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Ich will nicht nur dein Engel sein

1. Kapitel

„Machen Sie sich bitte zur Landung bereit. Wir setzen in wenigen Minuten auf“, dröhnte es aus der Sprechanlage im Flugzeug. Lucy Collingham verdrehte die schönen Smaragdaugen.
Ausgerechnet in der Minute, indem ihr Versuch, endlich eine Mütze Schlaf zu beziehen, beinahe erfolgreich war, landeten sie, dachte sie mürrisch. Was für eine Ironie! Sie seufzte bei dem Versuch sich aufrecht hinzusetzen, denn statt des erwünschten Erfolges ihrer Anstrengung sich aus dem Sessel raus zu hieven, sank sie tiefer in ihren Sitz. Bei dem Gedanken an ihrem randalierten Liegesofa zu Hause, fragte sie sich, wem sie eher den Vorzug gegeben hätte?
Durch die Unbequemlichkeit ihres Armsessels, hatte sie bereits vor einigen Stunden gespürt, wie ihr Rücken zu schmerzen begann. Zu ihrem Überdruss versetzte nun jedes weitere Bemühen, aus diesem Sitz zu gelangen, ihren schmerzenden Gelenken weitere unangenehme Hiebe.
Sie hätte auf Charles hören sollen, als er ihr erklärt hatte, dass diese Billigflüge keinen Komfort baten.
Doch wie so oft hatte Lucy ihm verständlich machen wollen, dass sie keinen Flug buchte der Komfort bietet, sondern nur einen, der sie sicher nach Ägypten fliegen würde. Hätte sie damals schon gewusst, mit welchen Schmerzen sie bei ihrer Landung ankommen würde, wäre sie damals auf den Vorschlag von Charles Michaels eingegangen.
Sie hätte den Flug mit dem, ihrer Meinung nach, etwas übertrieben hohen Preis gebucht und wäre vermutlich schon seit drei Stunden in Ägypten. Doch war sie nicht selbst Schuld an ihren Schmerzen?
Sie war bloß zu dickköpfig gewesen und zu stolz, weshalb sie Charles gut gemeinten Rat ausschlug. Wie dem auch war, jetzt waren ihre Klagen sinnlos und ihre Reue kam zu spät. Ihre Gedanken blieben an Charles heften. Seid sie ein Kind war, kannten Charles und sie sich schon.
Ihr Vater hatte stets damit gerechnet, dass Charles um die Hand seiner Tochter anhalten würde, aber Charles hatte sich anderweitig umgesehen. Sie erinnerte sich, wie Charles überglücklich verkündete, dass er und Lisa Bennet verlobt waren.
Mit einem wehmütigen Lächeln erinnerte sie sich an Charles Gesichtsausdruck als ihr Vater ihm das als unverzeihlichen Fehler prophezeite. Zu diesem Zeitpunkt war es ihr nicht gelungen einzugreifen, da sie in der Mongolei nach einigen Artefakten in einer erst kürzlich entdeckten Höhle gesucht hatte.
Als sie dann nach Hause kam, erfuhr sie aus welchen Gründen Charles aus dem Haus ausgezogen war und hatte unter widrigen Umständen mit ihrem Vater zu kämpfen.
Es war ein Fiasko gewesen, dass sie letztendlich zum Entschluss gelangen lies, dass es am Klügsten sei, ihren Vater in ferner Zukunft auf seine überhebliche Manier hinzuweisen. Jedoch war ihr bis heute noch nicht gelungen die beiden liebsten Menschen die es für sie auf der Welt gab zu versöhnen. Stöhnend begann sie sich mit großer Anstrengung aus ihrem Sitz zu winden.
Bei diesem hoffnungslosen Unterfangen versetzte sie ihrem Sitznachbarn versehentlich einen Stoß in die Rippen. Der ältere Mann, den sie sofort als einen waschechten Araber erkannte, da er auf seiner Sprache laut zu fluchen begann, versuchte einen Schmerzschrei zu unterdrücken.
Es gelang ihm nur kläglich, den kehligen Protest aus seinem Mund bei sich zu behalten. Nachdem der ältere Araber seinem Zorn Luft gemacht hatte und Lucy ihm nur hilflos zusehen konnte, rang dieser langsam wieder nach Fassung.
Er nahm sich abermals seine Zeitung zur Hand, die er zuvor bereits als eingehende Lektüre gelesen hatte, und wirbelte geräuschvoll mit ihr in der Luft herum.
Lucy kämpfte verbissen gegen das Gelächter an, das ihr entrang, unterdessen sie die läppische Szenerie beobachtete. Der ältere Mann schien eine lästige Fliege vertreiben zu wollen. Für Lucys Geschmack trug er bereits zu dick auf um sich von ihr noch Respekt zu verschaffen.
Allmählich bemerkte Lucy, dass sie und ihr Gegenüber die Aufmerksamkeit der anderen wenigen Passagiere an Bord des Flugzeuges auf sich gezogen hatten. Gerne hätte sie diesem aufgebrachten Mann zu ewigem Schweigen gebracht.
Da ihr jedoch die Sprache keineswegs geläufig war, blieb sie stumm und zählte innerlich bis Zehn um ihre gespannten Nerven noch unter Kontrolle zu behalten.
Sie hätte alles gegeben um diesen Mann bloßzustellen, indem sie ihm hätte vorführen können, dass sie sein Fluchen durchaus verstanden hätte. Da es dagegen nicht so war, konnte sie zu ihrem Glück zusehen, wie dieser Mann sein Interesse endlich seiner Zeitung zuwandte.
„Gott sei Dank“, sprach sie erleichtert gedämpft aus. Sie stieß die Luft die sie spontan angehalten hatte wieder aus. Unmerklich sah sie sich um und bemerkte etwas verstimmt, dass weiterhin alle Augenpaare auf sie gerichtet waren.
In diesem Moment war sie durchaus erbaut darüber, dass Blicke nicht die Macht besaßen Leute zu lynchen. Unangenehm berührt drehte sie ihren Kopf wieder dem kleinen Fenster, der ihr den Blick auf die Welt unter ihren Füßen gewährte, zu und lies ihre schwarzen schulterlangen Locken wie ein seidiger Vorhang ihr Gesicht verbergen.
Nach einigen Minuten war ihr das eben Erlebte auch schon wieder entfallen, denn die berauschende Aussicht, die sie vom Flugzeug aus hatte, raubte ihr den Atem.
Atemlos sah sie zu wie der Fluss Nil unter ihr immerzu kleiner wurde bis er ganz aus ihrer Sichtweite verschwand. Durchatmend lehnte sie sich in ihren Sitz zurück und lächelte geistesabwesend.
Lebhaft konnte sie sich die Pyramiden, Tempel und Königsgräber ausmalen. Schon seit sie ein junges Mädchen war hatte sie davon geträumt bei Gelegenheit eines Tages hierher zurückzukehren und alles zu besichtigen, wie ihr Vater es vor mehr als zwölf Jahren getan hatte. Damals durfte sie ihren Vater nicht bis zur Ausgrabungsstätte begleiten, da die Reise zu anstrengend gewesen wäre und ihr Vater nicht rund um die Uhr für ein kleines, neugieriges Trabant wie sie da sein konnte.
„Oder wollte!“, wisperte ihr eine Stimme ins Ohr. Lucy schluckte hart den Knäuel der sich in ihrem Hals gebildet hatte hinunter. Benommen senkte sie die Lider. Auf jeden Fall wusste sie, dass sie nichts von dem Kulturdenkmal gesehen hatte.
Einzig und allein die vier Wände ihres Schlafzimmers und der Pool, sowie die Anlage selbst, des fünf Sterne Hotels, in dem sie und ihr Vater wohnten, wurden ihr recht vertraut.
Zu jener Zeit hatte sie sich geschworen einst auf eigene Faust dieses Geheimnisumwobene Land und seine Kultur mit ihren Sitten und Bräuchen zu erforschen. Nun bot sich ihr diese Okkasion und nichts und niemand würde ihr Vorhaben nun in Frage stellen können noch über die Konzession verfügen ihr diesen Traum zu untersagen.

Als sie schließlich die frische Luft in Kairo einatmete, lies sie ihren Blick über den Flughafen gleiten.
Die geringen Menschen die sie entdeckte stammen aus demselben Flieger wie sie und durchquerten mit zügigen Schritten die Landebahn. Auch ihr Sitznachbar stieg dringlich in ein wartendes Taxi ein und verschwand daraufhin. Suchend sah sie sich auf dem verlassenen Landeplatz um.
In diesem Augenblick erfasste sie ein aufkommender Windzug und wehte ihr Sandkörner in das Haar sowie in ihr Gesicht.
Es war Anfang Mai und zu dieser Jahreszeit wehte der Chamsin durch die Gegend. Dieser, aus dem Süden kommende, Sand- und Staubwind war Lucy aus den Erzählungen ihres Vaters von seinen Reisen und archäologischen Arbeiten in Ägypten als Einziges in Erinnerung geblieben. Um nicht weiter in Erinnerungen zu schwelgen, machte sie sich auf den Weg in das kleine Nebengebäude in dem sie auf ihren neuen Arbeitgeber stoßen sollte, der sie zudem zugleich zu ihren neuen Arbeitsplatz fahren würde und sie in die vorläufigen Funde einweihen würde.
Etwas abseits neben dem Fliesband, welches Gepäcksstücke fuhr, warf Lucy sehnsüchtig den Blick auf die sich vor dem Fenster ausbreitende Schönheit des Landes
Ägyptens. Im Geiste ging sie die Schätze Ägyptens durch. Dadurch beschäftigt ihren Träumereien nachzuhängen, entging ihr, wie ein unscheinbarer Mann Mitte dreißig auf sie zukam. Wirklich wahr nahm sie ihn erst, als er vor ihr stehen blieb und seine Frage durch den Saal hallte:
„Sind Sie, Miss Lucy Collingham?“ Lucy musterte den Mann eindringlich. Er hatte kurze Hosen, ein graues T-Shirt und ausgeleierte Nike- Turnschuhe an. Sein hervorhebendes Kinn machte die Vorzüge seiner himmelblauen Augen zu Nichte. Sein weizenblondes kurz geschnittenes Haar bewirkte, dass er um Jahre jünger aussah. Sein Anblick erinnerte sie ein wenig an ihren Vater. Mit ein paar Falten, einem finsteren, ungnädigen Mienenspiel und einem schwarzen Designeranzug würden sie durchaus Gemeinsamkeiten aufweisen, dachte sie belustigt.
„Ja, die bin ich. Sind sie Mr. Jackson Ta…“, wollte sie kontern, als er ihr das Wort abschnitt.
„Verzeihen Sie Miss Collingham, darf ich mich vorstellen? Mein Name ist Jeff Watson. Ich bin die Vertretung für Mr. Tade. Er trug mir auf Sie zum Lager zu fahren und Ihnen unterwegs eine detaillierte Auskunft über unsere Arbeit zu erteilen. Er lässt sich entschuldigen, aber ihm kam etwas Dringliches dazwischen das keinen Aufschub erlaubte, Sie verstehen?“ Lucy lächelte höflich und nickte daraufhin einsichtig.
Um ehrlich zu sein, verstehe ich nicht, hatte sie ihm zu Antworten gedacht, doch bevor ihr die Worte aus dem Mund entfahren konnten, behielt sie ihre Beschwerde für sich. Wozu sich zu Beginn Feinde bereiten?
„Ich freue mich Sie kennen zu lernen, Miss Collingham“, mit dieser Begrüßungsfloskel reichte er ihr die Hand, ehe er weiter referierte: „Würden Sie mir bitte folgen? Draußen wartet der Jeep. Wenn es Ihnen recht ist, fahren wir sogleich ab.
Falls Sie noch auf die Toilette bedürfen, gehen Sie bitte jetzt, denn folglich existiert nur Wüste um uns. Da wir nicht zu Halten gedenken bevor wir im Lager sind, erledigen Sie Ihre Angelegenheiten vor der Abfahrt.“
Aus dem Konzept befördert stierte sie Jeff Watson verdattert an. Dieser Mann hatte keine Hemmungen zu sagen was erforderlich war. Noch nie war sie einem dementsprechend freimütigen Menschen begegnet. Kurz atmete sie aus und antwortete dann:
„Danke, Mr. Watson, freilich weiß ich Ihre Sorge um mein Wohlbefinden zu schätzen, allerdings ist es nicht notwendig mich über derartige Dinge aufzuklären. Wir können ohne weiteren Aufenthalt los. Übrigens, nennen Sie mich bitte Lucy“, wies sie ihn betont an Persönlich zu werden. Sie hatte es noch nie leiden können Gesiezt zu werden.
Jeff schenkte ihr dafür ein strahlendes Grinsen. Ein knappes Nicken bedeutete, dass er einverstanden war sie zu Duzen und mit einem weitläufigeren schütteln des Kopfes präsentierte er ihr, ihm nach draußen nachzukommen.
Gegenwartsabwesend blickte sie ihm über die Schulter hinweg nach draußen zu dem einzigen Jeep auf dem weitläufigen Parkplatz, in dem sie eine weitere Gestalt sitzend warten sah. Lucy konnte nicht erkennen ob es sich um eine Frau oder einen Mann handelte, ahnte jedoch, dass sich diese Unwissenheit bald ändern würde.
„Hast du lange warten müssen?“, drang es wie aus weiter Ferne an ihr Ohr. Langsam schritten sie und Jeff der Ausgangstür entgegen. Ihr Gepäck im Anhang bewegte sie sich mit Jeffs Hilfe zügig voran.
„Nein. Die Maschine hatte fünf Minuten Verspätung. Ich hatte hingegen die Befürchtung, dass sich Mr. Tade um einige Augenblicke würde gedulden müssen. Demnach bin ich froh, dass das nicht der Fall ist“, erwiderte sie knapp und hielt seinem forschenden Blick aus der Seite stand.
Was ihm wohl durch den Kopf ging, fragte sich Lucy als sie nun wieder an die frische Luft ins Freie trat. Ihr entging nicht, wie Jeff sich rasch auf die Uhr, die auf seinem linken Handgelenk platziert war, sah.
„Dann können wir also?“, erkundigte er sich wie zur Bestätigung, dass sie auch geneigt war sich einer derartigen Fron zu unterziehen. Sie war versucht Jeff die Augen auszukratzen, da ihm allem Anschein nach entgangen war, dass sie weder ein kleines unerfahrenes Kind noch seine Hauszierde war.
Lucy dachte an ihre ausgezeichnete Erziehung zurück und beherrschte sich überaus ihrem neuen Arbeitskollegen nicht die Manieren der feinen englischen Art einzutrichtern.
Abrupt blieb sie auf der Stelle stehen und drehte sich zu Jeff um, der mit einem ihrer Koffer zu kämpfen hatte.
„Hören Sie mir zu, Jeff. Ich bin keine Sieben mehr und das hier ist nicht meine erste Exkursion. Falls Sie meinen, mich auf alle erdenklichen Drangsale aufmerksam machen zu müssen, tun Sie sich keinen Zwang an. Aber lassen Sie sich gesagt sein, dass ich hinreichend Eigenständig bin und keinen Babysitter benötige. Falls es Ihnen noch nicht in den Sinn gekommen ist, würden Sie mich freundlicherweise wie all ihre anderen Arbeitskollegen behandeln und nicht so tun, als wäre ich eine Ausnahme?“, fragte sie in erregtem Ton.
Die kleine Pulsschlagader an ihrem Hals pochte heftig. Sie hatte die Worte nicht zu unterdrücken vermacht, da waren sie schon ihrem Mund entschlüpft. Schließlich hatte sie nun doch die blanke Wut gepackt und ehe sie es sich versah, sprudelten die nächsten Sätze nur so aus ihr heraus:
„Nebenbei werden wir wohl oder übel miteinander arbeiten müssen, deshalb schlage ich vor, dass wir kooperieren. Mir steht nicht der Sinn danach mich mit Ihnen die nächsten drei Wochen ununterbrochen zu streiten. Würden Sie mir liebenswürdigerweise sagen, was ich anstellen kann, damit ich Ihnen meine Anwesenheit erleichtere?“
Lucy fühlte wie ihr schwindlig wurde, als sie den Mann vor ihr lächeln sah. Woher, in Gottes Namen, nahm er sich das Recht sich über sie zu amüsieren? Sie argwöhnte plötzlich einen unvermeidlichen Hauch von Ironie in seinem Blick wahrgenommen zu haben. Oder war das ein triumphierendes Glitzern in seinen Augen? Einem Impuls heraus wich sie drei Schritte vor ihm zurück. Ihre Alarmglocken schrillten. Was war es, das sie derart beunruhigte? Ein Gefühl konnte sie von Vornherein ausschließen, nämlich die Angst.
Sie erwartete, dass er etwas bemerken würde – doch sie hoffte aussichtslos. Aus diesem Grund griff sie ihn erneut an, wie sie merkte, dass er tatsächlich keine Anstalten machte sich zu einer Erklärung herabzusetzen:
„Was ist so komisch?“
„Nichts“, hörte sie ihn nach Sekunden belustigt erwidern. Mit gerunzelter Stirn begegnete ihr fragender Blick dem seinen.
„Und wie kommen sie dazu mich dann auszulachen?“, fragte sie pikiert und wurde Zeugin, wie sein Lächeln noch breiter wurde. „Ich lache dich nicht aus, ich lächle dich an“, sagte er und wechselte zu der vertraulichen Anrede über. Mit diesen Worten wandte er sich von ihr ab und lies eine konsternierte Lucy Collingham zurück.

Ihre Wangen brannten vor Scham, als sie stumm hinter Jeff herlief. Ihr war wiederholt gelungen sich ohne Außenstehende Hilfe einfältig aufzuführen. Stockend entwich ihr die unwillkürlich angehaltene Luft aus den Lungen. Stumm lief sie ihm hinterher, da er bereits einen gewaltigen Vorsprung hatte.
Außer Puste erreichte sie nun endlich den Jeep. „Danke“, flüsterte sie, als Jeff ihr die zweite Reisetasche aus der Hand nahm und auf einen der Hintersitze des Fahrzeuges platzierte.
Bei der Gelegenheit wurde ihr auch Jeffs Begleiter als Marco Pirelli vorgestellt. Ohne zu widersprechen machte Lucy es sich auf dem Beifahrersitz bequem, da ihr nichts anderes übrig geblieben war, zumal sich die beiden Männer am Fahrersitz und am Rücksitz einquartiert hatten.
Im Beifahrerspiegel beobachtete Lucy Jeff. Wie hatte Lucy es nur so weit kommen lassen können? Nicht nur das sie sich vor ihm Bloß gestellt hatte, nein, sie hatte ihm auch noch einen ausschlaggebenden Anlass geliefert sich ihr gegenüber feindselig zu benehmen.
Schlimmer konnte es nun wirklich nicht mehr werden! Das war kein guter Anfang, Lucy, schallt sie sich im Stillen einen Narren.
Noch mehr Eskapaden durfte sie sich nicht mehr leisten, stellte sie schlagartig fest. Soeben wollte sie weiter ihren Gedanken nachhängen, als Marco sie in eine harmlose Debatte über London und seine Besonderheiten verwickelte und ihr damit die Aussicht nahm, sich weiteren Überlegungen hinzugeben.

2. Kapitel

Jackson Tade lehnte sich gegen den platz aufwendenden Tisch. Er sah sich im Zelt um. Ausgrabungsmaterial, ein mit Strom betriebener Kühlschrank und zwei zusammenklappbare Betten, waren die Sachen die ihm sofort ins Auge fielen. Dann wanderte sein Blick zum Radio, zum Funkgerät und zuletzt zu einem älteren, bärtigen und üppigen Mann.
„Meinst du im Ernst, dass ihr nicht aufgehen wird was hier gespielt wird?“, fragend und Stirn runzelnd sah er in zwei große, dunkelbraune Augen. Bertram Carpenter räusperte sich und seufzte hörbar.
„Selbstverständlich nicht! Vorausgesetzt natürlich, das du ihr kein Sterbenswörtchen offenbarst“, replizierte Bertram ausdrücklich betont.
„Ach, ich bitte dich. Ist dir entfallen, dass sie, sollte sie jemals hinter diesen Komplott gelangen, uns am Ende alle dafür verabscheuen wird? – Insbesondere mich?“
Jackson klang verärgert. Es war eine Schnapsidee gewesen Lucy durch den Vorwand, dass sie hier ihren Beruf ausüben solle, nach Ägypten zu locken. Es war absurd, sie so hinters Licht zu führen, wo doch die Eventualität bestand, dass sie wie zivilisierte Menschen über ihr heikles Dilemma sprachen.
Jackson verspürte das dumpfe Gefühl selbst auf den Arm genommen worden zu sein. Ging es hier bestimmt darum Lucy davon umzustimmen in keine Vernunftehe einzuwilligen oder wollten hier bestimmte Leute Amor spielen? Es kam ihm alles ziemlich fragwürdig vor.
Er machte einen schwerfälligen Schritt auf Bertram zu und musterte ihn herausfordernd.
„Ich verstehe nicht, worum es dir überhaupt geht, Jackson?“, überging der ältere Mann geschickt die offene Frage. „Komm mir jetzt nicht mit der Nummer. Bertram, unter “lösen wir das Problem“ verstehe ich nicht, sie hierher zu bitten, und ihr das Blaue vom Himmel herunter zu lügen“, schleuderte Jackson ihm energisch entgegen. „Ich höre dich ausgezeichnet, Junge. Du weißt ja: Der Ton macht die Musik!“
„Mag sein“, murmelte Jackson keineswegs beherrscht.
In seinem Kopf begann es zu hämmern. Dieses Thema musste ihm ja Kopfschmerzen verursachen.
„Ich habe keine Ahnung was deine Abneigung erweckt. Wenn sie dir zuwider ist, dann bleib ihr fern“, lies sich Bertrams vor Sarkasmus triefende Stimme vernehmen.
„Nicht sie ist es, die mir degoutiert ist. Es liegt an dieser ganzen Intrige – die ist mir zuwider!“, gab Jackson ihm mit verächtlichem Gespött zurück.
Nun war es an Bertram die Initiative zu ergreifen und so machte er eine riskante Bewegung auf Jackson zu. Sie standen nur mehr eine handbreit voneinander entfernt.
„Wenn dem so ist, dann wirst du dich hervorragend mit ihr verstehen. Ihr werdet hier genügend Wochen miteinander verbringen können um einander kennen zu lernen. Bedenkt man den Umstand, dass du sie noch nicht live erlebt hast…“ Bertrams zweideutige Bemerkung lies Jacksons angespannte Muskeln sich augenblicklich mehr verkrampfen.
Das Foto das er von Lucy besaß war bezaubernd. Die junge Frau die ihm von der Aufnahme entgegen lächelte war schätzungsweise zwischen zwanzig und fünfundzwanzig Jahren. Sie besaß langes lockiges schwarzes Haar, das sie allerdings zu einem Pferdeschwanz gebändigt hatte. Ihr sinnlicher voller Mund hatte auch auf dem Schnappschuss eine erotische Wirkung und kurbelte bei jedem Mann die Phantasie an.
Im wörtlichen Kontrast zu ihrem dunklen Teint standen ihre großen graugrünen Augen, die von langen, schön geformten Wimpern umrahmt wurden. Auf diesem Abzug schienen ihre Augen etwas Kummervolles zu beherbergen. Im Licht der Sonne, so erschien es Jackson auf dem Foto, funkelten sie wie zwei Smaragde.
Lucy war in einer Haltung fotografiert worden, in der man ihre schlanke Taille zur Geltung brachte. Überall dort wo an ihrem gewandten Körper Rundungen zu bestehen hatten gab es auch welche. Auf dieser Aufnahme trug sie ein Sommerkleid, das einen enormen Ausschnitt aufwies. Das Kleid ging ihr bis zu den Knien und machte den Blick auf ihre schlanken Beine frei.
Sie ist verdammt sexy und falls er sich nicht eines besseren Besann, könnte sie ihm wehrlos ausgeliefert sein, riet er sich selbst von ihr ab.
Sein Hals fühlte sich, bei der Vorstellung wie sie in 3D-Größe vor ihm stand, trocken an. Es bedurfte seinen ganzen Körper nach einem Schluck kühlen Mineralwassers zur Auffrischung.
„Halt sie mir gefälligst vom Leib. Hast du verstanden, Bertram?“, fragte Jackson aus heiterem Himmel ungnädig.
„Eben erst machtest du den Eindruck als hättest du Mitleid mit dem schönen Geschöpf und nun rügst du mich, sie dir möglichst vom Hals zu halten. Was willst du eigentlich?“, wollte dieser nun verblüfft wissen. Jackson fühlte sich hilflos. Ihn hatte eine bizarre Ungeduld gepackt und katapultierte seine Gefühle sekundenschnell in verschiedene Tiefs wie Hochs.
„Ach zum Teufel, woher soll ich das wissen?“, stieß er zwischen den Zähnen zerknirscht hervor.
Bertram hielt eine Schweigeminute für angebracht. Ihn beschlich das erheiternde Gefühl, dass ihr Vorhaben nicht nur in die Tat umsetzbar war sondern sich ferner rentieren würde.
„Beide sind uns auf den Leim gegangen“, freute sich Bertram im Geiste. Jetzt hatte er nur noch seine Rolle überzeugend zu spielen.
Er kostete den Triumph regelrecht aus.
„Von dieser Seite kenne ich dich gar nicht, Junge“, gab er sodann verschmilzt als Antwort zurück. Woraufhin ihn Jackson mit einem rabiaten Augenspiel in die Schranken wies. In seinen, vor Zorn funkelnden, Augen erkannte Bertram, dass Jackson keinen weiteren Schritt über die unsichtbare Grenze seiner schwer aufrechterhaltenen Gelassenheit dulden würde.
Hätten Blicke tatsächlich die Befehlsgewalt jemanden umzubringen, wäre Bertram in den folgenden Sekunden der Stille mehr als einmal gestorben. „Ich muss dich doch wohl nicht an deine feinen Manieren als Gentleman erinnern?“, erkundigte sich Bertram nach einer kurzen forschen Musterung seines Gegenübers.
Jackson tat so als müsse er überlegen. Minuten verstrichen und kein mündlicher Verkehr fand zwischen ihnen statt.
Abermals musste Bertram seufzen. Er war unverbesserlich, fand Bertram.
„Worüber zerbrichst du dir den Kopf? Jackson, ich warne dich! Wenn du der Kleinen auch nur ein Haar krümmst, wirst du dir wünschen nie geboren worden zu sein“, brach es aus Bertram eisig heraus. Jackson hob eine Hand hoch und fuhr sich mit ihr durch das schwarze dichte Haar.
„Wovon sprichst du?“, brachte er mühsam hervor. Eine Predigt von seinem besten Freund gebrauchte er wirklich nicht. Ihm war die Bereitschaft auf eine Unterredung vergangen. Sich mit ihm ein fortwährendes Wortgefecht zu gönnen, lag nicht länger in seiner Absicht. Bertram machte einen großen Schritt zum Kühlschrank und holte sich pressant eine kalte Flasche Mineralwasser heraus. Dann griff er nach einem Glas das auf dem Tisch stand und fuhr fort:
„Ich spreche davon, dass du dich von ihr fern halten sollst, wenn du beabsichtigst ihr Leid zuzufügen. Ich spreche davon, dass du dein Desinteresse an einer arrangierten Ehe kund tatst, und ich von dir wünsche, dass du ihr mit Respekt begegnest. Es ist wohl angebracht, wenn ich dir verbiete, die Unschuld dieser jungen Frau nicht zu besudeln, sofern du ausschließlich an einer Aussprache interessiert bist. Damit hätten wir alle Disharmonien beseitigt, nicht wahr?“
Doch bevor Jackson darauf etwas zu erwidern wusste, ergriff sein Vorarbeiter abermals das Wort: „Nebenbei müsste sie nach meinen Informationen zufolge jede Minute eintreffen. Ich glaube...“ Dieses Mal verstummte Bertram endgültig und hielt in seiner Bewegung inne. Einige Augenblicke danach hörte man Reifen auf dem Kies und Schotter quietschen und im Zelt konnte man das Geräusch eines aufheulenden Motors vernehmen. Bertram setzte das liebenswürdigste Lächeln auf dessen er fähig war und verschwand aus dem Gemeinschaftszelt.
Das Herzklopfen das in Jacksons Brust heftig zu pochen begonnen hatte, ärgerte ihn. Das hatte nichts zu bedeuten, beruhigte er sich. Allenfalls litt er unter Sauerstoffmangel und einem unsäglichen Brand in seiner Kehle, den er jetzt mit einem Glas frischem Mineralwasser zu löschen beabsichtigte.
Das kühle Getränk verfehlte seine wohltuende Tat nicht. Dankbar über die Stühle im Gemeinschaftszelt, ließ er sich auf einen nieder um seine schmerzenden Füße einen Moment auszuruhen. Jackson rieb sich die Augen.
„Willkommen bei uns, Miss Collingham. Darf ich mich vorstellen? Mein Name ist Bertram Carpenter. Wenn sie Fragen bezüglich eines Artefakts haben sollten oder andere Auskünfte benötigen, wenden Sie sich ohne Bedenken an mich“, drang es von vor dem Zelt an Jacksons Ohr.
Und schon zählte sie zu den engsten Verwandten, schoss es Jackson gereizt durch den Kopf. Die hemmenden Schmerzen in seinem Kopf begannen sich unaufhörlich zu verdoppeln.
Sein dröhnender Kopf schien keinen Abbruch zu wissen. Jede Sekunde verschlechterte sich sein Zustand. Bei Bertrams Betragen der zuvorkommendeste Gentleman auf Erden zu sein, überwältigte ihn der Schmerz um ein Tausendfaches.
Doch natürlich rührten seine Schmerzen nicht daher, dass er sich irgendwo mit irgendetwas infiziert hatte und nun an physischen Leiden litt, sondern daher, dass er psychische Beschwerden ertrug und sich diese wie schon seit frühester Kindheit auf seinen Körper auswirkten.
Ihm war klar, wem er es verdankte, dass ihn seine stoischen Quallen erneut in Beschlag genommen hatten.
Somit erlaubte er sich eine unerklärliche Schwäche für eine Frau zu haben, der er noch nie in seinem Leben begegnet war und die es Zustande gebracht hatte, ihn, durch einen Schnappschuss, das ihr liebliches Antlitz zeigte, aus seiner gewohnten Resonanz zu bringen.
Was, um Himmels Willen, trieb ihn zu solchen Einsichten, fragte er sich, wie ihm bewusst wurde, was er sich gerade mittels individuellen Monologen einzureden probiert hatte.
Sie war eine Frau! Nicht mehr und nicht weniger! Lucy Collingham war eine von Vielen! Er musste zugeben, dass sie eine überaus betörende Erscheinung war, allerdings hatte sie nichts, dass ihn zu verlocken wusste. Nichts.
Mit diesen Vorsätzen begab er sich mit einem gekünstelten Lächeln aus dem Zelt um den Neuankömmling in seinem Lager willkommen zu heißen.

Wie man Jackson aus dem Inneren des Gemeinschaftszeltes anmarschieren sah, verstummte die heitere kleine Gruppe neben dem Jeep.
Zu Jacksons feindlicher Antipathie dieser wunderschönen Frau gegenüber, wuchs, bei ihrem Anblick, auch der Hass auf sich selbst. Er presste die Zähne derart zusammen, dass sie knirschten, und die klopfenden Schmerzen in seinem Kopf die ihn seit der Ankündigung seines Vaters malträtiert hatten, drohten ihn dieses Mal bei der Erinnerung daran zu überwältigen.
Bei einem Galaempfang, an dem Jacksons Dabeisein von seinem Vater erwünscht war, hatte Matt Tade vor tausenden von Leuten die grandiose Bekanntgabe gemacht, dass sich sein Sohn in Kürze vermählen würde. Jackson hatte es sprichwörtlich die Sprache verschlagen. Jedermann in dem Saal hatte applaudiert und ihm bezüglich seiner bevorstehenden Hochzeit herzlich beglückwünscht, während er sich fühlte, als habe man ihm den Boden unter den Füßen genommen.
Nach der Veranstaltung hatte er seinen Vater zur Rede gestellt. Dieser bekannte nach endlosem Hinauszögern, dass es in der Familie Tade schon seit Generationen ein Brauch war, dass die Eltern ihren Kindern nach ihrem dreißigsten Lebensjahr dazu verhalfen den Bund fürs Leben zu schließen und so plante Matt Tade auch Jacksons Ehe zu arrangieren.
Dieser war außer sich vor Empörung gewesen und es kam zu einem heftigen Streit, den Jacksons Vater haushoch gewann. Mehrere Tage lang gingen sie sich gegenseitig aus dem Weg und sprachen, wenn es nötig war, nur offiziell miteinander.
Und am vorigen Freitagabend kam Matt ins Büro zu seinem Sohn um ihn um Verzeihung zu bitten und überreichte ihm überdies die Aufnahme von Lucy. Matt erklärte, dass er seinen Fehler eingesehen hatte, aber Jackson ihm zu Liebe doch ein Auge auf sie werfen solle und eine Nacht über seine Entscheidung nachgrübeln solle ehe er die Heirat mit ihr nicht in Erwägung zog.
Von Freitag auf Samsatag hatte Jackson keinen Schlaf gefunden. Ihm spukte ständig die schöne Frau vom Bild vor seinem inneren Auge herum. Er dachte daran seinem Vater nach dem Frühstück einen vorläufigen Kompromiss anzubieten, doch schon früh am Morgen hatte sein Vater einen fatalen Fehler begangen, woraufhin Jackson ihm aus Starrköpfigkeit verkündete, dass er nicht gewillt war Lucy kennen zu lernen geschweige denn sie zu seiner Frau zu machen. Sein Vater überredete ihn jedoch, dass er wenigstens zu ihr aufrichtig sein solle und mit Lucy über diese verfahrene Geschichte verhandeln solle, da sie bereits zu der arrangierten Ehe ihr Einverständnis gegeben hatte.
„Höchstwahrscheinlich stand sie unter starkem Alkoholkonsum und unter Drogenrausch, als ihre Eltern darauf bestanden, dass sie ihre Einigung auf so ein abstruses Versprechen gegeben hatte. Aus freien Stücken würde kein halbwegs normaler Mensch sich auf so einen derben Handel einlassen“, hatte er damals angewidert geäußert.
„Du klingst sehr zuversichtlich! Erklär mir dessen ungeachtet nur eine Sache: Was macht dich so überaus sicher und lässt deine Vermutung untermauern, sollte jemals der Anlass dazu bestehen?“, war die Abwehr seines Vaters darauf.
Jackson hatte damals nichts zu kontern gewusst und so kam es dazu, dass er unüberlegt dem Vorschlag seines Vaters zugestimmt hatte um das Missverständnis aus dem Weg zu räumen. Einen Moment lang durchging er gedanklich die Konversation von neulich.
Jetzt hatte er ein Gegenargument. „Nichts“, erwiderte er seinem Vater im Stillen, „nichts macht mich dessen gewiss. Ich appelliere nur an den gesunden Verstand eines jeden Menschen.“ Doch dieser Satz war längst überfällig.
Er ließ sich Zeit beim Schreiten, denn ihm behagte es ganz und gar nicht, was er von weitem erspähen konnte. Trotz der Hitze lief es ihm kalt den Rücken hinunter. Die kleine Gruppe hatte wieder begonnen sich angeregt untereinander zu unterhalten. Er war ihnen nur einige wenige Meter entfernt. Und anstatt seine Schritte zu beschleunigen reduzierte er seinen Gang.
Jackson rang gegen eine Ohnmacht an die gewaltsam an ihm zerrte. Was so absurd begonnen hatte erschien von Sekunde zu Sekunde paradoxer. Je mehr er über seine Lage nachdachte, desto Klarer sah er, dass er der Urheber dieses Desasters war. Jackson konnte niemand anderem einen Vorwurf machen.
Er war derjenige der sich aus Trutzigkeit seinem Vater widersetzte und damit diese unheilvolle Begebenheit hervorgerufen hatte. Er hatte die letzten Nächte kein Auge zugetan, weil ihre Erscheinung ihn um den Verstand gebracht hatte. Er war dafür verantwortlich was zwischen ihnen geschehen würde.
Verflucht! Nichts würde passieren! Jetzt fing er dazu noch an, sich einzureden eine Fotografie könne Begehren auslösen. An und für sich lebte das Pornografiebusiness einzig und allein aus Werbetexten, Zeitschriften und allerlei anderen subtilen Dingen, die im Fernsehen, im Radio und so weiter ausgestrahlt wurden, weshalb also sorgte er sich im Bezug auf seinen männlichen Trieb?
Außerdem war das Foto von ihr ganz und gar im Stande seine Hormone in mancherlei seltsamen Schwankungen zu befördern. Ihr frigider Mund brachte sein Blut in Wallung und entfachte die Sehnsucht in ihm ihn zu liebkosen. Wobei er sich unerwartet dabei ertippte, dass er sich die Frage stellte, wie sie schmecken würde.
Ihre weibliche Gestalt eröffnete allerlei animalischer Eingebungen wie es wäre eine Nacht mit ihr zu verbringen. Wieder schoss ihm ein Hirngespinst durch seine Gedankensprünge, das ihn dazu brachte sich mit dem Rätsel auseinanderzusetzen, wie es sich wohl anfühlte ihre Haut zu spüren, zu streicheln.
Zum Teufel, er war tatsächlich verrückt nach ihr. Und alles wäre so simpel, wenn Bertram sie nicht zu einer süßen verbotenen Frucht avanciert hätte und ihm damit untersagte sie zu erobern.
Völlig in seinen Gedanken vertieft merkte er nicht wie er bei Bertram und den anderen angelangt war. „Ich freue mich Sie kennen zu lernen, Mr. Tade. Mein Name ist Lucy Collingham“, begann die junge Frau und reichte ihm ihre Hand. Durch diese Geste fiel er unsanft in die Realität zurück.
„Ganz meinerseits“, erwiderte er den freundlichen Gruß knapp. Wagte es jedoch nicht ihre Hand zu ergreifen, denn er mied jede unnötige Berührung mit ihr. „Hatten Sie einen angenehmen Flug?“, fragte er stattdessen schnell um seine Unhöflichkeit zu kaschieren.
„Ja, er war passabel“, log sie. Sie hatte nicht vor ihren neuen Arbeitskollegen von dem verdrießlichen Vorfall mit dem Araber zu berichten.
„Ich hoffe doch, dass man Sie über unsere Arbeit informiert hat? Ich konnte mich auf Jeff stets verlassen, also würde es mich enttäuschen vom Gegenteil zu hören“, redete er sich warm. Jackson sah zu Jeff hinüber der ein breites Grinsen auf dem Gesicht trug.
„Es tut mir Leid Ihnen sagen zu müssen Boss, dass wir noch nicht dazu gekommen sind diese Angelegenheit zu besprechen“, kam Jeff Lucy mit seiner Beantwortung zuvor.
Sein Vorgesetzter warf einen verwirrten Blick in seine Richtung. Hatte er sich soeben verhört?
„Was?“, fragte er konfus. Er wollte sich die Bestätigung holen, dass ihm seine Ohren einen Streich gespielt haben müssen. „Nein. Tut mir Leid. Ich hatte das bei der ganzen Aufregung völlig vergessen“, bekam er entgegen aller Erwartungen zurück.
„Das ist nicht weiter Schlimm“, beruhigte Bertram und tätschelte Jackson auf die Schulter. Nicht weiter Schlimm? Kein Grund zur Beunruhigung? Jackson schwirrte der Kopf.
„Das war allein meine Schuld, Mr. Tade. Marco hatte sich danach erkundigt wo ich zuvor überall beschäftigt war und plötzlich fanden wir uns alle in einer Diskussion über London und seine Wahrzeichen wieder. Daraufhin hatte ich Jeff und Marco detaillierte Angaben über verschiedene Ereignisse gegeben und schon war die einstündige Fahrt hierher vorbei“, nahm Lucy die Schuld für Jeffs Fehlgang auf sich.
„Wir haben reichlich Zeit Sie in alles einzuweihen, zerbrechen Sie sich darüber nicht den Kopf. Darf ich vorschlagen, dass wir uns in das Gemeinschaftszelt begeben ehe wir hier Wurzeln schlagen? Die Dattelpalme bietet leider nur sehr bedingt Schatten. Würden Sie so freundlich sein und mir folgen?“, erkundigte sich Bertram in der für ihn schleppenden Sprechweise.
Ausgenommen von Jackson machten sie sich alle auf den Weg zum Zelt. Sein Inneres war in Aufruhr, weshalb er sich eine Zigarette zur Entspannung seiner Nerven gönnen würde, bevor er sich von neuem zu ihnen gesellte.

3. Kapitel

In der Zeit, in der Bertram ihr ein Glas mit frischem Selterswasser füllte, bemerkte Lucy wie Jackson Tade alles andere als begeistert ihnen ins Zelt nachgekommen war und sich wenige Schritte von ihr auf einen Stuhl setzte. Sie spähte argwöhnisch zu ihm hinüber. Jackson Tade kam ihr nicht wie eine Person vor mit der man gut Kirschen essen könne. Im Gegenteil. Er hatte sich ihr gegenüber eher professionell, beherrscht und reserviert benommen. Selbst sein übellauniges Betragen trug nicht gerade dazu bei ihn in ein angenehmeres Licht zu stellen. Seine Gesichtszüge ließen ihn grob erscheinen. Feine Falten hatten sich auf seiner Stirn gebildet und alterten ihn um etliche Jahre. Jacksons zerzaustes schwarzes Haar glänzte bläulich in der Sonne, die einen gleißenden Sonnenstrahl durch eins der Fenster warf. Die Stellung in der er in seinem Stuhl ruhte, erinnerte sie daran, wie distanziert er ihr bei der Begrüßung vorgekommen war. Hatte er bedenken sie in seinem Team zu haben? Was hemmte ihn derart in ihrer Gegenwart? Warum stellte sie sich überhaupt solche Fragen? Es war doch Jackson Tade gewesen, der sich nach ihr erkundigt hatte und ihr diese Forschungsreise in Aussicht gestellt hatte. Niemandem schien ihre Anwesenheit Ungelegen zu kommen. Niemandem – außer einem.
„Schlimmstenfalls fliege ich wieder nach Hause“, flüsterte sie sich aufmunternd zu. Ihr entfuhr ein mutloses Aufstöhnen. Schlagartig stieg ihr heftige Röte ins Gesicht. Sie hatte nicht beabsichtigt diese Männer dazu zu bringen ihren Seufzer als einen Anflug von Ungeduld zu interpretieren. Deswegen ließ sie ihren Blick durch den Raum wandern. Erstaunt fiel ihr auf, dass keiner ihr Beachtung geschenkt hatte, da jeder Einzelne seinen persönlichen Grübeleien nachhing.
„Vielen Dank“, murmelte sie gedankenvoll wie Bertram ihr das Glas überreichte. Dann nahm er direkt neben ihr platz.

Kurz darauf waren Lucy, Bertram sowie Jeff wieder in einer lebendigen Diskussion vertieft, sodass keinem auffiel, als Marco sich zu Jackson begab und ihn bat:
„Jackson, hättest du einen Moment Zeit für mich? Ich würde dich gern unter vier Augen sprechen.“ Ein schroffes Nicken war seine Einwilligung dazu.
„Was gibt es? Was ist los mit dir?“, fragte er mit den Augen auf eine Stelle hinter Marco gerichtet. Um die anderen nicht auf sie konziliant zu machen, waren sie nach draußen unter den freien Himmel gegangen.
„Dasselbe sollte ich dich fragen“, sagte Marco rau.
„Habe ich den Startschuss zu unserer Kontroverse verpasst? Worum geht es hier?“, konterte Jackson verblüfft.
„Ist dir noch nicht in den Sinn gekommen, dass du dir durch dein Verhalten ihr gegenüber keine Busenfreunde machst?“, kam Marco sofort zum Punkt, da er offenbar keinen Anlass für lange Vorreden sah.
„Gehe ich Recht in der Annahme, dass du dich dazu berechtigt fühlst meine Anwandlungen zu analysieren? Willst du mich ins Bockshorn jagen?“
„Jackson, ich kritisiere hier nicht deine professionellen Begabungen als Arbeitgeber, sondern deine Verhaltensweisen als ein menschliches Wesen. Das bist nicht du. Alles was ich…“
„Alles was du wollen solltest ist deine Arbeitsstelle zu behalten“, kam es grimmig von ihm zurück. In Jackson kroch eine starke Verärgerung empor.
„Du willst mich feuern, nur weil du nicht ertragen kannst wenn man dich mit einem offensichtlichen Faktum konfrontiert?“, erkundigte sich Marco fassungslos. Jackson starrte ins Leere. Unterdessen breitete sich Stille zwischen ihnen aus die an beiden zu zerren begann. „Scheiße, Mann! Wer bist du?“, erklang Marcos fragende Stimme und durchbrach das aufgetretene Schweigen.
„Marco, ich meinte…“, setzte Jackson an, wurde aber am eingehenderen Begründen gehindert. „Spar dir deine Entschuldigungen! Heb deine Ausflüchte für Lucy auf!“
„Hör mal, wie ich…“
„Vergiss es, Mann! Ich rede und du hast mir zuzuhören! Krümmst du ihr ein Haar Jackson, dann sorge ich persönlich dafür, dass du dir wünschst nie geboren worden zu sein“, unterbrach er ihn mit schneidender Stimme. Ungnädig sah er ihm ins Gesicht.
„Weshalb wollen mir bloß alle ihretwegen die Hölle heiß machen?“, erklang Jacksons fragende Stimme nach einigen Sekunden.
„Wohl bemerkt wahrscheinlich aus dem Grund, da du nur dieser schönen Evastochter gegenüber feindlich gesonnen bist. Wenn ich drauf los raten soll, dann würde ich nahezu vermuten, dass du befürchtest, sie könne dich um den kleinen Finger wickeln. Wobei, wenn du mich fragst, das beizeiten schon geschehen ist. Ich sehe doch, wenn dir eine zusagt, dann tickst du nicht mehr fehlerfrei“, erwiderte Marco prahlerisch.
„Moment mal! Marco, bist du ebenfalls darin verwickelt?“
„Worin?“ Jackson schüttelte über seine eigene Annahme unvermutet den Kopf. Das war nur Haarspalterei, dachte er. Marcos Ausdruck im Gesicht nach zu urteilen hatte dieser keinen blassen Schimmer um was es sich handelte.
„Belangloses Zeug! Ich erklär dir alles bei anderer Gelegenheit. Jetzt ist nicht der korrekte Zeitpunkt für eine Klarstellung“, sagte er leichthin.
„Was geht hier in concreto vor sich?“ „Genau genommen bin ich ebenso ahnungslos wie du. Deshalb kümmerst du dich um deinen eigenen Kram und überlässt meine Pflichten mir“, stieß er erbittert hervor und wollte sich wegdrehen. Doch in letzter Sekunde ergriff jemand seinen Arm und hielt ihn davon ab.
„Nicht so voreilig!“, vernahm Jackson Marcos Stimme im Hintergrund. „Was noch?“, entfuhr es Jackson gereizt.
„Ich hoffe, du weißt, was du tust, Mann!“ Ein zynisches Lächeln umspielte Jacksons Mundwinkel.
„Das weiß ich schon seit ’ner geraumen Zeit nicht mehr“, gab er widerstrebend zu und klopfte seinem Mitarbeiter flüchtig auf die Schulter. Damit kehrte er ihm den Rücken zu und verschwand. Marco sah seinem Boss nach und schüttelte lächelnd den Kopf.

Jackson war bereits mehrere Minuten im Zelt als Marco ihm nachkam. Beim Eintreten spürte Jackson bereits Marcos Anwesenheit, doch er zwang sich nicht an ihren Disput vorhin zu denken. Stattdessen beobachtete er aus den Augenwinkeln die junge Engländerin die sich erregt mit seinen Kollegen unterhielt. Er ballte seine Hände zu Fäusten. Sie sah tatsächlich genauso aus wie auf dem Foto, welches ein Jahr zuvor von ihr geschossen worden war. Er war sicher nicht verliebt, dennoch ließ ihn die Frage was ihn so zu ihr anzog nicht mehr los. Ihre ruhige höfliche Stimme riss ihn wieder in die Realität zurück.
„Ihre Mutmaßung ist ganz und gar nicht abwegig, allerdings kann ich Ihnen darüber keine Auskünfte geben…“
„Wovon können Sie keine näheren Angaben machen?“, beendete Jackson Lucys begonnene Argumentation gelassen. Sein als auch Marcos Fortbleiben war nicht bemerkt worden, stellte er zufrieden fest.
Ihre Augen nahmen die seinen in Gefangenschaft. Jackson fühlte ihre geringschätzigen Blicke auf seiner Haut. Das erste Mal seit langer Zeit empfand er es als Qual, dass ihn jemand für unausstehlich zu halten schien. Warum störte es ihn was anderen von ihm halten? Das war doch früher auch kein Problem für ihn gewesen! Es ging auch weniger darum was andere Menschen von ihm urteilten als darum was diese junge sehr anziehende Frau für Schlüsse aus seinem Benehmen zog, erkannte er in einem bizarren Eingeständnis an sich selbst.
„Über die Geisterphänomene in der Tower Bridge in London“, gab sie knapp als Information zurück. Jackson kam auf den Boden der Realität zurück. Er beobachtete, wie sie sich wieder Bertram zuwandte, der ihre Aufmerksamkeit einforderte indem er erzählte:
„Tja, nach allem was ich vernommen habe, sollen Berichten von Touristen zufolge, in den Türmen der Tower Bridge Spukgestalten ihr Unwesen treiben.“ Lucy versuchte ihrer Unruhe Herr zu werden, denn sie fühlte sich schlagartig unbehaglich. Sie war sich Jackson Tades Nähe nur zu bewusst.
„Da bin ich zu meinem Bedauern jedoch nicht die richtige Ansprechperson und habe das eben Bertram gegenüber schon erwähnt“, sprudelte sie heraus. Ihr innerliches Missbehagen war bis zum Ende gespannt. Ihre Finger zitterten leicht als sie ihr Glas hochhob um einen weiteren Schluck daraus zu nehmen. Hitze stieg Unpassenderweise genau jetzt in ihrem Körper auf und so röteten sich ihre Wangen leicht. Am Liebsten wäre sie sofort im Erdboden versunken, doch sie überspielte ihre Mutlosigkeit indem sie sich wieder an dem Dialog beteiligte.
„Das wundert mich nicht im Geringsten. Die Tower Bridge ist ein Wahrzeichen Londons, weshalb also sollte sich eine junge schöne Frau wie Sie dann auch für dieses alte Gemäuer interessieren, welches Londons Geschichte erzählt?“, kam ihr Jackson mit seiner Provokation zuvor. Lucy starrte ihn genant an. Nun ging dieser Mann mit seinem plumpen Benehmen wirklich zu weit. Lucy schürzte die Lippen.
„Wenn Sie meinen, dass ich…“, begann sie.
„Ich meine überhaupt nichts“, unterbrach Jackson ihre Rechtfertigung. „Aber Sie deuteten doch eben an, dass ich…“, wieder wurde sie unwirsch am Beenden des Satzes gehindert.
„Ich deute nie etwas an“, hörte sie ihn schroff erwidern.
Wozu stand ihr mehr, fragte sie sich augenblicklich. Sollte sie ihm an den Kragen gehen oder sollte sie ihm beweisen was in ihr steckte? Wollte sie die Herausforderung annehmen? Kurzerhand entschloss sie sich dazu ihm den Kampf anzusagen. Sie würde sich doch nicht von ihm zur Schnecke machen lassen, dachte sie offensiv.
„Die Tower Bridge wurde im Jahr 1886 bis zum Jahr 1894 erbaut. Ihre beiden Zugbrücken wiegen je 1100 Tonen und sind im Stande innerhalb von 90 Sekunden für die Durchfahrt großer Dampfschiffe, Linienschiffe oder Segelboote geöffnet zu werden. Habe ich irgendetwas vergessen?“, fragte sie und holte endlich tief Luft. Ihr widerspenstiger und unnachgiebiger Blick warf Jackson für einen Moment aus dem Konzept.
Er musste schmunzeln. Also doch, folgerte er für sich. Sie würde ihm die Stirn bieten. So leicht würde er sie demnach nicht Klein beigeben sehen.
„Ja, die Kleinigkeit, dass die Türme der Tower Bridge jeweils 66 Meter hoch sind“, erörterte er leger.
„Ich bin begeistert!“, spöttelte Lucy ehe sie mit verkrampften Fingern fort fuhr: „Hätten Sie mir noch einen Moment zum Nachdenken gegeben hätte ich Ihnen ebenfalls zu sagen vermocht, dass die Tower Bridge das Wahrzeichen der Themse ist. Außerdem sind die Türme der Zugbrücke im neugotischen Baustil angefertigt worden. Wollen Sie mein Wissen über meine Heimat weiter austesten? Oder habe ich Ihr über mich bereits fälschlich gefälltes Urteil ins Wanken gebracht und steige langsam in ihrem Ansehen?“, replizierte Lucy und spielte mit dem Gurt ihrer Reisetasche um ihre verklemmten Finger aus der Verkrampfung zu lösen.
„Das saß“, erklang nach einer kurzen Schweigepause Marcos Stimme.
„Ein grober Schlag unter die Gürtellinie“, stimmte Jeff ihm zu. Beide Männer schienen einen Lachanfall unterdrücken zu müssen. Da verschwand Lucys mulmiges Gefühl in der Magengegend und sie griente zaghaft. Vielleicht würde noch alles gut enden, begann sie zu hoffen.
„Wollen wir ein Wissensquiz wagen. Sind Sie einverstanden?“, fragte Jackson nun ungehalten. Damit brachte er alle dazu stumm die Luft anzuhalten. Jeder schien zu spüren, dass die Spannung zwischen Lucy und Jackson ihren Höhepunkt erreichte.
„Wenn das der einzige Weg für mich ist Ihnen zu zeigen, dass Sie mich falsch einschätzen. Was habe ich zu verlieren?“, gab sie lakonisch zurück. Sie hoffte, dass sie äußerlich gefasster wirkte als sie sich innerlich fühlte. Die innere Alarmglocke schrillte pausenlos laut in ihrem Kopf, aber Lucy wusste, dass sie nicht mehr zurück konnte.
Sie beobachtete wie Jackson aufstand und ein Bier aus dem Kühlschrank nahm. Mit wenigen geschickten Handgriffen entfernte er den Verschluss und begab sich wieder zu seinem Sitz.
In seinen Augen sah Lucy deutlich was sie zu verlieren hatte. Er würde sie zurück schicken! Lucy würgte den Knäuel der sich in ihrem Hals gebildet hatte hinunter. Sie musste dringend den inneren Tumult an Gefühlen unter Kontrolle bringen und einfach ihr Bestes geben, erwog sie die Situation in der sie sich befand. Nicht ohne Grund war sie hunderte von Kilometern hierher geflogen um an dieser Ausgrabung beteiligt sein zu können und sie würde gewiss nicht zulassen, dass man sie unbegründet frugal abschob.
Ihr trotziger Blick zeigte ihm, dass sie ihre Verwirrung bekämpft hatte und nun bereit war ihm zuzuhören.
„Was können Sie mir über den Big Ben erzählen?“, fing Jackson mit seinem Fragespiel an.
Anstatt ihm zu antworten, schnipste Lucy mit den Fingern und widersprach: „Augenblick! Warten Sie! Im Gegenzug verlange ich auch dasselbe von Ihnen.“ Seine Augen schienen sie förmlich zu durchbohren während er sprach: „Was soll das heißen?“
„Wie du mir so ich dir!“, antwortete sie schnippisch. „Also, sind wir im Geschäft?“, fragte sie und beobachtete ihn von der Seite. Mit steinerner Miene antwortete er:
„Ich akzeptiere Ihre Forderung. Und nun erzählen Sie mir, was Ihnen über den Big Ben bekannt ist!“ Lucy machte es sich auf ihrem Sessel bequem und folgte seiner mürrischen Aufforderung.
„Der Big Ben enthält im Inneren die so genannte Ben Hall. Ben Hall daher, da es im Jahr 1859 Umbauarbeiten gab, die ein gewisser Sir Benjamin leitete und durch den Verdienst dieses Herrn benannte man den Uhrturm des Houses of Parlament nach ihm. Sind Sie mit meinen Ausführungen bis jetzt zufrieden?“, wollte Lucy wissen als sie mit ihrem Vortrag geendet hatte.
Vorsichtig wagte sie es nun ihm ins Gesicht zu sehen. Insgeheim hatte sie ihn mit ihrer kleinen indirekten Stichelei am Ende nur aus der Reserve locken wollen, damit er sehen konnte, dass er sie mit seiner groben und unhöflichen Art nicht wegekeln können würde. Doch ihre Bemerkung war an ihm abgeprallt ohne die Wirkung die sie sich erhofft hatte. Denn in seinen Augen konnte sie überraschender Weise so etwas wie Anerkennung sehen. Oder war es der Spott welcher in seinen klaren kalten dunkelblauen Augen zu sehen war? Lucy versuchte sich ihre wiederkehrende Verwirrung nicht anmerken zu lassen, deshalb ging sie zur nächsten Frage über:
„Ich bin an der Reihe. Oxford! Was können Sie mir darüber berichten?“
„Oxford ist eine Stadt im Nordwesten Londons mit ungefähr 98.500 Einwohnern die jährlich um einen Prozent an Zuwachs erhalten. Die Stadt ist darüber hinaus durch seine vorbildliche Universität auf der ganzen Welt bekannt. Hinzu bietet sie Touristen genügend Kathedralen, Museen und Theater für zahlreiche Besichtigungen. Die meist faszinierendste Attraktion jedoch ist und bleibt der botanische Garten der zu ihrer Information im Jahr 1621 gegründet wurde“, unterwies Jackson seine Zuhörerschaft. Lucy verspürte einen bitteren Beigeschmack im Mund. Dass er ebenso gut über ihr Heimatland Bescheid wusste wie sie, machte sie verlegen. War auch er Engländer? Das würde zumindest erklären weshalb er so viel über ihre Heimat wusste. Sie unterdrückte den unerwarteten Impuls ihn zu beschimpfen und ihn darüber auszuquetschen warum er sie so offensichtlich verabscheute?
„Was soll ich sagen?“, fragte sie, da sie erkannte, dass Angriff vielleicht nun doch nicht die beste Verteidigung war. „Sie brauchen darauf nichts zu sagen. Bereiten Sie sich lieber darauf vor, dass Sie in den Zeiträumen vom 20. Mai bis 23. Mai einen Ausflug mit mir tätigen werden. Ich werde Ihnen dann erstmals die Landschaft näher bringen. Bis dahin haben Sie sich in unmittelbarer Nähe des Lagers zu befinden, ist Ihnen das verständlich genug?“, erwiderte er ungnädig.
„Sagen Sie, bedeutet das, dass ich Ihre Prüfung bestanden habe?“, kam es von ihr wie aus der Pistole geschossen zurück. Ihre Erleichterung sollte nicht lange vorhalten.
„Es heißt schlicht und einfach, dass Sie einer vorläufigen Bewährung unterzogen sind“, bestätigte er ihre Mutmaßung. Lucy fühlte wie sich ihr Magen zusammenzog.
„Vorläufige Bewährung? Was soll das sein?“, hakte sie plötzlich nach.
„Ich erwarte Sie in fünfzehn Minuten zum Lunch hier. Bis dahin wird Ihnen Bertram alles Außenstehende erklären und Ihnen zeigen, in welchem Zelt sie untergebracht werden. Alles Weitere besprechen wir dann nach dem Lunch“, umging er ihre Frage und ging davon. Das stillte zwar nicht ihre Neugier über diese “vorläufige Bewährung“, aber nach kurzem Zögern beschloss sie, diesen Umstand zu übergehen.
Nachdenklich sah Lucy ihrem neuen Arbeitgeber nach. „Mir scheint, dass war kein besonders günstiger Start mit Jackson Tade“, brachte sie unbeabsichtigt laut hervor. Die drei Männer warfen sich gegenseitig einen amüsanten Blick zu, der Lucy jedoch verborgen geblieben war.
„Lassen Sie sich die Laune von diesem miesepetrigen Jack nicht verderben. Diese Gereiztheit Fremden gegenüber hat seinen Ursprung in seinen zerrüttelten Familienverhältnissen“, vernahm man daraufhin Marcos Stimme. Damit beendete er die Schweigsamkeit die lauter zu sein schien als ein Donner.
„Es besteht kein Grund sich seine Erbitterung zu Herzen zu nehmen“, ertönte gleich darauf ebenfalls Jeffs höfliches Zureden. „Die beiden sagen es! Bald wird er in Ihnen das erkennen, was uns allen schon aufgefallen ist“, erklang auch Bertrams zustimmende Tirade. Sie schüttelte den Kopf und strich sich eine vorwitzige Haarsträhne hinters Ohr, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatte. „ Und das wäre?“, fragte sie immer noch geistesabwesend den Zeltausgang betrachtend.
„Lassen Sie sich überraschen“, meinte Bertram lächelnd unterdessen sich ein markerschütternder Seufzer von ihren Lippen löste.
„Mir wird nichts anderes übrig bleiben“, bejahte sie. Sie hatte keine andere Wahl als sich in ihrer Misere zu ergeben und abzuwarten was sie noch alles erwartete.
Jackson Tade würde sie früher oder später anerkennen können, dass wusste sie. Doch was würde sie für diesen skurrilen Mann alles tun müssen um ihn ihren mitwirkenden Aufenthalt nicht bedauern zu lassen? Lucy gestand sich ein, dass sie hier einem Rätsel gegenüberstand.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 21.08.2009

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