die Verbindung zwischen seinem Zauberstab und dem Haus Slytherin geschaffen. Dann hat er dafür gesorgt, dass der Zauberstab für die nächsten Jahrhunderte verschwunden war. Vielleicht wurde er in seiner Familie von Vater zu Sohn, von Mutter zu Tochter weitergegeben, jedenfalls hat man bis zum Jahre 1976 nichts mehr davon gehört. In dem Jahr kam ein junger Mann in den Laden meines Vaters. Ich war damals noch sein Assistent und unterwegs, um Einhornhaare zu kaufen. Daher weiß ich nicht genau, wie es gewesen ist. Jedenfalls, er hat meinem Vater diesen Zauberstab verkauft. Ich weiß es noch genau, wie ich nach Hause kam und mein Vater mich in dieses Büro gezogen hat. Er holte dort aus dem Regal eine lederbezogene Schachtel, und als er sie öffnete und mir den Zauberstab zeigte, haben seine Augen geleuchtet. ‚Das ist ein ganz besonderes Stück, mein Sohn’, hat er gesagt, und mir dann erzählt, was für ein besonderes Stück es war.“
„Ich glaube, jetzt langsam verstehe ich.“, sagte Harry nachdenklich. „Genau! Der Phoenix! Ich habe geträumt, der Phoenix hätte mir gesagt, ich müsse den Erben von Slytherin finden. Kann es sein, dass, wenn ich den Erben gefunden habe, diese Geschichte mit Slytherin wieder in Ordnung kommt?“
Ollivander hob den Kopf und sah Harry prüfend an. Dann nickte er langsam.
„Das ist möglich...“, sagte er. Eine Weile schwiegen sie, jeder in seine Gedanken versunken. Dann ging auf einmal ein Ruck durch George Ollivander. Er sah Harry an und fragte:
„Meine Güte, was bin ich für ein unhöflicher Mensch! Möchtest du einen Tee?“
„Oh, ja, gerne!“, antwortete Harry. Er war froh, dass George das Thema gewechselt hatte. Die Gedanken an die Slytherins und den seltsamen Traum bedrückten ihn, und er dachte nur sehr ungern darüber nach. Dennoch hatte er die Geschichte von George mit äußerster Spannung verfolgt.
Ollivander verschwand kurz in seiner kleinen Teeküche, die in dem anderen Hinterzimmer seines Ladens lag und kehrte nach wenigen Minuten mit einem Tablett mit Tassen und einer bauchigen Teekanne zurück. Er stellte das Geschirr auf den Tisch und goss die Tassen voll. Harry hatte seit dem Frühstück nichts mehr getrunken, und als er den Tee vor sich stehen sah, brannte plötzlich ein immenser Durst auf seiner Zunge. Genüsslich ließ er das leicht bittere Getränk durch seine ausgetrocknete Kehle rinnen. Als er die Tasse wieder auf den Tisch stellte, fiel ihm John ein.
„Wie geht es übrigens John?“, fragte er. „Ich habe gehört, dass er sich nur langsam erholt. Haben sie ihn denn so fertig gemacht?“
„Ach John.“, seufzte George. „Nun ja, eigentlich ist er wieder ganz gesund. Die heutige Medizin ist ja sehr schnell. Aber er ist nicht mehr glücklich. Er hat wohl einen schrecklichen Schock erlitten, und davon hat er sich nicht mehr erholt.“
„Aber nächstes Jahr wird er doch nach Hogwarts kommen, oder?“
„Ich fürchte, das wird nicht möglich sein. Seine Mutter hat schon überlegt, ihn in Pflege zu geben. Weißt du, es ist so etwas wie eine seelische Krankheit. Im Moment kann ihm niemand helfen.“
„Wieso kann ihm niemand helfen?“, fragte Harry betroffen. „Ist er jetzt geisteskrank? Oder behindert?“
„Nein, so kann man es nicht sehen. Er ist nicht mehr krank in dem Sinne. Er versteht, was man sagt, und er antwortet auch, aber er ist in einer anderen Welt. Wie wäre es, wenn du ihn besuchst? Dann kannst du dir selber ein Bild davon machen.“
Harry machte ein betrübtes Gesicht. John tat ihm unendlich leid und er hatte ein schlechtes Gewissen.
„Das würde ich gerne machen. Er hat für mich sein Leben riskiert. Ich stehe in seiner Schuld.“
„Es freut mich, dass du so denkst.“, schmunzelte George. „Aber du kannst nichts dafür. Du bist nicht verantwortlich, was die Todesser machen.“
„Aber ich habe ihn gebeten, sie zu beobachten. Damit habe ich ihn in Gefahr gebracht. Du kannst mir viel erzählen, George. Ich habe zumindest einen Teil an der Schuld.“
In diesem Augenblick hörten sie die Glocke am Eingang klingeln. Fast automatisch tarnte sich Harry und stellte sich in eine dunkle Ecke des Büros. Als Ollivander gesehen hatte, dass Harry nicht mehr zu entdecken war, ging er nach vorne. Nach einem kurzen Moment wurde der Vorhang beiseite geschoben und Ollivander führte Dumbledore und die drei anderen herein.
„Es ist alles in Ordnung.“, meinte er mit Blick auf Harry, der sich nun wieder sichtbar machte. „Wir sprachen gerade von John. Ich habe Harry empfohlen, ihm einen kurzen Besuch abzustatten. Meint ihr, das ließe sich einrichten?“
„John?“, fragte Dumbledore. „Der Junge, der dieses Jahr in Hogwarts aufgenommen werden sollte?“
„Ja, Professor Dumbledore“, sagte Harry und blickte schuldbewusst zu Boden. „Ich schulde ihm etwas.“
„Ich denke, das können wir machen. Was meint ihr dazu?“. Dumbledore wandte sich an die drei Anderen. Diese nickten. Magister Baumann kannte jedoch die Geschichte noch nicht und fragte:
„Was ist mit diesem John?“
Dumbledore lächelte verständnisvoll und wandte sich an Harry.
„Möchtest du ihr kurz erzählen, was passiert ist?“
Harry nickte. Er begann, die Geschichte noch einmal zu erzählen, machte es aber kurz und ließ viele Dinge einfach weg. Magister Baumann nickte, als Harry geendet hatte.
„Ja, ich glaube, es ist eine gute Idee, wenn sie ihn besuchen.“, sagte sie. „Sollen wir alle mitkommen?“
Dumbledore sprach sich dafür aus.
„Ich denke“, meinte er, „dass wir dann von John aus abreisen sollten. Wir haben alles erreicht, was wir wollten, nicht wahr Hagrid?“
Hagrid schwankte leicht. Er hatte sich in den zwei Stunden, die sie im Hinterzimmer des tropfenden Kessels verbracht hatten, mehrere Humpen genehmigt und nun sah er aus, als hätte er einen leichten Schwips. Er grinste und sagte mit schwerer Zunge:
„Jawoll, Chef!“
Dumbledore ließ sich von Ollivander den Weg beschreiben. Als Harry sich dann von George verabschiedete, nahm dieser Harrys Hand, hielt sie einen Moment lang fest, und sah ihm in die Augen.
„Viel Glück bei deiner Suche.“, sagte er. „Wenn du Hilfe brauchst, dann schreib mir. Oder Henry, er weiß auch eine Menge über das Thema, über das wir vorhin gesprochen haben. Ach, was ich noch fragen wollte, kommst du in den Winterferien nach Perpignans Place?“
„Na klar! Ich freu mich schon riesig darauf. Endlich kann ich mal ein paar Tage mit Sirius verbringen, und auf Henry freue ich mich auch.“
„Nun“, lächelte George, „Vielleicht werde ich auch kommen. Und Llyr wird wohl auch da sein. Wir vier müssen uns dringend über deine Zukunft unterhalten. Ich glaube, Henry hat großes mit dir vor.“
„Was hat er vor?“, fragte Harry neugierig.
„Wart es ab. Es ist wegen, ..., du weißt schon was...“
Ollivander lächelte und Harry verstand. Es stand zu vermuten, dass Harry mehr über die Druiden erfahren sollte. Hoffentlich blieb noch etwas Zeit für Sirius, dann konnten sie mit ihm machen, was sie wollten.
„Dann bis zu den Ferien.“, sagte Ollivander und ließ Harrys Hand los. Sie tarnten sich wieder und machten sich auf den Weg. Vor Ollivanders Laden bogen sie rechts ab, folgten der menschenleeren Winkelgasse und bogen schließlich in eine kleine Seitengasse ein, die so schmal war, dass sie hintereinander gehen mussten. Inzwischen war es beißend kalt geworden. Schwere Wolken hatten sich über den Himmel geschoben und erweckten den Anschein, dass sie bald ihre Last über London abladen würden.
„Es wird Schnee geben.“, murmelte Hagrid, der hinter Harry ging.
„Ja, wir sollten zusehen, dass wir bald nach Hause aufbrechen.“, sagte Dumbledore leise von vorne. Am Ende der Gasse angekommen, standen sie vor einem heruntergekommenen, windschiefen Haus, aus dessen Schornstein sich ein dünner Rauchfaden in den Himmel zog.
„Hier muss es sein!“, sagte Dumbledore leise und blieb stehen. Er nahm den schweren Eisenring, der an der Tür hing und ließ ihn gegen das Holz fallen. Ein dumpfer Ton drang aus dem Haus wie ein Echo, dann herrschte Stille. Nach ein paar Augenblicken wurde eine kleine Klappe in der Tür geöffnet und eine Frauenstimme fragte, wer da sei.
„Erschrecken sie bitte nicht, wenn sie uns nicht sehen“, sagte Dumbledore mit freundlicher Stimme. „Wir mussten uns leider etwas tarnen, wegen der Leute, die hier im Viertel für Unruhe sorgen. Mein Name ist Dumbledore und ich bin der Schulleiter von Hogwarts. Ich würde mich freuen, wenn sie uns einlassen würden.“
„Wer sind die anderen?“, fragte die Frau hinter der Tür.
„Es sind Mr. Moody, ein Auror, Hagrid, unser Lehrer für magische Wesen, Miss Baumann unsere Lehrerin für Zaubertränke und schließlich unser Schüler Harry Potter.“
Die Klappe schloss sich wieder, es ertönte ein Scheuern an der Tür, als würden mehrere Riegel zurück geschoben, und dann öffnete sich die Tür einen Spalt.
„Wie kann ich ihnen trauen, wenn ich sie nicht sehen kann?“, fragte eine Frau mit verhärmtem Gesicht. Dumbledore sah sich um, ob niemand sie beobachtete, und als er sich sicher war, dass das nicht geschah, hob er den Schatten auf.
„Oh, sie sind es wirklich!“, sagte die Frau erfreut und öffnete die Tür, nachdem sie noch eine letzte Kette entfernt hatte. „Kommen sie herein. Was für eine Ehre!“
Sie betraten das Haus, und als die Tür wieder verriegelt war, machten sich auch die Anderen wieder sichtbar.
„Ich bin Mrs. Atado, Johns Mutter. Herzlich willkommen in meinem bescheidenen Heim. Es tut mir entsetzlich leid“, begann die Frau wieder, „aber das Haus ist so alt und kaputt. Ich...es ist mir so unangenehm, hier so hohen Besuch zu empfangen. Wissen sie, seit mein Mann nicht mehr lebt, fehlt es uns an allem. Da bleibt kein Geld mehr, um das Haus in Schuss zu halten...“
„Aber, das macht nichts, meine Liebe.“, sagte Dumbledore beruhigend. „Ich habe schon schlimmeres gesehen.“
Sie führte die Besucher eine steile Treppe nach oben. Innen sah das Haus fast noch schlimmer aus, als von außen. Zwar war es sauber, aber der Teppich, der auf der Treppe lag, war voller Löcher und hatte kaum noch etwas von seiner ursprünglichen Farbe. Die Tapete ließ an vielen Stellen den blanken Putz durchscheinen, und selbst dieser war bröckelig und hier und da bröselte er bereits herunter.
„Seien sie bitte vorsichtig, die vierte Stufe ist morsch, sie könnten durchbrechen.“, sagte die Frau mit sorgenvollem Blick auf Hagrid, der das enge Treppenhaus vollständig ausfüllte.
Oben öffnete sie in einem schmalen, mit Möbeln vollgestellten Flur eine Tür und führte die Besucher in das Wohnzimmer. Vor langer Zeit war es einmal ein gemütliches und sicherlich auch gut bürgerliches Zimmer gewesen, aber jetzt waren die Sessel und das Sofa abgenutzt und Wolldecken verbargen die Löcher in den Bezügen. Es war alles sehr sauber, aber man sah auf den ersten Blick, dass hier tiefste Armut herrschte.
Im Kamin schwelte ein spärliches Feuerchen, das den Raum mit viel Rauch und wenig Wärme füllte. In einem hochlehnigen Stuhl vor dem Kamin saß in mehrere Decken eingehüllt ein kleiner, elfjähriger Junge, blass und apathisch auf die Glut starrend. Als alle das Zimmer betreten hatten, bot die Frau ihnen einen Platz an.
„John, mein Junge.“, sagte sie liebevoll und ging zu dem Stuhl hinüber. „Wir haben Besuch. Du kennst doch noch den jungen Master Potter, nicht wahr? Und Professor Dumbledore und ein paar andere Lehrer aus Hogwarts sind gekommen. Sie wollen dich sehen.“
John hob langsam den Kopf. Dann drehte er ihn und ließ seinen Blick über die Besucher gleiten. Als er Harry sah, zog sich ein leises Lächeln über seine Mundwinkel, aber es erlosch sogleich wieder und wich einem ausdruckslosen Gesicht. Mrs. Atado drehte den Stuhl, damit er den Anderen zugewandt sitzen konnte, aber John wehrte sich.
„Nein, Mutter, ich will in das Feuer sehen.“, kam es leise und tonlos aus seinem Mund. „Es erzählt so schöne Geschichten...“
Traurig sah sie auf ihren Jungen nieder, dann gab sie sich einen Ruck.
„Darf ich ihnen eine Tee anbieten? Es ist nicht der beste, aber ich habe im Moment keinen anderen.“
Dumbledore machte ein betrübtes Gesicht, lächelte dann aber und sagte mit sanfter Stimme:
„Machen sie sich unseretwegen keine Mühe. Wir begleiten nur Mr. Potter. Er wollte John besuchen.“
„Das ist sehr freundlich von ihnen.“, sagte Johns Mutter und lächelte Harry an. „John freut sich sehr, aber er kann es nicht mehr sagen. Mein Gott, der arme Junge, er ist immer so weit weg von der Welt.“
Sie verschwand aus dem Wohnzimmer und kam kurz darauf mit ein paar Tassen wieder, die sie auf dem Tisch aufstellte. Dann ging sie wieder hinaus um den Tee zu kochen.
„Harry soll kommen.“, meldete sich plötzlich John vom Feuer her. Harry stand unsicher auf und ging zögernd zum Kamin hinüber.
„Hallo John“, sagte er. „Es tut mir so leid, was sie mit dir gemacht haben.“
John hob den Kopf und sah Harry an. Wieder flog ein zaghaftes Lächeln über sein Gesicht, nur um im nächsten Augenblick wieder hinter der Maske der Ausdruckslosigkeit zu verschwinden.
„Sie haben dein Autogramm nicht gefunden.“, flüsterte John und seine Augen glänzten für einen Moment ganz stolz. „Schau, ich habe es noch...“
Er öffnete seine Faust und rollte das Photo auseinander, das Harry ihm damals in Ollivanders Laden unterschrieben hatte.
„Ich habe es extra für dich geholt. Ich wusste, dass du heute kommst. Das Feuer hat es mir erzählt.“
Harry schluckte. Hilflos sah er sich um. Professor Dumbledore nickte ihm wohlwollend zu, als wolle er sagen: ‚Lass es heraus, es wird dir gut tun.’ Harry atmete tief durch.
„John, ..., John, ich möchte dir danken. Es tut mir so leid, was sie mit dir gemacht haben. Ich möchte, dass du weißt, das ich das nicht gewollt habe...“
„Es ist ok, Harry. Mir geht es gut. Ich habe nicht alles gesagt. Das meiste habe ich für mich behalten. Du hättest sehen sollen, wie ich sie geärgert habe.“
Johns Stimme war leise, aber sie drang mit einer seltsamen Klarheit durch den Raum, gerade so, als würde er in einer großen Halle sprechen. Es klang, als wäre er tatsächlich nicht hier, sondern an irgendeinem fernen Ort, irgendwo auf dieser Welt.
„Du hast mir ein schönes Geschenk gemacht, Harry.“, fuhr John nach einer Pause fort. „Ich kann jetzt hören, was mir die Flammen erzählen. Es sind so schöne Geschichten...“
Dann verstummte er, legte den Kopf zur Seite und es sah so aus, als würde er wieder den Stimmen zuhören, die aus dem Feuer sprachen. Harry berührte leicht seine Schulter, schließlich wandte er sich ab und ging mit betretener Miene zurück zu dem Sofa. Johns Mutter hatte inzwischen den Tee hereingebracht und eingeschenkt. Jetzt zog sie sich einen Stuhl herbei und setzte sich.
„Er sitzt den ganzen Tag vor dem Feuer.“, berichtete sie und schaute liebevoll in seine Richtung. „Manchmal ist es ganz seltsam. Dann scheint er wirklich zuzuhören, was ihm die Flammen erzählen. Leider kann ich nicht jeden Tag das Feuer anmachen, dann sitzt er aber trotzdem da und starrt auf den Kamin. An manchen Tagen ist es ganz schlimm, dann ist er richtig nervös und fragt mich, wann ich das Feuer anmache. Und wenn ich ihm sage, dass ich kein Holz habe, dann regt er sich sehr auf. Aber es gibt auch Tage, an denen ist er schon fast wieder der Alte, so wie er früher war.“
„Darf ich fragen, wovon sie leben?“, fragte Dumbledore behutsam. Harry sah zu Hagrid hinüber und bemerkte, dass sich in seinen Augenwinkeln ein feuchter Glanz gebildet hatte.
„Ach, ich habe manchmal eine Arbeit. Nicht oft, aber es reicht, um das Nötigste zu kaufen. Viel ist es nicht. Ich müsste dringend etwas am Haus tun, aber ich kann es nicht selber machen und bezahlen ist auch nicht drin. Jetzt, wo John wieder da ist und ich ihn pflegen muss, habe ich eigentlich keine Zeit mehr, arbeiten zu gehen. Manchmal hilft mir meine Nachbarin, sie passt auf John auf, dann geht es.“
Dumbledore führte seine Tasse zum Mund, blies ein Wenig hinein, um den Tee abzukühlen, dann trank er einen Schluck.
„Sie sind Witwe, sagten sie?“, fragte er weiter.
„Ja.“, sagte sie, „John war noch ein Baby, als mein Mann schwer krank wurde. Er hatte eine gute Arbeit, im Ministerium, da war er Archivar, und wir konnten uns von seinem Ersparten dieses Haus hier kaufen. Keiner konnte ihm helfen, wir sind von Arzt zu Arzt gelaufen, bis er nicht mehr gehen konnte. Fast ein Jahr hat er dann gelegen und ist, als John gerade laufen gelernt hatte, gestorben. Er hatte nicht genug Jahre beisammen, so dass die Versicherung keine Rente gezahlt hat, es wäre auch nur ein Tropfen auf den heißen Stein gewesen. So habe ich halt versucht, für unsere kleine Familie zu sorgen.“
Hagrid schnaufte tief durch und wischte sich mit seinen riesigen Händen über die Augen.
„Was meinen den die Ärzte?“, wollte Dumbledore wissen, „Wird John im nächsten Jahr in die Schule kommen können?“
„Das kann ich ihnen leider nicht sagen. Die Ärzte schweigen sich aus. Angeblich ist er kerngesund, aber sehen sie ihn sich an. So kann er nicht nach Hogwarts. Und ich habe Sorge, dass es nicht besser wird. Was war er doch für ein lebhafter Junge...“
Mit einem Mal ging ein Ruck durch John. Harry hatte es nur durch die Augenwinkel gesehen, aber John hatte sich kerzengerade aufgesetzt. Er neigte seinen Kopf zum Kamin hin und lauschte. Dann drehte er sich um und ein einziges Wort kam über seine Lippen:
„Gefahr!“
„Was ist los John“, fragte seine Mutter milde lächelnd, „hast du wieder geträumt?“
„Gefahr!“, sagte John, und diesmal sagte er es so eindringlich, dass Moody aufmerksam wurde. Er sah John mit seinem gesunden Auge an und sein magisches Auge rotierte wie wild in seiner Augenhöhle.
„Was für eine Gefahr?“, fragte er leise.
„Sie kommen, Mr. Moody!“, antwortete John. „Sie wollen hierher...“
Dann wandte er sich wieder dem Kamin zu, sein Blick ging ins Leere und er lauschte.
„Woher kennt er dich?“, fragte Dumbledore verwundert. Ich habe dich ihm gar nicht vorgestellt!?“
Moody verzog sein Gesicht zu einer Grimasse, die ein Grinsen darstellen sollte.
“Er weiß viel!“, sagte er. „Er hat das dritte Auge. Er wusste, dass wir hier her kommen, und er weiß auch, wer ihr alle seid. Und er weiß wer da kommt. John, kannst du mir sagen, wer da kommt?“
John wandte sein Gesicht zu Moody und starrte auf sein magisches Auge. Er nickte langsam.
„Er ist es, und einer, der nicht sein darf, der tot ist. Und ein Henker kommt mit, und ein großer Zauberer der Malfoy genannt wird. Sie kommen hierher...“
Jetzt war auch Dumbledore aufmerksam geworden. Er stand auf und trat näher an John heran.
„Wer ist ‚Er’?“, fragte er.
„Er...er, dessen Name nicht genannt werden darf. Er ist groß und schwarz, und seine Augen glühen!“
„John!“, sagte Dumbledore eindringlich und legte seine Hand auf Johns Schulter. „John, ist es wirklich so, dass Du weißt schon wer kommt? Woher willst du das wissen?“
Jetzt schaute John auf und sah Dumbledore mit klarem Blick ins Gesicht. Dumbledore begriff sofort, dass John sich nichts einbildete.
„Sie sind schon lange da. Sie beobachten mich. Sie wollen wissen, ob Harry Potter zurück kommt. Sie sitzen immer dort drüben am Fenster. Und so haben sie auch gesehen, dass ihr heute gekommen seid! Das Feuer sagt es mir...“
Dumbledore lächelte und klopfte John leicht auf die Schulter.
„Danke, John, dass du uns gewarnt hast. Alastor? Was meinst du dazu?“
Moody versuchte sein rotierendes Auge zu beruhigen. Sei Gesicht war zu einer finsteren Grimasse geworden. Magister Baumann hatte vor Aufregung seine Hand ergriffen. Moody nahm sie vorsichtig und löste sich vorsichtig aus ihrem Griff. Dann stand er auf, war mit zwei schnellen Schritten am Fenster und sah in die Gasse hinunter.
„Ich kann noch nichts entdecken. Vermute, unser kleiner John hat eine besondere Gabe. John, kannst du mir sagen, wo sie sind?“
John nickte. Jetzt war er in dieser Welt. Voller Aufmerksamkeit folgte er mit den Augen dem Auroren. „Sie werden gleich in unsere Gasse kommen. Bald sind sie da.“
„Was wollen wir machen?“, fragte Dumbledore ruhig. „Ich denke, es ist das Beste, wir nehmen Flohpulver. Das Feuer reicht aus, vielleicht machen wir es noch ein bisschen größer.“
„Wir können John doch nicht hier lassen!“, rief Harry empört. „Wenn er Voldemort in die Hände fallt, dann bringt er ihn um!“
Johns Mutter erschrak heftig, als der Name fiel. Hagrid stand auf. Er war schlagartig nüchtern geworden.
„Das stimmt, Professor. Wir nehmen die beiden mit!“
Dumbledore sah Hagrid fragend an.
„Wo sollen wir denn mit ihnen hin? Sicher, du hast recht, Rubeus, hier lassen können wir sie nicht, aber wir können sie auch nicht mit nach Hogwarts nehmen!“
„Was ist denn mit Hogsmead?“, fragte Harry aufgeregt. „In Hogsmead sind sie doch auch sicher. Sie könnten in der Heulenden Hütte wohnen, jetzt braucht sie doch keiner mehr! Und Henry kennt einen Zauber, mit dem man sie richtig schön herrichten kann. Und vielleicht kann Johns Mutter Madame Rosmerta in den drei Besen helfen!“
„Das ist vielleicht gar keine schlechte Idee... John könnte auf Hogwarts vielleicht etwas bessere Hilfe bekommen, bei Madame Pomfrey. Übrigens kenne ich auch einen Zauber, mit dem man die heulende Hütte in ein schmuckes kleines Häuschen verwandeln könnte. Also gut. Ich schlage vor“, und dabei wandte sich an Johns Mutter, „Sie packen schnell die wichtigsten Dinge zusammen. Vielleicht haben wir noch fünf Minuten.“ Und, um noch einmal deutlich zu machen, in welcher Situation sie sich befanden, fügte er hinzu:
„Sie befinden sich in höchster Gefahr. Beeilen Sie sich. Alles andere werden wir regeln, wenn wir in Sicherheit sind.“
Moody beobachtete weiter durch das Fenster die Gasse. Johns Mutter verließ das Wohnzimmer. Dumbledore kümmerte sich um den Kamin, in dem bald ein lustiges kleines Feuerchen brannte. Schließlich wandte er sich an Moody und fragte:
„Wie sieht es aus, Alastor?“
„Ich sehe sie.“, knurrte Moody und seine Stimme hatte einen seltsam drohenden Klang. Magister Baumann erschrak.
„Kommen sie hierher?“, fragte sie.
„Ja!“, knurrte Moody wieder. „Schätze, wir werden sie aufhalten müssen. Magst du, Albus?“
„Natürlich!“, sagte Professor Dumbledore und fingerte seinen Zauberstab aus dem Ärmel.
„Paralesa esperus!“; rief er und richtete seinen Stab auf die Gasse hinaus. Ein Flimmern zog sich mit einem Mal von einer Seite der Gasse zur anderen. Die schwarzen Gestalten, die sich auf dem Weg zum Haus befanden, verschwammen ein wenig, und dann zogen sich Wellen durch das Flimmern, als würde ein Stein in einen See fallen. Im Zentrum dieser Wellen wurden vier Punkte sichtbar, zuerst ganz klein, dann immer größer werdend, bis Harry erkennen konnte, dass sich vier ebenso schwarze Gestalten aus dem Flimmern schälten.
Harry hatte den Eindruck, dass es ein Spiegel war, denn die vier neuen Gestalten hatten ihnen den Rücken zugekehrt, schwebten fast bis zum Haus und nahmen dort in genau der Aufstellung Form an, wie die vier, welche die Gasse betreten hatten. Der einzige Unterschied war, dass sie wirklich, wie in einem Spiegel, die Seiten vertauscht hatten. Als sie ihre volle Größe erreicht hatten, begannen sie in genau dem gleichen Tempo und mit genau den gleichen Schritten auf das Flimmern zuzugehen.
Voldemort und seine Anhänger blieben stehen und beobachteten die vier Spiegelbilder, die nun ebenfalls stehen blieben. Der dunkle Lord gab seinem Nebenmann ein Zeichen, woraufhin der seinen Zauberstab hervorholte und auf sein Gegenüber richtete. Ein greller, schwarzer Blitz schoss aus der Spitze vor, traf das Flimmern und prallte daran ab. Es sah fast so aus, als hätte das Spiegelbild auch seinen Stab gehoben und hätte einen Fluch auf den Angreifer los gelassen. Voldemort hob nun blitzschnell seinen Stab und schleuderte einen Fluch, der den schwarzen Blitz traf und ihn in den Himmel ablenkte. Dann sprach er mit drohender Gebärde auf seinen Nebenmann ein.
„So, das wird reichen!“, sagte Dumbledore zufrieden und schob den Zauberstab wieder in den Ärmel. „Damit werden sie eine Weile beschäftigt sein.“
„Was ist das für ein Zauber?“, fragte Harry neugierig.
„Oh, das ist ein sehr netter Zauber. Es ist ein Spiegel, der nicht so leicht zu überwinden ist. Er verleitet den Angreifer immer nur auf sein Spiegelbild zu zielen, was den Effekt hat, dass dieser von seinen eigenen Flüchen getroffen wird. Er kann nur überwunden werden, wenn man sich selbst überwindet. Außer dem dunklen Lord halte ich keinen der Anderen für fähig, sich selbst zu überwinden. Und wenn der dunkle Lord es allein schafft dieses zu tun, werden sich die Spiegelbilder der anderen gegen ihn richten. Sie werden den Spiegel nur zerstören, wenn alle am gleichen Strang ziehen.
Johns Mutter kam wieder in das Wohnzimmer. Sie hatte einen alten, kleinen Koffer in der Hand.
„Viel Wertvolles habe ich nicht, aber seit diese Geschichte mit meinem John passiert ist, habe ich die wichtigsten Dinge immer griffbereit in diesem Koffer. Ich bin fertig, aber wie machen wir das mit John? Ich bin mir nicht sicher, ob er es allein schafft.“
„Ich werde ihn tragen.“, brummte Hagrid. Er ging zu dem Stuhl, auf dem John saß.
„Na, John, ist das in Ordnung?“
John lächelte.
„Du bist in Ordnung.“
Dann streckte er seine Arme aus und Hagrid nahm ihn auf seine riesigen Hände. Gelassen holte Dumbledore eine Dose aus seinem Umhang und öffnete sie. Er entnahm der Dose eine Fingerspitze des Flohpulvers, streute es in die Flammen und sagte zu Hagrid:
„Nun Rubeus, ich denke, du solltest zuerst gehen. Wir sehen uns dann bei Moody.“
Hagrid bückte sich tief hinunter, um in den Kamin zu kommen, dann rief er „Zu Moody!“ und verschwand in einem rauschenden Wirbel. Als nächstes ging Johns Mutter, dann war Magister Baumann an der Reihe.
„So, jetzt bist du dran, Harry!“, sagte Dumbledore. Harry trat in das Feuer und war, nachdem auch er „Zu Moody!“ gerufen hatte, einen Augenblick später in Madeye Moodys Wohnzimmer, in dem Hagrid, John und die beiden Frauen schon warteten.
Dumbledore und Moody ließen sich noch etwas Zeit. Als sie jedoch durch den Kamin in das Wohnzimmer plumpsten, machten sie einen ausgelassen fröhlichen Eindruck. Sie hatten noch ein paar Minuten am Fenster gestanden und zugesehen, wie die Todesser versuchten, durch den Spiegel zu kommen. Erst als Voldemort, der den Zauber als erster durchschaut hatte, seine Leute zur Raison gebracht hatte, konnten sie ihn überwinden. Dann war es aber höchste Zeit, zu verschwinden, denn Voldemort begann sofort mit einem Angriff auf das Haus.
„Wir sollten zusehen, dass wir jetzt nach Hause kommen.“, sagte Dumbledore, nachdem er seinen Bericht beendet hatte. „Meinst du, Alastor, du kommst alleine zurecht?“
„Mach dir mal keine Sorgen um mich.“, sagte Moody. „Ich habe mein Haus nach dem letzten Angriff durch Crouch noch einmal besonders gesichert. Es wird keine Probleme geben.“
Dumbledore nickte. Dann suchte er in seiner Umhangtasche nach dem alten Socken, der sie hergebracht hatte. Wenige Minuten später befanden sie sich auf der Heimreise und brachten zwei neue Bewohner für das Dörfchen Hogsmead mit.
Noch am selben Abend brach über Britannien ein verheerender Schneesturm nieder. Für solche Schneemassen war es noch zu früh, normalerweise lag die britische Insel im Einfluss des Atlantiks und es war eher so, dass der ganze Winter vergleichsweise milde ausfiel. Sicher, im Norden, dort wo Hogwarts lag, gab es jeden Winter Schnee, was schlichtweg an der Höhe lag.
Aber dass ganz Britannien einer solchen Schneekatastrophe schon im November ausgesetzt war, wurde von vielen Kommentaren im Fernsehen dem nahenden Klimawechsel zugeschrieben. Der Theorie nach sollte es nämlich in Europa nicht wärmer, sondern kälter werden, da durch die sich verändernden Strömungen im Meer der Golfstrom zusammenbrechen würde.
Hogwarts wurde gänzlich von der Umwelt abgeschnitten. Nicht einmal nach Hogsmead konnte man gelangen, der Schnee, der über Nacht gefallen war und am nächsten Tag immer noch in dichten Flocken vom Himmel herunterrieselte, lag schon einen halben Yard hoch, und der Weg nach Hogsmead war steil, und wenn man nicht ausrutschte und im Schnee versank, dann hatte man es mit unüberwindlichen Schneeverwehungen zu tun.
Für die Bewohner von Hogwarts war es nicht weiter schlimm. Da es immer mal wieder vorkam, dass das Schloss eingescheit wurde, hatte man rechtzeitig in diesem Herbst genügend Vorräte beschafft, dass die ganze Schule und sogar Teile des nahen Dorfes über Wochen ausreichen versorgt werden konnte. Die Schüler saßen am Abend in ihren durch gemütliche Feuer erwärmten Gemeinschaftsräumen und drückten sich an den Fenster die Nasen platt, um das Naturereignis zu beobachten.
Draußen im Park bogen sich die Bäume im Sturm und sie sahen alle aus wie die Peitschende Weide, wenn man ihr zu nahe kam. Aber Langsam wurden die Äste unter der Schnee- und Eislast immer schwerer und hingen schließlich unter dem Gewicht fast bis zur Schneedecke herunter.
Harry und seine Begleiter waren durch den Portschlüssel schnell und sicher wieder in Professor Dumbledores Büro gelandet. Als Harry aus dem Fenster sah, hatte der Sturm schon begonnen und ein dichtes Schneetreiben hatte sich wie ein Vorhang über den Park gelegt. Obwohl es erst mitten am Nachmittag war, hatte die Dämmerung schon eingesetzt und begrenzte zusätzlich den Horizont. Harry war froh, dass sie einen Portschlüssel für die Reise gewählt hatten. Mit Schaudern stellte er sich vor, sie würden jetzt da draußen auf ihren Besen sitzen und mühsam, wahrscheinlich ohne jede Orientierung, gegen Wind und Schnee ankämpfen.
„Ja,..., das sieht ja nicht gut aus“, sagte Dumbledore mit einem Blick auf die zufrierenden Fensterscheiben. „Ich fürchte, wir werden uns heute nicht mehr um das Haus in Hogsmead kümmern können. Ich schlage vor, wir fragen unseren Mr. Filch, ob er nicht eines der freien Gästezimmer vorübergehend in ein Quartier verwandeln kann. Es ist zwar nicht sehr komfortabel, aber sie haben es warm. Wir schauen dann in den nächsten Tagen mal nach Hogsmead.“
„Danke, das ist sehr freundlich von ihnen.“, sagte Mrs. Atado, die schon befürchtet hatte, jetzt noch eine Stunde durch dieses Sauwetter marschieren zu müssen. Professor Dumbledore ließ Mr. Filch rufen und wies ihn an, für die beiden Gäste ein Zimmer her zu richten. Filch knurrte unwillig mit Blick auf John und fragte:
„Soll der jetzt mitten im Jahr bei uns anfangen? Aber man kann mir ja jeden Verrückten zumuten in dieser verdammten Schule!“
„Mein lieber Mr. Filch“, wies Dumbledore ihn mit hochgezogenen Augenbrauen zurecht, „an ihrer Stelle würde ich nicht so viel Worte darum machen. Wenn es diese Schule nicht gäbe, würden sie wohl als Hilfsarbeiter bei Vauxhall arbeiten. Und jetzt kümmern sie sich bitte um unsere Gäste.“
Filch grunzte zornig, winkte den beiden dann aber und verschwand mit ihnen. Dumbledore blickte ihnen mit einem Kopfschütteln hinterher. Magister Baumann, die sich nach der Ankunft zur Erholung auf einen Stuhl gesetzt hatte, stand jetzt auf und ging zur Tür. Sie nahm die Klinke in die Hand, dann drehte sie sich aber noch einmal um.
„Ich verstehe eines nicht.“, begann sie. „Mr. Moody ist doch Zauberer und es wäre für ihn doch ein Leichtes, sich von einem guten Zaubererarzt wieder heilen lassen. Warum tut er das nicht?“
Dumbledore sah sie erstaun an.
„Er ist ein alter Kämpfer.“, sagte er. „Er hat so viel hinter sich gebracht, dass er seine Blessuren wie Orden trägt.“
„Also, ich verstehe das nicht. Es muss doch unbequem sein, den ganzen Tag mit einem Holzbein herum zu laufen. Und diese Narben in seinem Gesicht. Man kann ja noch nicht einmal sagen, ob er früher einmal gut ausgesehen hat oder nicht!“
„Sie können mir glauben, Miss Baumann“, lächelte Dumbledore, „er war früher ein durchaus attraktiver Mann. Aber wissen sie, oft ist es so mit uns Männern, dass wir, wenn wir jung und stark sind, ziemlich schwere Aufgaben zu lösen bekommen. Und Männer sind stolz darauf, wenn sie das schaffen. Und sie zeigen es gerne. Schönheit ist für Männer nur wichtig, wenn sie diese an Frauen sehen.“
Magister Baumann wurde leicht rosa im Gesicht. Sie hob keck das Kinn und sagte:
„Ich werde es bestimmt nie verstehen, warum Männer so verrückt sind. Schönen Abend noch!“
Sie verließ das Büro. Hagrid legte seine Hand auf Harrys Schulter.
„Komm Harry“, sagte er. „Ich glaube für uns wird es auch Zeit.“
„Nein, Rubeus, wenn ich dich bitten darf, mir Harry noch ein paar Minuten hier zu lassen...“
„Wie sie meinen, Professor.“ Hagrid zuckte die Achseln. „Ich jedenfalls muss mich noch um meine Woolwoodys kümmern. Und ich muss Hermine ablösen. Die wird jetzt auch genug davon haben, in meiner Hütte zu sitzen und darauf zu warten, dass ich zurück komme. Das ist nämlich ganz schön anstrengend, auf die kleinen Kerlchen aufzupassen.“
Als Hagrid gegangen war, bot Dumbledore Harry einen Platz an. Harry wunderte sich, was der Schulleiter noch von ihm wollte. Dumbledore kam auch schnell zum Thema.
„Ich hab in den letzten Tagen etwas nachgedacht.“, begann er. „Mir geht diese Sache mit Draco und dir nicht aus dem Kopf.“
Harry beeilte sich zu sagen, dass überhaupt nichts passiert sei. Dumbledore winkte ab.
„Weiß ich doch, Harry.“, sagte er. „Aber seit diesem Tag findet zwischen euch beiden eine vorsichtige Annäherung statt. Und jemand, der seine Schüler so kennt, wie ich, der bemerkt so etwas. Weißt du, ich habe das Gefühl, dass euch diese komische Geschichte mit dem sprechenden Hut verbindet. Und ich habe den Verdacht, dass diese vermaledeite Sache mit dem Zauberstab damit zu tun hat. Was heiß Verdacht? Die Geister dieses Hauses diskutieren offen darüber und ich glaube, dass sie gar nicht so weit entfernt sind von der Wahrheit.“
„Aber ich kann doch nichts dafür, dass der Zauberstab vernichtet wurde. Wir haben doch alle gemeinsam überlegt, wie wir ihn...“
„Gemach, gemach, mein lieber Harry.“, Dumbledore hob abwehrend die Hände. „Ich mache dir mitnichten einen Vorwurf. So wie es gelaufen ist, war es vollkommen in Ordnung, es hat leider niemand geahnt, was für Auswirkungen es hat. Liege ich mit meiner Vermutung richtig?“
Harry zögerte, nickte dann aber.
„Gut.“, sagte Dumbledore und lächelte. „Meist du, dass ihr beide die Geschichte wieder ins lot bringen könnt? Oder hast du nur ein schlechtes Gewissen?“
„Ich weiß nicht...“, murmelte Harry. „Irgendwie schon...“
„Hm. Ein schlechtes Gewissen zu haben für eine Sache, die man nicht verschuldet hat, ist keine gute Sache. Jemandem aber aus einer Not zu helfen das ist sehr ehrenvoll. Nicht zu wissen wie, ist ein Problem, das man lösen kann. Ich habe selbst keine Ahnung, wie man das Problem lösen kann, aber ich habe auch wenig Zeit, mich damit zu befassen. Schließlich bin ich Schulleiter und muss in dieser Geschichte immer noch die Gemüter beruhigen. Du glaubst nicht, wie viel Zeit ich in den letzten Wochen mit Gesprächen verbracht habe, um aufgeregte Lehrer und aufgeregte Eltern, geschweige denn aufgeregte Schüler wieder zu beruhigen.“
Harry schwieg.
„Ich habe mir gedacht, dass du und Draco mir dabei helfen könntet. Und ich glaube, der Phoenix dort, der hat sich das gleiche gedacht.“
„Woher wissen sie...?“, fragte Harry erstaunt. Er hatte niemandem gesagt, was er nach seinem schmerzhaften Besuch bei den Slytherins geträumt hatte.
„Wissen tu ich gar nichts. Aber ich kenne Fawks. Normalerweise ist er so aufregend wie ein Schlaftrunk. Aber wenn irgendetwas mit dir ist, dann wird er lebhaft. Und wenn er mit jemandem spricht, dann kann er mir mit seinem Herumgeflattere ganz schön auf die Nerven gehen, vor allen Dingen, wenn er mir mit seinen Flügeln wichtige Pergamente vom Tisch wedelt. Magst du mir etwas davon erzählen?“
Harry überlegte. Dumbledore machte es ganz schön geschickt. Harry hatte das Gefühl, dass er nicht anders konnte, als Dumbledore alles zu erzählen, auch wenn er sich geschworen hatte, niemanden einzuweihen. Also gab er sich einen Ruck und berichtete Professor Dumbledore von den nächtlichen Ereignissen, als er immer wieder wach wurde und den Gesang des Phoenix gehört hatte. Und die hässliche Szene im Gemeinschaftsraum der Slytherins erzählte er auch, wenn er auch versuchte, das Ganze zu entschärfen. Dumbledore hörte aufmerksam zu und nickte hin und wieder, als verstünde er jetzt einiges besser.
„Gut.“, sagte er, nachdem Harry seinen Bericht beendet hatte. „Ich kann im Moment noch nicht viel dazu sagen. Aber vielleicht hilft dir dieses hier ein bisschen weiter.“
Er griff in die Schublade und holte einen alten Folianten hervor. Es war ein großes, schweres Buch, ganz in Schweinsleder eingebunden und mit goldenen Lettern und Ornamenten verziert. An vielen Stellen war der Einband schon abgenutzt und das Leder war rissig und grau geworden. Es musste sehr alt sein.
„Es ist eine Handschrift eines Zauberers, der zu Zeiten von Merlin hier an der Schule ‚Geschichte von Hogwarts’ gelehrt hat. Man nannte ihn Richard den Gelehrten. Er hat viel über die vier Gründer geforscht, und sein besonderes Interesse galt Salazar Slytherin. Vielleicht findest du darin einen Hinweis. Ich habe es aus der verbotenen Abteilung geliehen. Behandle es sorgsam, sonst bekomme ich Ärger mit Madame Pinch.“
Harry nahm das Buch entgegen. Er war überrascht, dass Dumbledore ihm nur ein Buch gab. Er hatte eigentlich erwartet, dass der Schulleiter ihm jetzt diesen oder jenen Tipp geben würde, aber ein Buch? Immerhin schien es ein sehr interessantes Werk zu sein und vielleicht wirklich den entscheidenden Hinweis zu enthalten. Vielleicht fügte sich damit ein weiterer Stein zu dem Puzzle, ganz so wie das, was George Ollivander ihm heute Nachmittag erzählt hatte.
„Sehen wir uns beim Abendessen?“, fragte Dumbledore.
„Ja. Danke für das Buch. Darf ich es Hermine zeigen?“
„Ich denke, das geht schon in Ordnung. Sie hat dir ja sonst auch immer geholfen.“
Harry klemmte sich den alten Schinken unter den Arm und ging hinaus. Leise schloss er die Tür.
Als er im Gemeinschaftsraum ankam, saß Hermine am Kamin. Sie schien vollkommen erschöpft und begrüßte Harry mit einem müden Lächeln. Sie hatte sich den ganzen Tag um Fang und die Woolwoodys gekümmert. Die kleinen Wollknäuel hatten dem armen Hund mit ihrem Spiel arg zugesetzt und ihn getriezt und geärgert, wo es nur ging. Irgendwann war es Fang zuviel geworden und er hatte sich auf die Bande gestürzt, die blitzschnell nach allen Seiten weggespritzt war und dann oben in den Balken von Hagrids Hütte gesessen hatte und frech von dort oben herunter gegackert hatte. Fang hatte sich nur mühsam beruhigen lassen, stundenlang hatte er auf der Lauer gelegen, nur um eines der kleinen Biester zwischen seine Pfoten zu bekommen und es nach Saurüden-Manier zurecht zu weisen.
Hermine hatte den ganzen Tag nichts anderes zu tun gehabt, als diese beiden Parteien voneinander zu trennen. Dann war noch der Schneesturm hinzu gekommen und sie hatte mit Sorge beobachtet, dass sich zwischen der Hütte und dem Schloss dicke Berge von Schnee auftürmten. Die ganze Zeit überlegte sie, wie sie wohl wieder in die Schule kommen würde und kramte in ihrem Gedächtnis nach irgendeinem Zauber, der ihr eine Gasse in die weißen Massen grub.
Hagrid erlöste sie gerade noch rechtzeitig, bevor sie einen Koller bekam. Er hatte eine breite Spur hinterlassen, fast einen Hohlweg durch die Berge von Schnee getreten, und Hermine war heilfroh, als sie durch das Portal in die Sicherheit des Schlosses zurückkehrte. Sie war fertig, nicht nur mit den Nerven, sondern auch körperlich. Seit heute früh, war es ihr nicht gelungen, sich auch nur fünf Minuten hinzusetzen und Luft zu holen.
Ron wollte von Harry alles über den Besuch in London wissen. Er freute sich, dass Harry die Besorgungen für ihn erledigt und darüber hinaus sogar noch ein paar Comics und etwas Süßes mitgebracht hatte. Nach dem Abendessen saßen sie noch ein paar Stunden vor dem Feuer, umringt von Gryffindors, und Harry musste immer wieder von dem Spiegelzauber und von John berichten. Besonders Hermine wollte trotz ihrer Müdigkeit alles über John erfahren.
Der Schneesturm legte sich erst nach drei Tagen. Harry verbrachte sie mit Müßiggang. Das alte Buch hatte er in seinen Koffer gelegt. Er verspürte keine Lust, es aufzuschlagen. Und hätte Hermine es nicht zufällig bemerkt, als er es aus Dumbledores Büro mitgebracht hatte, hätte er es wahrscheinlich vollkommen vergessen. Hermine jedoch bat Harry, es ihr zu zeigen, und als sie sah, dass es sich um eine Frühgeschichte von Hogwarts handelte, lieh sie es sich aus.
Hagrid hatte sich in den drei Tagen in seiner Hütte vergraben und die Hauptarbeit bestand darin, für ein ordentliches Feuer zu sorgen und Fang vor allzu heftigen Angriffen der Woolwoodys zu schützen. Als schließlich die letzten Schneeflocken vom Himmel gefallen waren, der Sturm sich in eine leichte Briese verwandelt hatte und ein eiskalter, aber strahlender Morgen angebrochen war, lag die Landschaft um Hogwarts unter einer meterdicken Schneedecke. Alles war dick überzuckert und die Bäume bogen sich unter der Last des Schnees. Vom See war nichts mehr zu entdecken, als eine große weiße und glatte Fläche. Er war in den drei Tagen zugefroren und mit einer weichen Decke bedeckt worden.
Harry stand am Fenster seines Schlafsaales und sah gedankenverloren auf die weiße Pracht hinunter. Er beobachtete, wie die Woolwoodys auf dem weiten Schneefeld herumtollten. Ihnen schien die Kälte nichts auszumachen. Sie hüpften auf ihren langen Beinen in die Luft und ließen sich in den weichen Schnee fallen. Überall dort, wo die in den Schnee geplumpst waren, entstand ein Loch und die Wiese vor dem Schloss war bereits von Löchern übersäht.
Mit einem mal schlich sich eine Erinnerung in sein Bewusstsein. Damals, als er auf Durmstrang war, hatte er mit Viktor Krum eine Trainingsstunde durchgeführt. Dazu waren sie in die Quidditch-Halle gegangen, die tief unter der Burg in einer gigantischen Höhle lag. Das Besondere an dieser Halle war, dass der Boden für Trainingszwecke mit einer meterdicken, gepolsterten Schicht versehen werden konnte, so dass man, wenn man bei einem allzu waghalsigen Flugmanöver vom Besen fiel, weich landete.
Die dicke Schneeschicht, die sich nun über das Land gezogen hatte, erinnerte Harry an eben dieses Polster, denn er hatte bei seinen Versuchen, den Wronski-Bluff zu erlernen mehrmals die Bekanntschaft mit dem Boden gemacht. Wenn man noch ein paar Tage wartete, dann hatte sich der Schnee so weit gesetzt, dass man wie von einem Federkissen aufgefangen wurde. Aufregung ergriff ihn. Jetzt hatte er plötzlich eine Trainingsstunde vor Augen, wie er sie sich vor wenigen Tagen nicht hatte träumen lassen. In seinem Kopf beschrieb er Kurven und Manöver über dem Quidditch-Feld und es formten sich Spielzüge, die er noch nie bedacht hatte.
„Wenn nur die Besen kämen“, murmelte er halblaut vor sich hin. Er wandte sich entschlossen vom Fenster ab und ging hinunter in die Halle. Aber es war Nachmittag und die meisten Schüler hielten sich in ihren Gemächern auf. Aus dem geplanten Team der Schulmannschaft traf er niemanden an. Wie sollte er seine Leute zusammentrommeln? Bei den Gryffindors hatte er kein Problem, denn sie konnte er irgendwann im Gemeinschaftsraum abpassen. Aber wie sollte er auf die Schnelle Roger Davies von den Ravenclaws auftreiben? Oder gar die Jungs von Slytherin? Er hatte keinen Zugang zu ihren Gemeinschaftsräumen, und wie die Sache aussah, konnte er sich heute die Beine in den Bauch stehen, und warten, bis mal einer die warme Stube verließ.
Enttäuscht wandte sich Harry um und ging wieder in den Gemeinschaftsraum zurück. Hermine war inzwischen hereingekommen und hatte es sich in einem der Sessel vor dem knisternden Feuer bequem gemacht. Auf ihren Knien lag das Buch und sie studierte es so eifrig, dass sie nicht hörte, wie Harry an das Feuer trat.
„Oh, Hermine, hast du dir das Buch vorgenommen?“, fragte er eher um etwas zu sagen, als aus Interesse.
„Huch! Mann, was habe ich mich erschrocken!“, sagte Hermine und blickte auf. „Ach du bist es, Harry. Das ist total spannend. Du glaubst ja gar nicht, was damals alles geschehen ist!“
„Ach ja?“, fragte Harry und hob mit gespieltem Interesse eine Augenbraue. Hermine kam ihm jetzt vollkommen ungelegen. Mit seinen Gedanken war er ganz bei dem Training und konnte ihre lehrmeisterhafte Art gar nicht gebrauchen.
„Weißt du, was ich gerade gelesen habe?“, fragte Hermine und sie wirkte ziemlich aufgeregt. Harry schüttelte den Kopf. Ohne eine Reaktion Harrys abzuwarten redete Hermine weiter.
„Stell dir vor, der Zauberstab von Slytherin war damals in der ganzen Zaubererwelt bekannt. Und Slytherin war der einzige, der ihn berühren konnte. Aber das Beste kommt noch. Kannst du dich an die Kammer des Schreckens erinnern?“
Harry lachte tonlos vor sich hin. Natürlich konnte er sich an die Kammer des Schreckens erinnern. Hatte sie ihn doch fast das Leben gekostet, als er von dem Giftzahn des Basilisken verletzt wurde.
„Hier steht drin, dass die Kammer des Schreckens schon im Jahre Elfhundertachtundachtzig entdeckt worden ist. Und dieser Richard, der das Buch geschrieben hat, der will herausgefunden haben, dass diese Halle, in der du gegen den Basilisken gekämpft hast, nur das Tor zu den geheimen Gewölben von Slytherin sein soll.“
„Das kann jeder sagen.“, antwortete Harry lakonisch und hob die Schultern. „Ich hätte es damals doch sehen müssen, dass es irgendwo weiter ging. Aber es war einfach eine Felsenhalle, die nur den einen Eingang hatte. Nicht einmal da, wo ich Ginny gefunden habe, war irgendetwas zu entdecken.“
„Aber Harry, hier steht es drin. Und Richard der Gelehrte ist ein anerkannter Historiker des zwölften Jahrhunderts. In vielen Büchern wird er zitiert. Ich bin mir sicher, dass er das nicht erfunden hat. Harry, vielleicht finden wir da unten die Lösung für die Slytherins!“
„Was interessieren mich die Slytherins?“, sagte Harry genervt. „Sie können doch selber da hinunter, wenn sie meinen, dass sie damit ihr Haus retten können. Ich habe jetzt ganz andere Probleme.“
Hermine sah Harry kopfschüttelnd an.
„Harry! Ich verstehe dich nicht. Ich dachte immer, dass dir das mit den Slytherins nahe gegangen ist. Was ist denn los?“
„Ich kann das nicht mehr hören. Immer muss ich für andere die Kohlen aus dem Feuer holen. Immer muss ich meinen Kopf hinhalten, wenn es gefährlich ist. Ich will endlich mal meine Ruhe haben und mich um das kümmern, was mir Spaß macht.“
Harry ärgerte sich über sich selbst. Er wollte Hermine gegenüber nicht so barsch sein, aber im Moment war es wirklich so, dass er von dieser Slytherin-Geschichte nichts wissen wollte. Ungeduld brannte in ihm, denn er wollte jetzt endlich mit der Schulmannschaft anfangen. Das war das, worauf er sich seit Wochen freute, und diese Slytherins drängten sich einfach mit ihrem Ärger zwischen ihn und seinen geliebten Sport.
Hermine sah ihn immer noch an, aber ihr Blick hatte etwas von Mitleid.
„Ich kann dich verstehen.“, sagte sie, schlug das Buch wieder auf, das sie geschlossen hatte und starrte auf die Buchstaben. Harry stand vor ihr. Mit einem Mal fühlte er sich elend. Er hatte das dringende Bedürfnis, sich bei Hermine zu entschuldigen.
„Es tut mir leid...“, murmelte er. „ich wollte dich nicht anfahren.“
Jetzt sah Hermine auf und so etwas, wie ein Lächeln überzog ihr Gesicht. Sofort wurde sie wieder ernst.
„Ist schon in Ordnung.“, sagte sie. „ich kann mir vorstellen, wie du dich fühlst. Es muss schlimm sein, sich für etwas verantwortlich zu fühlen, das man eigentlich nicht verursacht hat.“
Harry schwieg. Was hätte er darauf sagen sollen. Im Prinzip hatte sie mit wenigen Worten all seine Gefühle zum Ausdruck gebracht. Aber sie verstand bestimmt nicht, dass im Moment in seinem Kopf nur Platz für Quidditch war. Wie sollte sie es auch begreifen, wo sie sich nur für Bücher, die Sorgen anderer und überhaupt nicht für Sport interessierte. Aber er irrte sich.
„Denkst du über die Schulmannschaft nach?“, fragte sie und sah zu ihm auf. Wieder klappte sie das Buch zu und legte es auf das Tischchen, das neben dem Sessel stand. Harry war überrascht.
„Ja...“, sagte er verwundert. „Wie kommst du darauf?“
„Ich weiß nicht. Manchmal habe ich das Gefühl, ich kann es in deinem Gesicht lesen. Wenn du an Quidditch denkst, dann hast du einen ganz eigenartigen Blick. Ach Harry, es tut mir leid, das ich dich aus deinen Gedanken gerissen habe. Aber irgendwann müssen wir auch in dieser Geschichte weiter kommen. Du kannst es nicht einfach verdrängen.“
Harry wollte wieder ärgerlich werden, aber Hermine sah ihn so sorgenvoll an, dass er es vergaß.
„Ich weiß.“, sagte er. „Aber zwischendrin muss doch auch etwas Platz für mich sein. Sieh mal, die Slytherins sterben doch nicht, wenn ich mir ein bisschen Zeit für mich lasse. Sie werden nur weniger...“
Hermine lächelte.
„Weißt du, Harry, ich würde dir sehr gerne helfen. Vielleicht ist es wirklich besser, wenn du dich erst einmal um die Schulmannschaft kümmerst. Vielleicht ist es ganz gut, wenn du etwas Abstand bekommst, und dann wieder etwas mehr Raum für diese Geschichte hast. Was hältst du davon, wenn ich mich schon mal auf die Suche mache. Vielleicht finde ich etwas heraus, was uns weiter bringt. Und du hast etwas mehr Zeit für deine Sachen!“
Innerlich krampfte sich alles in Harry zusammen. Das war sie wieder, diese besserwissende, aber absolut hilfsbereite Hermine, die es immer wieder schaffte, sein Gewissen zu quälen, ohne dass er ihr ernsthaft böse sein konnte. Er sah sie nachdenklich an. Es störte ihn gewaltig, dass sie diese Größe besaß und ihm einfach etwas schenkte, und er nichts weiter zustande brachte, als ihr Angebot anzunehmen, nur um seinen Egoismus durchzusetzen.
„Danke.“, sagte er. Und nach einer Weile: „Du bist echt in Ordnung.“ Und dann wurde ihm klar, dass er ganz vergessen hatte, an Quidditch zu denken. Und er fühlte sich auf einmal so leicht. Er zog einen Sessel ans Feuer und setzte sich.
„Was meinst du denn, was ich jetzt tun soll?“, fragte er.
„Wir.“, korrigierte sie ihn.
„Was?“, fragte Harry, der nicht verstand, was sie sagen wollte.
„Wir, Harry! Ich habe dir doch gesagt, dass ich dir helfen will. Wir haben doch bisher alles gemeinsam gemacht und ich finde, wir sind ein tolles Team.“
„Stimmt. Ich glaube du hast recht. Was sollen wir denn deiner Meinung nach jetzt tun?“
Hermine überlegte kurz. Dann sagte sie:
„Meist du es würde schaden, wenn wir noch einmal in die Kammer des Schreckens gehen würden und sie uns ansehen? Ich meine, der Basilisk ist doch tot, und er kann uns nicht mehr gefährlich werden. Vielleicht hast du ja doch etwas übersehen...“
„Ich weiß nicht. Sicher, schaden kann es uns nicht...Aber ich habe das Gefühl, dass Draco mit müsste...“
„Draco?“ Hermine war verblüfft. „Wieso Draco?“
Harry war sich unschlüssig, ob er ihr von dem Traum erzählen sollte. ER hatte den Eindruck, dass es eine Sache war, die nur ihn und Draco etwas anging, vor allen Dingen, weil er niemals zugeben würde, dass er mit Draco Händchen gehalten hatte. Wenn das heraus käme...die ganze Schule würde sich über sie lustig machen. Harry hörte sie schon hinter sich herrufen: „Ist Draco dein Schatz?“ Er würde sich ohne ein Wort auf denjenigen stürzen und ihn in Grund und Boden stampfen. Auf der anderen Seite war es wichtig, Hermine ins Vertrauen zu ziehen, denn nur so konnte sie ihm wirklich helfen. Er gab sich einen Ruck und begann zuerst stockend, dann immer aufgeregter von den Ereignissen zu erzählen. Hermine hörte ihm aufmerksam zu, dann schwieg sie einen Moment. Schließlich sagte sie:
„Vielleicht müssen wir noch einmal in Dumbledores Büro. Ich glaube, der Phoenix hat dir noch nicht alles gesagt.“
„Daran habe ich auch schon gedacht. Meinst du, wir sollten uns nachts hineinschleichen?“
„Genau das meine ich. Heute Nacht! Ich bin dabei.“
„Nicht heute. Lass uns das am Sonntag machen. Ich möchte erst mit meiner Mannschaft trainieren. Dann bin ich wieder klarer im Kopf. Abgemacht?“
„Abgemacht!“
Der Nachmittag war schneller vergangen, als Harry befürchtet hatte. Beim Abendessen traf er alle Spieler, die er auf die Liste für die Schulmannschaft gesetzt hatte. Nacheinander klapperte er die vier Tische ab und verabredete für den nächsten Nachmittag, den Samstag, das erste Training. Am Tisch der Slytherins wurde er zu seiner Überraschung freundlich begrüße und Bletchley, der ihn neben sich auf einen Stuhl zog schlug sogar noch zwei aus der Slytherin-Mannschaft vor, die Treiber werden könnten. Ein eigenartiges Gefühl von Glück und Zufriedenheit durchströmte Harry.
Am Samstag Morgen begann er nervös zu werden. Es war immer noch kaum möglich, sich draußen vor dem Schloss zu bewegen, zu tief war der Schnee. Hagrid hatte einen Hohlweg zwischen seiner Hütte und dem Eingang geschaufelt. Der Schnee, den er links und rechts neben den Weg geworfen hatte, erweckte nun den Eindruck, dass die Schneedecke noch höher lag, als sie in Wahrheit war. Hagrid sah Harry unruhig durch die Halle laufen.
„Was ist los Harry?“, rief er ihm zu. „Haste ne Verabredung?“
„Ach Hagrid..., nee, ich mach mir Gedanken, wie wir heute auf das Spielfeld kommen. Der liegt ganz schön hoch, der Schnee.“
„Na, du kannst doch fliegen, nimm deinen Besen!“
Klar! Warum war Harry noch nicht selber darauf gekommen. Es lag ja so nahe. Dankbar grinste Harry seinen Freund an.
„Was willst du denn auf dem Spielfeld?“, fragte Hagrid. „Du willst doch bei der Kälte nicht trainieren?“
„Doch, gerade jetzt. Ich will mit ihnen den Wronski-Bluff üben. Und mir sind noch so ein paar Ideen gekommen. Stell dir vor, es fällt einer vom Besen und er tut sich nicht weh. Besser kann es gar nicht sein, wie heute!“
„Wollt ihr echt trainieren, heute? Darf ich zuschauen?“
„Klar, Hagrid. Hab ich dir doch versprochen!“
Das Mittagessen registrierte Harry kaum. Er war nervös, wie vor dem Abschlussspiel eines Schuljahres. Mehr aus Vernunft stocherte er ein paar Kleinigkeiten in sich hinein. Gleich, nachdem das Essen beendet war, rannte er hinauf in den Schlafsaal, kramte unter dem Bett nach seinem Besen und war Augenblicke später in der Halle. Natürlich war er der Erste und die Minuten, die verstrichen, bis die Anderen eintrudelten, waren eine Höllenqual für ihn.
Schließlich umringten ihn Katie Bell und Angelina Johnson von den Gryffindors, Roger Davies und Linus Lonnigan von den Ravenclaws, Arthur Bletchley, Millicent Bulstrode und Draco Malfoy und sogar Geoffrey Rondstadt, der sich so abgeneigt gezeigt hatte, war erschienen und hatte den kleinen Kevin Withby mitgebracht.
„Er hat Talent!“, sagte er, nachdem er den verwunderten Blick von Harry bemerkte. Alle hatten ihre Besen dabei, die Slytherins ihre Nimbus 2001, die Ravenclaws und die Hufflepuffs ihre privaten Sauberwischs und auch Kevin hatte sich einen Schulbesen geliehen.
„Wer wird denn was?“, fragte Draco, diesmal allerdings ohne den ihm eigenen sarkastischen Unterton. Harry zuckte die Schultern.
„Das weiß ich noch nicht genau.“, sagte er. „Ich glaube, wir sollten erst einmal ein paar Stunden allgemeines Training machen, damit wir sehen können, wer für welche Aufgabe geeignet ist.“
Das ‚Wir’ hatte er bewusst gewählt. Er wollte nicht als Chef gelten. Er war überzeugt, dass, wenn er ein guter Trainer war, er von den Anderen auch als Kapitän der Mannschaft akzeptiert werden würde.
„Und wo wollen wir trainieren?“, fragte Kevin etwas schüchtern.
„Stimmt!“, fiel Geoffrey ein. „Das Feld ist doch total zu. Sollen wir hier in der Halle fliegen?“
„Moment!“, wehrte Harry ab. „Ich habe gestern eine Idee gehabt. Ich habe mir gedacht, dass wir draußen auf dem Feld trainieren, weil der Schnee wie ein weiches Polster wirkt. Ich habe das in Durmstrang gesehen, da haben sie für das Training auch ein Polster.“
„Was, du warst in Durmstrang?“, fragte Linus, der die Geschichte offensichtlich noch nicht gehört hatte. Harry nickte, hatte aber keine Lust, davon mehr zu erzählen.
„Du spinnst doch!“, krächzte Millicent Bulstrode. „Ich frier mir da draußen doch den Allerwertesten ab. Und wenn ich in den Schnee falle, läuft es mir hinten und vorne rein.“
„Welch schöne Vorstellung!“, grinste Draco. „Aber ich glaube, Harrys Idee ist gar nicht so schlecht. Lasst uns raus, an die frische Luft!“
„Ey Draco, zauber mir mal ne Besenheizung!“, rief Arthur und lachte. „Na los ihr Weicheier, traut euch!“
Harry war ganz verwirrt über die gute Laune, welche die Mannschaft hatte. Er hatte mit Streit und gehässigen Worten gerechnet, aber das was er hier sah, hätte er nie geglaubt, wenn es ihm jemand erzählt hätte. Draco war bereits zur Eingangstür gegangen und hatte sie aufgezogen. Ein Schwall kalter Luft schwappte in die Halle und ernüchterte Harry augenblicklich. Er nahm seinen Besen fest in die Hand, trat vor das Portal und schwang sich hinauf. Wie auf Kommando erhoben sie sich fast gleichzeitig in die Luft und flogen übermütig ein paar Runden über die große Wiese.
Dann bogen sie um das Schloss herum und waren einen Atemzug später auf dem Spielfeld. Harry bremste den Besen ab und blieb in der Luft stehen. Die anderen stellten sich in einem Halbkreis um ihn herum auf und sahen ihn erwartungsvoll an.
„Schieß los, Großmeister des Quidditch!“, rief Roger. Harry räusperte sich. Dann holte er tief Luft, schaute in die Runde und sagte:
„Also, ich finde es klasse, dass ihr alle gekommen seid. Und ich freuen mich auch, dass du, Geoffrey doch mitmachst. Und mit Kevin, das finde ich auch gut. Wir brauchen jeden, der mitmachen will.“
Er überlegte, was er als nächstes sagen wollte.
„Ja..., das mit dem Schnee...“, fuhr er nachdenklich fort. „Wie ich eben gesagt habe, auf Durmstrang haben sie so eine Matte auf ihrem Feld, die verhindert, dass man sich weh tut, wenn man runterfällt. Ich habe dort mit Viktor Krum geübt, und er hat mir gezeigt, wie der Wronski-Bluff geht.“
Ein Raunen ging durch die Gruppe. Man sah sich an und hier und da wurde anerkennend ein ‚Krum’ gemurmelt.
„Also“, fuhr Harry fort. „Ich glaube zwar nicht, dass jeder von uns den Wronski-Bluff können muss, aber die Jäger und die Sucher auf jeden Fall. Drum habe ich mir überlegt, dass die Treiber und Sucher mit mir zusammen und die Jäger und die Hüter heute Angriffe auf das Tor üben.“
„Wer soll den jetzt was machen?“, fragte Draco.
„Mach einen Vorschlag“, sagte Harry herausfordernd.
Draco zuckte überrascht zurück.
„Wieso ich? Du bist der Kapitän!“, entgegnete er.
„Bin ich das wirklich?“, fragte Harry. „Gut, wenn ihr das meint...“
Er sah in die Gesichter der anderen, konnte aber nirgendwo Ablehnung erkennen.
„Ich habe vorhin schon gesagt, dass ich noch nicht weiß, wer welche Position spielen soll. Eigentlich bräuchten wir für jede Funktion immer einen Ersatzspieler. Aber wir sind nicht so viele... Ich habe mir das so gedacht:
Linus könnte Hüter werden. Dafür braucht man gutes Sitzfleisch, und was du mir erzählt hast, Roger... Ja, und Arthur Blechley hat auch schon Erfahrung darin. Aber Arthur fliegt gut, und drum würde ich ihn lieber als Treiber sehen. Du, Draco solltest einer der beiden Sucher werden, aber wir brauchen noch mehr Treiber. Wärest du einverstanden, wenn du Treiber und Ersatzsucher wirst?“
Draco verzog das Gesicht.
„Wenn schon, dann möchte ich Jäger werden.“, meinte er. „Ersatzsucher..., na ja, aber ab und zu mal will ich dann auch mal drankommen.“
„Angelina und Katie sind eigentlich hervorragende Jägerinnen. Sie sind leicht und schnell...“
„Ich könnte ja einen der Treiber machen.“, meldete sich Geoffrey. „Lass Malfoy doch Jäger werden. Dann tut er wenigstens niemandem weh!“
Dabei grinste er zu Draco hinüber, der aber so tat, als hätte er es nicht gehört. Eine ganze Weile lang diskutierten sie hin und her, bis Millicent anfing zu maulen.
„Hätten wir das nicht drinnen besprechen können?“, fragte sie genervt. „Mir wird kalt. Und eines sage ich euch, wenn das Training nur aus diskutieren besteht, dann bin ich ganz schnell wieder raus aus dem Team.“
„Hast Recht.“, sagte Harry. „Wir sind ja auch fast durch. Den Rest besprechen wir heute Abend. Lasst uns anfangen.“
Die Spieler teilten sich in zwei Gruppen. Malfoy wollte natürlich beim Suchertraining dabei sein. Harry hatte nichts dagegen. Inzwischen hatte sich Hagrid durch den Schnee zum Spielfeld gekämpft und setzte sich, nachdem er ein Fell auf einen der Sitze gelegt hatte, auf die Tribüne. Harry erklärte, was beim Wronski-Bluff zu beachten war, führte den Zug vor, und als er meinte, alles gesagt zu haben, war er wusste, ließ er Draco einen Versuch machen. Draco zog viel zu früh wieder nach oben, und so oft er es auch wiederholte, er traute sich nicht, den Sturzflug bis knapp über den Boden zu ziehen. Harry erinnerte sich, was Viktor Krum damals gemacht hatte.
„Draco, du zieht viel zu schnell wieder nach oben. Lasst uns doch mal vom Besen springen. Ich glaube nämlich, dass du kein Vertrauen hast, dass der Schnee weich ist. Schaut, ich springe!“
Er schwang sein Bein über den Besenstiel und sprang. Nach einem kurzen Flug landete er im weichen Pulverschnee und hinterließ ein tiefes Loch. Er holte seinen Besen, der ganz ruhig in der Luft stehen geblieben war wieder zu sich herunter, schlug sich den Schnee aus den Kleidern und schwang sich wieder hinauf.
„Jetzt ihr!“, forderte er die anderen auf. Draco konnte es sich nicht nehmen lassen. Er flog noch einen Meter höher, um Harry zu zeigen, dass er Mut hatte, dann zögerte er aber.
„Na los, spring!“, rief Harry.
Draco schob sein Bein über den Besenstiel, schloss die Augen und sprang. Als er unten im weichen Schnee gelandet war, jauchzte er.
„Das macht voll Spaß!“
Jetzt fassten auch die anderen Mut und sprangen und als auch sie begriffen hatten, dass sie sich nicht verletzten, wiederholten sie den Sprung. Immer wieder ließen sie sich von ihren Besen in die Luft tragen und sprangen. Immer höher wurden sie von ihren Besen getragen, bis sie schließlich eine Höhe erreicht hatten, von der es nicht mehr ungefährlich war, herunter zu springen.
Jetzt musste Draco den Sturzflug wiederholen, und dieses Mal klappte es erheblich besser. Auch die drei Treiber, Geoffrey, Arthur und Millicent versuchten ihr Glück und waren begeistert, als Harry sagte, sie seinen gar nicht so schlecht.
Als nächstes versuchten sie sich mit einer Verfolgungsjagd. Sie hetzten hintereinander her, stellten sich gegenseitig in den Weg, tauchten untereinander weg und purzelten immer wieder in den Schnee. Keinem war mehr kalt. Alle hatte rote, glänzende Gesichter und lachten und freuten sich. Hagrid klatschte Beifall, wenn einer besonders geschickt ausgewichen war und feuerte die Verfolger lautstark an. Den ganzen Nachmittag tobten sie sich aus, und als es dämmerig wurde, und sie vor der Eingangshalle landeten und von den Besen stiegen, sagte Geoffrey:
„Hätte nie gedacht, dass das so viel Spaß macht. Das war eine gute Idee von dir, Harry, den Schnee als Polster zu nutzen.“
Harrys Gesicht glänzte vor Stolz. Er hatte es geschafft. Er hatte das erste Training der Schulmannschaft hinter sich gebracht und es hatte allen Spaß gemacht. Sogar Millicent Bullstrode, dieses Monstermädchen aus Slytherin, die ohne Weiteres eine Schwester von Crabbe oder Goyle hätte sein können, sah ihn freundlich an.
Hagrid stapfte durch den Schnee heran und trat sich an einer Treppenstufe die Füße ab.
„Klasse, Kinder.“, lobte er sie. „Hat eine Freude gemacht, euch zuzusehen. Wenn ihr so weiter macht, dann werdet ihr die Durmstrangs fertig machen. Freu mich schon darauf.“
Er klopfte Harry auf die Schulter, dass dieser fast unter den schweren Händen zusammenbrach. Aber Harry machte es nichts mehr aus. Und in seinem Hinterkopf fühlte er, dass ihm eine schwere Last von der Seele genommen war und nun ein wenig mehr Platz diese vermaledeite Geschichte mit den Slytherins war.
Tag der Veröffentlichung: 10.04.2010
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