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Er
Draußen sehe ich sie wieder stehen. Am Schulgelände. Die Zigarette in der einen Hand. Zitternd vor Kälte und dennoch lächelnd. Ihr schwarzes Haar wird ihr ständig vom Wind ins Gesicht geweht. Sie sieht mich nicht, da sie mit dem Rücken zum Gebäude steht. Ihr graziöses Äußeres spricht meinen Körper an. Jede Bewegung von ihr nehme ich wahr. Ihr langes Haar streicht sie soeben zurück. Ich merke wie es in meiner Hose zu ziehen beginnt. Schmunzelnd wende ich mich vom Fenster ab.

Sie
Judith deutet erneut zum Fenster im ersten Stock. Nun ist er weg. Ich lache. Tue so als würde mich diese Tatsache kalt lassen. Was kümmert es mich, dass er mich beobachtet. "Wir" existieren nicht mehr. Auch wenn ich anderer Überzeugung bin. Beziehungsweise war. Zurzeit quälen allerdings andere Sorgen meine Seele. Judith streichelt mir gerade übers Gesicht. Erst jetzt erkenne ich, dass mir Tränen die Wangen entlang laufen. Es ist also soweit. Ich zeige Schwäche. Ihr mitleidiger Blick starrt an mir hinunter. Mit einer Handbewegung wische ich mir die Tränen aus dem Gesicht und weiche einen Schritt von ihr zurück. Ich höre das Läuten der Schulglocke wie aus weiter Ferne. Ein tiefes Ausatmen vernehme ich und bin darüber erstaunt, dass dieser Seufzer von mir kommt. Zeit meinen inneren Schmerz abzustellen und blöd zu grinsen.

Er
Wenn wir uns am Gang begegnen sehe ich verstohlen auf ihr fröhliches Gesicht. Ihr ungezügeltes Benehmen zeigt mir, dass ihr bewusst ist, dass ich in ihrer Nähe bin. Ihr inneres Strahlen zieht mich wieder magisch in ihren Bann. In Begleitung ihrer Freundin geht sie an mir vorbei. Ich merke, wie sie ihre Aufmerksamkeit nun auf mich richtet. Ein flüchtiges Nicken. Ein kurzes klimpern mit den Wimpern. Sie senkt vorsichtig den Blick. Auf einmal ein lautes Lachen. Ich drehe mich um.

Sie
Eigentlich gibt es nichts zu Lachen. Weder Judith noch ich hatten im Sinn dergleichen zu tun. Ich lache einfach. Will seine wunderschönen hellblauen Augen auf mich lenken. Übe meine weiblichen Reize an ihm aus. Er hat sich nach mir umgedreht. Ich genieße es im Mittelpunkt zu stehen. Von allen beachtet zu werden. Keiner traut sich mich anzusprechen. Keiner kennt mich. Judith stimmt plötzlich in meinem Lachanfall mit ein. Wie zwei Verrückte halten wir uns am Bauch und können unsere angebliche Fröhlichkeit nicht unterdrücken. Ich schätze wir erzeugen einen deutlich merkwürdigen Eindruck auf die Herumstehenden. Ich rechne jede Minute damit, dass einer die Rettung ruft, weil sie unser tränenreiches Lachen mit Krämpfen verwechseln. Niemals aber würde irgendwer auf die Idee kommen zu glauben, es wäre alles nur Show um einem bestimmten Mann zu imponieren. Doch ich ahne, dass er mich durchschaut, das er weiß,das alles nur eine Farce ist.
"Martina?" Der Klang einer weiblichen Stimme bringt mich in die Gegenwart zurück. Sie reißt mich aus meinen beunruhigenden Mutmaßungen. Meine Laune ist plötzlich am Tiefpunkt angelangt.
"Was ist?", gehe ich auf Bea los. Aus Gewohnheit entschuldige ich mich nach meinem Ausbruch sofort. Meine Schulkollegin schaut mich seltsam unsicher an. Wie ich ihren darauf folgenden Ton interpretieren soll als sie spricht, ist mir unklar. Womöglich habe ich sie verletzt. Wie kann ich es ihr nun verübeln böse auf mich zu sein? Meine Art widert mich selbst an. Mürrisch gehe ich weg. Lasse jeden einfach dort am Gang stehen. Beim Weggehen verfolgen mich seine Augen wie zwei Laser und bohren sich tief in mein Inneres hinein. Meint er wirklich mich wie ein offenes Buch lesen zu vermögen? Langsam kriecht die Wut wie kochendes Wasser in meinem Körper hoch. Meine Hände bilden sich zu Fäusten.

Er
Ihre Augen sind wie der Spiegel ihrer Seele. Immer, wenn ich sie erblicke, fühle ich mich eigenartig gelähmt. Diese großen dunkelbraunen Kulleraugen mit einem Hauch von Smaragdgrün scheinen mich anzuflehen. Sie betteln förmlich um meine Hilfe. Oft träume ich davon mich darin zu verlieren. Aus diesen flehenden Augen lesen zu können. In dem verschlossenen hübschen Gesicht eine Nachricht an mich zu finden. Jedoch ist Einbildung auch eine Art von Bildung. Nach dem Vorfall in der Pause bin ich ihr nicht wieder begegnet. Jetzt Daheim kann ich meine Überlegungen nicht in eine andere Richtung leiten. Bea hat sich mir heute mehrmals aufgedrängt. Also habe ich in gewisser Weise das Missverständnis aufgeklärt.
"Ich bin in Martina verliebt", habe ich ihr gestanden. Nicht sehr taktvoll von mir, muss ich zugeben. "Ihr habt euch verdient", hat sie erwidert. Daraufhin ist sie in den nächstbesten Bus gestiegen. Eine andere Reaktion habe ich nicht erwartet.
Mit geschlossenen Augen lehne ich mich gedankenverloren im Stuhl zurück. Die Hausarbeiten ziehen mein Interesse eher minder an. Prinz scharrt soeben mit seinen Pfoten an meiner Tür. Fluchend öffne ich sie ihm.

Sie
Ich irre durch die Stadt. Die Gestalten denen ich auf den Straßen begegne schrecken mich beinahe davor ab die Bushaltestelle zu erreichen. Letztendlich bin ich wieder allein. Ob zwischen einer Menschenmenge, unter dem Dach unseres Hauses oder neben meiner wiedergewonnen Freundschaft mit Judith. Seit geraumer Zeit schweift in meine Gedankengängen das lebensmüde Wort "Suicid" zum X-ten Mal herum. Auf eine frustrierende Art und Weise gibt es mir einen euphorischen Kick. Ich wehre mich zwar mit Händen und Füßen gegen dieses Begehren, aber sein Einfluss auf mich ist trügerisch erhabend. Unwiderstehlich amüsant finde ich die Vorstellung die Macht in meinen Händen zu haben über Leben und Tod zu entscheiden. Während die Menschheit sensationshaschend von Lügen und Intrigen, Morden und Suiciden, Drogendelikten und Terroristen heimgesucht wird, klebt an meinem Leib die Wurzel allen Übels. Alles Abscheu meiner Mutter ist in meinem willensstarken Charakter vorhanden, jede Schwäche meines labilen Vaters ist in jeder Faser meines mir abstoßenden Körpers. Ich verkörpere den Frust, Hass und Missfallen all derer die ich liebe. Wie ein Kleinkind, welches nach Mami ruft, das aber einsehen muss: Mami kommt nicht mehr -.- Die Autos fahren wie willenlose Gestalten an mir vorbei. Mir fremde Menschen laufen, hektisch auf die Uhr schauend, neben mir her. Wir alle gehen in dieselbe Richtung. Haben denselben Weg vor uns. Mit dem einzigen Unterschied, dass niemand da ist, der mir die nassen glitzernden Perlen von den Wangen wischt, wenn mir zu Weinen zumute ist. Und niemand ist da um mich tröstend in den Armen zu wiegen, wenn ich vor Verzweiflung keinen Ausweg aus meinen Ängsten finde.

Er
Eine Art meinen Kopf von allen Dingen frei zu bekommen ist an einem schönen Herbsttag mit meinem Prinz spazieren zu gehen. Die frische Luft hat noch niemanden geschadet. Normalerweise schafft es die natürliche Umgebung zu Hause mich vom allgemeinen Nachdenken oder Schulstress abzubringen. Leider bleibt die gewöhnliche Wirkung aus. Aus einiger Entfernung sehe ich meinem Hund beim Scharren und Schnuppern an einem Erdloch zu.
"Prinz, lass das! Komm her!" Ausnahmsweise bin ich froh über die Wärme welche die Sonne ausstrahlt. Zwei, drei Schritte und ich stehe bereits am Waldrand. Verwundert stelle ich fest, dass Prinz keinerlei Anstalten macht meinem Befehl zu gehorchen. Im Schatten der Bäume ziehe ich meine schwarze Lederjacke enger zu.
"Prinz!", schreie ich zum wiederholten Mal. Schließlich presse ich meine Lippen fest aufeinander und signalisiere meinem Hund mit einem kurzen schrillen Pfiff meine Ungeduld. Nun folgt er. Sein weiches Fell fühlt sich angenehm warm in meinen klammen und vom Waldarbeiten rauen Handflächen an.
"Braver Junge", lobe ich ihn, ehe ich ihm wieder die Erlaubnis gebe vor mich her zu trotten. Schon verflüchtigt sich die Realität und ich habe ihr ovales Gesicht vor meinem inneren Auge, sehe ihre weichen femininen Gesichtszüge vor mir, bilde mir ein ihren zarten Vanilleduft in der Luft zu riechen und erinnere mich an die sanften vollen Lippen, die ich noch vor einiger Zeit berühren und liebkosen durfte. Als es in meiner Hosentasche vibriert bin ich einen Moment lang perplex. Verblüfft zücke ich dann mein Mobiltelefon.

Sie
"Können wir uns treffen?", frage ich ihn und bin selbst überrascht von meiner weinerlichen Stimme. Am Ende des Hörers kann ich sein ruhiges Atmen hören. Keine Antwort. Die Angst schnürt mir die Kehle zu. "Bitte", füge ich flüsternd hinzu. Sein Räuspern lässt mich die Luft, die ich soeben vor Aufregung angehalten habe, stoßartig ausatmen. "Ich brauche dich, Patrick", setze ich noch einmal nach. Sicher ist mir klar, dass ich mit unfairen Mitteln spiele. Meine Überredungskunst basiert nicht selten auf einer Selbstmorddrohung, welche mit einem Wimmern und Schluchzen einher geht. Ich empfinde keine Genugtuung dabei ihm das ewig und immer aufs Neue vor zu halten, doch es verschafft mir eine unheimliche Erleichterung ihn für mich zu gewinnen. Trotz des niedrigen Niveaus auf das ich mich begeben muss um ihn von meinem Schmerz zu überzeugen. Geteiltes Leid ist bekanntlich halbes Leid. Er ist mein Trumpf im Ärmel. Der Spieler auf der Reservebank, der zum 100-sten Mal seinen Auftritt im Rampenlicht erhält. Wir beide wissen das es so zwischen uns ist. Deswegen liebe ich ihn auch. Aus diesem Grund behandelt er mich wie etwas Zerbrechliches. Dieser Schutz öffnet mir immer neue Möglichkeiten nicht hoffnungslos ins Verderben zu rennen. Er hält mich am Leben und stellt eine Sanduhr mit der Zeit auf, die mir noch auf Erden bleibt. Leider ist mir die Ziffer unbekannt. Verschleiert. Was bleibt ist: Tick. Tack. Von Tag zu Tag. Tick. Tack.

Er
"Was ist Mädl?" Der Ton indem ich spreche klingt genervt. Wobei ich in Wirklichkeit nur Wut empfinde. Eine unsagbare Abneigung gegen ihre beherrschten schauspielerischen Künste beginnt meine positive Gemütsverfassung zu überschatten. Ihre liebliche Erscheinung wich von einer Sekunde auf die andere einer tief verwurzelten Verbitterung. Der Kummer den sie besitzt umfasst sichtlich eine erbärmliche Tragweite. In meinem Mund macht sich ein säuerlicher Geschmack breit. In diesem Augenblick bin ich froh nie ohne Hustenbonbons das Haus zu verlassen.

Sie
Seine starken Arme wärmen meine Taille und erhitzen mein Gesicht. Mein Körper reagiert auf jede einzelne Berührung von ihm. Die Zärtlichkeit in seinem Blick lässt mich selig seufzen. Nun greift er mir durchs dichte dunkle Haar. Streichelt sanft meine Wange und hebt leicht mein Kinn. Tief sehen wir uns in die Augen. Mit dem Daumen fährt er mir über die leicht geöffneten Lippen. Wie selbstverständlich schließen sich meine Augen. Im nächsten Moment verspüre ich einen leichten Hauch auf meinem Mund. Einen Augenblick lang der für die Ewigkeit bestimmt ist. Vorsichtig tasten sich seine maskulinen wettergekerbten Hände auf meinem Oberkörper bis zu meinem Brustansatz vor. Erst als ich seinen fragenden Kuss mit einem aufmunternden Druck erwidere, öffnet er seine Lippen und verwöhnt etwas zaghaft meine Zunge. Fest drücke ich mich an ihn, spüre seine Erregung und fühle die brennende Scham ihn stets geliebt zu haben auf meinen leicht geröteten Wangen. Sehnsüchtig führe ich seine Hände zum Reißverschluss meiner Jean. Ein allzu bekanntes Gefühl steigert mein Verlangen nach ihm. Liebe.
"Patrick, liebe mich!"

Er
3 Monate später...

Aufstöhnend greife ich mir auf die Stirn. Das schulterlange schwarze Haar binde ich zu einem Pferdeschwanz zusammen. Barfuß überquere ich den Vorraum und verschwinde im Badezimmer. Mein dunkler Schatten weicht als die Lampe den Raum in ein grelles gelbes Licht taucht. Die kalten Fließen lassen mich einen Moment fröstelnd in meiner Bewegung verharren. Der Schmerz in meinem Kopf hämmert wie wild gegen meine Schläfen. Unbewusst ziehe ich eine Augenbraue hoch und starre aufgewühlt in das rabiate Gesicht eines Mannes der mir eigenartig ähnlich sieht. Das Gefühlschaos ist perfekt. Um meine Emotionen zu regeln beginne ich mit den Zeigefingern meine Mundwinkel zu einem Lächeln zu verziehen. Eine effektive Methode die dem Kopf vormacht glücklich zu sein obwohl der Gegenteil der Fall ist. Missmutig gelange ich jedoch zum Entschluss, dass die Aktion erfolglose Früchte birgt. Der Krach des Aufpralls meiner Faust gegen den Türpfosten dämmt meinen Zorn kaum, wenngleich sich eine blutige Wunde auf meinen weiß hervorgetretenen Knöchel bildet. Mit grimmiger Miene und einem qualvoll verzerrten Pokerface wende ich mich von meinem skurrilen Spiegelbild ab. Wie in Zeitlupe erlebe ich unsere Trennung zum neunten Mal mit.
"Liebe ist Macht, Patrick. Vergiss das nie", stieß sie unerwartet hervor. Das Beben ihrer Stimme machte es mir fast unmöglich ihre leise Rede zu verstehen als sie fortfuhr: "Liebe ist ein starkes Gefühl welches den Liebenden jene Macht verleiht den Partner unterzuordnen und gleichzeitig sein Leben zu bereichern. Man fühlt die Macht und übt sie nicht aus. Und wenn du mich liebst..." Sie kam nicht mehr dazu auszusprechen.
"Ich liebe dich nicht mehr", waren meine letzten Worte, ehe ich auf dem Absatz kehrt machte und sie im Schulhof verließ.

Sie
Das abwechselnde Leuchten der defekten Glühbirne in der kleinen Leuchte auf meinem Nachttisch erlosch letztlich zur Gänze. Auch unsere "Beziehungskerze", welche ich unter diesem Namen taufte, da ich sie an jenem Nachmittag gekauft habe, an dem Patrick und ich zueinander fanden, neigt sich nun allmählich ihrem Ende zu. Seltsamerweise bedrückt die Einsamkeit meine neu errungene Lebenseinstellung nur bedingt. Es ist mein Herz, das mich vom Trauern und im Selbstmitleid versinken abhält. Der Knoten, der sich in meinem Hals bildet, erschwert mir das Schlucken. Soeben spielen sie im Radio "Nichts in der Welt" von den Ärzten. Ich sitze halb aufrecht in meinem Bett und schreibe einen Text. Eine Art Abschiedsbrief für ihn. Adressiert an "Die Liebe meines Lebens". Von " Der Frau ohne Gesicht". Mit dem Stempel "Es ist vorbei" und der Marke "Mein Leben ohne Mich". Allerdings weiß jeder, dass das Scheitern einer Beziehung nur endet sobald nichts mehr die Personen miteinander verbindet, bis dahin kann man das kleine Häufchen Nichts zu allen heiligen Zeit wiederverwerten. Eine überaus übliche Taktik im Showbusiness - das Wiederverwerten von Material. Er liebt mich nicht mehr, beichtete er mir bei unserem letzten Gespräch. Bei diesen Worten verkrampft sich mein gesamter Körper. Ein eiserner Schleier schnürt sich um mein Herz und verleumdet seine Anziehungskraft auf mich. Die Tatsache, dass er eine gewisse Faszination auf mich ausübt, zieht mich an wie das Licht die Motten. Schluchzend erlege ich dem Versuch, meinen Tränen keinen freien Lauf zu lassen, kläglich. Ich liebe ihn. Offenbar quält mich darum die Einsicht beständig wie eine Faustregel im Umgang mit ihm: Ich bin gefangen in den Dimensionen eines Humoristen, der sich selbst Gott nennt und ein Sadist ist.

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Tag der Veröffentlichung: 10.07.2009

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