"Dir wird es ohne mich besser ergehen", flüsterte er ihr ins Ohr. Erschrocken fuhr sie zusammen. Sie drehte ihm ihr fahles Gesicht zu. Doch ihr Blick blieb gesenkt. Mit den Fingern hielt sie den Wäschebügel fest umklammert. Sie merkte nicht wie sie die weiße Bluse in ihren Händen zerknitterte und ihre Knöchel weiß hervortraten.
Viktoria brachte ein vorsichtiges Lächeln zusammen und fragte, mit dem Versuch heiter zu klingen: "Wovon sprichst du?" Sie merkte selbst, dass sich ihre Stimme bei dieser Frage schrill anhörte. Ihr Herz überschlug sich, während ihr Puls zu rasen begann.
Sein Geruch stieg ihr in die Nase. Schon immer hatte sie eine Schwäche für sein Aftershave. Nie hatte sie genug davon bekommen können. Für einen Sekundenbruchteil schloss sie die Augen. Wobei sie hoffte, dass er ihr keine Aufmerksamkeit schenkte.
Zumindest für diesen kleinen Moment nicht. Innerlich bereitete sie sich auf den Augenblick vor, indem ihre Vermutung zur Wahrheit werden würde. Die Ahnung vor dem was geschehen wird, brachte sie um den Verstand. Ihr war klar, was er ihr zu sagen hatte. Und sie wusste, dass ihr Herz es nicht hören wollte.
Langsam ging sie in Richtung Kleiderschrank. Sie verspürte den Drang auf Abstand zu dieser surrealen Situation zu gehen. Das Schweigen zwischen ihnen war lauter als ein Donner und sie wusste, dass jemand von ihnen irgendwann diese Stille brechen müsse, sonst würde sie auf der Stelle tot umfallen. So ging sie Schritt für Schritt, in ihre Gedanken versunken, weiter und spürte, wie das Vakuum zwischen ihnen wuchs.
Während Christian, wie angewurzelt, an der Stelle neben ihrem gemeinsamen Bett stehen blieb, und wie sie wusste, jede Bewegung ihrerseits beobachtete.
"Wieso machst du es mir so schwer?", unterbrach er schließlich das Schweigen.
Erleichterung überflutete sie. Es war die Freude über ihre Selbstbeherrschung, die bis zu diesem Zeitpunkt sie zum Stillschweigen gezwungen hatte. Doch jetzt würde es enden. Die quälenden Fragen in ihrem Kopf würden verstummen. Sie könnte aufatmen. Endlich könnten die Tränen fließen.
Ihr lief es eiskalt den Rücken entlang. Doch aus irgendeinem Grund hatte sie das Gefühl in Flammen zu stehen. Eine Gänsehaut breitete sich auf ihrem Körper aus. Als ihr bewusst wurde, was passiert war, keuchte sie.
"Lass mich!", empörte sie sich so leise, als hätte sie angst, jemand anderen zu dieser nächtlichen Stunde aufzuwecken. Wobei sie allerdings sehr gut wusste, dass sie allein lebten. Christian und sie.
"Wieso?", konterte er und klang beinahe verzweifelt. "Du machst mir angst", war alles was sie herausbrachte. Dabei wollte sie ihm erzählen, dass sie es in Anbetracht ihrer momentanen Lage nicht gut hieß seine Nähe zu verspüren. Das sie nicht wusste wo genau sie bei ihm stand. Dass sie nicht ohne ihn leben wolle. Sie wollte ihm so vieles sagen, alles, nur nicht das.
Viktoria hängte die Bluse in den begehbaren Schrank. Dann empfand sie einen kleinen Lufthauch. Sein Atem ging gleichmäßig und kitzelte die kurzen Härchen in ihrem Nacken. Er stand direkt hinter ihr! Seit wann? Da bemerkte sie, dass sie vor Aufregung schwitzige Hände bekommen hatte und wischte sie an ihrer Hose ab.
"Komm zu mir zurück", hörte sie seine flehende Stimme sagen. NEIN! Eine dröhnende Stimme schrie in ihrem Kopf. "NEIN!"
"Warum nicht?", drang seine Frage wie aus weiter Ferne in ihr Bewusstsein. "Was um Himmels Willen willst du von mir?", folgte sogleich die nächste Frage. Sie vernahm ein lautes Krachen und mutmaßte, dass er mit der Faust gegen den Türpfosten geschlagen haben muss. Nun verriet sein Ton, dass er langsam ungeduldig wurde.
Sie wirbelte herum. "Ich?", fragte sie lauter als beabsichtigt. Wut hatte sie gepackt und brachte sie dazu, ihm wild in die smaragdgrünen Augen zu starren.
"Ja, du!", erklärte er sanft. Sie zog eine Augenbraue hoch. "Sag mir, ob ich gehen soll?" Stumm blickte sie wie hypnotisiert in die Tiefen seiner grünen Augen. Verloren betrachtete Viktoria sie. Sie konnte "Sich" sehen - in seinen Augen. Traurigkeit. Angst. Schmerz. Sogar den Verlust all dessen was sie einmal ausgemacht hat. Die Fröhlichkeit war aus ihren Gesichtszügen gewichen. Die ruhige Ausstrahlung war durch eine bedrückende Aura ersetzt worden. Selbst ihre süße Naivität war mit dem Alter zu einer tief verwurzelten Verbitterung geworden. Nichts erinnerte mehr an das junge lebensfrohe Mädchen, welches sie aus ihren Träumen her kannte und welches sie vor langer Zeit gewesen war. Nur eine seelenlose Marionette erwiederte ihren Blick.
Wie ein Spiegel sah sie ihr verlorenes Selbst in seinen Augen. Da war er wieder. Der Grund warum sie IHN verlassen hatte. Hier fand sie auch wieder den Anlass warum sie ihn auch dieses Mal durch die Haustür gehen lassen würde. Wieder würde sie ihn nicht davon abhalten.
Ohne es zu wollen drehte sie ihm den Rücken zu. Mit dem Bewusstsein, dass es das letzte Mal sein würde.
Schritte. Eine Tür krachte ins Schloss. STILLE.
Und eine Träne die ihren Weg aus den Augenwinkeln auf den Boden fand.
Das war alles, was in ihr noch existiert hatte. Das letzte Fünkchen Selbst, dass sie besessen hatte, ging nun verloren.
Regen prasselte gegen das Fenster in ihrem nun leeren Schlafzimmer. Es raschelte so laut, dass niemanden auffiel als ihr Herz zu klopfen versagte. Schließlich kehrte das Schweigen zurück und legte sich wie Balsam über die Wunden die die Zeit nicht heilen konnte.
Tag der Veröffentlichung: 29.05.2009
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