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Prolog







Man muss immer etwas haben, für das es sich zu leben lohnt. Was hielt mich also an dieser Welt fest? Nicht ein bestimmtes Ziel, kein großer Traum. Ich wusste es nicht, bis zu dieser einen Nacht. Die Erinnerung kann mir niemand nehmen und dieses Gefühl war unbeschreiblich.
Manche Menschen leben für die Liebe, andere für Geld und Wohlstand. Nur ist es nicht immer so einfach, wie man es gerne hätte. Menschen sind unberechenbar. Du kannst nicht wissen, was sie als nächstes tun. Und das nutzte ich aus. Rache ist süß, vergiss das nie!

Einbruch



 Ein lauter Knall ertönte von draußen. Was war das? Um drei Uhr morgens sollten die Straßen doch eigentlich ziemlich leise sein. Genervt wälzte ich mich im Bett herum, doch einschlafen konnte ich nicht mehr. Mit leichtem Schwindelgefühl tappste ich in die Küche. Ich nahm mir die Milch aus dem Kühlschrank und erwärmte sie in der Mikrowelle. Die Tasse drehte sich und ich starrte ungeduldig auf die Minutenanzeige. Ein erneuter Knall erschreckte mich beinahe zu Tode - diesmal kam er aus dem Erdgeschoss. Es klang so, als wäre die Haustür unten aufgestoßen worden. War das ein Einbrecher? Der Gedanke machte mich nervös. Dieses Mietshaus war außer mir nur von zwei weiteren Leuten besetzt. Ich kannte sie nicht wirklich - die Gegend war nicht so gut, um neue Freundschaften zu schließen. Da konnte man schnell an die Falschen geraten. Der Mann in der Wohnung über mir ist jedenfalls heute morgen mit zwei großen Koffern in der Hand verschwunden und die Prostituierte aus dem Erdgeschoss musste arbeiten. Sprich: Ich war alleine. Ich hätte mich verkriechen können und hoffen, dass man mich nicht fand. Oder ich sah einfach nach, ob überhaupt jemand eingebrochen war. Meine Fantasie ging in solchen Dingen oft mit mir durch. Mutig wie ich war, beschloss ich mich für die zweite Variante. Die Dielen knarrten leicht unter meinen Schritten und ich fluchte innerlich. Ein Blick durch den Türspion brachte mich nicht weit, also musste ich auf den Flur. Ganz vorsichtig ging ich auf die Treppe zu und beugte mich mit dem Oberkörper über das Geländer. Ich konzentrierte mich auf die Geräusche aus dem Erdgeschoss und schaltete alles andere um mich herum aus so weit es ging.

"Unauffälliger ging es nicht, oder? Eine kaputte Tür wird die Polizei bemerken."
Eine tiefe Stimme, angespannt vor Wut, hallte durch die sonst so leeren Wände.
"Schwachsinn! So zerfallen, wie das hier eh schon ist."
 Die Stimme des zweiten Mannes war ein bisschen höher und hatte einen piepsigen Unterton. Trotzdem war sie kein Stück weniger einschüchternd. 
"Solange die Bullen hinter uns her sind, dürfen wir uns keinen Fehler erlauben!"
 "Schon klar. Glaubst du etwa, ich hab Lust darauf, in den Knast zu wandern?"
 Die beiden Stimmen wurden immer lauter, sie rechneten wahrscheinlich nicht damit, von einer Unbeteiligten wie mir belauscht zu werden. Warum auch? Die morschen Treppenstufen sahen aus, als hätte man bereits vor Jahren ein Verbot ausgesprochen, dieses Haus überhaupt zu betreten. Adrenalin berauschte mich. Mein Herz schlug panisch schnell. Ich beobachtete die verzerrten Schatten an der Wand. Die Fremden waren sogar zu dritt. Wie auf Kommando meldete sich der letzte auch noch zu Wort. Seine Stimme hörte sich ein bisschen heißer an und jagte mir einige Schauer über den Rücken.

"Haltet die Klappe, alle beide! Wir bleiben erst einmal hier und warten ab. Auf offener Straße würden sie uns finden."
"Wie lange wird das dauern? Ich will nicht in dieser Absteige versauern."
"Beschwer dich nicht bei mir, sondern bei Julian. Ich hab gesagt, er soll schießen und gleich abhauen und was macht er? Bleibt stehen und starrt die alte Oma einfach nur an. Im ernst, Jule, wo war das Problem?"
"Die Frau war unschuldig. Seit wann ziehen wir Leute ohne Grund da mit rein?"
"Wenn ich sage, du sollst schießen, dann machst du das gefälligst! Sie war alles andere als unschuldig, du Idiot!"
"Komm mal wieder runter von deiner Ich-weiß-alles-besser-Nummer! Sie ist tot. Du hast, was du wolltest."
"Verdammt, es geht ums Prinzip. Halte dich an meine Anweisungen, wenn du die Sekte stürzen willst, klar?"
"Was sonst?"
"Dann fliegst du. Und ich glaube nicht, dass ich erklären muss, was das bedeutet."
 Dieser Julian schwieg und sein Schatten zeigte mir sein Nicken. Bei dem Boss hätte ich auch nicht anders reagiert. Mörder. Erst jetzt sickerte es in mein Bewusstsein durch. Ich hatte drei Mörder in meinem Haus stehen, die sich vor der Polizei versteckten. Was macht man in so einer Situation? Keinen Mucks. Zu blöd nur, dass die Mikrowelle nicht auf meiner Seite war. Sie begann zu piepsen und ich wollte sie so schnell wie möglich abstellen. Hätte ich mich doch einfach verkrochen. Ich war nicht mutig, sondern einfach nur dumm und naiv. Wie sollte ich jetzt noch unbemerkt im selben Haus bleiben? Gar nicht. Sie hatten meine Schritte schon gehört und waren mir auf den Fersen. Ein Fuß stellte sich in meine Tür, als ich sie noch zuschlagen wollte. Viel zu kräftige Arme schoben sich durch den Spalt und drückten mich zurück. Ein entsetzter Schrei kam aus meinem Mund und ich rannte in die Küche. Noch bevor ich nach einem Messer greifen konnte, wurde ich von hinten gepackt und an die Wand gedrückt. Wie ein Riese baute sich einer von den drei Mördern vor mir auf und sein Gewicht lag auf mir. Kein Entkommen. Ich war so dumm. Dumm, dumm, dumm! Ein paar Tränen rannten mir über das Gesicht. Mein Handgelenk wurde in dem festen Griff etwas überdehnt und ich hatte starke Schmerzen. Es war zu dunkel in meiner Wohnung, um die Gesichter der Männer betrachten zu können. Mein Gehirn spukte sich die hässlichsten Fratzen zusammen, die zu einem Mörder passen. Ein heißer Atem strich über mein Gesicht. 
"Was machst du hier?"
 Rechts neben mir grummelte die Stimme des Kerls, den ich vorhin als Anführer der Truppe abgestempelt hatte. Seine Frage entlockte mir ein hysterisches Lachen. Das passierte immer, wenn ich in Gefahr oder verunsichert war. 
"Was soll ich hier schon machen? Ich lebe hier. Die Frage geht wohl eher an euch."
Meine Stimme klang sicherer als erwartet, doch ich hatte es übertrieben. Der Griff wurde noch fester und die Schmerzen in meinen Gliedmaßen noch größer. Ich stöhnte auf.
"Du stellst hier keine Fragen, Schätzchen. Überlass das mal mir. Verstanden?"
Ich antwortete ihm nicht. Zum Dank bekam ich dafür eine Ohrfeige. So lief das also. Ich knallte die Kiefer aufeinandern. Zwischen zusammengebissenen Zähnen presste ich eine Antwort hervor. Das Muskelpaket schnürte mir mit seinem Gewicht immer weiter die Luft ab. 
"Verstanden."
 "Geht doch. Weißt du, wir sind keine Unmenschen, aber wir haben unsere Prioritäten. Ich frage jetzt ganz langsam und wage es nicht, mich anzulügen! Was. Hast. Du. Gehört?"
"Ich..."
Sollte ich wirklich die Wahrheit sagen? Das wäre mein Tod. Aber starb ich nicht auch, wenn ich log? Mit Sicherheit. Dann würde mich nur noch eine zusätzliche Strafe erwarten. Die Wahl zwischen einem langen qualvollen Tod und einem schnellen Mord fiel da nicht schwer. Ich gab also nach. Mein Zögern hatte mich sowieso schon verraten. 
"Alles."
Ein hinterhältiges Lachen ertönte von den Männern um mich herum, doch es verstummte kurz darauf. Der penetrante Klang von Polizeisirenen drang durch die Wohnung und wurde immer lauter. Der Typ direkt vor mir verkrampfte sich.
"Shit! Was nun?"
"Ich würde sagen, die Kleine hier hat heute Nacht ein paar Gäste bei sich. Du hast doch nichts dagegen, oder Schätzchen?"
 Ich war so geschockt, dass ich kein Wort mehr raus brachte. Sie wollten bei mir in der Wohnung bleiben. Mit drei Mördern sollte ich unter dem selben Dach schlafen? In den selben vier Wänden? Ein dicker Kloß steckte mir im Hals.

 "Hat es dir schon wieder die Sprache verschlagen? Na schön. Noch besser als Geschrei. Du hältst die Klappe und bist brav, wenn wir dich los lassen!"
 Ich nickte und der Mann vor mir konnte es spüren. Was hätte ich auch sonst tun können? Sie wollten mich nicht gleich töten. Vielleicht würde ich aus diesem Schlamassel wieder heraus kommen. Ohne Schaden. Lebend. Das Herz pochte in meiner Brust. Ungewissheit hasste ich mit am meisten in meinem Leben. Wenn ich nicht wusste, was ich zu erwarten hatte. Komischerweise drehte ich nicht durch, als der schwere Mann von mir abließ. Ich blieb sogar verdächtig gelassen. Die beiden anderen entfernten sich etwas von mir und lugten aus meinem Fenster. Von dort hatte man einen perfekten Blick auf die Straße und somit auch auf die Polizeiautos, die in ihrer Suche erneut eine Runde um das Haus fuhren. 
"Sie haben die gesamte Umgebung gesichert, Harvey."
"Posaun doch meinen Namen hier nicht so raus, du Idiot!"
"Wen interessiert das schon? Wie ich dich kenne, kommt sie eh nicht lebend hier raus."
Keine Antwort war auch eine Antwort. Harvey hieß der Boss von den drei Schwerverbrechern also. Brachte mich das weiter? Nicht wirklich. Meine Leiche wird kaum die Namen meiner Mörder verraten können.
 "Wundert mich eh, dass ich noch am Leben bin."
 Drei Augenpaare lagen auf mir. Ohne meine Gedanken in Frage zu stellen, waren mir meine Worte von der Zunge gegangen. Ich merkte selbst in der Dunkelheit, dass die Männer sich verstohlene Blicke zuwarfen. Ich hätte lieber von mir ablenken sollen, statt die Aufmerksamkeit auch noch auf mich zu lenken. Harvey, der Anführer, kam auf mich zu. Ich wich einige Schritte zurück, stieß dann aber mit dem Rücken wieder an die Wand. Der Spott in seiner Stimme blamierte mich.
"Willst du etwa sterben?"
"Nein."
 "Zu schade. Das hast du nämlich nicht mehr zu entscheiden. Und glaub mir, mein Kumpel da drüben hat Recht. Du kommst hier nicht mehr raus. Du weißt zu viel. Sogar einen Namen."
"Zwei."
Ich biss mir vor Wut auf die Zunge. Warum hatte ich das gesagt? Das ritt mich doch nur noch mehr rein. Ich warf einfach alle Moral über Bord und gab mich selbst auf. Die letzten Stunden wollte ich nur noch genießen. Harvey knurrte ein bisschen.
"Überleg dir gut, was du sagst! Was glaubst du denn zu wissen?"
 "Der Idiot, wie du ihn nennst, heißt Julian. Auch Jule genannt. Was genau an 'ich hab alles gehört' hast du nicht verstanden?"

"Das hilft dir nicht viel weiter. Ist dir schon klar, oder?"
"Ich weiß, wer mich tötet. Ist mir lieber als durch einen Hinterhalt und ohne Vorwarnung überlistet zu werden."
"Du hast keine Angst?"
"Und ob. Nur nichts zu verlieren."
Harvey wusste darauf keine Antwort mehr, doch aus einer anderen Ecke ertönte ein leises Lachen.
"Die Kleine gefällt mir. Und nur damit du dich nicht verraten fühlst, ich heiße Matthew."
"Zu nett von dir."
Dem Boss schien unsere Unterhaltung nicht zu gefallen.
"Willst du dich vielleicht noch bei Kaffee und Kuchen mit ihr über den letzten Sommer plaudern?"
"Warum nicht. Du machst sie doch kalt."
Ich räusperte mich kurz.
"Wobei wir wieder beim Thema wären. Könntet ihr bitte schnell machen?"
 Sie lachten. Alle drei. Und das nicht gerade leise.
 "Hörst du die Sirenen? Die ganze Umgebung wird überwacht. Wir werden hier nicht mehr so schnell unauffällig genug wegkommen. Und ob du es glaubst oder nicht - ich hab keine Lust, eine Woche lang mit einer Leiche auf engstem Raum zu leben."
"Ich soll eine Woche lang mit drei Mördern zusammen wohnen? Das ist ein Scherz."
"Sehe ich so aus, als würde ich Scherze machen?"
"Keine Ahnung. Es ist dunkel."
 Eigentlich war ich nicht zum Scherzen aufgelegt, doch wegen seinem provokativen Unterton konnte ich meinen schlechten Witz nicht unterdrücken. Meine Angst tat dazu ebenso ihr Bestes. In einer Woche konnte so viel passieren. Ungewissheit. Am liebsten hätte ich mir die Gänsehaut vom Leib gerissen. Mein Überlebensinstinkt meldete sich zurück. Vielleicht konnte ich ja fliehen. Nur, wollte ich das überhaupt? Ich hatte keinen dort draußen in der Welt. War sterben doch eine gute Option? Wenn man zuvor gelebt hat, dann schon. Nur das hatte ich nicht wirklich. So viele Erfahrungen wollte ich noch machen. Ich wusste nicht, was es hieß, Freude zu haben. Spaß. Ausgelassenheit. Ich hatte mich in meiner Wohnung verschanzt und mich vor dem Rest der Welt versteckt. Ich war Menschen aus dem Weg gegangen und hatte mir meinen Lebensunterhalt mit Schwarzgeld verdient. Kaum jemand kannte meinen Namen. Liebe. Ich hatte vor, auf den Richtigen zu warten. Genoss es, mich hinter meinen Romanen zu verstecken und mir meinen Traumprinzen herbeizusehnen. Der Richtige sollte es sein, der mich aus dem tiefen Loch zog, in das ich mich verkrochen hatte.  Nur noch eine Woche. Wie sollte ich in dieser Zeit meinem Leben noch einen Sinn verleihen? Der Wunsch danach war so groß, dass ich doch wieder anfing, mich zu wehren. Ich sträubte mich gegen die kräftigen Arme. Wie Stahlketten lagen sie um meinen Körper und engten mich ein. Ich wurde zu einem Stuhl getragen und gefesselt.
"Verdammt, was ist auf einmal? Bis gerade eben warst du noch total ruhig."
 "Ihr könnt mich nicht einfach umbringen."
"Ist dir doch etwas eingefallen, das dich hält?"
 Ich schluchzte und warf mich gegen die Fesseln. Sie waren zu fest und lösten sich kein Stück. Ich saß in der Falle und hatte meine letzte Chance verspielt. 
 "Die Kleine macht mich wahnsinnig. Sorgt dafür, dass sie nicht mehr schreit! Ich muss nach unten und mir die Tür doch mal anschauen."
Mit den Worten verschwand Harvey aus der Wohnung und ließ mich mit seinen Komplizen alleine.
"Wie heißt du?"
"Abbey."
"Und weiter?"
 "Keine Ahnung. Bin ohne Eltern aufgewachsen und hab mal den Namen 'Wilson' aufgeschnappt. Steht seitdem so in meinem Personalausweis. Bis jetzt wurde ich kaum danach gefragt."
"Wie alt bist du?"
"Was soll der Smalltalk?"
"Hör mal zu. Wenn jemand von uns eine Frage stellt, musst du sie beantworten."
"Und wenn nicht? Ich sterbe doch sowieso."
"Es gibt immer noch Kompromisse. Du hast nur Vorteile, wenn du brav bist. Glaub mir einfach. Also, wie alt bist du?"
 Zuerst reckte ich trotzig mein Kinn nach oben und wollte nicht antworten. Ich ignorierte die feste Hand unter meinem Kinn, die mich zum Reden bewegen wollte. Widerwillig kapitulierte ich. Schon wieder gehorchte ich und ließ Befehle zu. Was hatte ich schon zu verlieren? Wenn ich mich an ihre Regeln hielte, käme ich vielleicht doch noch ganz gut davon.
"Zwanzig."
"Geht doch."
 Mehr kam nicht weiter von Julian. Er wollte nur seine Macht über mich beweisen und hatte es geschafft. Sein eigener Wille war stark. Wenn Harvey da gewesen wäre, hätte dieser den Bösen übernommen. Aus dem Erdgeschoss hörte man ein leises Klopfen und nach zehn Minuten stand der Boss der Truppe wieder in meiner Wohnung. Er schloss die Tür ab und zog die beiden anderen mit sich. Ich blieb alleine in meiner Küche zurück und versuchte, meine Mörder im Wohnzimmer zu belauschen.

"Die Tür ist jetzt zu. Die Bullen werden uns hier drin sicher nicht suchen, solange wir still sind. Wird sie die Klappe halten?"
"Sieht so aus. Wenn sie sich nicht wieder neu entscheidet."
"Hat sie einen Grund dazu?"
"Schwer zu sagen. Ich versteh sie nicht."
"Was meinst du, Matt?"
"Mir geht's auch so. Sie weiß es selbst nicht, schätze ich. Frag du sie selber."
Die Tür öffnete sich wieder und Schritte näherten sich. Direkt vor mir konnte ich die Umrisse vom Boss erkennen. Der Morgen brach langsam an.
"Was ist dein letzter Wunsch?"
Wie bitte? Wollte er nicht eigentlich was ganz anderes wissen? Auch die beiden anderen waren ein bisschen verwirrt. Was war denn mein letzter Wunsch?
"Mehr Zeit vor dem Tod."
"Das zählt nicht."
 Seine tiefe Stimme klang sehr nachdenklich. Wollte er meine Psyche studieren? Zu mir vordringen? Kenne deinen Feind. Er stützte seine Hände auf die Armlehnen meines Stuhls und beugte sich nahe zu mir. Ich schüttelte die betörende Wirkung seines Aftershaves von mir ab und konzentrierte mich auf seine Frage. Clever war er, das musste ich ihm lassen. Ich machte ihm aber einen Strich durch die Rechnung. Sollte er doch von mir halten, was er wollte.
"Sex."

Bevor ich meine eigenen Gedanken anzweifeln konnte, war die Antwort aus meinem Mund geschossen. Ich war keine Schlampe, doch ich fühlte mich in diesem Moment so. Sie starrten mich an und Stille legte sich über uns. Zumindest bis Julian und Matt sich ihr Lachen nicht mehr verkneifen konnten und Harvey damit ansteckten. Sie prusteten wild drauf los und ich fühlte mich, als wäre ich nackt aus dem Haus gegangen und quer durch eine Menschenmenge stolziert. Meine Wangen wurden heiß. 
"Das war kein Witz."
 Ich war ein bisschen beleidigt. Wieso nahmen sie mich nicht ernst? Nervös kaute ich auf meiner Unterlippe herum. Na schön, ich war gefesselt und machtlos. Dennoch fand ich, dass mir ein bisschen Respekt zustand. Immerhin befolgte ich ihre Anweisungen. Julian und Matthew schienen jeglichen Anreiz verloren zu haben, sich mir gegenüber zu beherrschen, doch Harvey verstummte. Er ignorierte das Gegröle von seinen Kumpels und sah mich misstrauisch an.
"Kein Witz?"
"Nein."
"Warum Sex? Was ist dir dabei so wichtig?"
"Es gibt so viele Dinge, die ich noch tun wollte. Ihr habt mir meine Chance verbaut. Ich musste noch herausfinden, wo ich hingehöre. Ihr wart mir nicht gerade eine Hilfe dabei."
"Du bist noch Jungfrau und würdest jetzt einfach mit einem von uns schlafen? Ohne Gefühle, ohne große Diskussion?"
"Ja."
"Dadurch weißt du, wo du hingehörst? Ich glaube, du stellst dir das etwas zu einfach vor."
"Ist dann doch mein Problem, oder?"
"Sicher, dass du nicht lieber etwas anderes willst?"
"Klar will ich noch etwas anderes, aber du hast mich nur nach einem Wunsch gefragt. Dieser ist mir am wichtigsten."
"Wenn ich dir sage, dass du ihn bekommst, kapitulierst du dann die gesamte Woche?"
"Soweit dein Angebot ernst gemeint und keine Falle ist, natürlich."
"Gut, dann bekommst du deinen Sex."
Er lockerte die Fesseln, damit meine Schmerzen nachließen und beugte sich dabei gewagt nahe an mich heran. Sein Aftershave stieg mir in die Nase und ich unterdrückte mein Grinsen diesmal nicht. Irgendwie war ich in ein kleines Abenteuer gerutscht, doch mit dem Typ vor mir konnte man reden.
"Kompromisse sind doch etwas schönes, nicht?"
Was die hier alle mit Kompromissen wollten. Julian hatte auch schon davon geredet. Vielleicht war das hier ihre Routine. Der Wunsch hatte sie nur ein bisschen stocken lassen. Matt wirkte nervös.

"Harvey. Findest du nicht, dass du das Ganze etwas überstürzt?"
"Seit wann hast du etwas gegen Sex?"
"Es ist einfach nicht richtig. Wer von uns soll das übernehmen?"
"Wenn du sentimental wirst, kannst du dir die Nummer jedenfalls abschminken."
 "Danke, ich verzichte. Du hast den Mist vereinbart, du hältst dich dran!"
"Jule?"
"Das Angebot kam von dir, also löst du es ein. So läuft das schon immer und das weißt du. Du hast mich mit dieser verdammten Regel schon einige Male auflaufen lassen."
"Wer sagt denn, dass ich mich nicht daran halte?"
"Du und Körperkontakt? Wie lange hast du schon nicht mehr richtig mit einer Frau geschlafen?"
"Dann wird es eben wieder Zeit. Ich weiß, dass ich den Kompromiss nicht auf euch abwälzen darf."
"Du leitest die Aktion, du schläfst mit Abbey und du machst sie kalt wenn es soweit ist. Das siehst du doch genau so?"
"Ja verdammt. Schon vergessen, wer von uns hier das Sagen hat?"
"Solange Matt auf meiner Seite ist, steht es zwei gegen einen."
 Fäuste begannen zu fliegen. Es war offensichtlich egal, dass ich beim gesamten Gespräch im gleichen Raum war. Harvey würde mit mir schlafen. Ob mein Wunsch so richtig war? Es fühlte sich jedenfalls nicht falsch an, wie ich selbst zunächst vermutet hatte. Seltsam, aber nicht falsch. Ich wusste nicht, was mich auf meinen Wunsch gebracht hatte. Doch ich stand zu meiner Antwort. Ich würde mit ihnen zusammen arbeiten. Ohne Zweifel. Es erleichterte ja schon meine Gefangenschaft, als man nach dem Kompromiss meine Fesseln gelockert hatte. Ich saß zwar fest, aber ich hatte keine Schmerzen. Zumindest bis ich mich in den Kampf einmischte und dadurch eine gewischt bekam. Ich durfte nicht unterschätzen, dass die Männer immer noch Kriminelle waren. Der Schlag brannte noch lange auf meiner Wange nach und ich konnte die Tränen nur mit Mühe zurück halten. Bis auf Matt verließen sie den Raum, der Kampf war beendet. Wenn sich das Opfer auflehnte, schweißte das die Verbrecher wieder zusammen. Immerhin waren meine Schmerzen nicht umsonst.
"Danke."
Matthew flüsterte nur, doch ich konnte es hören. Ich war verwirrt.
"Wofür?"
 "Jule ist verdammt stark und hätte Harvey windelweich geschlagen. Doch auch Harvey ist nicht gerade der Typ dafür, Schäge einfach auf sich sitzen zu lassen. Ich spreche aus Erfahrung. Du hast sie auseinander gebracht, bevor sie ihren Streit schwer bereuen würden."
"Warum bist du so nett zu mir?"
 "Deine Art ist irgendwie angenehm. Eine nette Abwechslung zu dem sonstigen Trott. Du hast Mumm, das muss ich dir echt lassen."
"Nur deswegen sitze ich jetzt hier. Ich hätte mich einfach verkriechen sollen. Aber nein. Ich musste ja unbedingt nachsehen, was da so einen Lärm macht."
 Er lachte nur und still saßen wir uns gegenüber. Ich war gefesselt und er ließ mich nicht aus den Augen. Er konnte zwar nett sein, aber auch gefährlich. Immerhin hatte Matt mich vorhin an den Stuhl gebunden. Die Sonne ging auf und ich konnte die ersten Umrisse der Küche erkennen. Meine Augen tränten. Die Lider wurden schwer. Müdigkeit übermannte mich und ich schlief ein.

Tag eins



Es klirrte und das riss mich aus dem Schlaf. Was war passiert? Ich öffnete die Augen und im ersten Moment erschrak ich. Ich brauchte kurz, um mich an die Nacht zu erinnern. Dann wehrte ich mich nicht weiter gegen die Fesseln. Neben mir ertönte ein grimmiges Lachen.
"Auch schon wach?"
Mein Kopf fuhr herum und ich starrte den Mann vor mir an. Kein schlechter Anblick mit den roten Wuschelhaaren und den hellblauen Augen, nur nicht mein Typ. Er grinste, weil ich ihn so durchgehend musterte und auf seinen durchtrainierten Körper schaute. Ich sollte mich glücklich schätzen, dass ich die drei Einbrecher nicht schon früher erkennen konnte. Sonst hätte ich nur noch mehr Panik bekommen. Matthew gab mir ein Glas Wasser und löste kurz eine meiner Hände vom Stuhl. Dankbar nahm ich es entgegen und trank es hastig aus. Das leere Glas nahm er mir danach gleich ab und er fesselte mich wieder. Ich seufzte.
"Du kannst mich auch losmachen. Ich würde nicht weglaufen."
Statt Matthew antwortete mir aber Julian. Der gigantische, braungebrannte Muskelprotz mit der Glatze stand in der Türschwelle und klang wütend.
"Nimm dir nicht zu viel raus, du bist und bleibst die Gefangene. Auch wenn du echt hübsch bist, das muss ich dir lassen."
"Danke?"
"Warum hat Harvey nur immer die guten Kompromisse? Da würde ich zu gerne tauschen."
Ich schluckte laut. Insgeheim war ich froh, dass nicht Julian meinen Wunsch erfüllte. Seine gesamte Statur jagte mir höllische Angst ein. Jetzt wusste ich, warum er mich ohne die geringsten Schwierigkeiten durch die Wohnung tragen konnte. Mit dem sollte ich mich lieber nicht noch einmal anlegen. Ich war mehr als dankbar, dass Harvey nicht auch noch um die Ecke kam und mir seine Killerstatur präsentierte. Ich wusste schließlich nicht, ob ich meine Panik im Zaum hätte halten können. Die Stärke der Männer war mir nicht ganz geheuer.
"Wie alt seid ihr denn? Seid ihr in einem Fitnessstudio groß geworden, oder warum seht ihr aus, als würdet ihr in eurer Freizeit Baumstämme aus dem Boden reißen können?"
"Was hast du denn erwartet?"
"Keine Ahnung. Ihr habt euch zwar erfahren angehört, aber ihr seht nicht älter als Mitte zwanzig aus."
"Früh übt sich. Ich stand mit siebzehn das erste Mal auf der roten Fahndungsliste der Polizei."
"Das erste Mal?"
"Du bist schon irgendwie süß. Wie du glaubst, dass ein Vergehen an dir eine Ausnahme wäre. Harvey wird dich vernaschen und dann dein Leben auslöschen. Ganz ehrlich? Nach meinem Geschmack hast du schon viel zu viele Freiheiten bekommen. Vielleicht sollte ich Matt bei der Wache ablösen und dir Respekt beibringen!"
Hilfe suchend sah ich zu Matthew, doch er verließ mit einem Pokerface den Raum. Ich konnte es ihm nicht verübeln. Mit Julian hätte ich mich auch nicht angelegt.
"Wie kommt es, dass du noch Jungfrau bist?"
"Das geht dich nichts an!"
Dafür kassierte ich mal wieder eine heftige Ohrfeige. Ich biss mir auf die Unterlippe und unterdrückte den Schmerz. Vor diesem Mistkerl wollte ich keine Schwäche mehr zeigen.
"Bekomme ich jetzt eine Antwort?"
"Ich wollte auf den Richtigen warten. Mehr nicht."
"Ach und jetzt ist es so weit? Du willst tatsächlich Harvey die Ehre erweisen? Du kennst ihn nicht."
"Schlimmer als du kann er nicht sein."
"Du hast ja nicht die geringste Ahnung. Meinst du, ich würde ihm folgen, ihm gehorchen, wenn er kein Druckmittel hätte?"
"Ihr seid befreundet."
"Stimmt. Und trotzdem kommandiert er uns herum. Trotzdem führt er uns an."
"Sag mir einfach den Grund."
"Ich mache dich verrückt, stimmt's?"
"Irgendwie schon."
"Gut, denn das war Absicht. Du sagst, er kann nicht schlimmer als ich sein. Aber das kann er. Er spielt mit der Psyche von den Menschen um sich. Er manipuliert sogar mich."
"Dennoch seid ihr Freunde."
"Stimmt. Nicht alles ist schlecht. Er weiß durchaus, was er tut. Ganz ehrlich, ich genieße sogar die Zeit in deiner Wohnung. Es ist lästig, nicht raus zu dürfen, aber du bist hier."
Mit diesen Worten beugte er sich gefährlich nahe an mich heran. Ich drehte meinen Kopf ein Stückchen nach links, doch er packte mein Kinn. Sein Blick durchbohrte meinen und ich dachte, er wollte mich küssen. Ich lehnte mich so weit zurück, wie es der Stuhl in meinem Rücken zuließ. Ich wollte das nicht. Angst kochte in meinem Blut. Julian lachte und ging einen Schritt zurück. Ich keuchte.
"Sehr schön. Brav wie ein kleines Häschen. Harvey hatte Recht. So bringt man naiven Mädchen ein bisschen Respekt bei."
Mit rasendem Herzen ließ er mich zurück und ich atmete erst einmal tief durch. Resigniert gestand ich mir selber ein, dass nicht nur die Fesseln meinen Körper auf dem Stuhl hielten. Vielleicht war es kein Respekt, aber Furcht hatte ich mit Sicherheit. Man würde mich nie vergessen lassen, wer über mir stand. Das Bild vor meinen Augen verschwamm und mir wurde ganz schwindlig. Nur die Fesseln verhinderten, dass ich vom Stuhl fiel. Ich nahm nur noch einen Schatten in der Ecke wahr, bevor die Ohnmacht mich übermannte.


Stimmen in meinem Kopf lachten und machten mich verrückt. Worüber lachten die denn so? Über mich. Ich konnte mich nicht erinnern, ihnen dafür einen guten Grund gegeben zu haben. Trotzdem war es mir peinlich. Ich fühlte mich so beobachtet, selbst sehen konnte ich aber nichts. Die gesamte Umgebung blieb schwarz. Das Lachen wurde immer lauter und penetrant. Ein bedrückendes Gefühl legte sich über meine Seele. Ich wollte meine Vergangenheit nicht wieder durchleben. Einige Lichtblitze durchzuckten die Dunkelheit und beschworen meine Fantasie. Ich war wieder ein kleines Kind in der Ecke meines Zimmers. Ich hielt meinen Teddybären in der Hand und wiegte mich selbst vor Angst. Ich wurde gesucht, verfolgt. Die Frau wollte nichts Gutes. Ich weinte jämmerlich und hörte damit nicht auf. Nur das Schluchzen unterdrückte ich so weit es ging, denn sie durfte mich ja nicht hören. Die Tür quietschte und ein einzelner Lichtstrahl durchflutete das Zimmer. Schwere Schritte näherten sich und ich starrte auf die Schuhspitzen vor mir. Ihre feste Hand packte mich an den Haaren und zog mich brutal nach oben. Ein spitzer Schrei kam aus meiner Kehle und mein verzweifeltes Kreischen hörte nicht auf.



Eine riesige Hand legte sich auf meinen Mund und Harveys genervte Stimme riss mich aus meinem Albtraum.
"Was soll das Geschrei? Sag mir nicht, du hast Angst im Dunkeln?"
Ich schlug die Augen auf und tatsächlich. Um mich herum war nicht die geringste Spur Licht zu entdecken. Meine Küche konnte man aber nicht so stark abdunkeln. Wo war ich also?
"Wo bin ich?"
"Nicht wichtig. Aber deiner Stimme nach zu urteilen, hast du nicht deswegen geschrien."
"Gut erkannt."
"Warum dann?"
"Nicht so wichtig."
"Nicht so wichtig? Hast du einen Knall? Du warst verdammt laut. Wir haben einen Kompromiss, schon vergessen?"
"Natürlich nicht. Es war keine Absicht."
"Nicht zu fassen! Wenn du dich so schlecht unter Kontrolle hast, müssen wir dich halt noch weiter einschränken."
Es raschelte kurz hinter mir und dann tastete sich eine Hand an meinem Gesicht entlang.
"Was.."
Klebeband. Er hatte mit den Mund abgeklebt. Na super. Jetzt war ich nicht nur bewegungsunfähig, sondern musste zwangsweise auch meine Klappe halten. Genervt stöhnte ich auf und ließ mich in den Stuhl zurückfallen. Sich gegen die Fesseln zu wehren, hätte mal wieder nichts gebracht. Vor mir ertönte ein Quietschen -  ein Stuhl wurde achtlos über den Holzboden geschleift. Harvey setzte sich mir also genau gegenüber.
"So. Wenigstens bist du noch bei Bewusstsein. Ich dachte schon, Matt hätte dir eine Überdosis ins Wasser gemischt."
Hätte ich mir ja denken können. Das war aber eine scheinheilige Nummer von ihm. Gibt sich als nett aus, um mich hinterlisten zu können.
"Ein bisschen leid tust du mir ja schon. Du warst zur falschen Zeit am falschen Ort und musst dich mit deinem eigenen Tod abfinden. Dein Mörder sitzt vor dir."
Er lachte kurz aber hart auf. In seiner Stimme schwang wirklich etwas wie Beileid und Mitgefühl mit.
"Gegen uns hattest du nie eine Chance. Weißt du, wir alle haben unsere Stärken. Julians Verstand zum Beispiel basiert auf seiner Muskelkraft."
Er seufzte.
"Na schön. Es ist ätzend, ein Selbstgespräch zu führen."
Plötzlich wurde mir das Klebeband wieder vom Mund gerissen und ich sog die Luft schmerzerfüllt ein. Meine Haut brannte wie Feuer.
"Wenn du meinst, mich zu belügen oder mir etwas zu verschweigen, dann wirst du sofort wieder ruhig gestellt. Kapiert?"
"Was willst du wissen?"
"Gibt es Freunde oder Verwandte, die dich suchen werden?"
"Nein."
"Arbeitgeber?"
"War alles nur Schwarzgeld. Die scheren sich einen Dreck um mich."
"Vermieter?"
"Sieht die Bruchbude etwa so aus, als würde er hier sonderlich oft nach dem Rechten sehen?"
"Du bist das perfekte Opfer, weißt du das? Dein Tod würde keine Aufmerksamkeit erregen."
"Wieso das alles? Was ist das für eine Sekte, die euch zu Mördern macht?"
"Es ist besser, wenn du nicht zu viel weißt."
"Als ob ich nicht eh schon auf deiner Abschussliste stehen würde."
"Du willst es also wirklich wissen? Die Details über unser Vorhaben. Unsere Pläne, unsere Gründe. Das Motiv. Warum wir dein Wissen vernichten müssen. Manche Namen sagen einfach zu viel aus. Auch wenn du nicht sonderlich viel mit den Namen deiner Mörder anfangen kannst, so haben sie für dich eine Bedeutung. Willst du wirklich noch mehr erfahren? Mit noch mehr konfrontiert werden?"
Das mit der Manipulation hatte er wirklich drauf, Julian hatte nicht übertrieben. Aber ich wollte es wirklich wissen. Alles, jedes Detail. Ich klammerte mich an noch so kleine Funken Hoffnung in mir. Hinter jeder Information steckte ein Weg.
"Sag schon den verdammten Namen!"
"Il Coltello."
Er spuckte die beiden Worte beinahe aus, so sehr verachtete er sie. Mit einer schnellen Bewegung überklebte er mir wieder den Mund und verschwand aus dem Raum. Fassungslos ließ er mich alleine zurück. Bei dem Namen klingelte es bei mir, doch ich konnte ihn nicht einordnen. Wenn ich mich auch noch so anstrengte, meine italienischen Sprachkenntnisse reichten einfach nicht aus. Dennoch, ich war beunruhigt. Er kam mir einfach zu bekannt vor. Nur war ich nie Teil einer Sekte oder ähnliches. In welchem Zusammenhang stand sie nur zu mir?

Tag zwei




"Abbey! Was machst du denn nur für Sachen? Komm her zu mir."
Faltige Hände streckten sich nach mir aus und wollten mich aus meiner Höhle zerren. Doch ich gehorchte nicht. Stattdessen kroch ich noch weiter zurück, bis die kühle Steinwand mir den Weg versperrte.
"Hab keine Angst. Ich tu dir nichts."
Ihre Stimme klang sanft, doch ihre Augen offenbarten die Lüge. Ihr kalter Blick durchbohrte mich und zwang mich aus meinem Versteck. Eine riesige Hand legte sich um meinen Oberarm und so zog mich die Frau ins Haus zurück.
"Sie war unter der Nische zum alten Keller."
Keine Ahnung, zu wem sie sprach. Alle anderen Kinder saßen schon längst in ihren Betten und schliefen. Alle außer mir. Unter diesem Dach konnte ich keine ruhige Minute verbringen, denn dort war ich nicht sicher. Jederzeit konnte die Frau kommen und mich holen. Irgendeinen traf es immer und ich stand auf ihrer Liste schon ganz weit oben. Die anderen Kinder mieden mich bereits und das tat weh.



Ich blinzelte dem grellen Licht entgegen und schreckte deswegen aus meinem Traum hoch.
"Träumst du sogar von mir, oder warum weinst du im Schlaf?"
"Halt die Klappe, Julian und lass mich mit ihr allein."
"Damit du wieder viel zu nett mit ihr umgehst?"
"Verschwinde, man! Du hast doch gehört, was Harvey gesagt hat."
Julian gab seine Angriffshaltung wirklich auf und verließ den Raum mit einem genervten Murren. Ich starrte auf die Tür, wie sie sich schloss, und ließ den Blick dann schweifen. Mein Wohnzimmer. Die Küche mit klarer Sicht auf die Straße und auch umgekehrt war ihnen wohl nicht mehr sicher genug, um jemanden zu verstecken. Durch die Vorhänge hier konnte nur wenig Tageslicht dringen, weil Matthew sie wieder zuzog. Ich musterte ihn, als er sich mir näherte. Er streckte seine Hand nach meinem Gesicht aus und ich wich erschrocken zurück. Bis ich bemerkte, dass er nur das Klebeband von meinem Mund nehmen wollte. Im Gegensatz zu Harvey war er dabei vorsichtig und seine Augen betrachteten jede noch so kleine Regung in meiner Mimik. Offenbar wurde er daraus nicht schlau.
"Was schaust du so?"
"Wie schau ich denn?"
"Da ist Misstrauen und Angst, aber auch Enttäuschung. Warum?"
"Ihr habt doch echt alle drei ein Rad ab, oder? Die letzten Tage in meinem Leben muss ich hungrig an einen Stuhl gefesselt verbringen? Völlig kraftlos und wehrlos mit dem Wissen, dass meine Mörder nur einen Raum entfernt sind und mich beobachten!"
Eigentlich wollte ich ihm noch viel mehr an den Kopf knallen, aber die Berührung seiner Hände an meinem Unterarm brachte mich zum Stocken. Er löste doch tatsächlich die Fesseln und half mir auf die Beine.
"Du hast eine halbe Stunde in deinem Bad. Wir haben die Ausgänge gesichert, also versuch nicht einmal zu fliehen."
Matt zog mich bis zur Tür und lockerte dann seinen Griff. Langsam ging er einen Schritt zurück in Richtung Küche. Ich drehte mich immer noch völlig sprachlos um und rempelte gegen Julians gigantischen Oberkörper. Mit einem anzüglichen Grinsen fing er mich auf und fasste mir dabei rein zufällig an den Hintern.
"Vorsicht. Wir wollen doch nicht, dass dir etwas zustößt."
Genervt entwand ich mich seinen Armen und schloss die Tür hinter mir ab. Erschöpft lehnte ich mich gegen das Holz und atmete tief durch. Meine Hand glitt über die geflieste Wand und tastete nach dem Lichtschalter. Ich kippte ihn um und die kleine Glühbirne flackerte ein bisschen. Das war mir so vertraut und stellte mich ein bisschen ruhig. Flüchtig überprüfte ich, ob ich auch wirklich alleine war und zog mich dann erst aus. Ich seufzte auf, als das Wasser auf meinen Körper traf und die warmen Tropfen an meiner Haut abperlten. Lange stand ich einfach nur da und genoss das Gefühl, doch dann drang die Realität wieder in mein Bewusstsein vor. Das kratzige Handtuch wickelte ich um meinen Körper und so ging ich zu dem kleinen Spiegel über dem Schrank. Ich sah schrecklich aus und griff sofort nach der Bürste, um meine langen schwarzen Haare wieder zu entknoten. Noch bevor ich damit fertig war, klopfte es an der Tür.
"Du hast noch fünf Minuten. Zieh die frische Kleidung hier an und komm dann in die Küche."
Julians schwere Schritte entfernten sich den Gang entlang, also riskierte ich einen Blick durch den Türspalt. So schnell wie möglich zog ich den Kleiderstapel mit der einen Hand durch und hielt mit der anderen das Handtuch in einem Knoten an mich gedrückt fest. Mit einem leisen Knall ließ ich die Tür zurück ins Schloss fallen und sah mir den Stapel genauer an. Ich hob das schwarze Shirt hoch, genauso wie die verwaschene Jeans und legte beides bei Seite, als ich die aufreizende Unterwäsche zwischen meine Finger bekam. Mir entwiche eine Art genervtes Knurren, aber ich beruhigte mich wieder. Ich hatte doch eigentlich ganz andere Probleme, da brauchte mich diese Kleinigkeit nicht zu interessieren. Dann wussten meine Mörder eben, was ich so drunter trug. Harvey würde es ja so oder so...Harvey! Kam das etwa von ihm? Schon wieder so ein Spiel? Das wollte ich dann doch nicht so einfach auf mir sitzen lassen und ich zog mir schnell die Kleidung über. Ich reckte mein Kinn nach oben und schritt selbstbewusst aus der Tür in den Rest der Wohnung. Einen Fluchtversuch wagte ich wirklich nicht, denn ich hatte keinen Zweifel an Matthews Worten. An der Küche angekommen, wurde ich bereits von Julian erwartet, der mich am Arm gepackt auf einen Stuhl zog. Vergessen war meine Wut über die Reizwäsche.
"Ich kann selber laufen, du brauchst nicht so zu ziehen!"
"Wo bleibt denn dann der Spaß für mich, Hübsche?"
"Lass sie, Julian. Sie hat Recht."
"Kannst du mir mal verraten, warum du mir dauernd in den Rücken fällst wenn sie dabei ist? Sie steht unter uns. Behandle sie nicht wie eine gute alte Freundin!"
Angespannt beobachtete ich die Szene vor mir. Ständig gab es einen Konflikt zwischen der Truppe hier, doch diesmal gab Matthew nach. Sein Gesicht verzerrte sich zu einer eiskalten Maske und er richtete seine Haltung. Beide Männer bauten sich vor mir auf und ich lehnte mich so weit wie möglich in meinem Stuhl zurück.
"Wo ist eigentlich Harvey?"
Von Julian kam ein grimmiges Lachen, in das Matthew sogleich einstimmte. Ich kam mir vor, als hätte ich den Witz des Jahres verpasst.
"Was ist daran so komisch?"
"Die Ironie. Als ob du geahnt hättest, dass du ihn nicht zu Gesicht bekommen wirst."
"Wie meinst du das?"
"Er wird sich nicht zeigen, wenn es hell ist. Und man sollte meinen, dass es dich nicht stört. Immerhin musst du dich dann am Tag nur mit uns beiden herumschlagen. Aber nein..."
"Matt, was will er mir damit sagen?"
"Der Kompromiss geht dir doch ganz schön zu Herzen, nicht wahr?"
"Ich komm wirklich nicht mit."
"Du redest im Schlaf, Schätzchen."
Ich tat was? Oh je, was hatte ich nur gesagt? Ich schluckte schwer und versuchte die Unsicherheit zu verbergen.
"Ach ja? Was hab ich denn so erzählt?"
"Das wird Harvey mit dir abklären müssen. Denk einfach ein bisschen darüber nach, was du geträumt hast."
"Ich kann mich aber nicht mehr an alles erinnern. Und wie soll ich das mit Harvey klären, wenn ich ihn nicht zu Gesicht bekomme?"
"Du musst eben auf die Dunkelheit warten. Nur weil er sich im Schatten verbirgt, heißt das nicht, dass er nicht handeln kann."
Ich kniff die Augen zusammen und musterte die beiden vor mir mit grimmigen Blick. Sie machten keine Anstalten, mir noch etwas zu erzählen, also gab ich nach. Matthew lockerte nach kurzem Schweigen seine Angriffshaltung und drehte sich zur Küchenablage um. Dort stand ein großer dampfender Topf und daneben drei Teller. Sie deckten den Tisch und stellten den Topf vor mich. Keiner von ihnen nahm sich zuerst.
"Mit dem Essen stimmt was nicht, oder?"
"Würden wir dann auch was essen?"
"Tut ihr ja nicht, das ist es ja."
"Hör mir mal zu. Wir haben alle Hunger und keine Lust, jetzt noch eine Diskussion mit dir anzufangen. Da ist nichts drin und selbst wenn. Etwas anderes bekommst du nicht, also nimm dir endlich, bevor ich es mir noch anders überlege!"
Vorsichtig hob ich den Deckel hoch und lugte über den Rand. Was auch immer in dieser Pampe war, es roch nicht einmal schlecht. Auch wenn ich zögerte, hungrig war ich tatsächlich und hatte im Prinzip auch nichts zu verlieren.

So saß ich nun, mit zwei Mördern am Esstisch, und alle löffelten wir diesen Brei aus unseren Tellern. Keiner sagte ein Wort aber jede meiner Bewegungen wurde strengstens beobachtet. Ich wollte nicht einmal fliehen. Hätte mir ja nur Ärger eingehandelt und mir ging es sogar vergleichsweise gut. Der Stuhl ächzte als sich Julian erhob und zum Kühlschrank marschierte. Er nahm zwei Flaschen Bier und füllte ein Glas mit Wasser, das er vor mich stellte. Er prostete mir und Matthew zu und nahm einen kräftigen Schluck. Ich sah zu dem Glas neben meinem Teller herab und beobachtete einen Tropfen, wie er am Rand runter lief. Ich wischte ihn weg, bevor er einen Fleck auf die Tischdecke machte und setzte das Glas an meine Lippen. Vom Durst getrieben, schluckte ich die kalte Flüssigkeit hinunter und atmete erfrischt aus. Die beiden Männer starrten mich erst an, aber in Julians Augen verschwand der Schock. Er grinste siegessicher.
"Sie vertraut uns."
Das war das letzte, was ich noch mitbekommen hatte. Wieder wurde alles schwarz und ich versank erneut in ein düsteres Reich der Träume.

Tag drei



"Du bist es nicht wert."
"Was denn?"
"Wir wollen dich hier nicht mehr."
"Aber warum? Was hab ich euch getan?"
Die alte Frau lachte bitter auf und das ging ewig so weiter. So schien es mir zumindest. Das Licht aus der Türöffnung blendete mich und ich versuchte, immer weiter in die hintere Ecke zu kriechen. Hoffnungslos. Sinnlos. Sie packte meinen Fuß und zog mich wieder nach vorne zu sich. Sie schleifte mich achtlos über den Boden und auf dem Weg aus meinem Zimmer schlug ich mir den Kopf auf. Meine Sicht wurde dadurch ein wenig getrübt, aber ich nahm noch alles gut genug war. Ich hasste diesen Moment. Lieber wäre ich ohnmächtig geworden, dann hätte ich den Raum nicht gesehen. Nur der kurze Blick durch den Türspalt war genug für meine Nerven.
Wie sollte man bei dem Anblick mit acht Jahren reagieren? Ein erwachsener Mensch sticht auf ein wehrloses Kind ein. Ein Junge, der in diesem Haus eigentlich als verschwunden galt. Ich kannte ihn nicht, doch ich wusste trotzdem, wer er war. Die Klinge blitzte im Licht, ihre Form war ungewöhnlich. So etwas hatte ich nie zuvor gesehen, aber ich wurde weiter gezogen. Weg von der Tür. Weg von den anderen. Eingesperrt in das Zimmer nebenan. Ein Zimmer ohne Bett, ohne Schränke. Nur vier Wände, eng aneinander mit einer einzigen Glühbirne an der Decke. Sie zischte bedrohlich und hüllte das Gesicht der Frau vor mir in ein grässliches Licht. Monster. Das Wort schoss mir durch den Kopf. Nichts weiter war sie für mich. Nur ein Monster.
"Was passiert jetzt mit mir?"
Sie verzog ihren Mund zu einem hässlichen Grinsen, das ihre gelben Zähne zeigte. Ihr liebliche Maske war gefallen, sie bot keinen Schutz mehr für ein Kind wie mich. Sie war die Gefahr. Und sie hatte Hilfe. Der Mann bei dem Jungen trieb sich schon immer unbemerkt in dem Haus herum. Er steckte hinter dem Verschwinden der Kinder. Die Frau vor mir gab eine Antwort, doch ich verstand sie nicht mehr. Der Schlag auf meinen Kopf benebelte meine Sinne schon zu stark und ich verlor das Bewusstsein.



"Wach auf."
Er flüsterte direkt in mein Ohr und sein Atem kitzelte mich im Nacken. Ein Lächeln stahl sich auf mein Gesicht und ich hätte mich dafür ohrfeigen können. Warum löste Harveys Nähe denn ein wohliges Gefühl bei mir aus? Ich verdrängte den Gedanken und blinzelte den letzten Rest Schlaf aus meinen Augen. Um mich herum herrschte wieder Dunkelheit und ich lehnte mich zufrieden zurück. Es war mir egal, wo genau ich war. Und es war mir egal, dass mein Mörder neben mir stand. Ich liebte die Dunkelheit, denn dort konnte man sich immer verstecken. Da muss man erst gesehen werden. Gefunden. Gefangen.
"Wie spät ist es?"
"Vier Uhr Nachmittag."
"Also hab ich nicht lange geschlafen?"
"Doch. Fast zwanzig Stunden."
"Wie denn das? Niemand schläft einfach so...habt ihr mir schon wieder etwas gegeben? Aber die anderen haben doch aus dem gleichen Topf gegessen."
"Da war ja auch nichts drin. Das Zeug ist nur wasserlöslich."
Na super. Deshalb Julians Spruch mit dem Vertrauen. Ich hab nicht einmal gezögert, als er mir das Glas vor die Nase gestellt hat. Naiv wie eh und je.
"Und wozu das ganze? Ich wäre nicht abgehauen."
"Als ob du das gekonnt hättest."
"Schon gut. Aber ich versteh es trotzdem nicht. Der Kompromiss steht doch noch, oder?"
"Willst du doch etwas anderes? Komisch. Ich hätte dich für standhaft gehalten."
Das hatte gesessen. Natürlich blieb ich bei meiner Meinung. Keine Ahnung, warum mir seine Worte so viel bedeuteten, aber ich wollte nicht, dass er so von mir dachte. Ich wollte als stark und sicher angesehen werden. Nicht als schwaches Mädchen, das sich nicht zu helfen wusste.
"Ich steh zu meiner Aussage. Aber du?"
Der Stuhl wackelte ein wenig und ich spürte die Berührung von Harveys Nasenspitze auf meiner Wange. So nah war er mir und versuchte mich zu verschrecken.
"Nennst du mich einen Lügner?"
In seiner Stimme schwang tiefe Wut mit und ich erstarrte. Seine Reaktion könnte mir Schwierigkeiten machen. Ich schüttelte den Kopf und wusste, dass er es merkte. Er zog sich wieder etwas zurück.
"Du redest im Schlaf."
"Hat mir Matthew auch schon gesagt."
"Er hat was? Was hat der Mistkerl noch verraten?"
"Nichts weiter. Das war's schon. Aber ich würde gerne mehr wissen. Immerhin sind es meine Träume."
"An was erinnerst du dich?"
"Noch mehr geht euch nichts an. Ich will nur wissen, was ihr schon gehört habt."
"Schätzchen, du machst hier keine Regeln. Was weißt du noch?"
"Das ist zu privat!"
"Privat? Privat! Du hast meinen Namen genannt. Dann hat es wohl auch etwas mit mir zu tun, oder? Es geht mich sehr wohl etwas an!"
"Du bluffst. Ich träum nicht von dir. Dann werde ich auch nicht deinen Namen nennen."
"Gibt es noch einen Harvey in deinem Umfeld?"
Ich stockte. Er hatte ins Schwarze getroffen und es schien ihm ernst zu sein. Aber warum nannte ich seinen Namen? Er war nicht in meinem Traum."
"Wann hab ich deinen Namen gesagt?"
"Einmal gestern. Dabei hast du geweint. Und heute. Du hast geschrien."
"Ich kann mich nicht erinnern. Was war da noch?"
"Sag du's mir. Wovon hast du geträumt?"
"Warum ist dir das so wichtig?"
Keine Antwort. Er schwieg, bis er dann doch seufzte. Er lief an das andere Ende vom Raum und kam zu mir zurück. Vorsichtig legte er mir eine Augenbinde um, doch ich wehrte mich nicht.
"Mach bitte etwas sinnvolles. Denk über deine Träume nach. Es ist nicht normal, dass du schreist. Erst recht, wenn es dabei um Namen geht."
Seine Schritte entfernten sich und er ging aus der Tür. Deshalb die Augenbinde. Draußen war es hell und ich durfte ihn noch immer nicht sehen. Merkwürdig, aber ich ignorierte das fürs erste. Stattdessen dachte ich über seine Worte nach. Und über die Träume. Wo blieb nur mein Verstand?

Auch wenn ich schon wegen der Augenbinde nichts sehen konnte, schloss ich meine Augen. Schwer atmete ich durch und suchte in meinen Erinnerungen nach irgendwelchen verdächtigen Anzeichen. Tiefe Gefühle waren da, Verzweiflung am meisten. Ich war alleine auf dieser Welt, ohne Freunde, ohne Familie. Erreicht hatte ich nichts in meinem Leben und trotzdem stand mein Tod vor der Tür. Ich konnte den Gedanken an ein déjà-vu nicht abschütteln. Ich wollte unbedingt eine Erklärung haben und dafür musste ich mich erinnern können.
Mit einem lauten Knall schwang die Tür auf und ich zuckte zusammen. Die schweren Schritte gehörten nicht zu Harvey, sondern Julian. Grob riss er mir die Augenbinde von den Augen und grinste mich dreckig an. Seine Hand packte mich am Kinn und er zwang mich, in seine kalten grauen Augen zu schauen.
"Schon etwas Neues zu sagen? Irgendwas rausgefunden zum Beispiel?"
"Nein. Aber du tust mir weh!"
"Hör auf zu heulen und sag endlich, was Sache ist. Harvey geht mir furchtbar auf die Nerven, wenn er schlechte Laune hat."
"Was hab ich bitte mit seiner schlechten Laune zu tun?"
Julian öffnete den Mund und setzte zu einer Antwort an, doch Matthew unterbrach ihn.
"Pass auf, was du sagst!"
Der starke Griff um meinen Hals löste sich schlagartig. Matt konnte gerade noch früh genug ausweichen, bevor er die Faust ins Gesicht bekam.
"Du kannst es nicht lassen, mich vor der Kleinen runter zu machen oder? Was soll der Scheiß?"
"Ich könnte dich das selbe fragen! Wir sind Freunde und trotzdem versuchst du ständig, mir die Fresse zu polieren. Wo ist deine Selbstkontrolle hin?"
Julian stutzte und sah seinen Komplizen an. Er blieb sprachlos, doch Matthew ging auf ihn zu, gab ihm einen freundschaftlichen Handschlag und schob ihn dann zur Tür.
"Danke."
"Halt den Mund!"
Was war denn mit dem los? Er wollte nicht reden, ließ mich aber nicht aus den Augen. Kurze Zeit später kam Julian mit einem Glas Wasser zurück.
"Ich frag dich jetzt noch mal. Hast du Infos?"
"Nein, nicht die kleinste Erinnerung."
"Dann trink das und behalte deine Träume im Gedächtnis sobald du aufwachst!"
Er gab Matthew das Glas, damit er eine meiner Hände vom Stuhl lösen konnte. Zögernd nahm ich die Flüssigkeit entgegen und musste würgen. Alleine die Tatsache, dass ich schon freiwillig k.o. Tropfen zu mir nahm, war beängstigend.

Tag vier




Mit Schmerzen in den Gliedern wachte ich auf. Die trockene Luft löste einen fürchterlichen Durst in meiner Kehle aus und ich konnte ein Husten nicht unterdrücken. Die Tür wurde geöffnet und der Luftzug wirbelte den Staub auf meinen Möbeln herum. Meine Augen begannen zu tränen und meine Wangen röteten sich. Die Fesseln um meine Hände schnitten mir ins Fleisch und die Haltung tat meinem Rücken nicht gut. Kurz gesagt, mir ging es beschissen und ich heulte. Es war kindisch, aber ich konnte nicht aufhören. Ich war an einem Punkt in meinem Leben angelangt, an dem ich nicht mehr stark sein konnte. Es war mir vor kurzem noch egal, von drei Männern, die mich töten wollen, gefangen gehalten zu werden. Ich hatte meinen Kompromiss bekommen und das machte meinen frühen Tod nicht so bedrückend. Doch an diesem Morgen brach die ganze Verzweiflung aus mir hervor. Ich schrie nicht, sondern wimmerte nur erbärmlich und mein ganzer Körper wurde durchgeschüttelt. Immer wieder rollten weitere Tränen mein Gesicht hinunter.
Julian und Matthew wechselten sich bei der Wache stündlich ab, also wusste ich, in welchem Rhythmus die Zeit verging. Keiner von beiden sprach ein Wort mit mir, dafür verstanden sie sich untereinander immer besser. Ehrliche Freundschaft. Wieder übermannte mich meine Trauer. Darin lag eine viel zu große Lücke in meinem Leben, die sich nie wirklich geschlossen hatte.

In einem ruhigen Moment, wurde ich alleine in dem Raum gelassen. Ich konnte die drei Stimmen von nebenan hören.
"Hat sie jetzt aufgehört?"
"Ja, aber wer weiß für wie lange. Sie ist völlig fertig mit den Nerven."
"Hat sie unbewusst wieder etwas gesagt?"
"Diesmal nicht, nein. Sie hat einfach nur vor sich hingeweint."
"Wahrscheinlich hat sie gemerkt, dass sie bald sterben wird. Vielen Opfern wird erst reichlich spät klar, was passiert."
"Das glaubst du doch nicht mal selbst! Abbeys Kompromiss ist doch Beweis genug dagegen, oder etwa nicht?"
"Doch schon. Was hast du jetzt vor? Julian und ich können nicht ewig in einem ihrer Heulkrämpfe auf irgendwelche brauchbaren Infos warten."
"Aber wenn sie sich nicht erinnert? Zumindest rückt sie nicht mit der Sprache raus. Wir haben keine Wahl! Und wenn die Zeit vorbei ist, dann können wir auch so abschließen."
"Tut mir leid, aber sogar ich glaube dir nicht, Harvey. Es hat dich fertig gemacht, wenn sie deinen Namen geschrien hat, das konntest du nicht verbergen."
"Was weißt du schon! Klar lässt mich das nicht einfach so kalt!"
"Das war anders. Jule hat recht, man. Was ist da zwischen euch gewesen?"
"Ihr könnt mich mal, alle beide! Da war nichts. Sie hat meinen Namen geschrien im Schlaf und wusste den Grund dafür selbst nicht. Etwas Verunsicherung wird wohl noch erlaubt sein."
"Du gibst also zu, dass sie etwas in dir auslöst?"

Darauf kam keine Antwort mehr. Stattdessen öffnete sich die Tür zu meinem Wohnzimmer und Harvey trat herein. Er wusste, dass ich ihn nicht erkennen konnte, also kam er auf mich zu.
"Wieso darf ich dich nicht ansehen?"
"Warum solltest du?"
"Bei den andren beiden ist es doch auch in Ordnung, also versteh ich dein Problem einfach nicht. Mit dir ist der Kompromiss geschlossen, da macht es sogar noch weniger Sinn."
"Du wirst noch früh genug merken, was los ist. Aber es ist und bleibt meine Entscheidung, wann es so weit ist."
"Schon gut. Was passiert jetzt?"
"Du bekommst noch einmal Zeit in deinem Bad und etwas zu Essen. Sonst noch Wünsche?"
"Meinst du die Frage ernst?"
"Ja. Ich will wissen, was mit dir los ist und ich bekomme offensichtlich ohne Gegenleistung keine Antwort von dir. Also?"
Ich versuchte trotz Dunkelheit etwas von ihm zu erkennen. Aussichtslos. Nur seinen Atem konnte ich hören, er war mir näher als zuerst gedacht. Er verhielt sich ruhig und wartete auf meine Antwort, das bedeutete, dass er es wirklich so meinte.
"Ich hab Schmerzen."
"Wo?"
Frustriert lachte ich auf.
"Mein Rücken, meine Handgelenke. An einen Stuhl gefesselt zu sein macht das nicht gerade besser."
"Was genau stellst du dir jetzt vor?"
"Mehr Bewegungsfreiheit. Mensch, ich bin in meiner eigenen Wohnung und darf nicht das Geringste tun. Glaub mir, ich würde nicht weglaufen. Außerdem weiß ich, dass die Ausgänge gesichert sind."
"Du willst die gleichen Verhältnisse wie wir? Das kann ich nicht zulassen. Aber meinetwegen kannst du den ganzen Raum haben, ohne gefesselt zu sein."
"Was willst du jetzt im Gegenzug?"
"Du bekommst mehr Freiheiten wenn du mir alles beantwortest, was ich wissen will."
Mein Kopf tat schon weh. Er könnte jedes noch so kleines Detail aus meinem Leben erfahren. Wie er selbst schon gesagt hat, jede Information kann mehr bedeuten, als man auf den ersten Blick annehmen würde.
"Du hast doch auch so schon die Antworten bekommen, die du wolltest. Ich hab nie was verschwiegen."
"Ich geb's ja zu. Die Fragen könnten unangenehm werden und wenn du schweigst, fände ich das sehr hmmm...schade."
"Ab wann gilt der Kompromiss?"
"Jetzt?"
"Kann ich zuerst ins Bad und mir danach noch was zu essen holen?"
"Meinetwegen."

So beugte er sich zu mir runter und band die Fesseln auf. Er half mir vom Stuhl und zog mich nach oben. Gestützt auf seine Arme ging ich in Richtung Tür, auf halber Strecke ließ er mich aber los und drehte mir den Rücken zu. Ich durfte ihn immer noch nicht sehen und von außen kam Licht. Seufzend drückte ich die Klinke und hielt mich am Türrahmen fest. Das Zeug in meinem Wasser störte mein Gleichgewicht ein bisschen. Mit einer Hand an der Wand abgestützt, kämpfte ich mich zum Bad vor und mit jedem Schritt bekam ich wieder mehr Kraft. Anstrengend war der Weg trotzdem und ich atmete erleichtert aus, als das Wasser in der Dusche auf mich niederprasselte.

Die Abkühlung tat gut und mit erfrischtem Gefühl stieg ich wieder aus der Kabine und griff nach meinem Handtuch. Ich wickelte mich darin ein und ging an das kleine Waschbecken. Aus dem hängenden Spiegelschrank nahm ich mir meine Zahnbürste und befreite meinen Mund von dem bitteren Geschmack. Mit viel Anstrengung schaffte ich es, meine Haare zu entknoten und ich band sie mir danach zu einem Knoten im Nacken zusammen. Meine blasse Haut und die dunklen Augenringe überdeckte ich mit ein bisschen Make-up, dann sah ich an mir herab. Mein Magen knurrte auffordernd, doch nur mit Handtuch bekleidet, brachte mich nichts durch die Tür zu den Männern da draußen. Reichlich spät entdeckte ich den Stapel mit frischer Kleidung in der Ecke und stieß ein erleichtertes Seufzen aus. Auch wenn ich etwas beunruhigt war, dass die Verbrecher offenbar meine Schränke durchwühlt hatten, war ich dankbar in diesem Moment. Meine Wohnung durchsucht hätten sie so bestimmt auch. Ich besaß nur nicht sonderlich viele persönliche Gegenstände. Keine Bilder mit Freunden, keine Papiere. Nur Kleidung, Möbel und etwas zu essen im Kühlschrank. Vielleicht war ihnen genau das aufgefallen, vielleicht war es ihnen egal. Ich beschloss nur, es auf sich beruhen zu lassen und dem Thema so weit wie möglich aus dem Weg zu gehen.
Der Pulli war mir etwas zu groß und genau das liebte ich an ihm. Er umspielte meine rundliche Figur perfekt und die Jogginghose war das beste, was die Jungs mir anbieten konnten. So fühlte ich mich wohl. Mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen trat ich also meinen Mördern gegenüber.

Matthew und Julian drehten sich um, als sie meine Schritte bemerkten und Julian zog misstrauisch eine Augenbraue nach oben.
"Warum siehst du glücklich aus?"
"Harvey hat schon wieder einen Kompromiss mit ihr geschlossen."
"Ach ja? Was wollte die kleine Schlampe diesmal? Noch mehr Sex?"
"Wir dürfen sie nicht mehr fesseln."
"Bitte was? Nicht zu fassen! Sollen wir auch noch einen Kaffeeklatsch mit ihr abhalten? Sie ist eine Geisel, keine Freundin."
"Harvey weiß schon, was er tut. Er..."
"Da wär ich mir nicht mehr so sicher! Er scheint den Verstand zu verlieren, wenn er sich auf so was einlässt."
Ich stand stumm daneben, doch da verspürte ich den Drang, Harvey in ein besseres Licht zu rücken.
"Ihr kennt die Gegenleistung nicht."
"Dann verrat sie uns doch meine Kleine."
"Ich bin nicht deine Kleine!"
"Stimmt ja. MIR gehörst du nicht."
Julian lachte hinterhältig. Seine Anspielungen gingen mir wirklich auf die Nerven. Die Tränen waren versiegt, ich hatte wieder Mut und das zeigte ich ganz deutlich. Die Ohrfeige, die ich dem Verbrecher gab, bereute ich allerdings ziemlich schnell. Man konnte in seinen Augen förmlich ablesen, wie er seine Selbstkontrolle verlor. Bedrohlich kam er auf mich zu, wie eine Schlange, die ihre Beute in den Bann zieht. Rückwärts wich ich von ihm weg und drängte mich an der Wand entlang zur Tür. Dabei ließ ich ihn nicht aus den Augen, doch ich hätte lieber auf Matthew achten sollen. Er packte mich von hinten und hielt mich fest, während mich Julian fest ins Gesicht zurück schlug und mir in den Bauch boxte. Ich keuchte vor Schmerzen auf und krümmte mich zusammen. Matt ließ mich los und ohne ein Wort gingen beide Männer aus der Küche. Das Licht schalteten sie aus.

"Was hast du dir dabei gedacht?"
"Ich glaube nicht, dass mein Verstand im Moment noch funktioniert."
"Du lebst mit drei Schwerverbrechern zusammen. Wenn auch nicht freiwillig."
"Das mein ich nicht mal. Ich rede von meinen Erinnerungen. Ich kann dir nicht sagen, was ich träume und das ist nicht normal für mich. Kann es sein, dass mich das Zeug im Wasser beeinflusst?"
"Die Droge lässt dich nur schlafen, mehr passiert dabei nicht. Die Träume stammen von dir alleine."
Hilflos strich ich mir über mein Gesicht. Die Wange brannte immer noch von Julians Schlag nach.
"Du hast es verdient. Man lehnt sich nicht auf, das solltest du wissen."
"Es war bescheuert, ja, ja ich weiß schon. Willst du als Boss der Truppe hier noch nachlegen oder warum haben die beiden andren dich geholt?"
"Jule muss sich abreagieren und Matthew sollte ihn dabei nicht alleine lassen. Du hast die beiden übrigens schon wieder zusammen geschweißt."
"Ich bin mir nicht sicher, ob ich das gut finden soll."
Harvey lachte. Seine schlechte Laune war offenbar weg. Seine Arme zogen mich nach oben und trugen mich zu einem Stuhl.
"Ganz ehrlich. Es ist echt schwer zu entscheiden, wer von euch der Schlimmste ist. Mal strotzt Julian nur so von Moral und im nächsten Moment hat er Komplexe was das Beweisen seiner Stärke angeht. Matthew wechselt auch ständig seine Seite und von dir brauch ich gar nicht erst anfangen."
"Sie sind alle loyal und gute Freunde. Die besten, wenn es zur Sache geht. Hier eingesperrt zu sein mit den Bullen direkt vor der Tür, statt voran zu kommen, macht sie fertig."
"Lässt es dich etwa kalt?"
"Es ist nur nichts Neues."
"Du liebst es, dich mit der menschlichen Psyche zu befassen oder?"
"Wie meinst du das?"
"Du spielst mit mir. Ich vertraue dieser Seite an dir nicht wirklich. Wo ist der brutale Mann hin, der mich in gut drei Tagen ermorden will?"
"Von wollen kann keine Rede sein."
"Bitte was?"
"Du hast uns doch im Treppenhaus belauscht. Wir ziehen normalerweise keine unschuldigen Leute da mit rein und du bist auch noch ein...guter Mensch. Aber du weißt einfach zu viel."
"Na toll. Ich hab Infos, mit denen ich nicht das Geringste anfangen kann."
"Irgendwie ja schon. Du verarbeitest sie im Schlaf."
"Es macht dir Angst, dass ich deinen Namen erwähnt hab."
"Angst ist übertrieben. Es ist mir nur nicht ganz geheuer. Deshalb will ich dir auch alle Fragen stellen können, die mir einfallen. Deine Vergangenheit könnte mir etwas verraten."
"Willst du mich jetzt analysieren? Wer sagt denn, dass du das richtig machst?"
"Ich hab mal Psychologie studiert. Mehr oder weniger. Außerdem weiß ich, dass Julian dir bereits von meinen 'Talenten' erzählt hat. Also stell dich nicht dumm."
Ich seufzte nur als Antwort. Widersprechen war zwecklos, wenn er sich so nett verhielt. Ob das wohl nur eine Maske war? Eine Taktik, damit ich ihm vertraute? Sie ging verdächtig gut auf, auch wenn ich das nicht wollte. Mit wackligen Knien stand ich von dem Stuhl auf und stieß gegen seine Brust. Er hielt mich fest, damit ich nicht nach hinten fiel und zog mich gewagt nahe an sich heran. Sein Atem verursachte mir eine Gänsehaut.
"Vorsicht."
"Danke. Ehm. Du kannst mich jetzt wieder los lassen."
Er trat einen Schritt zurück und ich richtete meine Kleidung ein bisschen.
"Was willst du essen?"
"Ich bin schon ein großes Mädchen, da kann ich mir auch selber was holen."
"Man wird doch noch hilfsbereit sein dürfen."
"Willst du mich verarschen? Du bist mein Mörder."
"Ach stimmt ja, wie konnte ich das vergessen...Himmel, es tut mir leid, wie das alles hier gelaufen ist. Wolltest du das hören?"
"Nein, denn das macht die Umstände hier nicht besser. Im Gegenteil."
"Wie meinst du das?"
"Spiel nicht mit meinem Vertrauen. Das mit den Kompromissen ist eine gute Sache, aber deshalb sind wir noch lange keine Freunde. Du gehst mit mir um, als würdest du mich mögen und das verwirrt meine Gefühle."
Was sagte ich da bloß? Es verwirrte meine Gefühle? Ich kniff mich selbst in den Arm und hoffte, dass ich aus einem Traum aufwachen konnte. Zu schade. Harvey blieb sprachlos gegenüber von mir stehen. Er versuchte zu verstehen, was ich ihm da gerade gestanden hatte. Offenbar ohne Erfolg, ich tat es ja selbst nicht. Ich lenkte mich ab, indem ich mir ein hartes Brötchen nahm und mir ein Stück davon in den Mund schob. Es schmeckte nicht mehr, aber das war mir egal. Ich wollte etwas zu tun haben, damit ich nicht noch mehr von mir selbst verraten konnte. Hatte ich denn indirekt Gefühle zu ihm erwähnt? Irgendwie ja schon. Oh nein! Das durfte doch nicht wahr sein.
Ich bekam nicht mit, wie Harvey den Raum verließ, doch als auf einmal das Licht über mir anging, schreckte ich hoch. Matthew stand im Türrahmen mit einer Creme in der Hand. Wortlos reichte er sie mir und ich nahm sie dankbar entgegen. Sie linderte den Schmerz um meine Handgelenke ein wenig und verschaffte meiner Haut ein bisschen Kühlung. Ein Seufzen verriet meine Erleichterung und entlockte Matt ein kleines Grinsen.
"Was hast du diesmal angestellt?"
"Wie bitte?"
"Harvey hat sich grad dermaßen aufgeführt und sich mit einem aggressiven Julian angelegt."
Ich schluckte laut. Zu laut. Matthew schöpfte Verdacht und glaubte mir nicht.
"Da war nichts. Er war völlig ruhig, als er gegangen ist."
Auch wenn ich nicht einmal log, so zog er fragend eine Augenbraue nach oben. Ich wich seinem prüfenden Blick aus und das ließ er nicht auf sich sitzen. Mit einem gekonnten Griff unter mein Kinn drehte er mein Gesicht wieder ihm zu.
"Du hast keine Flecken im Gesicht. Zumindest keine von Harvey. Warum lässt er seine Wut lieber an seinem Freund als an seiner mickrigen Geisel aus?"
Mein Herz setzte für einen Moment aus. Die Frage brachte mich aus dem Konzept, denn ich verstand genau so wenig wie der Mann vor mir. Weil ich keine Antwort geben konnte, wurde Matthew sauer und beschimpfe mich weiter.
"Was auch immer du für ein Spiel spielst, lass es! Das ist nicht komisch und wird es auch nie sein. Wir sind stärker als du und wir werden verhindern, dass du einen Keil zwischen uns treibst. Spätestens wenn dein armseliges Leben beendet ist, kehrt wieder Normalität bei uns ein."
"Normalität? Wie kann ein Schwerverbrecher wie du von Normalität sprechen? Ist es eure Routine zu morden? Macht es etwa Spaß?"
Er spuckte mir ins Gesicht und ich wich erschrocken zurück so weit es ging. Angewidert sah ich Matt an. So ein Verhalten war ich von ihm nicht gewohnt. Es war, als hätten die Jungs in der Truppe mal spontan die Rollen getauscht, um meinen Willen zu brechen. Um mich unschädlich zu machen. Wenn man nicht einschätzen kann, auf wen man sich verlassen kann, dann ist das Leben als Geisel wohl nicht so einfach. Über meine eigenen Gedanken schüttelte ich den Kopf. Als ob mein Leben jemals einfach gewesen wäre.
Ich entwand mich dem Griff um mein Kinn, schnappte mir einen überreifen Apfel aus der Schale und ging in das Wohnzimmer. Ich konnte noch hören, wie der Schlüssel umgedreht wurde und dann übermannte mich ein Schwindelgefühl.

Tag fünf




An der Wand hing ein halbes Plakat, die rechte Ecke war bereits abgerissen. Meine Augen konnten den Schriftzug nicht entziffern, dafür war es noch zu dunkel. Der Morgen brach gerade erst an und die Stille im Haus war beinahe erdrückend. Jeder Mucks wäre aufgefallen, deshalb traute ich mich auch nicht, zum Lichtschalter zu gehen. Wie jeden Morgen wartete ich, bis das Tageslicht die anderen Kinder weckte und ich mich bewegen konnte. Bloß nicht auffallen. Anders konnte ich diesem Horror nicht entkommen. Wie auf Kommando ging draußen das Licht an und schwere Schritte auf der Holztreppe schleppten sich in meine Richtung. Mein Puls schoss in die Höhe und mit verkrampften Griff drückte ich meinen Teddy an mich. Es war kindisch mit zwölf Jahren, doch er war mein einziger Freund. Durch den Spalt unter der Tür sah ich den Schatten des Mannes. Ich konnte mir genau vorstellen, wie er vor dem Holz stand, die eine Hand an der Klinke, in der anderen hielt er bestimmt seinen Hosenbund umfasst. Ich drängte mich so weit wie möglich zurück, als ob das etwas geholfen hätte. Leise wimmerte ich vor Angst, doch ich war ihm schutzlos ausgeliefert. Die Tür knarrte, als sie aufgestoßen wurde und der Luftzug wirbelte den Staub auf. Er brachte einen widerwärtigen Geruch mit sich und ich würgte kurz. Der Reflex befreite mich aus meiner Starre und ich ergriff die Flucht. Zum ersten Mal versuchte ich mich von den Schlägen des Mannes zu befreien. Er machte einen Ausfallschritt und kam wütend auf mich zu. Seine Hände erwischten den Ärmel meines kaputten Sweatshirts, doch ich zog es schnell genug aus. Die Lücke zwischen seinen Beinen nutzte ich aus, um die Tür zu erreichen. Der Mann schnaubte entsetzt und rief nach Verstärkung. Das wunderte mich. Ich hatte ihn noch nie einen Ton von sich geben hören. Immerhin sollte er den anderen Kindern im Waisenhaus nicht begegnen. Er war ein Eindringling. Von seinem Schrei alarmiert, kam die alte Frau auch noch die Treppe hinunter gestiegen. Ein Adrenalinschub ließ mich aber nicht aufgeben. Mit viel Glück entkam ich auch ihren Händen und rannte weiter. Nach oben, zu der Tür. Verzweifelt rüttelte ich an ihr, doch sie war versperrt. Nicht einen Gedanken verschwendete ich daran, mich einfangen zu lassen. Ich war so weit gekommen und wollte das nicht umsonst auf mich genommen haben. Ich griff nach dem Tischchen in der Eingangshalle und schlug eine Fensterscheibe ein. Etwas unbeholfen stieg ich über die Scherben hinweg und rannte weiter. Ohne einen Blick zurück immer weiter auf den Wald zu.



"Wieso hält sie nicht still?"
"Ein Alptraum."
"Das seh' ich selbst, aber es ist doch nicht normal! Sie schlägt um sich und schreit im Schlaf, kann sich aber trotzdem nicht erinnern? Seid ihr sicher, dass das Zeug keine Halluzinationen auslöst?"
"Heute hat sie nichts bekommen, also ja. Ich bin mir sicher. Da ist etwas anderes ganz tief in ihrem Unterbewusstsein verborgen. Unser Auftauchen ist an ihrem Verhalten wahrscheinlich nicht ganz unschuldig. Oder sie hatte das schon immer, nur hat es keiner gemerkt. Wie soll sie denn von einer Schlafstörung erfahren, wenn sie sich selbst nicht daran erinnert?"
"Heftig. Aber was jetzt? Sollen wir sie schlafen lassen?"
"Ich will wissen, was in ihr vor sich geht. Man Jule, lass das dreckige Grinsen."
"Komm, wir sind doch nicht blind. Du freust dich auf eure Nacht. Endlich mal wieder etwas menschliches an dir!"
"Schleppst du deshalb alle paar Nächte ne neue Schlampe mit dir rum? Um deine Menschlichkeit nicht zu verlieren?"
"Lass dein Psychogelaber und sei ehrlich. Die Kleine ist ein Schmuckstück und du hast nichts zu verlieren. Der Kompromiss war gut, das muss ich dir lassen."
"Willst du ihn haben?"
"Also erstens wäre das gegen unsere Abmachung und zweitens ist es nicht fair. Abbey wollte dich."
"Du laberst so einen Mist! Wenn du schlecht gelaunt bist und deine Fäuste schwingst, bist du mir so viel lieber."
"Ich hab also Recht."
"Matt? Bring ihn hier raus, bevor ich mich wieder verliere."

Eine Tür wurde zugeknallt, Schritte entfernten sich und verloren sich auf der Treppe. Ich war also mit Harvey alleine. Ich konnte im Schlaf das Gespräch verfolgen, mich selbst aber nicht aus den Krämpfen in meinem Inneren befreien. Mein Herz schlug fest in meiner Brust, es ließ nicht locker. Die Erinnerungen fingen an zu verblassen, mein Traum wurde wieder unscharf. Ich musste so schnell wie möglich Harvey davon erzählen, sonst waren die Qualen wieder sinnlos. Nach und nach erlangte ich wieder die Kontrolle über meinen Körper und meine Lider flackerten. Erleichtert keuchte ich auf und rümpfte die Nase. Was war das für ein Geruch in meiner Wohnung? Ich blickte mich in dem dunklen Raum um und entdeckte Harveys Umrisse am Fenster. Er hatte mir den Rücken zugedreht, aber er wusste, dass ich wach war.
"Was stinkt hier so?"
"Räucherstäbchen. Der Reiz weckt dich aus deinem Traum auf, ohne dass du den Faden verlierst."
"Das ist...woher weißt du so was?"
"Was war in deinem Traum?"
"Ich...ich hatte Angst. Ich bin vor jemanden weggelaufen."
"Wieso?"
"Weiß nicht mehr. Ich kann mich nur nach an die Flucht erinnern und dass ich auf keinen Fall umkehren wollte."
"Wo warst du?"
"Da war ein Haus. Mitten in der Pampa. Und ein Wald. Da bin ich hingelaufen, um mich zu verstecken."
"Aber warum das ganze? Kamen wir vor und du bist wegen uns geflohen?"
"Nein. Nicht dass ich wüsste. Das war anders. So echt und keine Fantasie."
"Eine Erinnerung? Hast du so etwas wirklich erlebt?"
"Das ist viel zu verworren. Kannst du dich an jedem Moment aus deiner Kindheit erinnern?"
"Du warst also noch ein Kind?"
"Möglich. Ich hab mich selbst nicht gesehen. Es war einfach nur eine Szene in meinem Kopf. Ich weiß nicht, was sie zu bedeuten hat."
"Wenn du mir nicht alles sagst, kann ich dir nicht helfen."
"Man kann mir nicht helfen! Das ist ja das Problem! Meine Albträume holen mich immer ein, ohne dass jemand etwas dagegen tun könnte. Erst recht nicht du!"
"Du verschweigst also doch etwas! Du brichst gerade eine Abmachung, falls dir das nicht bewusst ist."
"Wenn ich einmal anfange darüber zu reden, dann werden die Erinnerungen bleiben. Ich bin sie los geworden und das nur mit Mühe. Hol sie nicht wieder zurück!"
Ich flüsterte nur noch und Tränen rannten mir über das Gesicht. Tatsächlich machte plötzlich wieder alles Sinn. Meine Kindheit, meine Vergangenheit holte mich im Schlaf ein. Verdrängte Erinnerungen schoben sich in den Vordergrund. Wenn ich das zuließ, würden sie nicht wieder verschwinden. Jedenfalls nicht in kurzer Zeit und die letzten beiden Tage meines Lebens sollten nicht zerstört werden. Ich wollte meine Ruhe, mehr nicht.
Harvey schwieg. Sein Rücken war mir immer noch zugewandt, er bewegte sich kein Stück. Durch einen Tränenschleier beobachtete ich, wie die Sonne im Fenster aufging. Er schaute, bis sie hoch genug stand. das Zimmer wurde immer heller und Harvey drehte sich zu mir um. Ich sog schwer die Luft ein, starrte in die Augen des Mannes.

Ich fiel in das tiefe blau, das mich aus dem Halbdunkeln anstarrte und meine eigenen Augen fixierte. Zottige blonde Haarsträhnen vielen ihm ins Gesicht und ich hätte sie am liebsten heraus gestrichen. Ich hielt mich aber zurück, denn Harvey hätte es bestimmt falsch verstanden. Er wollte offensichtlich auf die riesige Narbe in seinem Gesicht hinaus. Sie zog sich von der Schläfe bis zu seiner Unterlippe. Die Form war beängstigend. Das konnte kein einfacher Schnitt gewesen sein. Dafür war das Fleisch zu sehr ausgefranst und nicht ordentlich zusammengewachsen. Es wirkte sogar so, als sei die selbe Wunde mehrmals verletzt worden. Seine Mundwinkel zogen sich nach unten, weil ich ihn so lange anstarrte. Mit der Reaktion hatte er offenbar gerechnet. Ich musste entsetzt und angewidert auf ihn gewirkt haben. Doch der Mann lag damit falsch. Besorgt schritt ich auf ihn zu und sah direkt auf in seine Augen.
"Wer hat dir das angetan?"
Verwundert runzelte er die Stirn und kniff die Augen zusammen. Der Frage wich er allerdings trotzdem aus.
"Jeder hat sein Päckchen zu tragen, Mädchen. Das wollte ich dir damit zeigen. Die einen träumen im Schlaf davon, die anderen sehen es bei jedem Blick in den Spiegel."
"Das ist doch etwas ganz anderes."
"Nicht wirklich. Bis auf...du kannst es verbergen. Deine Haut wird nicht entstellt. Geziert von einem Mal, das nie wieder verschwinden wird. Gezeichnet für den Rest des Lebens."
Wie in Trance wanderte meine Hand zu meiner Hüfte und strich an meinem Rücken entlang. Ich hatte sehr wohl mehr Arbeit daran, etwas zu verbergen, als er dachte. Auch ich trug einen Schandfleck mit mir herum, für den ich mich schämte. Keiner außer mir wusste davon. Niemandem wollte ich je davon erzählen. Und doch fühlte ich mich falsch, als ich es in diesem Moment Harvey verschwieg. Ich tröstete mich mit dem Wissen, dass es ihm wahrscheinlich egal sein würde. Was hätte es denn an der Situation geändert? Dann besaß ich eben eine ähnliche Narbe wie er. Da war nichts weiter dabei. Ich konnte ihm noch nicht einmal sagen, wovon sie stammte. Die Träume hatten bis jetzt nur einen Teil meiner Vergangenheit zurück gebracht und darüber war ich wirklich froh. Die Angst vor dem, was mich im Schlaf noch erwarten sollte, war unerträglich. Deshalb wollte ich so lange wie möglich wach bleiben und suchte das Gespräch.
"Hältst du dich deshalb nur im Dunkeln auf?"
"Nicht direkt. Man soll mich nur in Erinnerung behalten, wenn ich das will. Ich möchte nicht von den Falschen erkannt werden. Als mein Opfer solltest du mir ins Gesicht blicken, bevor ich dich ermorde. Ich wollte die Angst in deinen Augen erkennen können. Die Erkenntnis, dass du gegen den vernarbten Verbrecher niemals eine Chance gehabt hättest."
"Und trotzdem zeigst du dich mir."
"Ich hätte nicht gedacht, dass du den Anblick erträgst. Du bist..."
"Was? Was soll ich sein? Schwach? Ich bin eine Frau und deshalb halte ich das nicht aus?"
"...psychisch labil. Das wollte ich sagen. Ich möchte nicht, dass du davon andere Träume bekommst oder ich dich beeinflusse, aber scheinbar ist das eh nicht der Fall."
"Ich habe nicht von dir geträumt. Wie oft denn noch?"
"Mein Name ist gefallen. Und woher willst du das wissen, wenn du dich doch nicht mehr erinnern kannst?"
Ich schwieg. Diese Frage hatte ich mir selbst auch schon gestellt. Wie konnte ich wissen, warum ich an ihn in meinen Träumen dachte? Es waren Träume. Der Spiegel der Seele. Als ob sein Name etwas mit meiner Seele zu tun hätte. Ich senkte den Kopf. Die Erkenntnis traf mich tiefer, als ich wollte. Zu tief, wenn ich ehrlich zu mir war. Ein Konflikt tobte in mir. Sollte ich mich in den Schlaf flüchten, oder mich davor verstecken? Keine der beiden Lösungen war befriedigend, doch die Entscheidung wurde mir abgenommen. Harvey hatte genug von mir und rief nach den andren. Als sich die Tür mit einem Knarren öffnete, wurden wir von Julian und Matthew regelrecht angestarrt. Sie tauschten einen Blick und als Julian wieder in meine Augen schaute, konnte ich pure Wut sehen.

Er schnaubte und kam dann bedrohlich auf mich zu. Ich wollte flüchten, wurde aber zwischen ihm und der Wand in meinem Rücken eingekesselt. Mal wieder umfasste er meine Kehle mit seiner Hand und drückte mein Kinn nach oben. Sogar so weit, dass meine Füße kaum noch den Boden berührten. Er hielt mein gesamtes Gewicht mit nur einem Arm, zeigte aber keine Anzeichen von Schwäche. Nur noch wenig Luft kam in meine Lunge und ich konnte spüren, wie mein Gesicht rot anlief.
"Du kleines Miststück! Was fällt dir ein, Harvey im Licht aufzulauern? Du hast Kompromisse geschlossen und bist dafür auf Bedingungen eingegangen, die du hiermit gebrochen hast."
"Julian."
"Was glaubst du eigentlich, wer du bist? Ein Stück Dreck. Ein Niemand. Ja und jetzt winselst du. Wozu denn? Dein Leben ist nichts wert. Gar nichts. Du..."
"Julian!"
"Du hast es nicht verdient, länger unter uns zu sein. Aber ein schneller Tod würde dir so passen, nicht wahr? Das ich nicht lache! Du wirst leiden. Jetzt wo du dir deine Chancen verbaut hast, muss ich keine Rücksicht mehr nehmen. Ich.."
"JULIAN! Lass. Sie. LOS!"
Das Muskelpaket dachte nicht ein mal im Traum daran, von mir abzulassen. Weil Matt zögerte, musste sich Harvey alleine zwischen uns stellen. Er riss Julian von mir weg und baute sich beschützend vor mir auf. Dankbar versteckte ich mich hinter seinem breiten Rücken und lugte nur leicht über die Schulter während ich mir den Hals rieb. Jeder Atemzug tat weh, doch das rückte in den Hintergrund. Die beiden Männer lieferten sich ein Blickduell, das Matthew und ich kaum verstanden. Erst recht als Harvey nachgab. Ich schluckte.
"Was passiert hier? Wie kann die Kleine euch beide so gegeneinander aufhetzen?"
"Das wüsste ich auch gerne."
Harvey blieb still und Julians Blick bohrte sich in meinen. Erschrocken klammerte ich mich an den Mann vor mir, meine Hände krallten sich in sein Oberteil. Das brachte das Eis zum schmelzen, Harvey taute auf und stieß mich weg. Er flüchtete in mein Badezimmer und ließ mich mit den anderen beiden alleine. Es schepperte und klirrte mehrmals. Er demolierte meine Einrichtung. Geschockt starrte ich in die Richtung, Julian setzte ein selbstgefälliges Lächeln auf. Es erlosch aber sofort, als die Tür sich wieder öffnete. Harvey stürmte zu meiner Kommode und holte eine Tasche heraus. Die gehörte nicht mir, also mussten die Einbrecher sie dort hinein gesteckt haben. Er wühlte hektisch darin herum, ich hatte keine Ahnung, was darin versteckt sein konnte. Meine Aufmerksamkeit huschte zu Matthew, der sich verdächtig bewegt hatte. Auch Julian richtete seine Haltung und ich verstand auch bald den Grund dafür. Ein Klicken ertönte. Harvey hielt eine Waffe in der Hand und hatte sie geladen. Ich schluckte nervös, denn ich konnte nicht einschätzen, was er vor hatte. Als sich der Lauf auf mich richtete, verlor ich das Bewusstsein.

Tag sechs




"Es war nötig. Ich wusste, dass ihre Nerven dem Druck nicht standhalten."
"Hätte es ein Schlag auf den Hinterkopf nicht auch getan?"
"Nein. Dann würde sie vielleicht noch mehr vergessen und das können wir uns nicht leisten."
"Was findest du nur an ihr? Klar, sie sieht nicht schlecht aus, aber sie ist unsere Geisel."
"Darum geht es doch nicht! Ich bin kurz davor, ihr Geheimnis zu lüften."
"Und selbst wenn? Ist doch egal, welchen Schaden die Kleine hat. Nicht unser Problem!"
"Sie träumt von mir. Oder spricht zu zumindest von mir im Schlaf."
"Ist doch egal! Lass ihr doch die Schwärmerei. Schlaf mit ihr und mach sie kalt. So war das abgemacht und das weiß sie. Selbst Schuld, wenn sie dabei für dich schwärmt."
"Du nervst mich! So hab ich das nicht gemeint! Denk doch mal nach! Sie verarbeitet Erinnerungen aus ihrer Kindheit im Schlaf. Mein Name fällt dabei. Es gibt nichts persönliches in ihrer Wohnung. Es ist alles leer. Verdrängte Erinnerungen also, oder doch pure Absicht. Ihr ist etwas passiert, das mehr bedeutet, als ein einfaches Leben ohne Familie und Freunde. Stichwort Waisenhaus?"
"Glaubst du das wirklich?"
"Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Immerhin ist es nicht sehr wahrscheinlich, einem Mitglied der Sekte direkt in die Arme zu laufen."
"Wenn du Recht hast, dann hat sie uns die ganze Zeit über etwas vorgemacht."
"Und genau deshalb will ich alles von ihr wissen. Sie muss reden."
"Aber wie willst du die Drecksschlampe dazu bringen? Anscheinend weiß sie genau, wie sie uns hinters Licht führen kann. Sonst hätte die Nummer nicht so lange gezogen. Ich fass es nicht, dass ich darauf reingefallen bin. Sie war von Anfang an viel zu mutig, um nur ein unschuldiges Mädchen in einer einsamen Wohnung zu sein."
"Meine Rede. Aber...na sieh mal einer an!"

Ich war aufgeflogen. Die ganze Zeit hatte ich gelauscht und versucht, ihre Unterhaltung zu verstehen. Sie hielten mich für ein Mitglied der Sekte? Stichwort Waisenhaus? Ich verstand nicht das Geringste. Ich war zu geschockt, um weg zu laufen. Sie hätten mich so oder so eingeholt. Die Männer stürmten erst auf mich zu, Harvey hielt die anderen beiden aber zurück. Langsam näherte er sich mir und musterte mich eindringlich.
"Dein ständiges Belauschen macht den Eindruck nicht gerade besser. Und wag es erst gar nicht, irgendetwas abzustreiten. Du hast alles mit angehört."
Mit weit aufgerissenen Augen blickte ich dem Blondschopf vor mir entgegen. Sein Mund war zu einem verbitterten Strich verzogen. Ich erkannte etwas in seinem Blick, das die beiden anderen Männer im Raum nicht sehen konnten. Harvey hatte mir seine Narbe gezeigt und jetzt wirkte ich wie eine Verräterin. Ich wollte nicht, dass er so von mir dachte. Ich gehörte keiner Sekte an und ich hatte ihm auch nichts vorgemacht. Aber wie sollte ich den Verbrechern erklären, dass mein Schweigen nichts mit ihrer Vermutung zu tun hatte. Dass ich nur nicht reden wollte, weil mich sonst die Realität wieder einholen könnte. Das klang wie der Gedankengang eines kleinen Kindes und ich wollte mich nicht lächerlich machen. Was war das nur für eine verkorkste Welt. Nichts als eine Witzfigur war ich. In einem Spiel, dessen Regeln ich nicht kannte. Kein Zug vorhersehbar. Dem Kommando gehorchte Julian perfekt. Er platzte vor Stolz, in dem Glauben, mich ertappt zu haben.
"Du hast verloren, Schätzchen. Was auch immer du damit bezwecken wolltest, es ist vorbei. Wir wissen nun, zu wem du wirklich gehörst. Und du weißt, was jetzt kommt. Du kannst dich gleich stellen, oder wir werden Taten sprechen lassen."
Er grinste genüsslich. Ich hielt das nicht mehr aus und sank auf die Knie, erlaubte den Tränen, überzulaufen. Die Männer tauschten verwirrte Blicke. Mehr oder weniger.
"Du hättest dir einfach vorher überlegen müssen, mit wem du dich anlegst."
Erst schüttelte ich nur den Kopf, doch dann wurde mir der Spruch zu viel. Als hätte jemand einen Schalter in mir umgelegt, gewann ich wieder an Stärke. Ich rappelte mich wieder auf und richtete meine Haltung. Mit dem Kopf oben erwiderte ich jeden der drei Blicke auf mir. An Harveys blieb ich am Schluss hängen, was von Julian mit einem ärgerlichen Schnauben und Harvey selbst mit stockendem Atem quittiert wurde.
"Jetzt hört ihr mal mir zu. Ich hab die Nase voll von euren Machtspielchen. Ihr brecht hier bei mir ein und macht mir auch noch Vorwürfe? Wenn ich wirklich ein falsches Spiel vorhätte, wäre die Polizei schon längst hier. Wenn ich wirklich ein Teil dieser mysteriösen Sekte sein sollte, dann würde ich mich nicht mit einfach Kompromissen zufrieden geben. Stichwort Waisenhaus. Keine Ahnung, ob das für euch eine tiefere Bedeutung hat, oder nicht. Ich kann dazu nur sagen, dass ich in einem Waisenhaus aufgewachsen bin. Was ich euch aber auch nicht verschwiegen habe. Zumindest wusste Julian die ganze Zeit bescheid, also braucht er mir auch keinen Vorwurf zu machen. Wozu trefft ihr den Vereinbarungen, wenn ihr nicht darauf vertraut. Mir ist es nicht leicht gefallen, auf euch einzugehen. Aber ich hab es getan. Es ist nicht meine Schuld, dass ihr die Chance nicht nutzt."
Es dauerte, bis ich eine Antwort bekam, die Mörder waren erst sprachlos. Matthew, der die ganze Zeit über geschwiegen hatte, meldete sich zu Wort.
"Du könntest jetzt genau so lügen. Es gibt keinen Grund, dass wir dir vertrauen."
"Wir haben keine Wahl, Matt."
"Natürlich haben wir die."
"Es macht keinen Unterschied mehr. Sie sagt, es ist nichts. Wir können ihr so viele Fragen stellen, wie wir wollen und Antworten verlangen. Aber am Schluss macht es keinen Unterschied mehr. Abbey wird morgen sterben. Ob sie nun etwas mit der Sekte zu tun hat, oder nicht."
So verließen alle drei den Raum und ich blieb alleine zurück. Ganz toll. Jetzt hatte ich meinen letzten Ausweg vermasselt. Mein Todesurteil war unterschrieben. Endgültig. Kein zurück? Das durfte es nicht gewesen sein. Ich folgte den Männern in die Küche, fand dort aber nur Harvey.
"Wo sind die anderen?"
"Weg."
"Wie weg? Wohin?"
"Umso weniger du weißt, desto besser ist es."
"Das ist doch Schwachsinn. Ihr tut so, als ob ich nach einer langen Freundschaft ein starkes Vertrauen gebrochen hätte. Als ob..."
"Und was, wenn es sich so anfühlt?"
"Was? Ich meine...Was?"
"Jule und Matt geht es nicht so, das ist mir klar. Aber ich hab dir wirklich vertraut. Nicht zu glauben, aber das habe ich wirklich. Von dem ersten Moment an, als der Kompromiss geschlossen war. Viel zu lange bin ich blind durch deine Wohnung gelaufen. Viel zu lange habe ich dir zugehört. Wie du geweint hast. Wie du geschrien hast. Und auch wie du geschwiegen hast."
"Stell mir jede Frage, die dir einfällt."
"Warum?"
Ja, warum? Warum wollte ich, dass er ein gutes Bild von mir hatte? Auf die Meinung des eigenen Mörders Wert zu legen, war doch sehr dämlich. Und trotzdem tat ich genau das. Julian war mir egal und Matthew machte mir nichts aus. Aber Harvey löste die verschiedensten Gefühle in mir aus. Da waren Wut, Hass und Enttäuschung. Angst, Schüchternheit, aber auch der Wunsch nach Bestätigung. Es lag mit Sicherheit an seinen Menschenkenntnissen. Er rief alle Selbstzweifel in mir hervor und formte mich. Die Nummer mit dem gebrochenen Vertrauen war auch nur eine neue Masche, um mich auszuliefern. Trotz dem Wissen, ging ich darauf ein. Trotzdem wollte ich ihm die Antworten geben, nach denen er suchte.
"Tu, was du für richtig hältst. Ich habe dein Vertrauen nie gebrochen."
"Erinnerst du dich an deine Träume?"
"Nur teilweise."
"Kannst du sie einordnen?"
"Normalerweise würde ich sagen, dass sie völlig frei sind, aber ich glaube auch, dass das nicht stimmt. Es sind verdrängte Erinnerungen."
"Was gab es denn jemals in deinem Leben zu verdrängen?"
"Wenn ich das wüsste, wäre es nicht aus dem Gedächtnis verschwunden, oder? Ich bin in einem Waisenhaus aufgewachsen. In meiner Kindheit scheint einiges passiert zu sein, das dafür ausreicht."
"Solche Erinnerungen kann man mit bestimmten Mitteln wieder zurückholen. Durch die Tropfen in deinem Wasser zum Beispiel. Das hat mir Matthew vorhin verraten. Du müsstest noch einiges aus den Nächten wissen."
"Ich will das aber nicht mehr wissen. Egal, was du sagst. Es ist meine Entscheidung, was ich aus meiner Vergangenheit erfahren möchte. Es wird schon gute Gründe geben, dass meine Geschichte in Vergessenheit geraten ist."
"Du irrst dich."
"Es ist alleine meine Entscheidung, da kann ich mich nicht irren."
"Das meinte ich nicht. Du irrst dich, was das vergessen angeht. Oft geschieht so etwas nicht freiwillig. Ich weiß, wovon ich da rede. Solange ich dieses Mal im Gesicht mit mir herum trage, werde ich die Bruchstücke aus meinem Leben auch nicht hinter mir lassen können. Egal wie lange es...sagen wir Bekannte von mir...probiert haben."
Vor meinen Augen tauchte mein Spiegelbild auf. Wie ich mich drehte und die Narbe an meiner Rückseite betrachtete. Wieder kam es mir falsch vor, Harvey nichts von ihr zu erzähle. Als ob ich ihn betrügen würde. Aber er fragte nicht nach körperlichen Schäden an mir. Er glaubte selbst nur an ein psychisches Problem, mir trieb er den Gedanken gleichzeitig aus. Er hatte Recht. Es gab viel zu vergessen, aber ob das gut war oder nicht, konnte ich nicht beurteilen. Man kann ja nichts werten, das man nicht mehr kennt. Doch ich sträubte mich weiter dagegen.
"Ich will mich selbst nicht kennen lernen. Davor habe ich viel zu viel Angst. Wer weiß, was mich da erwartet."
"Es könnte dir helfen."
"Ich will aber nicht!"

Wütend erhob ich mich von meinem Stuhl und drehte dem Mann am Tisch den Rücken zu. Er sollte meinen Gesichtsausdruck nicht sehen.
"Und was, wenn nur dadurch meine Fragen beantwortet werden können?"
Er bluffte. Es war ihm egal. So musste es zumindest sein. Ich fiel nicht darauf herein.
"Dann breche ich den Kompromiss. Du kannst mich wieder an einen unbequemen Stuhl fesseln und ich kann bis morgen schweigen so viel ich will. Deine Entscheidung."
Frustriert griff er sich einen Stuhl und schmiss ihn um. Wir lauschten beide, bis das Scheppern der Gläser im Regal wegen der Erschütterung nachließ. Erst dann sah ich Harvey wieder entgegen. Er biss sich auf die Unterlippe und rieb sich mit der rechten Hand die Stirn. Er dachte nach. Noch bevor ich merkte, was ich eigentlich tat, war ich schon auf ihn zu gegangen. Zitternd hob ich meine Hand und berührte mit den Fingerspitzen seine Narbe. Er wich so weit an die Wand zurück, wie es ging, doch ich folgte ihm. Er hätte mich einfach weg stoßen können, das wäre ein leichtes gewesen. Er ließ mich aber doch nahe an sich heran und ich fuhr wie in Trance die vernarbte Haut entlang. Ich stellte die gleiche Frage, als er sie mir zeigte.
"Wer hat dir das angetan?"
Er öffnete die Augen wegen dem besorgten Unterton in meiner Stimme. Verwirrt suchte er in meinen Augen nach verräterischen Anzeichen. Er konnte nichts finden, denn ich meinte es ernst. Ich wollte wirklich wissen, welches Monster zu so etwas fertig gewesen sein konnte. Egal ob mir die Antwort gefallen würde oder nicht.
Harvey schwieg weiterhin und ich ließ seufzend von ihm ab. Schweigend ging ich aus dem Raum in mein Schlafzimmer. Ich nahm mir neue Kleidung aus dem Schrank und machte mich auf den Weg zum Bad. In der Zwischenzeit kamen die beiden anderen wieder in die Wohnung zurück und berichteten ihrem Anführer von den Dingen auf der Straße. Nichts besonderes schien noch los zu sein. Mein Leben war also wirklich bald vorbei, das wurde nun besiegelt. Den Männern stand nun eine sichere Flucht zu und ich war das letzte Hindernis. Ich hörte weg, denn ich hielt den Klang von Harveys abwesender Stimme nicht mehr aus.

Ich lugte erst durch den Spalt, bevor ich mich traute, die Tür ganz aufzustoßen. Leise schlich ich den Flur entlang, ohne wirklichen Grund. Ich war schließlich auf direktem Wege zu den Verbrechern in meiner Wohnung. Diese verstummten sofort, als ich in das Licht der Lampe trat. Drei Augenpaare waren auf mich gerichtet, keiner sprach ein Wort. Ich räusperte mich kurz, um die peinliche Stille zu durchbrechen. Vergeblich. Seufzend drehte ich mich weg und legte meine Hand an den Griff vom Kühlschrank. Die Tür klemmte, aber mit etwas mehr Kraft bekam ich sie auf. Ein modriger Geruch kam mir entgegen und ich konnte nur mit Mühe meinen Würgereiz unterdrücken. Schnell schnappte ich mir die Wasserflasche und knallte die Tür wieder zu. Das Ding musste kaputt sein, denn das Wasser war kein bisschen gekühlt. Nicht der Rede wert. Dann funktionierte mein Kühlschrank eben nicht mehr. Was sollte ich schon tot damit anfangen? Ich starrte die Flasche in meinen Fingern an, war völlig in meinen Gedanken versunken. Eine schwere Hand auf meiner Schulter riss mich in die Realität zurück. Ich erschrak allerdings so sehr, dass ich das Glas auf den Boden fallen ließ. Mit mir war nichts mehr anzufangen. Mein Körper gehorchte mir nicht mehr und ich stand vertrottelt in der Gegend herum. Julian griff meine Beine und warf mich über seine Schulter. Ich sah noch, wie Matthew sich nach den Scherben beugte und Harveys Blick sich in Julians Rücken bohrte. Mit dem stimmte etwas nicht, doch ich hatte keine Möglichkeit zum nachdenken. Jule setzte mich auf meiner Couch ab und warf mir eine Decke zu. Er knipste das Licht aus und knallte die Tür hinter sich ins Schloss. Eingesperrt wurde ich diesmal nicht. Schwärze.


"Du musst der Wahrheit ins Auge sehen. Also sieh mich an, schau in meine Augen."
"Ich will nach Hause."
"Das hier ist dein zu Hause, das weißt du doch, Dummerchen."
"Wo sind meine Eltern?"
"Fort. Vergiss sie. Das spielt keine Rolle. Du bist hier und das reicht. Das alleine ist schon zu viel."
"Ich will nicht sterben."
"Oh das wirst du nicht. Das wäre ja viel zu einfach. Nein. Du wirst bezahlen."
"Aber wofür? Was habe ich getan, dass ich so etwas verdient habe?"
"Du...."



"Abbey! Wach auf, das ist nicht mehr witzig."
Vor Schreck setzte ich mich auf und sah mich verstört im Raum um. Es war fast ganz dunkel, nur der Mond, der durch das Fenster schien, erhellte die Umgebung ein wenig. Vor mir auf dem Boden kniete Harvey mit völlig zerzausten Haaren und den Augen vor Angst weit aufgerissen. Wir atmeten beide gleichzeitig aus und rangen um Luft. Ich berührte mit der rechten Hand sein Gesicht.
"Alles gut. Ich bin wach."
Er nickte und schluckte schwer. Da war nichts mehr von dem Schwerverbrecher in seinen Zügen zu erkennen. Nur pure Verzweiflung und Unsicherheit.
"Wenn du mir jetzt erzählst, du weißt nicht mehr, was du geträumt hast, dann dreh ich durch."
"Da war wieder nicht viel. Eine Frau. Ich wollte zu meinen Eltern nach Hause, doch die waren weg. Aber ich wollte doch unbedingt von der Frau weg. Sie hat mich nicht gelassen. Sie hatte irgend etwas vor."
"Was hatte sie vor?"
"Kann ich nicht sagen. Da war etwas mit Tod. Der Zusammenhang ist weg."
"Weil ich dich so rausgerissen habe wahrscheinlich. Shit, ich hätte es echt besser wissen müssen, aber...egal. Zu spät."
"Nein, nicht egal. Warum hast du mich aufgeweckt? Was war nicht mehr witzig?"
In der Ecke raschelte es und plötzlich wurde es hell. Matthew und Julian waren also auch da und haben den Lichtschalter umgelegt. Mit verschränkten Armen standen sie mir gegenüber und musterten mich ebenfalls besorgt. Sogar Julian nahm die Situation sehr ernst.
"Das war nicht normal. Mädel, mit dir stimmt etwas ganz und gar nicht. Unter anderen Umständen würde ich dir raten, mal zum Arzt zu gehen. Wie kann man denn bitte im Schlaf schreien, ohne sich selbst zu wecken?"
"Was war es denn diesmal?"
"Das Übliche."
Matthew räusperte sich verlegen und Harvey wich meinem Blick aus. Sein Name also. Zum verzweifeln war das. Ich war mir sicher, dass ich nicht von ihm geträumt habe. Warum zum Teufel schrie ich also seinen Namen? Die Frau wurde wohl kaum so genannt und sonst gab es keinen weiteren mehr in meinem Unterbewusstsein.
"Wir dachten echt, du willst uns nur verarschen, aber dann bist du ewig nicht aufgewacht. Fällt dir wirklich nichts weiter ein?"
"Nein."
"Ich glaube nicht, dass du es richtig versuchst."
"Lass sie, Jule. Das ist ihre Sache."
"Jetzt auf einmal? Das ist mir aber neu. Bis vor Kurzem warst du noch genau meiner Meinung."
"Dann hat sich das eben geändert. Was kümmert es dich, ob sie meinen Namen ruft, oder nicht?"
"Wie du meinst. Aber wenn du mir noch mal kommst, von wegen du bist kurz davor, ihr ach so wichtiges Geheimnis zu lüften, bin ich weg."
"Verzieh dich einfach. Du auch, Matt."
"Nein."
"Wie bitte?"
"Julian hat Recht. Er hat es vielleicht nicht so ausgedrückt, aber ich weiß, dass er genau so denkt wie ich. Du wirst schwach. Sie macht dich schwach. Deshalb gehst du."
Harvey kniff seine Augen zusammen und erhob sich ganz langsam. Er machte sich auf den Weg zur Tür, kehrte aber auf halber Strecke um. Vor Matthew baute er sich auf und sah ihn herablassend an.
"Legst du es darauf an?"
Zwischen den beiden stieg die Spannung und Julian stieß einen leisen Fluch aus. Er wollte Harvey von Matt weg stoßen, doch Harvey war schneller. Er traf seinen Komplizen hart an der Schulter und brachte ihn zum stolpern. Sie lieferten sich ein ausgewogenes Duell, das nur schwer zu verfolgen war. Matthew war zunächst wie versteinert, doch bald kam auch in ihn neues Leben. Er riss seine Freunde von der Seite auseinander und bekam deshalb selbst einige der Schläge ab. Es gab keine Seiten mehr. Kein Richtig und kein Falsch. sie kämpften wie die Tiere, nur um zu kämpfen. Der Stärkste sollte gewinnen. Und trotzdem streifte ich die verworrene Decke von den Beinen ab und rappelte mich vom Sofa auf. Ich trat auf sie zu und stellte mich zwischen die Männer. Statt einem Dank für meinen kühlen Kopf, wurde ich dafür bestraft. Nicht von Julian wie zu erwarten, auch nicht von Matthew. Harvey wirbelte mich herum und rammte mich gegen die Wand. Er legte seinen Unterarm unter mein Kinn und drückte meinen Kopf schmerzvoll nach oben. Ich bekam kaum noch Luft. Er ließ mich los, als ich röchelte, doch ich bekam sofort eine Ohrfeige, als ich etwas sagen wollte. Dann drehte er sich von mir weg und stellte sich den anderen beiden wieder gegenüber.
"Mich als schwach zu bezeichnen war schlau, das muss ich dir lassen. Umso mehr bin ich jetzt wieder wie sonst. Ich denke, ihr wisst, was das bedeutet. Wir spielen nach meinen Regeln, kapiert?"
Matthew nickte, von Julian kam nur ein leises Murren. Er hat es genossen, wenigstens für einen Moment über Harvey zu stehen. Das Blatt hatte sich gewendet. Der Anführer der Truppe übernahm das Steuer, da konnte ich noch so viel schreien, wie ich wollte.
"Halt die Klappe! Sonst geht der erste Kompromiss auch noch verloren."
"Was soll das heißen?"
"Fesselt die Kleine wieder an den Stuhl. Letzte Nacht hin oder her. Die verbringt sie so, wie ich es sage und das war's."
Mit einem lauten Knall flog die Tür hinter ihm zu, keine zwei Sekunden später wurde ich auf den harten Holzstuhl gezogen. Die Fesseln um meine Handgelenke und Fußknöchel schnitten in die alten Wunden und ich stieß einen spitzen Schrei aus. Dafür bekam ich erneut eine Ohrfeige. Mit Tränen in den Augen sah ich zu den Einbrechern vor mir hoch. In Matts Augen lag etwas Mitleid, Julian grinste allerdings höhnisch. Er rieb sich sein Gesicht.
"So gefällt er mir besser. Auch wenn der Kinnhaken echt gesessen hat, das muss ich ihm lassen."
"Verpisst euch, alle beide!"
Das Grinsen verschwand und der Mann verkrampfte sich. Er stand kurz vor einem zweiten Wutausbruch. Wer weiß, was passiert wäre, wenn Harvey die anderen nicht zu sich gerufen hätte. Ich schloss die Augen, als das Licht erlosch und der Ausgang verriegelt wurde.

Tag sieben




Die restliche Zeit über passierte nicht viel. In dem wenigen Schlaf, den ich abbekam, träumte ich nichts und laut Matthew blieb ich ruhig. Nur einmal murmelte ich vor mich hin, weckte mich damit aber selbst auf. In dem Moment, als ich die Augen aufschlug, war der Sinn hinter den Worten schon vergessen. Die Männer hatten mich in die Küche verfrachtet. Dort konnten sie mich besser überwachen und hatten gleichzeitig die Straße im Blick. Was die Wache anging, ließen sie nicht locker. Bei dem kleinsten Anzeichen von Polizei in der Nähe, hätte sich ihr Aufenthalt hinausgezögert. Genau so wie mein Leben. Vielleicht auch meine Überlebenschancen. Ich wusste nicht, ob ich das noch so gut finden sollte. Ob die Hoffnung auf die Polizei vor meinem Fenster noch etwas geändert hätte. Es kam keine Sirene. Es kam kein Blaulicht. Und als die Uhr auf der Mikrowelle am Abend um fünf nach sieben stehen blieb, war es vorbei. Mein Leben rann mir durch die Hände und war am Ende angelangt. Matt löste meine Fesseln und Julian reichte mir seine Hand. Er grinste während er mir auf die Beine half. In einem Glas Wasser wurde zum dritten Mal an diesem Tag ein stärkendes Pulver für mich angerührt. Dann führten sie mich meinen Flur entlang und blieben vor meinem Schlafzimmer stehen. Mit so vielem hatte ich gerechnet, damit aber nicht. Ich hätte nicht erwartet, dass der Kompromiss immer noch stand. So war es aber. Ich wurde in Dunkelheit gehüllt, als ich den Raum betrat. Meine Augen mussten sich erst noch an das schlechte Licht gewöhnen. Etwas warmes stand mir gegenüber. Harvey beugte sich in meine Richtung und langte an mir vorbei zum Schlüssel. Er drehte ihn im Schloss und trat dann wieder einen Schritt zurück. Abwehrend hob er die Hände und nickte mir zu. Er wollte, dass ich selbst meine Hände über den Kopf hob. Erst zögerte ich, gehorchte dann aber. Ich stand vor ihm, wie ein kleines Kind und das gefiel mir nicht. Ich war eine erwachsene Frau, die nur etwas wenig Erfahrung hatte. Ein Kloß bildete sich in meinem Hals, doch ich schluckte ihn hinunter, als Harveys Hände mir meinen Pullover über den Kopf zogen. Mein Shirt folgte und ich stand nur noch in BH vor ihm. Selbst bei schlechtem Licht konnte ich das Glänzen in seinen Augen sehen und das Fünkchen Unsicherheit. Er hatte lange nicht mehr richtig mit jemandem geschlafen. So hat es Julian jedenfalls ausgedrückt. Ich nahm meine Arme runter und legte sie auf seine Schultern. Vorsichtig suchte ich seine Nähe, doch er wies mich zurück, als ich mein Gesicht anhob. Sein Zeigefinger lag auf meinem Mund und er schüttelte leicht den Kopf. Seine Stimme klang sogar ein bisschen verbittert.
"Du wolltest einfachen Sex ohne Gefühle. Ein Kuss ist der reine Ausdruck von Zuneigung, also sollten wir das lieber lassen, nicht wahr?"
Ich nickte zustimmend, auch wenn es mir im Inneren doch falsch vorkam. Ich schüttelte den Gedanken weg und schob meine Hand unter sein Hemd. Etwas ungelenk knöpfte ich es auf und strich es ihm vom Oberkörper. Die Muskeln waren steinhart, jede seiner Berührungen löste ein angenehmes Kribbeln in mir aus. Ich konnte es kaum noch erwarten und ließ mich einfach fallen. Seine Erfahrungen führten in der Nacht und ich bereute meinen Kompromiss keine Sekunde.

Beide rangen wir nach Atem und sahen uns in die Augen. Ich brauchte seine Nähe wie noch nichts zuvor und bekam nicht genug. Er rührte sich nicht und ich nutzte die Gelegenheit. Von der Leidenschaft gepackt, griff ich in sein Haar und presste mich noch enger an ihn. Ich schloss die Augen, als sich unsere Lippen berührten, wurde aber viel zu schnell des atemberaubenden Gefühls beraubt. Harvey riss sich ohne ein Wort los und befreite sich aus meiner Umarmung. Er griff nach seiner Boxershort und streifte sie sich über. Dann drehte er mir den Rücken zu und stützte sich mit der einen Hand an meinem Kleiderschrank ab. Auch seine Stirn ruhte auf dem Holz. Eine Verzweifelte Geste, er rang mit sich selbst. In mir sah es ähnlich aus. Ich hätte zu gerne behauptet, dass mir der Kuss nichts bedeutet hatte. Geschweige denn der Sex. Aber so war es leider nicht, ich hätte nur mir selbst etwas vor gemacht. Ich musterte seinen makellosen Rücken und mir schossen Tränen in die Augen. Mein schlechtes Gewissen kam zum Vorschein. Jetzt, wo ich mir Gefühle für meinen Mörder eingestanden hatte, musste ich ihm von meiner Narbe erzählen. Ich konnte es nicht mehr verschweigen und wollte das auch nicht mehr. Das hatte er nicht verdient, denn er ist gerecht geblieben, was den Kompromiss anging. Mit Slip und übergroßem Shirt trat ich auf ihn zu.
"Harvey. Ich muss dir etwas sagen. Ich..."
Er ließ mich nicht ausreden. Stattdessen drehte er sich um und packte meine Hüften. Er hob mich hoch und klemmte mich zwischen seinen eigenen Körper und der Schrankwand ein. Ich musste meine Beine um seine Taille und meine Arme in seinen Nacken legen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. In dieser Position verlor er die Selbstkontrolle und legte seine Lippen auf meine.
Ich befürchtete, dass er mein schlagendes Herz hören konnte, so wild pochte es in mir. Wir fielen übereinander her und merkten nicht, dass Julian an die Tür klopfte. Er wollte etwas wichtiges sagen und klang wütend. Mit einem lauten Knall flog die Tür aus den Angeln. Er hatte sie eingetreten. Erschrocken setzte Harvey mich ab und wich einem Augenkontakt zwischen uns aus. Er hörte gespannt zu, was sein Freund ihm dringendes zu berichten hatte.
"Also hatte ich doch Recht. Sie ist mehr für dich, als eine einfache Geisel mit Vorzügen. Du hättest dich einfach nicht auf diesen verdammten Kompromiss einlassen dürfen, wenn deine Gefühle mit dir durchgehen. Ich sag dir das jetzt als Freund. Du hast die falsche Wahl getroffen. Schau dir das an. Das hab ich unter lockeren Dielen in ihrem Bad gefunden. Diese Schlampe hat uns verarscht. Zum zweiten Mal."
Völlig perplex starrte ich auf die schwarze Tasche, die Julian mir vor die Füße geknallt hatte. Dielen Im Bad. Das musste ich mir ansehen. Ich stürmte von einem Raum zum nächsten und blieb noch in der Türschwelle stehen. Im Boden war ein Loch. Es war leer bis auf ein Plakat. Die rechte Ecke war bereits abgerissen. Meine schwachen Beine konnten mein Gewicht nicht mehr halten und ich sank auf den Boden. Ich blickte nach oben, als Schritte ertönten. Harvey stand vor mir mit entsetztem Blick auf einen unförmigen Gegenstand in seinen Händen.
"Du bist doch eine von ihnen. Du hast zugelassen, dass ich mit dir schlafe. Damit bis du zu weit gegangen. Wir hätten das regeln können. Irgendwie. Du hast es nicht verdient, noch eine Sekunde länger auf der Welt zu sein."
 Er drehte den Gegenstand in seiner Hand und umfasste den Griff davon. Eine verschnörkelte Klinge zeigte auf mich. Es waren Widerhaken befestigt. Ich kroch rückwärts von ihm weg, als er die Waffe auf mich richtete. Als er direkt über mir stand und sich seine Einstichstelle ausgesucht hatte, sah er mir in die Augen. Und da passierte es. Dieser kurze Moment, in dem er zögerte, reichte aus, um meine Erinnerungen zurück zu holen. Einzelne Bruchstücke meiner Vergangenheit tauchten in meinem Kopf auf. Bilder, wie ich als Kind gequält wurde. Im Waisenhaus aufgewachsen, weil meine Mutter mich nicht wollte. Die Wärterin eine alte Frau, die ihre Rache an unschuldigen Kindern ausließ. Ihr Mann, der mit dem grausamen Messer auf die Kinder einstach. Wie ich fliehen konnte, als ich alt genug war. Mit den wenigen Sachen, die ich hatte und dem Messer in der Hand. Das Plakat riss ich von der Wand. Den Teddy schmiss ich in die Tasche. Ich rannte weg. Brach in das Haus hier ein. Verstaute alles im Boden und brach zusammen. Alles war wieder da und brachte mich zum schreien. Das Messer vor meinen Augen. Das Messer, das mich so sehr bestraft hatte, als ich mich nicht wehren konnte. Das Messer. Il Coltello. Der Name der Sekte. Ich stieß ihn angewidert aus. Harvey neigte verwirrt den Kopf. Ich nahm aus dem Augenwinkel war, wie Matthew das Plakat aus dem Boden fischte. >Peace< war die Aufschrift. Das einzige Wort, das mir in der schweren Zeit geholfen hat. Das und mein Teddy. Ich schluchzte.

"Harvey? Ich fürchte, wir haben uns geirrt."

Der Angesprochene drehte sich um und erstarrte. Für ihn gab es nun kein Halten mehr. Er stürmte kurz ins Schlafzimmer und holte die Tasche. Als sie erneut vor mir landete, beugte ich mich darüber. Das linke Ohr meines Teddys spitzte hinaus und ich griff danach. Er war völlig verdreckt, doch er war da. Tränen liefen mir endlos über das Gesicht.

"Wo hast du das Zeug her? Du darfst das nicht haben. Keiner aus der Sekte durfte die Kinder bestehlen."

"Bin...Geflohen...Waisenhaus..."

Ich konnte kaum sprechen und die Worte kamen nur in Bruchstücken. Ich wusste mir nicht anders zu helfen und zog mein Shirt am Rücken nach oben.

"Nein. NEIN! Das ist jetzt nicht wahr."

Die drei Männer starrten mich geschockt an. Harvey ließ das Messer fallen und sank auf die Knie. Angewidert sah er auf seine Hände.

"Ich hätte dich beinahe mit der Waffe getötet, die ich am meisten hasse."

"Du hast die Narbe nicht bemerkt? Ich meine...wenn man miteinander schläft, ist man nackt."

Julian versuchte, die Situation ein bisschen mit schlechtem Humor aufzulockern. Zu meiner Verwunderung lenkte er Harvey damit wirklich ab. Dieser wurde rot und suchte meinen Blick. Eine ernste Entschuldigung lag darin.

"Ich hab mich ablenken lassen."

Die Tränen liefen weiter, doch ich spürte, wie meine Selbstbeherrschung zunahm. Ich atmete tief durch und rappelte mich auf. Das Plakat riss ich Matthew aus der Hand und drückte es an mich, so wie den Teddy. Forschend blickte ich in jedes Gesicht vor mir.

"Ganz toll, dass ihr jetzt wisst, wer ich bin. Ganz toll, dass meine Erinnerungen zurück sind. Aber deshalb ist die Nummer hier für mich nicht erledigt."

Harvey setzte ein Pokerface auf. Die Wärme in seinen Augen verschwand nicht, doch ich ließ mich von meinem Herzschlag nicht beirren. Es war die Aufregung und kein Gefühl, das er in mir auslöste. Das wollte ich zumindest glauben, dazu zwang ich mich selbst.

"Das ist mein Zeug. Wie habt ihr das erkannt?"

"Das Plakat bekommen alle Kinder als Willkommensgeschenk im Waisenhaus. So lange man nett behandelt wird, kann es dort wirklich herzerwärmend zugehen. Aber das müsstest du eigentlich besser wissen als ich."

Matthew hielt die Arme verschränkt und die Haltung aufrecht, doch seine Stimme bebte vor Mitgefühl.

"Wie meinst du das?"

"Ich war nie in deiner Lage. Aber ich weiß, was es bedeutet, dort zu sein. Ich war mal ein Polizist. Ich hab gesehen, was dort abgeht. Ich wurde in die Sekte eingeschleust und war Betreuer in einem Waisenhaus. Keine zehn Pferde bringen mich da noch mal rein."

"Hat es wenigstens etwas gebracht?"

"Wenn ich dir sage, dass die Kollegen geschmiert waren und mich verpfiffen haben, als ich nicht mehr gespurt habe, kannst du dir die Antwort auch denken oder?"

"Und dann?"

"Harvey hat mir da rausgeholfen."

Ich sah von einem zum anderen.

"Harvey, der Held. Ja, das kann ich mir schon denken."

Meine Stimme triefte nur so vor Sarkasmus, Harvey verzog das Gesicht.

"Ich hab mir das nicht ausgesucht. Ich will diese Schweine stoppen, bevor sie noch mehr Kindern so etwas antun. Nicht viele kommen lebend da raus. Du weißt, was ich meine."

"Erzähl mir hier nichts von Moral. Ihr bringt Leute um. Du willst auch mich töten."

"Kein Weg ist durch und durch richtig. Das ist doch klar. Mir auf jeden Fall, seit ich einem Polizisten da raus helfen musste, weil der Staat in die Sekte einbezogen ist. Da braucht kein kleines Mädchen kommen und versuchen, mich von meinem Plan abzuwenden."

"Kleines Mädchen? Das bin ich in deinen Augen? Na dann herzlichen Glückwunsch. Du hast mit einem kleinen Mädchen geschlafen. Du hast es geküsst. Mich geküsst. Erschieß mich doch, wenn ich so wertlos bin. Wenn ich deinem Plan im Weg stehe. Tu das, was du für gerecht hältst."

"Du bist unfair."

Dafür kassierte er eine Ohrfeige von mir. Als er mir wieder in die Augen sah, gleich noch eine. Es tat gut, meine Wut heraus zu lassen. Auch wenn ich nicht verstand, auf wen oder was genau ich so wütend war. Eigentlich hatte er Recht. Ich teilte Harveys Meinung. Frustriert drehte ich mich um. Die Klinge des Messers glänzte und ich griff nach ihr. Leicht fuhr ich die Krümmung nach. Ich widerstand dem Drang, die Waffe zu vernichten und hielt sie Harvey hin. Verwirrt ließ er zu, dass ich seine Hand auf meine legte, die den Griff umfasste. Ich schob mein Shirt wieder nach oben und richtete die Klinge direkt auf meine Narbe.

"Beende es. Mein Leben. Hier und jetzt und dann ist es vorbei. Ihr könnt gehen. Ich stehe nicht mehr zwischen euch."

Ich gab ihm das Messer ganz und sah ihm in die Augen. Zweifelnd sah er mich an, bis Entschlossenheit in seine Gesichtszüge trat. Er nahm das Messer sicher in die Hand, bereit um es zu benutzen. Holte aus und stieß mit voller Kraft zu. Ein seltsames Reißen hallte wider, als die Klinge durch die Tapete Drang und in der Wand stecken blieb.

"Es wäre dumm, dich jetzt zu töten. Du könntest doch noch eine Hilfe sein."

Ich kniff die Augen misstrauisch zusammen. Toller Grund. Ich wurde als Mittel zum Zweck abgestempelt. Aber ich blieb am Leben und konnte mit ein bisschen Hilfe vielleicht noch etwas erreichen. Ein Ziel finden. Das Ziel bewältigen. Tatsächlich hatte ich schon etwas ganz bestimmtes im Sinn. Ich trat auf Julian zu und stellte mich vor ihn. Verwirrt sah er auf mich herunter.

"Bring mir bei, wie man kämpft."

Matthew zog fragend die Augenbrauen nach oben und Harveys Stimmung stand kurz davor zu kippen. Julian ließ sich dadurch aber nicht beirren. Sein Mund verzog sich zu einem Lächeln und er griff nach meinem Oberarm. Für meinen Geschmack zog er mich etwas zu nahe an sich heran, doch ich spielte mit. Dadurch bekam ich, was ich wollte.

"Willkommen im Team meine Hübsche."

 

Dadurch war es besiegelt, ich nahm ihn beim Wort. Harvey hatte nichts zu melden, denn es war meine Entscheidung. Und ich hatte Julian gefragt, nicht ihn. Auch wenn es mir gegen den Strich ging, so stieß ich den Mann von mir weg. Er hätte mich keine zehn Minuten zuvor noch umgebracht, Zögern hin oder her. Er war Schuld, dass ich meine Erinnerungen zurück hatte, die ich liebend gerne in der hintersten Ecke meines Verstandes gelassen hätte. Aber es war vorbei. Ich durfte leben, mein Leben hatte einen Zweck. Rache. Was mich auf dem Weg noch erwarten sollte, konnte ich nicht ahnen. Was es bedeuten sollte, gegen die Sekte zu handeln, wollte mir keiner verraten. Ich nahm es in Kauf, denn ich hatte ja nichts zu verlieren. Ich bereute meine Entscheidung nie, der Entschluss stand fest.

 

 

 

Training


So schnell ich konnte, rannte ich an den Schienen entlang und passte dabei auf, dass ich nicht stolperte. Als die Frau direkt vor mir auftauchte, zögerte ich nicht lange. Die Kugel ging direkt durch ihren Kopf. Ohne einen weiteren Blick, ließ ich sie hinter mir zurück. Mein Anlauf reichte aus, um über den Baumstamm springen zu können. Ich schwankte nicht einmal, als ich auf der anderen Seite wieder auf die Beine kam. Im Gegenteil. Ohne Unterbrechung konnte ich weiter laufen. Mein Ziel war immer näher. Zwanzig Meter entfernt blieb ich stehen und fixierte es mit meinen Augen. Mein Herz raste als ich den Lauf meiner Waffe auf den Mann richtete. Mein Finger drückte den Auslöser durch. Der Schuss hallte in meinem Kopf nach. Es war vorbei. Das Licht ging über mir an.
"Sehr gut. Das war eine neue Bestzeit. Mittlerweile macht es beinahe Spaß, dir bei deiner Runde zuzusehen. Wenn nicht immer das Reparieren der Attrappen wäre."
"Sag mir einfach, dass ich fertig bin und du wirst nicht mehr hinter mir sauber machen müssen."
"Netter Versuch, Kleine."
"Was soll das jetzt heißen? Du hast doch sehr gut gesagt."
"Ja und? Das bedeutet doch nicht, dass du gut genug bist. Das Training geht weiter."
Noch bevor ich selbst protestieren konnte, schritt mir Harvey ins Wort.
"Nein. Das Training ist jetzt beendet. Sie kann kämpfen, sie kann laufen, sie kann sich verteidigen. Sie hat nie gesagt, dass wir aus ihr eine Meisterin machen sollen. Wobei das eh nicht möglich wäre."
Sein Mund verzog sich zu einem grimmigen Lächeln. Unser Blickduell wurde Julian nach einigen zweifelnden Sekunden zu blöd. Er verschwand durch die Hintertür der Halle.
"Ach ja? Was macht mich denn zu einem ach so hoffnungslosen Fall?"
Die Wut kochte immer weiter in mir hoch. Warum antwortete er mir denn nicht? Ich stampfte mit einem Fuß auf und machte auf dem Absatz kehrt.
"Genau das. Du hast nicht einmal den Mumm, dich mir lange gegenüber zu stellen. Du haust ab, weil du ungeduldig wirst. Du forderst viel zu schnell nach Antworten."
"Halt die Klappe. Dein Psychogelaber kannst du dir sonst wo hinschieben."
Kurz bevor ich den Ausgang erreichte, hatte er mich eingeholt. Er hielt mich an der Kapuze meines Pullis fest und zog mich zurück.
"Lass mich los."
"Wie redest du mit mir? Was glaubst du eigentlich, wer du bist?"
Misstrauisch drehte ich mich um und schreckte zurück. Sein sonst so perfektes Pokerface war zu einer wütenden Maske verzerrt. Ich wich so weit wie möglich zurück. Aber wie sollte es auch anders sein, stieß ich mit dem Rücken an die Wand an. Diese Situation kannte ich nur zu gut. Keine Fluchtmöglichkeit. Die Gefahr direkt vor mir. Immer näher. Ich saß in seiner Falle. Ob er das alles nur tat, um mich einzuschüchtern, wusste ich nicht. Ehrlich gesagt dachte ich darüber nicht wirklich nach. Sein Atem streifte mein Gesicht. Sein Gesicht entspannte sich langsam, nur seine Stirn lag noch in Falten. Ihm kam die Situation anscheinend genauso vertraut vor wie mir. Nur dass diesmal nicht die Schrankwand in meinem Rücken war und ich auch etwas anhatte. Während ich ihm in die Augen schaute, verstand ich die Welt nicht mehr. Wieso stritten wir uns eigentlich ständig? Wieso störte mich, dass wir uns dauernd ankeiften? Warum wandte er sich angewidert ab und ließ mich atemlos in der Halle zurück?

"Was ist da nur zwischen euch?"
"Hör auf mir ständig diese Frage zu stellen! Nichts ist da."
"Und warum lungerst du die ganze Zeit bei ihrem Training in der Ecke rum?"
"Weil ich wissen will, wie sie sich schlägt. Wir verlieren viel zu viel Zeit, nur wegen Julian. Ich könnte ihn erwürgen, weil er ihr zugestimmt hat und ihr auch noch hilft."
"Bist du sicher, dass da nicht etwas anderes dahintersteckt?"
"Ich weiß nicht, was du meinst."
"Den Kuss zum Beispiel?"
"Wir hatten einen Kompromiss und den hab ich eingehalten."
"Aber..."
"Nichts aber! Konzentrier dich auf die Arbeit und lass mich mit deinen lächerlichen Theorien in Frieden! Wir haben genug zu tun."

Das war der richtige Moment, um anzuklopfen. Ich hatte genug gehört. Harvey zuckte leicht zusammen, als er mich bemerkte. Während er sich zu mir umdrehte, brachte er seine Mimik allerdings wieder unter Kontrolle. Sein Blick war stechend. Innerlich duckte ich mich vor einem Wutausbruch, doch den bekam zur Abwechslung mal nicht ich ab. Julian, der hinter mir stand, wurde angeschrien.
"Hast du sie noch alle? Du sollst aufpassen, dass sie nicht herumschnüffelt und lässt stattdessen zu, dass sie uns belauscht?"
Bevor Julian auch nur einen Mucks machen konnte, fiel ich dem Boss ins Wort.
"Vielleicht ist er der gleichen Meinung wie ich. Wenn du über mich redest, hab ich auch das Recht zu erfahren, was du so von dir gibst."
"Vergisst du, wo du stehst?"
"Erklär's mir doch."
Er kniff die Augen zusammen, wandte sein Gesicht dabei ab.
"Du weißt es selbst nicht, oder?"
Ohne mir eine konkrete Antwort zu geben, schickte er Matt und Julian mit einem Kopfnicken aus dem Raum. Der Stuhl knackste leicht, als er sich darauf setzte.
"Ich rede mit dir!"
Überrascht von meinem Benehmen, sah er mich an. Seine Stirn legte sich in Falten. Er sah müde aus. Unrasiert, dunkle Ringe unter den Augen. Er beobachtete jeden meiner Schritte, als ich mich auf den Stuhl ihm gegenüber setzte.
"Ich will weg aus der Wohnung."
"Und ich will nicht, dass du mit Julian trainierst."
"Dann haben wir wohl ein Problem."
"Was du nicht sagst."
"Du gehst mir so auf die Nerven."
"Woher nimmst du plötzlich den Mut, so mit mir zu sprechen?"
"Ich hab nichts zu verlieren und du wirst mich nicht töten. Ich versteh zwar nicht, warum, aber du hast es selbst gesagt."
"Deine Erinnerungen könnten nützlich sein. Jede Info könnte uns weiterhelfen."
"Aber ich weiß längst nicht mehr alles. Ich will nicht, dass die ganzen Details zurückkommen. Ich will dagegen ankämpfen. Ich will weg."
"Das geht aber nicht. Ich kann eine so wertvolle Quelle nicht einfach gehen lassen. Du musst mit dem Training aufhören, denn sonst verbannst du deine Erfahrungen."
"Harvey, ich sagte ich will weg von hier. Das ist mein ernst. Ich kann und will keine Rücksicht darauf nehmen, welche Infos ihr braucht."
Entschlossen stand ich auf und wollte aus dem Raum, doch sein Griff hielt mich zurück.
"Was willst du dann?"
"Ich kämpfe. Ich vergesse. Ich kann ein neues Leben anfangen, sobald ich damit abgeschlossen habe."
"Du willst Rache?"
"Nenn es wie du willst."
"Das ist das falsche Motiv."
"Gerade du sprichst von Moral? Das ist doch nicht dein Ernst!"
"Ich habe meine Gründe. Glaub mir, Rache ist nicht, wonach du suchst. Du würdest es nur bereuen, wenn du daraus handelst."
"Ich stehe zu meinen Entscheidungen. Tu nicht so, als würdest du mich kennen. Und jetzt lass mich los."
"Fein. Dann sieh doch zu, wie du damit zurecht kommst."

Ich griff mir meine Tasche von der Kommode und rannte beinahe aus dem Haus. Ich wollte zurück in die Trainingshalle. Wenn ich Glück hatte, würde mir Julian noch ein paar extra Stunden geben. Und wenn nicht, kam ich auch alleine klar. Ich brauchte die Jungs nicht, wie die letzten Jahre auch. Mit großen Schritten bog ich um die Ecke und lief an schäbigen Hauswänden vorbei. Hinter mir brummte ein Auto. Es näherte sich. So unauffällig wie möglich steckte ich mir meine Kopfhörer ins Ohr. Man sollte denken, dass ich nichts mitbekam und ungefährlich war. Ein Verbrecher, der dachte, er wäre ertappt worden, konnte zur Gefahr werden. Die Nummer kannte ich bereits zu gut von meiner Wohnung. Die Musik ließ ich aus, denn ich wollte mitbekommen, was der Fahrer machte. Sirenen ertönten. Zuerst dachte ich, die Verbrecher in dem Wagen hinter mir würden verfolgt werden. Doch dass es keine Verbrecher gab, merkte ich als das Polizeiauto schräg vor mir am Gehweg anhielt.
"Entschuldigen sie, Miss."
Der schlacksige Typ in der grünen Uniform musterte mich. Sein Kollege fixierte meine Tasche, während er mit mir sprach.
"Was haben sie in dieser Gegend zu suchen?"
"Ich wollte ins Fitnessstudio und hab mich verlaufen."
"Ins Fitnessstudio. Um diese Uhrzeit?"
"Ja. Ich hab da ein paar Bekannte."
"Tia ich fürchte, dass sie ihren Bekannten für heute absagen müssen. Steigen sie in den Wagen und wir bringen sie auf die Wache."
"Aber warum denn, ich hab doch nichts gemacht!"
"Sie sind vielleicht eine Zeugin zu einem aktuellen Fall. Eine Befragung auf diesen öffentlichen Straßen wäre allerdings keine gute Idee. Machen sie es uns und sich selbst leichter und beginnen sie bitte keine Diskussion. Es wird nicht lange dauern."

Ohne Motivation nahm ich die letzten Stufen der Treppe und kramte den Wohnungsschlüssel aus meiner Tasche. Das Knarren der Holzdielen war mir viel zu vertraut, ich hasste dieses Geräusch. Ich wollte immer noch weg aus der Wohnung, weg von meinen Erinnerungen. Und trotzdem kehrte ich immer wieder zu den Jungs zurück. Was denn auch sonst? Ich war allein und brauchte Hilfe. Noch genauso unmotiviert wie zuvor schlurfte ich in die Küche, war aber von der Szene, die sich mir bot, völlig überrumpelt. Der Lauf von Julians Waffe war direkt auf mich gerichtet. Harvey hielt ihn mir vor die Nase.
"Ich weiß es."
Hinter mir ertönte ein lauter Knall, doch ich konnte nicht nachsehen, was es war.
"Was weißt du?"
Große Hände griffen meine von hinten und drehten mir die Arme auf den Rücken. Julian hatte mich fest im Griff.
"Was soll das hier? Wollt ihr mich verarschen?"
"Wie viele stehen unten? Zwei? Drei? Zehn?"
"Ich versteh nicht, wovon du redest!"
"Matt ist dir gefolgt, weil ich nicht wollte, dass du abhaust. Du kannst dir wahrscheinlich denken, was er da gesehen hat. Bei deinen Freunden im Auto muss es bequem gewesen sein. Du Miststück hast uns die Bullen aufgehetzt. Dafür wirst du büßen."
Er richtete die Waffe in seiner Hand und fixierte mich als Ziel. Mühselig versuchte ich den Kloß in meiner Kehle zu vergessen und meiner Stimme so viel Eindruck wie möglich zu verleihen.
"Die haben mich festgenommen, weil sie mich befragen wollten. Zu einem Mord in der alten Fabrik. Über euch ist kein einziges Wort gefallen."
Harvey nahm langsam die Waffe runter, festgehalten wurde ich trotzdem weiter. Wieder ein lauter Knall von hinten, dann Schritte. Matthew trat aus Julians Schatten.
"Wir sind alleine. Sonst hätte jemand auf den Lärm reagiert."
"Ich sagte doch, dass ich euch nicht verpfiffen hab. Was hätte ich denn davon?"
"Lass sie los, Jule."
"Könntet ihr mir bitte mal vertrauen? Es hat so viele Gelegenheiten gegeben, in denen ich euch hätte verraten können. Und hab ich's gemacht? Nein."
"Solange du deine Taten mit Rache abwägst, werde ich dir nicht vertrauen."
"Versuchst du gerade, mich zu erpressen?"
"Das war nur eine Feststellung. So wie dein Ausgehverbot."
"Bitte was?"
"Die Bullen könnten dich verfolgt haben oder dir auflauern."
"Könnten sie nicht. Ich hab mich bei einer falschen Adresse aussetzen lassen und dort im Hinterhof eine Stunde gewartet, bis sie weg waren. Die haben nicht den blassesten Schimmer, wer ich eigentlich bin."
"Was sich ändern wird, wenn sie dich ein zweites Mal allein unterwegs aufschnappen. Welches normale Mädchen läuft nachts durch zwielichtige Gassen, ohne etwas im Schilde zu führen?"
"Ich bin kein Kind mehr. Du kannst mir keinen Hausarrest geben!"
"Und ob."

Diese Idioten haben mich doch tatsächlich eingesperrt. Mein ganzes Leben war ich auf mich allein gestellt und jetzt meinten drei dahergelaufene Typen doch tatsächlich, über mich bestimmen zu dürfen. Ich hatte keine Lust, das so hinzunehmen. Aus der untersten Schublade meines Regals kramte ich meinen CD-Player hervor und drehte die Klänge von meiner Lieblingsband voll auf. Ich sang zwar mit, konnte mich selbst allerdings nicht hören. So laut waren Bass, Gitarre und der ganze Rest der Band. Zumindest so lange bis die Tür aufgerissen wurde und ein wütender Harvey auf der Schwelle stand. Er riss mir den Player aus der Hand und schlug ihn gegen die Wand. Schockiert sah ich zu, wie die Überreste in einem Haufen am Boden lagen. Das Gerät wird so schnell kein Geräusch mehr von sich geben.
"Bist du des Wahnsinns?"
"Hallo? Wer hat gerade meine Musik zerstört? Du oder ich?"
"Die Abmachung war, dass du dich ruhig verhältst, um keine Aufmerksamkeit zu erregen."
"Die Gegenleistung war, dass ich mich frei in meiner Wohnung bewegen darf und nicht in mein Schlafzimmer gesperrt werde."
"Das ist..."
"Die Wahrheit?"
"Wie du meinst."
Er drehte sich um und ging zu Tür. Doch anders als erwartet, schloss er sie wieder ab. Ich verstand nicht, was das sollte. Er schloss sich mit mir in das Zimmer und steckte den Schlüssel in seine Hosentasche. Fragend sah ich ihn an.
"Ich pass auf, dass du keinen Lärm machen kannst und hab genauso wenig Bewegungsfreiheit wie du in deiner Wohnung. Das ist doch fair, oder?"
"Nein! Es ist meine Wohnung. Niemand hat dir hier jemals Eintritt erlaubt."
"Genau genommen ist es mittlerweile meine Wohnung."
"Was redest du da?"
"Ich hab die letzte Miete gezahlt und du bist nur wegen mir hier. Nicht weil du hier sein willst."
"Wie konntest du die Miete für mich zahlen? Wir sind uns nicht gerade zum verwechseln ähnlich."
"Ich musste den Vermieter nicht mal anlügen. Ich hab ihm einfach gesagt, warum ich in deiner Wohnung bin und er hat mich ausgelacht. Man kann Leute am besten für dumm verkaufen, wenn man sie nicht anlügen muss."
Er lachte bei der Erinnerung und ich konnte nicht leugnen, dass es auch mich zum lächeln gebracht hätte. Fast.

"Hab ich da eigentlich auch was mitzureden?"
"Der Protest kommt ja reichlich spät. Wir sind schon über eine Stunde zusammen."
"Sag das nicht so."
"Wie sag ich es denn?"
Ich konnte quasi spüren, wie meine Wangen rot wurden. Am liebsten hätte ich die Zeit zurückgedreht und diesen Gedanken niemals ausgesprochen. Es war klar, dass er nicht locker lassen würde, bis ich ihm alles verraten hatte.
"Zusammen sein hast du gesagt. Das klingt wie....wir sind kein Paar."
"Oh"
Es klopfte an der Tür, nachdem Julian theatralisch geseufzt hatte. Matt und Jule waren beide genervt von Harveys Aktion.
"Redet endlich miteinander. Ihr benehmt euch wie zwei verliebte Teenager, die sich nicht trauen, den anderen anzusprechen."
Keiner von uns wagte es, darauf noch etwas zu sagen. Und das war gut so. Je mehr man abstreitet, desto größer die Lüge. Ich wollte mich nicht selbst belügen. Immerhin war weder ich in Harvey verliebt, noch er in mich. Ende.
"Das reicht. So funktioniert das nicht."
Der Mann stand von meinem Bett auf und steckte die Hand in seine Taschen, während er auf dem Weg zur Tür war. Der Schlüssel klapperte im Schloss, als er ihn herumdrehte. Hinter ihm wurde der Ausgang wieder verriegelt.
"Hey! Das darf doch nicht wahr sein! Wolltest du nicht Gerechtigkeit haben?"
"Meine Wohnung, Schätzchen. Vergiss das nicht."
Das war zu viel. Er klaute mir das Dach über dem Kopf, er zerstörte meine Musik und er brachte das Fass zum Überlaufen. Ich schrie mir die Seele aus dem Hals, bis die drei starken Männer vor mir standen und mich mit all ihrer Kraft zum Schweigen bringen wollten. Sie schleiften mich ins Wohnzimmer, banden mich an dem Holzstuhl fest und stopften mir ein Tuch in den Mund. Ich hatte es also schon wieder geschafft, in dieser Lage zu stecken. Trotzdem fühlte ich mich überlegen. Es war total dämlich, denn ich war ja noch eingeschränkter als zuvor. Aber ich hatte meinen Willen durchgesetzt und war nicht weiter im Schlafzimmer gefangen. Welch Errungenschaft.

Back to the limits


"Morgen Dornröschen. Die Pflicht ruft."
Ich blinzelte den drei Männern entgegen. Welche Pflicht? Matthew löste mich vom Stuhl und nahm den Knebel von meinem Mund.
"Was ist hier los?"
"Wir ziehen weiter."
"Weg von der Wohnung?"
Julian nickte. Ein Stein fiel mir vom Herzen und das sah man mir offensichtlich auch an.
"Freu dich mal nicht zu früh. Wir gehen Richtung Westen raus aus der Stadt. Was das heißt, kannst du dir ja denken."
"Kein Training mehr für mich? Bin ich so weit?"
"Ja und nein."
Julian und Matt sahen beide zu Harvey.
"Du willst doch mit uns gegen die Sekte vorgehen, oder?"
"Ja?"
"Und du würdest dein Wohl hinter das der Kinder stellen?"
"Rück schon endlich mit der Sprache raus!"
"Würdest du?"
"Ja verdammt, wenn du mir sagst, was du von mir willst!"
"Wir schleusen dich ein."
"Wie bitte?"
Ich glaubte, mich verhört zu haben. Harvey reichte mir seine Hand und half mir vom Stuhl auf.
"Lasst uns allein."
Wie zwei Hunde ihrem Herrchen gehorchten sie ihm. Harvey folgte ihnen bis zur Tür und schloss sie von innen ab. Dann ging er zum Fenster und machte die Vorhänge zu. Was das sollte, wusste ich nicht. Er schattete uns beide von der Außenwelt ab. Ich konnte nur spärlich erkennen, dass er sich mir zuwandte und mich musterte. Schritte wurden lauter, näherten sich mir. Seine Wärme war zum Greifen nah. Nur mit viel Mühe konnte ich meine Hände davon abhalten, ihn zu berühren.
"Hör mir zu. Von außen können wir nichts unternehmen. Wir brauchen interne Infos, sonst haben wir nichts gegen sie in der Hand. Sie wissen bei jedem von uns, dass wir etwas im Schilde führen. Außer bei dir. Bist du dabei?"
"Wie stellt ihr euch das vor? Ich kann da nicht einfach reinmarschieren und dumme Fragen stellen."
"Natürlich nicht. Du musst ihnen eine Show bieten."
Ich erschauderte.
"Und was, wenn sie mich eben doch kennen? Ich war doch als Kind dort."
"Das werden sie sowieso herausfinden. Oder glaubst du, die lassen jeden einfach so bei sich unterkommen, ohne ihn bis auf die Haut zu begutachten?"
"Meine Narbe."
Meine Stimme klang weinerlicher als ich mich wirklich fühlte. Eigentlich kochte ich vor Wut. Harvey wollte nur noch hören, dass ich helfen würde. Das Schlimmere war allerdings, dass ich tatsächlich so weit ging. Was blieb mir auch anderes übrig?
"Wenn die mich untersuchen...dann kann ich doch keine Waffen mitnehmen."
Ich merkte wie sich Harvey anspannte. Anscheinend hatte er vor dieser Feststellung Angst gehabt.
"Ja. Das ist ein Problem."
Er räusperte sich bevor er weiter sprach.
"Das müssen wir mit den anderen abklären. Immerhin betrifft der Plan uns alle."
"Und warum hast du sie dann aus dem Raum geschickt."
"Ich hatte angenommen, dass du dich gegen unser Vorhaben wehrst und da dachte ich,..."
"Du dachtest, du könntest deine Psychotricks bei mir anwenden?"
Er sah mir in die Augen und schmunzelte über meine grimmige Miene.
"Hat doch funktioniert, oder nicht?"
"Du hast doch nichts tun müssen. Ich hab mich ja nicht gewehrt."
"Ach. Meinst du?"
 Fragend zog ich eine Augenbraue nach oben während er ein paar Schritte zurückging. Der kalte Luftzug, den sein warmer Körper zuvor abgeschattet hatte, erwischte mich nun und ich schauderte. Harvey drehte mir wieder den Rücken zu, als er den Vorhang aufzog und die Tür wieder aufsperrte. 
"Gehen wir mal davon aus, wir wären das ganze Gespräch über im erhellten Raum voneinander entfernt gestanden. Du hättest angefangen zu randalieren, stimmt's?"
Sein selbstgefälliges Grinsen unterstütze die Behauptung noch dazu. Noch ein Wort und ich würde durchdrehen. Harvey sah es mir an. Verdammt, er war gut. Dafür hasste ich ihn noch mehr. Ich weigerte mich, zuzugeben, dass er richtig lag. Trotzdem überbrückte ich den Abstand zwischen uns und drängte ihn an die Wand. Wäre doch gelacht gewesen, wenn ich die Einzige war, mit deren Psyche man ein bisschen spielen konnte. Unbeirrt von seinem stockenden Atem und seiner Körperwärme, die mich wohlig einhüllte, ging ich immer mehr auf ihn zu. So lange, bis zwischen uns noch knapp ein Zentimeter Platz war. Die Handflächen legte ich an die Seiten seines Kopfes, meine Nase striff an seiner Wange entlang. Die Bartstoppeln kitzelten ein bisschen dabei, weshalb ich leise kicherte. Seine Haltung bröckelte langsam, doch ich machte weiter. Bis zum richtigen Moment, in dem sich unsere Lippen näherten. Kurz davor wich ich zurück und ließ ihn verdattert stehen. Seine Augen weiteten sich.
"Was du kannst, kann ich schon lange."
Frech grinste ich ihn an. Er wischte sich mit der Hand über Mund und Kinn - eine nachdenkliche Geste. Den Kopf schüttelte er leicht dabei. Es war, als würde er erst wieder zu sich finden müssen. Da hatte ich wohl mit meiner Taktik ins Schwarze getroffen. Dass ich das Ganze auch aus anderen Gründen wiederholen würde, wiederholen wollte, gestand ich mir selbst nicht ein.
Es klopfte an der Tür. Dann war Matts rote Mähne im Spalt zu sehen.
"Habt ihr's dann bald mal."
"Ja."
"Nein!"
Harveys Antwort erschreckte mich. Er wies Matthew an, wieder zu verschwinden und das machte mich sauer. Es war doch alles geklärt. Ob freiwillig oder nicht, die Männer hätten mich zum Waisenhaus geschleift, um an die Infos zu kommen. Was gab es also noch zu regeln?
"Was soll das?"
Der Blonde versperrte mir den Weg, als ich aus dem Raum wollte.
"So kann es nicht mehr weiter gehen. Wir brauchen einen Kompromiss."
Ich seufzte. Nicht schon wieder.
"Wozu denn? Du weißt doch, dass es nicht gerade zu meinen Stärken zählt, mich an die Abmachung zu halten."
"Wahrscheinlich kommt es nur auf die Gegenleistung an."
"Was meinst du damit?"
"Als es darum ging, leise für Sex zu sein, hat doch alles geklappt wie am Schnürchen."
Er wandte sich ab und ließ mich seine Worte verdauen.
"Hast du mich gerade als Schlampe bezeichnet?"
"Du bist eine Frau. Das reicht schon."
Fassungslos ging ich auf ihn zu, packte seinen Arm und zwang ihn, mir in die Augen zu sehen. Sein Blick blieb gelassen.
"Was willst du?"
"Du bekommst noch eine Nacht mit mir."
"Damit hab ich schon gerechnet, aber was soll die Gegenleistung sein?"
"Jedes noch so kleine Detail, auf das du im Haus stößt, lieferst du uns ab. Du strengst dich an, während du da drin bist. Nimm es nicht auf die leichte Schulter. Es wird gefährlich."
Gefühl trat in seine Stimme. Machte er sich etwa Sorgen? Um mich? Kopfschüttelnd verwarf ich den Gedanken wieder. Er war wegen dem Plan besorgt. Nichts weiter. Ich war schließlich nur Mittel zum Zweck.
"Abbey. Die anderen warten. Was kann ich ihnen sagen?"
"Dass ich freiwillig mitmache und nicht, weil ihr mich zwingt."
"Sonst noch was?"
Er meinte die Gegenleistung des Kompromisses.
"Den Rest werden sie erfahren, wenn es so weit ist."

Er nickte mir zu und hielt mir, ganz wie ein Gentleman, die Tür auf.
"Na endlich."
Julian stand seufzend an der Wand gelehnt und sah zwischen Harvey und mir hin und her. Auch Matthew bedachte uns mit abschätzenden Blicken. Der letzte davon blieb an seinem Boss hängen.
"Können wir weitermachen?"
Harvey zeigte zu den Stühlen am Küchentisch und wir setzten uns. Ich sah zu, wie Matthew unter seinem Platz eine Schachtel hervorzog. Julian kam zum Tisch und nahm sich zwei schwarze kleine Kästchen aus dem Karton. Ich brauchte kurz, bis ich verstanden hatte, was er da in den Händen hielt. Eines davon warf er mir zu, das andere behielt er selbst. Funkgeräte. Ich drehte es zwischen meinen Fingern, ohne wirklich zu wissen, was ich damit sollte. Fragend sah ich den Muskelprotz an.
"Das darf ich doch nicht mitnehmen. Sie würden es finden."
"Matt wird es nehmen, solange wir aufgeteilt sind. Er wird dich zum Haus begleiten und dafür sorgen, dass du überhaupt ankommst. Sobald du drinnen bist, wird er es an einer Stelle deponieren, die wir vereinbart haben. Dann kannst du uns erreichen, wenn etwas schief läuft."
"Aber wenn etwas schief läuft, solange ich noch im Haus bin? Wie könnt ihr mir da helfen?"
Ich rechnete nicht mit einer Antwort, denn die Frage war rhetorisch gemeint. Wenn ich nicht raus kam, saß ich fest. Sie konnten mir nicht helfen. Zu meinem Verwundern, hatten sich die Jungs das aber besser überlegt als angenommen.
"Siehst du das hier?"
Ohne die Augen zusammenzukneifen, hätte ich den Gegenstand nicht erkannt. Harvey hielt einen winzigen Knopf in der Hand.
"Was soll ich damit?"
"Das ist ein Mikrophon. Der Empfänger ist bei uns."
"Ein Mikrophon geformt wie ein Knopf?"
"Ich hoffe, du kannst nähen. Um in das Haus zu kommen, kannst du den Knopf deiner Jeans austauschen. Wir bezweifeln aber, dass du deine eigene Kleidung behalten darfst. Du wirst wieder umplanen müssen."
Nickend gab ich zu verstehen, dass das klar war. Sie konnten also hören, was bei mir so abging.
"Das sind alle Hilfsmittel, oder?"
Alle drei stimmten zu. Sie wussten, was ich mit der Frage meinte. Während ich im Haus war, konnten sie mir keinen Rat mehr geben. Wenn sich die Tür hinter mir verschlossen hatte, ging es los. Dann war ich auf mich allein gestellt.
"Und was dann? Was ist meine Aufgabe?"
"Bei der erstbesten Gelegenheit solltest du dich mit allen Ecken des Hauses vertraut machen. Wo die Ausgänge sind zum Beispiel. Und was bei einer schnellen Flucht eher eine Sackgasse bietet als einen Ausweg. Noch besser ist es, wenn du irgendwelche Geheimwege findest. Wir wollen ja nicht, dass dich die Leute dort in der Nacht überraschen."
Ich schluckte schwer. Geheimwege hatten an sich, dass sie schwer zu finden waren. Sonst wären sie ja nicht geheim.
"Du musst die Bewohner davon überzeugen, dass du ein Mitglied von Il Coltello werden willst."
"Und wie?"
Julian griff erneut in die Schachtel. Dieses Mal zog er das Poster hervor, dem eine Ecke fehlte.
"Das ist nicht nur ein Willkommensgeschenk der Sekte an die neuen Kinder. Es ist auch ein Ticket, wenn man zurück kommen will. Die Narbe ist die Signatur."
"Kann mir jemand von euch bitte sagen, was das Ziel der Sekte ist?"
"Finde es heraus. Bringe die Mitglieder dazu, dir alles zu sagen. Wir werden es aufzeichnen, damit wir es vor Gericht zeigen können. Am bestens ist es, wenn du dich selbst als psychisch labil präsentierst. Führe Selbstgespräche, sobald du etwas entdeckst, das dir komisch vorkommt. Wir müssen wissen, was sich vor deinen Augen abspielt."
"Und Abbey?"
Mein Blick wanderte von Julian zu Harvey.
"Sei vorsichtig und vertraue keinem. Auch nicht den Kindern. Jeder, der dein Geheimnis kennt wird entweder unnötig in Gefahr gebracht, oder bringt dich in Gefahr. Oder beides."
Wieder nickte ich. Was blieb mir auch anderes übrig? Sie hatten schon alles durchdacht und ich musste nur noch eingeweiht werden.
"Wann geht es los?"
"Morgen früh um drei. Dann seid ihr pünktlich zum Morgengrauen am Haus und du hast genug Zeit, dich bei Tageslicht umzusehen. Oder möchtest du im Dunkeln umher irren?"
Hysterisch lachte ich auf.
"Sicher nicht."
"Das dachte ich mir."

Julian erhob sich und bat Matt, ihm zu helfen. Er wollte in die Halle und die Trainingsanlage dicht machen. Wir würden sie nicht mehr brauchen. Während die beiden unterwegs waren, packten Harvey und ich das Nötigste aus meiner Wohnung zusammen. Da wir in verschiedenen Zimmern beschäftigt waren, sprachen wir nicht miteinander. Das sorgte dafür, dass ich nachdachte. Mein Leben hatte wieder einen Sinn. Ich konnte etwas gegen meine Peiniger tun. Ob in dem Haus noch immer die gleichen Leute lebten, wie zu meiner Zeit? Eigentlich konnte ich mir nicht vorstellen, dass es viele Menschen übers Herz brachten, unschuldige Kinder zu verstümmeln. Und doch scheint die Sekte viele Anhänger zu haben, die sich sogar bis in die Polizei streckten. Hatte ich da überhaupt eine Chance? Wenn nicht einmal drei starke Männer etwas ausrichten konnten. Ich fühlte mich schwach. Schwindelgefühl überkam mich. Bevor ich das Bewusstsein ganz verloren hatte, stieß ich noch einen Namen hervor.

Sein Duft hüllte mich ein als er mich auf seine Arme hob. Es wackelte während ich getragen wurde. Nicht lange und ich spürte einen harten Untergrund, auf dem ich abgesetzt wurde. Vorsichtig öffnete ich die Augen. Harvey hatte mich am Küchentisch abgesetzt und musterte mich. Die Abendsonne beleuchtete nur die vernarbte Seite seines Gesichts. Zitternd streckte ich die Finger nach ihm aus und berührte sanft seine Haut. Die Nase, die Narbe, sein Kinn, seine Lippen. Dann zog ich meine Hand wieder zurück. Die ganze Zeit über rührte er sich nicht. Auch die Luft hatte er angehalten. Als er sich erhob, atmete er langsam aus und ging zur Spüle. Dort füllte er ein großes Glas mit Wasser und brachte es mir. Dankbar bekam er ein Lächeln zurück, bevor ich die Flüssigkeit meine Kehle hinabschüttete. Wir wiederholten die Prozedur. Dann gab er mir etwas zu essen. Erst nach dem zehnten Löffel Suppe fiel mir etwas auf.
"Das ist ja warm."
Harvey lachte.
"Als du noch im Schlafzimmer beschäftigt warst, hab ich mich um das Essen gekümmert. Du hast meinen Namen schneller gerufen, als ich deinen rufen konnte. Mit Unterzucker ist nicht zu spaßen. Erst recht nicht in einer Stresssituation."
"Bist du auch noch Arzt?"
"Psychologen sind auch Ärzte."
Ich zuckte mit den Schultern und löffelte weiter meine Suppe. Sie schmeckte wirklich gut. Enttäuschender Anblick, als mein Teller leer war. Genauso wie beim Wasserglas, füllte Harvey nach ohne zu fragen. Scheu sah ich auf die Mahlzeit herab. Er schmunzelte.
"Iss. Du musst wieder zu Kräften kommen."
Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Auch wenn es sich komisch anfühlte, dabei so beobachtet zu werden. Als ich fertig war, nahm Harvey mir den Teller ab und stellte ihn neben das Spülbecken. Derweil stand ich auf und ging zu ihm. Bevor ich etwas sagen konnte, hatte er schon das Wort ergriffen.
"Ich stehe in deiner Schuld."
"Wieso solltest du?"
"Hast du den Kompromiss etwa schon vergessen?"
"Aber ich kann dir noch keine Infos verschaffen. Dann bist du mir nichts schuldig."
"Es war nie abgemacht, wer seinen Teil der Abmachung zuerst einlöst. Und du willst nicht, dass die anderen Bescheid wissen. Die werden sicher noch zwei Stunden unterwegs sein."
Seine Stimme klang ganz rau. Der warme Atem auf meinem Gesicht benebelte meine Sinne. Das Herz schlug fest in meiner Brust.
"Wie hätten sie es denn gerne? Hart und schnell? Oder doch lieber sinnlich, gefühlsvoll?"
Für die Frage fing er sich eine. Die Ohrfeige brachte ihn zum Lachen.
"War das deine Antwort?"
Ich stieß mit den Händen gegen seine Schultern und drückte ihn von mir weg. Idiot. Einen blöderen Spruch hätte er sich nicht mehr einfallen lassen können. Genervt wandte ich mich von ihm ab und ging aus dem Zimmer. Als er mich festhielt, sträubte ich mich gegen seinen Griff. Er war zu stark.
"Abbey."
Im Unterton seiner Stimme schwang eine Entschuldigung mit. Misstrauisch sah ich ihn an. Zwischen uns war kaum Abstand. Er überbrückte den Rest mit einem Kuss und warf mich damit völlig aus der Bahn. Alles, was ich glaubte zu wissen, löste sich in Luft auf. Es gab nur noch seine Lippen auf meinen. Seine Hände an meiner Taille. Ich erwiderte den Druck auf meinem Mund und ließ zu, dass Harvey mich ins Schlafzimmer schob. Meine Augen blieben geschlossen, als er die Tür hinter sich absperrte. Erst als er wieder direkt vor mir stand und wartete, öffnete ich sie. Sein Blick war warm.
"Die Frage hat sich geklärt."
Vorsichtig nahm er mich wieder in den Arm und ließ seinen Mund an meiner Haut entlang wandern. Als der Kompromiss geschlossen wurde, kam ich mir wirklich vor wie eine Schlampe. Jetzt wusste ich, was ich ohne ihn vermisst hätte. Ich liebte seinen Geruch, ich liebte seine Wärme auf meiner Haut, ich liebte den Klang seiner Stimme und ich wollte mehr. Ich wollte Harvey. Ich liebte Harvey.

Als ich wieder aufwachte, lag ich alleine im Bett. Trotzdem war Harveys Duft zum Greifen nahe und es dauerte nicht lange, bis ich den Auslöser dafür fand. Mein Kopf war auf seinem Shirt gebettet. Ich strich sachte über den Stoff und sog den Geruch weiter in mir auf.
"Alles in Ordnung?"
Harvey stand hinter mir und lachte. Nur vorsichtig wagte ich es, mich zu ihm zu drehen. Immerhin war sein Oberteil bei mir und seine anderen Sachen waren bereits eingepackt. Tatsächlich fiel mir seine nackte Brust ins Auge, genauso wie der Bauch, der von Muskeln geschmückt wurde. Oh oh. Sex war nicht gut für meine Hormone. Jetzt hatte ich sie anscheinend noch weniger unter Kontrolle. Verwirrt von mir selbst schüttelte ich den Kopf.
"Kaffee?"
"Wo hast du denn den her?"
"Hab eine Packung mit löslichem in der hintersten Ecke vom Schrank gefunden."
"Der ist aber nicht von mir. Ich glaube, wir sollten den lieber nicht trinken. Wer weiß, was der Vormieter da rein hat."
Enttäuscht sah der Mann auf seine Tasse herab. Ein Bild für Götter: wie ein kleiner Junge, der sein Eis hat fallen lassen. Fehlten nur noch die Tränen und die zitternde Unterlippe.
Ich lachte über das Bild, das ich mir in meinem Kopf zurechtrückte. Harvey setzte sich neben mich an die Bettkante. Schlagartig verstummte mein Lachen.
"Hier."
Ich hielt ihm sein Shirt vor die Nase und drückte gleichzeitig die Bettdecke gegen meine Brust. Ich war noch immer nackt. Mir schoss die Röte in die Wangen, weil er mich musterte. Als seine Augen meinen standhielten, wandte ich den Blick ab und kaute auf meiner Unterlippe herum.
"Was hast du nur an dir?"
Harvey klang so, als würde er eher zu sich selbst als zu mir sprechen. Trotzdem kam ich mir angesprochen vor und hob das Gesicht an. Er nutzte die Gelegenheit und küsste mich ganz sanft. Keine Leidenschaft steckte hinter dem Kuss, eher eine tiefe Zuneigung, die ich ohne Zweifel erwiderte. Lange vergaßen wir alles um uns herum, doch unsere Zweisamkeit wurde gestört. Matthew und Julian waren zurück. Man konnte die Schritte auf der Treppe hören. Dann klopfte es an der Tür. Fragend sah ich Harvey an. Hatten die beiden denn keinen Schlüssel dabei? Seine Miene zeigte, dass er sich genauso wunderte. Wer stand dann vor der Wohnung?
"Wer...?"
Harvey hielt mir den Mund zu. Langsam erhob er sich und schlich sich in den Flur und dort an der Wand entlang. Leicht zuckte er zusammen, als es noch einmal klopfte. Einen Moment lang achtete ich nicht mehr darauf, was er tat. Stattdessen stand ich ebenfalls auf und zog mir etwas an. Auf Zehenspitzen tippelte ich in den Gang. Harvey hatte sich seine Waffe gegriffen und war schussbereit. Der Blick durch den Türspion genügte, er atmete erleichtert aus und senkte die Pistole. Mit einem breiten Grinsen öffnete er die Tür und ließ zwei fremde Männer in die Wohnung. Verängstigt wich ich zurück und beobachtete aus der Ferne, was da vor sich ging. Die Männer kannten sich offenbar, denn Harvey schloss die fremden in eine kurze Umarmung. Der kleine, dicke davon hatte überall Piercings und sprach mit einem merkwürdigen Akzent.
"Harvey. Freut mich, dich mal wieder persönlich zu sehen. Gut zu wissen, dass es dich noch nicht erwischt hat."
Er lachte als Antwort. Der andere Mann war auch klein, aber sehr mager. Sonderlich stark wirkte er daher nicht.
"Die Freude ist auch auf meiner Seite."
Seine Worte waren genau bedacht. Das ließ den Fremden umso kälter und distanzierter wirken, doch genau das schien beabsichtig zu sein.
"Was macht ihr hier?"
"Jule schickt uns. Er meinte, ihr könntet bald ein bisschen Unterstützung brauchen."
"Ehrlich gesagt haben wir im Moment nicht wirklich was zu tun für euch."
"Aber der Boss hat doch..."
"Wie auch immer. Setzt euch da vorne hin. Ich muss noch schnell was erledigen und komme dann zu euch."
"Ach Harvey. Wir haben dein Mädchen schon längst gesehen. Schick sie einfach gleich weg und dann können wir reden."
Mit diesen Worten drehten die Fremden sich um und gingen in die Küche. Harvey folgte ihnen das erste Stück, bleib auf meiner Höhe aber stehen und schob mich ins Schlafzimmer. Er lehnte sich von innen gegen das Holz der Tür, nachdem er sie verschlossen hatte. Ich las seinen Lippen ein Fluch ab.
"Scheiße. Das darf doch nicht wahr sein."
"Was ist hier los?"
"Psst. Nicht so laut."
Er hielt mir den Mund zu und lauschte. Erst als er merkte, wie sich die zwei Männer unterhielten und nicht mehr auf uns achteten, ließ er von mir ab.
"Harvey. Tu mir das nicht an. Es gibt so vieles, das ich jetzt nicht verstehe. Zwing mich nicht, die Fragen für mich zu behalten."
"Das sind Erik und Jordan. Sie sind die...Abfallbeseitigung in dieser Szene. Julian muss sie gerufen haben, als dein Leben noch auf dem Spiel stand. Die werden sich nicht abwimmeln lassen."
"Ach und warum warst du dann erst froh, als du sie gesehen hast?"
"Da hätte sonst wer draußen stehen können. Die Polizei zum Beispiel. Ich war einfach nur erleichtert. Die beiden sind eigentlich schwer in Ordnung, aber sie werden sauer, wenn man ihre Zeit vergeudet. Und wenn es keine Leiche gibt, die sie beiseite schaffen sollen, ist ihre Zeit mehr als vergeudet."
"Sind sie eingeweiht?"
"Nein. Und das werden wir auch nicht ändern. Wenn einer aus falschen Motiven handelt, dann sind es Erik und Jordan. Geld ist alles."
"Dann sag ihnen, dass es keine Leiche gibt und bezahl sie trotzdem. Was ist schon dabei?"
"Wir sind pleite."
"Bitte was?"
"Die neue Wohnung in der Nähe vom Waisenhaus, die Miete für die Trainingshalle und die Ausrüstung, um den neuen Plan zu finanzieren, waren nicht gerade billig."
"Wie viel brauchen wir?"
"Zweihundert. Mindestens."
Ich drehte mich zu meinem Schrank, um das Holz abzutasten. Oben im Spalt der Tür war ein kleines Geldbündel versteckt. Nicht lange dauerte es, bis ich es gefunden hatte. Ich entfernte das Gummiband drum herum und zählte die Scheine. Hundertachtzig Euro.
"Vielleicht bekommen wir einen Mitleidsrabatt."

Unmotiviert streckte ich dem Dicken das Geld entgegen.
"Das ist gerade mal ein bisschen mehr als die Hälfte."
"Seit wann nehmt ihr denn dreihundert dafür? Abgesehen davon, dass ihr euch nicht einmal die Hände schmutzig machen müsst."
"Körperteile lassen sich aber gut vermarkten. Eigentlich müssten wir noch mehr verlangen, wenn ihr uns um den Gewinn bringt."
"Könnt ihr nicht einmal eine Ausnahme machen?"
"Ich will bald vierhundert Euro von euch in der Hand halten. Das hier sehe ich mal als Anzahlung. Enttäusche uns nicht."
So brachen die Männer auf, um die Wohnung zu verlassen. Doch bevor sich die Tür hinter ihnen verschloss, drehte sich der Dicke noch einmal um.
"Ach und Harvey? Pass lieber auf, wie Julian dich zu Gesicht bekommt. Ihr beiden seht aus, als würdet ihr eine gut funktionierende Beziehung führen. Wenn du verstehst, was ich meine."
Dann knallte er die Tür zu. Ich zuckte bei dem Geräusch zusammen.
"Was hat der dauernd mit Julian? Ich dachte, der hätte dir nichts zu sagen?"
"Das war nicht immer so."
Fragend sah ich Harvey entgegen.
"Wir waren beste Freunde, lebten zusammen auf der Straße, nachdem ich aus dem Waisenhaus abgehauen bin. Er hat mich beschützt und mir geholfen, meine Ausbildung zu bezahlen. Er hat mir immer den Rücken freigehalten. Deshalb stand ich in seiner Schuld, doch das war okay. Ich hab getan, was er mir gesagt hat. Bis ich angefangen habe, mein eigenes Ding durchzuziehen. Ich hab Matt ins Boot geholt. Von da an ging alles bergab. Ein Schicksalsschlag nach dem anderen, der Jule aus der Bahn warf. Ich ergriff das Steuer und halte es bis jetzt. Matt kennt es nicht anders und Julian hat viel zu verlieren. Nur deshalb akzeptiert er es."
"Und eure Freundschaft?"
"Die besteht nach wie vor. Nur sind wir keine Brüder mehr. Nur Freunde."
"Was hat Julian denn zu verlieren?"
Ein Räuspern ließ mich verstummen. Matt und Jule waren echt gut im Anschleichen.
"Mehr als dich angeht."
Seine Stimme klang verbittert. Harvey versuchte, vom Thema abzulenken.
"Rate mal, wer uns gerade einen Haufen Schulden hinterlassen hat."
"Nicht im ernst, oder?"
"Jordan und Erik waren da. Nur leider hat unseren Freunden nicht gefallen, dass es keine Leiche gab."
"Schande. Die hatte ich völlig vergessen. Wie viel?"
"Vierhundert. Hundertachtzig haben sie sich schon gekrallt."
"Wo sollen wir jetzt auf die Schnelle so viel Geld herbekommen?"
Ich meldete mich zu Wort, dabei hätte ich es einfach lassen sollen.
"Sie haben keinen Termin genannt. Dann haben wir doch Zeit."
"Umso schlimmer. Sobald wir ihnen über den Weg laufen, müssen wir zahlen. Ob in ein paar Jahren oder übermorgen. Siehst du, wo das Problem ist?"
Ich nickte. Noch nie hatte ich mir Sorgen gemacht, weil es keinen Toten gab. Interessante Wende.
"Was jetzt?"
Alle Blicke lagen auf Harvey.
"Die Taschen sind gepackt, den Schlüssel für die neue Wohnung hab ich bereits. Warum sollten wir uns also selbst wie auf dem Silbertablett präsentieren, indem wir hier bleiben?
Wir zögerten nicht. Innerhalb der nächsten zehn Minuten waren wir aufgebrochen. Die Sirenen der Feuerwehr kamen näher, als wir uns in der dunklen Gasse unterstellten. Als sie in der anderen Richtung leiser wurden, marschierten wir weiter. So ging meine alte Wohnung in Flammen auf. Wen interessierte das auch? Der Besitzer kassierte sogar Geld damit von der Versicherung. Keinem tat es weh, mir tat es gut.


Zwei Stunden später waren wir zu Fuß am anderen Ende der Stadt angekommen. Bin ich als Kind wirklich so weit gelaufen, um vor dem Waisenhaus zu fliehen? Es stellte sich sogar heraus, dass wir noch nicht einmal die halbe Strecke hinter uns hatten. Die neue Wohnung befand sich in einem Haus an der Grenze zu einem der äußersten Vororte. Von außen sah es nicht viel besser aus, als mein altes zu Hause. Von innen genauso wenig. Also würde sich nicht viel verändern, außer dass ich noch näher an meiner Vergangenheit war. Wobei ich mich hier nicht sonderlich lange aufhalten würde.
Erschöpft ließ ich mich auf einen Pappkarton fallen, der im Flur der neuen Wohnung stand. Meine Füße taten weh und ich war einfach nur müde. Die Männer tauschten viel sagende Blicke.
"Was ist? Warum grinst ihr so?"
"Nach dem bisschen laufen schon so kaputt?"
Julian lachte sich ins Fäustchen, doch ehrlich gesagt sahen er und die anderen auch nicht mehr so fitt aus. Sie waren seit Stunden auf den Beinen.
"Gibt es hier ein Bett?"
"Sieh doch selber nach, wenn du so dringend Schlaf brauchst."
"Ganz ruhig. Ich frag ja nur, weil ihr euch vorhin schon mal umgesehen habt, ob alles sicher ist. Ihr solltet euch alle noch ein wenig ausruhen, bevor es zur Sache geht."
Drei Augenpaare musterten mich durchgehend.
"Willst du abhauen, während wir schlafen, oder warum so scheinheilig?"
"Ich bin doch nicht scheinheilig. Ach vergesst es."
Genervt suchte ich in den Zimmern nach einer Schlafmöglichkeit. Vergeblich. Bis auf ein paar einzelne Kisten, einem Waschbecken und einer Toilette waren alle Räume leer. Dann würde ich mich wohl auf den Boden legen müssen. Ich entschied mich für das Zimmer am weitesten von den Jungs entfernt und legte mich auf den Rücken. Wie nicht anders zu erwarten, machte ich kein Auge zu. Das lag bestimmt auch daran, dass ich nach einer halben Stunde gequält aufgab und zu den drei Männern zurückkehrte. Ich ignorierte einfach, dass sie mich auslachten. Ich wusste selber, dass ich wie ein beleidigtes Kind wieder aus meinem Versteck kroch. Dabei hatte ich ganz andere Probleme.
"Wie sieht der Plan jetzt aus?"
"Julian und Matthew bauen das Equipment noch fertig auf und gehen dann schlafen. Du hattest Recht, sie sollten sich ein wenig ausruhen."
"Und was ist mit dir?"
"Ich könnte nicht schlafen. Meine Gedanken lassen mir keine Ruhe."
Ich merkte, dass Matt und Julian sich langsam verdrückten. Ein Gefühl sagte mir, dass das nicht nur daran lag, dass die Anlage fertig war. Sie kamen nicht mit mir und Harvey klar. Bei Jule war ich mir dabei sicher.
Auf der Kiste neben Harvey war noch Platz, also setzte ich mich neben ihn und lehnte meinen Rücken an der bröckelnden Wand an. Unsere Blicke gingen stur geradeaus.
"Warum tust du das?"
"Was meinst du?"
"Warum quälst du dich so sehr wegen dieser Sekte? Du bist doch geflohen, also kannst du sie doch auch hinter dir lassen."
"Ich habe nie gesagt, dass ich damals geflohen bin. Ich bin abgehauen, sobald sie mich gelassen haben."
"Die haben dich einfach so gehen lassen?"
"Jedes Kind darf irgendwann gehen. Wie das entschieden wird, weiß ich nicht. Wenn es so weit ist, muss man sich jedenfalls viele Vorträge anhören. Sie wollten auch mich damals auf ihre Seite ziehen. Ich hab gelächelt und genickt wie ein Feigling und dann hab ich dankend abgelehnt."
"Und warum haben sie mich immer zurückgeholt, wenn ich abhauen wollte?"
"Finde es heraus. Du sollst ja nicht ohne Ziel in das Haus gehen."
"Wird nicht passieren."
"Rache zählt immer noch nicht, Abbey. Das führt nur dazu, dass du unüberlegt handelst."
"Ach? Und welche Motive hast du dann?"
"Ich hatte weder eine glückliche Kindheit, noch die Möglichkeit, meine Vergangenheit zu vergessen so wie du. Solange die Sekte existiert, verfolgen mich die Schreie der Kinder. Ich habe keine Zukunft mehr, meine Narbe brandmarkt mich. Die Kleinen können diesem Schicksal jedoch noch entkommen."
"Ich stehe auf deiner Seite."
Ich ließ meinen Kopf auf seine Schulter sinken, doch er wich sofort zurück. Verdutzt sah er mich an.
"Tut mir leid, ich wollte nicht..."
Harvey hielt mir den Mund zu.
"Da kommt jemand."
Tatsächlich klopfte es kurz darauf an der Tür. Wer wusste denn, dass wir hier waren? Harvey nahm sich seine Waffe aus der Tasche und steckte sie hinten in seinen Hosenbund. Er wollte auf Nummer sicher gehen, bevor er die Tür öffnete.
"Guten Tag. Ich bin der Vermieter. Ich bräuchte noch eine Unterschrift der Mieterin, sonst muss ich sie bitten zu gehen. Wenn sie nicht zu Abbey Wilson gehören, sind sie gesetzeswidrig hier eingedrungen."
"Schon gut. Schatz, hohl doch bitte mal deinen Personalausweis und komm her."
Schatz? Hoffentlich war das nicht zu dick aufgetragen. Der Vermieter kniff die Augen zusammen, als er mich in der Ecke entdeckte. Harvey zeigte auf die Tasche, die vor meinen Füßen lag. Ich bückte mich danach und kramte in den einzelnen Fächern. Natürlich fand ich den Ausweis erst, als ich die Suche beinahe aufgegeben hatte und der Mann vor der Tür schon die Finger über dem Notrufknopf seines Handys hatte.
"Hab ihn. Sag mir doch beim nächsten Mal ein bisschen deutlicher, wohin du ihn gepackt hast."
Vorsichtig ging ich auf die Wohnungstür zu und reichte dem Vermieter meinen Ausweis. Mit einer kleinen Taschenlampe leuchtete er erst darauf, dann hielt er sie mir direkt ins Gesicht, um das Foto mit mir zu vergleichen.
"Die kurzen Haare standen ihnen eindeutig besser, Miss."
Er ließ den Blick über meinen Körper wandern. Ich unterdrückte ein Schaudern. Sein Grinsen entblößte widerliche Zähne, die nur vereinzelt in seinem Mund steckten. Besitzergreifend schlang Harvey einen Arm um mich, wofür ich wirklich dankbar war. Der fremde Mann gab mir den Ausweis zurück und forderte noch eine Unterschrift von mir auf dem Vertrag.
"Wir sehen uns in drei Monaten wieder."
Dann drehte er sich um und trampelte die schmale Treppe herab. Die Tür fiel ins Schloss. Erst dann konnte ich erleichtert ausatmen. Harvey tat es mir gleich.
"Drei Monate?"
"So lange haben wir bezahlt. Keinen Tag zu spät wird der Typ wieder vor der Tür stehen und die nächste Miete von dir verlangen."
"Aber was ist, wenn ich bis dahin nicht wieder zurück bin?"
"Das wirst du sein."
Er klang so entschlossen wie kaum sonst. Was machte ihn da so sicher? Er las mir die Frage von den Augen ab.
"Wenn du bis dahin noch nicht hast, was wir brauchen, brechen wir die ganze Sache ab. Ich kann nicht zulassen, dass du da so lange drinsteckst. Matt haben schon zwei Wochen gereicht. Hätte ich es nicht geschafft ihn da heraus zu holen, wäre er wahrscheinlich durchgedreht. Das sagt er zumindest."
"Und wie hast du ihn da rausgeholt? Wie wirst du mich da rausholen?"
"Bei Matt hat eine Razzia gereicht, die ich angeheuert habe. Ein paar Jungs haben mir noch einen Gefallen geschuldet. Wir haben so getan, als würde ein Verdacht auf Drogen bestehen und haben bei der Durchforstung des Hauses Matthew gefunden. Er wusste natürlich sofort, dass wir keine seiner ehemaligen Kollegen waren und trotzdem schloss er sich uns an. Die Besitzerin vom Waisenhaus dürfte nicht einmal mitbekommen haben, dass er abgehauen ist. Erst als dort wieder Ruhe eingekehrt ist, ging die Suche los. Unsere kleine Runde musste sich eine halbe Ewigkeit vor Polizeihubschraubern verstecken. Deshalb ist Julian bis heute noch nicht gut auf die Sache zu sprechen."
"Ich gehe mal schwer davon aus, dass die Nummer mit der Razzia kein zweites Mal funktionieren wird."
"Wenn es keine andere Möglichkeit gibt, werde ich mir schon was einfallen lassen. Zähl am besten mit. Wenn du in 90 Tagen noch nicht draußen bist, wird etwas passieren. Bereite dich darauf vor, ganz plötzlich eine andere Rolle zu spielen oder einfach nur zu laufen. Ich werde nicht zulassen, dass dir etwas passiert."
"Bis vor ein paar Tagen wolltest du mich noch töten."
"Bis vor ein paar Tagen warst du ja auch noch ein kleines, dummes Mädchen, das uns belauscht hat und sich verplappern könnte."
"Und das bin ich jetzt nicht mehr?"
"Doch. Aber jetzt verbindet uns etwas."
"Ach und ich dachte schon, dir würde etwas an mir liegen."
Verführerisch strich ich an seinem Arm entlang zur Schulter, bis hin zu seinem Gesicht mit der Narbe. Ich gestand mir dabei selber nicht ein, dass es mir auch sehr gefiel. Viel mehr konzentrierte ich mich auf seine Reaktion. Er schloss genießerisch die Augen und entspannte sich unter meinen Berührungen. Doch plötzlich ging ein Ruck durch seinen Körper. Eine Hand schnellte nach vorne und legte sich in meinen Nacken. Die andere Hand legte er an meine Taille und zog mich an sich. Verlangend drückte er seine Lippen auf meine und drückte mich noch fester an seinen Körper. Ich wühlte meine Hände in seine Haare, gab mich dem Moment einfach hin. Es kam mir vor, als wollte er mich nie wieder loslassen und genau das gefiel mir so sehr. Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als dass er das Gleiche empfand.
Zu schnell löste er sich wieder von mir. Zumindest brachte er ein Stückchen Abstand zwischen uns und legte die Stirn gegen meine. Wir rangen nach Atem.
"Ich liebe dich, Harvey."
Dann trat er einen Schritt zurück.
"Du kennst mich doch gar nicht."
Er verschwand im Nebenzimmer und ließ sich nicht mehr blicken. Stattdessen traten die anderen beiden aus der Tür. Ich wischte mir die Tränen aus den Augen so gut es ging, doch sie hatten es bereits gemerkt. Keiner von ihnen stellte eine Frage. Vielleicht hatten sie alles gehört, vielleicht war es ihnen egal. Wir hatten jedenfalls einen straffen Terminplan.
"Es ist soweit. In einer halben Stunde sind wir am Haus. Jetzt müssen wir nur noch dein Zeug zusammenpacken."
Ich ersetzte den Knopf meiner Jeans durch das vorbereitete Mikrophon und packte in eine kleine Tasche weiteres Nähzeug und das Poster, dem eine Ecke fehlte. Ich überlegte, ob ich den Teddy mit mir nehmen sollte und entschloss mich dagegen. Er hatte es nicht verdient, wieder in dem Haus eingesperrt zu sein. Auch wenn es nur ein Stofftier war.
"Na dann. Gehen wir."
Matt nahm das Funkgerät in die Hand und hielt mir die Tür auf. Ich rührte mich allerdings nicht. Julian kam zu mir und stellte sich neben mich.
"Machs gut, Kleine."
"Sogar dich werde ich ein bisschen vermissen."
Ich umarmte ihn kurz und ging zur Tür. Bevor sie sich hinter mir verschloss, warf ich einen Blick nach innen zurück. Harvey war ich anscheinend doch egal. Ich war nur seine Puppe, mit der er ein wenig spielen konnte, sobald ihm danach war. Ich unterdrückte ein Schluchzen.

 

"Bereit?"

"Nein. Aber ich zieh das jetzt trotzdem durch."

"Du schaffst das. Du hast es schon mal geschafft. Viel Glück!"

Matt schloss mich noch kurz in seine Arme und überprüfte, ob das Funkgerät auch sicher verstaut war. Aufmunternd nickte er mir zu. Ich schluckte den Kloß in meiner Kehle herunter und ging den Rest des Hügels hinauf. Dahinter lag das Haus. Eigentlich hätte ich auch einfach von vorne über die Straße ankommen können, aber dann hätte man mich wahrscheinlich noch mit meinem Begleiter gesehen. Nervös knetete ich meine Hände, der Träger meiner Tasche drückte in meine Schulter. Mein Herz raste, als ich vor dem alten Ziegelsteinhaus stand. Die Wandfarbe war schon leicht vergilbt und mit Efeu überwuchert. Nur eine Straße führte weg von dem Haus und weg von dem umgebenen Wald. Wo genau sie hinführte, wusste ich nicht. Bei meiner Flucht hab ich mich damals auch durch das Unterholz geschlagen. So kehrte ich zurück, mit Schweiß auf der Stirn und einem Rauschen in den Ohren. Wie von selbst hob sich meine Hand, ballte sich zu einer Faust und klopfte an die schwere Holztür. Alles in mir schrie gerade danach, einfach wegzurennen. Der Drang wurde noch größer, als sich von innen schwere Schritte näherten. Mein Herz schlug immer schneller, mein Kopf pochte und beinahe hätte ich es mir wirklich anders überlegt. Ich wog die Chancen ab, rechtzeitig im Gebüsch unterzutauchen und mich danach vor den Jungs zu verstecken. Julien hätte mir den Kopf abgerissen, wenn ich einfach abgehauen wäre. Doch es war zu spät. Ächzend schwang die Tür auf und eine alte Frau trat aus dem Schatten. Ich unterdrückte den Drang, einfach zu schreien und richtete meine Haltung.

"Hallo Abbey. Wir haben dich schon erwartet."

Sie entblößte ihre wenigen schiefen Zähne und machte mir den Weg in das Haus frei. Woher kannte sie denn meinen Namen?

"Du siehst verwirrt aus, mein Kindchen. Habe ich dich verwechselt?"

"Nein. Eben nicht."

Mehr brachte ich nicht heraus, doch es reichte aus, dass ein Leuchten in die Augen der Frau trat. Unauffällig wich ich einen Schritt zurück.

"Du hast dich kaum verändert. Bist immer noch ängstlich und still."

Ich war mir nicht sicher, ob das ein Kompliment sein sollte. Dass in dem Kopf der Frau etwas gewaltig schief ging, war mir von Anfang an klar. Wie schon bei meiner ersten Ankunft war sie zu Beginn nett zu mir. Daran, dass sich das bald ändern könnte, zweifelte ich keine Sekunde. Neunzig Tage und ich würde wieder frei sein. Hoffentlich.

"Warum habt ihr mich erwartet?"

"Alle kommen früher oder später zurück. Egal, was sie dabei wollen."

Außer sie sterben, währen sie sich hier aufhalten. Den Gedanken sprach ich nicht aus, sondern behielt ihn für mich.

"So, mein Kind. Warum bist du hier?"

Statt einer richtigen Antwort kramte ich das Poster aus meiner Tasche hervor.

"Ich wusste nicht, wo ich hin sollte. Die Welt da draußen ist hart und ungerecht. Ich hätte nicht einfach weglaufen dürfen, das weiß ich jetzt."

Ich sagte ihr genau das, was sie hören wollte. Und noch mehr, um glaubwürdig zu erscheinen.

"Die wollten mich in eine Klinik stecken für Verrückte. Ich bin nicht verrückt, das weiß ich. Ich bin anders. Wahrscheinlich liegt das an eurer Erziehung, die ich einfach so unterbrochen habe. Diesen Fehler möchte ich begleichen. Ist hier noch ein Platz für mich frei?"

"Wie es der Zufall so will, ja. Einige der Kinder sind in andere Häuser unserer Gemeinde verlegt worden. Bei den Ältesten müsste noch ein Platz für dich frei sein."

"Aber ich...bin doch schon erwachsen. Muss ich noch den Unterricht besuchen?"

"Nein. Für die Ausreißer haben wir hier eine besondere Behandlung."

Sie setzte sich an einen kleinen Schreibtisch im Salon. Diesen Raum hatte ich oft zur Strafe putzen müssen, ihren Arbeitsplatz durfte ich dabei auf keinen Fall auch nur ansehen. Aus Angst, dass dieses Verbot noch immer galt, wandte ich mich ab und ließ den Blick schleifen. Über dem Sofa lagen verschiedene Felle, vor denen es mich ekelte. Die armen Tiere, die ihr Leben dafür ließen. Eine Erinnerung blitze auf, als die Frau meinen Namen rief. Ängstlich drehte ich mit meinem Teddy in der Hand herum und blickte nach oben in die Stechenden Augen. Von oben herab musterten sie mich und erweckten in mir das Bedürfnis, so schnell wie möglich zu flüchten. Die faltigen Gesichtszüge verzogen sich zu einem Lächeln und ich wurde wieder in die Realität gerissen.

„Nimm doch endlich!“

Das Lächeln der Alten wirkte noch gezwungener. Sie verlor die Geduld, während sie mir ein Stück Papier hinhielt. Vorsichtig, als ob es meine Haut verätzen könnte, griff ich danach.

„Was ist das?“

„Ein Vorvertrag. Wir wollen doch nicht, dass du wieder einfach so weg bist. Du bist alt genug, um zu unterschreiben. Also, worauf wartest du?“

Ihre Geduld bröckelte immer weiter. Sobald meine Unterschrift auf diesem Papier war, würde ich ihr Lächeln nie wieder zu Gesicht bekommen. Da war ich mir sicher.

„Ich möchte mir das durchlesen. Das ist mein gutes Recht.“

Ich versuchte, meine Stimme stark klingen zu lassen. Teilweise gelang mir das sogar. Sie schnaubte verächtlich, gab aber ein abwehrendes Handzeichen.

„Wenn es denn unbedingt sein muss. Das ist ja nicht der richtige Vertrag, weil du noch kein würdiges Mitglied bist, aber tu, was du nicht lassen kannst. Ich habe noch zu tun.“

Gespielt höflich verließ sie den Raum. Erleichtert, für einen Moment alleine zu sein, atmete ich aus. Dann riss ich mich aber wieder zusammen, weil ich mir beobachtet vorkam. Angewidert hob ich ein Fell auf dem Sofa zur Seite und setzte mich auf den frei gewordenen Platz. Laut, damit es die Jungs in der Wohnung mitbekamen, las ich den Text in meiner Hand vor.

 

„Ich, Abbey Wilson, werde mich an die Regeln und Vorschriften des Waisenhauses halten, so wie jeder andere Bewohner. Ich werde meine Aufgaben und Pflichten stets noch besser erledigen, als von mir erwartet und ich widerspreche niemals den Anweisungen meiner Vorgesetzen. Ein Zweifel an den Worten der Hausherrin ist ein Zweifel an meiner Existenz und deshalb verwerflich. Bis ich würdig bin, in den Kreis der Geschworenen einzutreten, werde ich alles tun, was man von mir verlangt.“

 Darunter sollte ich meine Unterschrift setzen? Das machte mich ja quasi zu einer Sklavin. Eine Drohne, die ihrer Königin gehorcht. Aber hatte ich eine andere Wahl? Mit diesem Vertrag machte ich mich nicht direkt zum Mitglied der Sekte, denn ich war ja ‚kein würdiges Mitglied’. Das würde ich wohl nie werden. Wenn doch, würde Julian mich eigenhändig umbringen und ich wäre ihm auf ewig dankbar. Ein leichtes Lächeln umspielte meine Lippen, als ich schwungvoll den letzten Buchstaben auf das Papier schrieb. Dann wartete ich. Als nach zehn Minuten immer noch keiner kam, um nach mir zu sehen, stand ich von dem Sofa auf und bewegte mich im Raum umher. Leise benannte ich alle Gegenstände und Möbelstücke, die mir bei meiner Runde begegneten. Hoffentlich verstanden die Männer mich auch, denn ich fühlte mich, als würde ich mit der Wand reden. Zum Schluss blieb ich wieder an dem kleinen Schreibtisch der Alten hängen. Vereinzelt lagen dort Dokumente verstreut und Kugelschreiber daneben. Das Lämpchen war aus, doch die Schachtel darunter zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Sie war dreifach verschlossen, also musste etwas wichtiges darin versteckt sein. Ich warf einen Blick über die Schulter, um zu überprüfen, ob mich jemand sehen konnte. Weil ich keinen bemerkte, setzte ich mich auf den Hocker vor dem Tisch und suchte zwischen den Unterlagen nach drei kleinen Schlüsseln. Als ich oben keinen finden konnte, krabbelte ich unter den Tisch und tastete dort den Boden ab. Gefunden wurde dabei nur eines: nämlich ich.

„Was machst du da?“

Vor Schreck haute ich mir den Kopf an der Schreibtischfläche über mir an. Ich hielt mir die Stelle und stand vom Boden auf.

„Mir…mir ist nur der Stift herunter gefallen. Und dann ist er… er ist bis hier hin gerollt. Bitteschön.“

Ich hielt ihr den Vertrag und den Kugelschreiber entgegen. Zu meinem Glück hatte ich beides bei meiner Suche noch in der Hand, sonst hätte ich mir keine Ausrede einfallen lassen können. Sie blickte mich eine Weile zweifelnd an, schien mir dann aber zu glauben. Hoffte ich zumindest.

„Dein Zimmer ist fertig. Leider ist dein altes schon belegt und wir mussten dich nebenan einquartieren. Ich hoffe, das macht dir nichts aus?“

Ich schüttelte den Kopf, obwohl ich die Antwort selber nicht wusste. Mein Zimmer hat mir fast immer Schutz geboten und ich kannte jede Diele darin. Aber wenn ich dort meine Zeit verbringen würde, kämen die Erinnerungen schneller zurück, als mir lieb wäre.

Ich folgte der Alten aus dem Raum, den Gang entlang, bis hin zur vorletzten Tür links am Ende des Flurs. Eine Tür weiter schlief ein Kind in meinem alten Bett. Ein Schauer lief mir über den Rücken. Hoffentlich erlebte es nicht die gleichen grausamen Dinge wie ich damals. In meinem Gedanken versunken, hörte ich der Frau nicht mehr zu. Erst als sie mich fragend anblickte, war ich geistig wieder anwesend.

„Wie bitte?“

„Deine Tasche, gib sie mir. Du darfst deine Privatsachen nicht behalten, wer weiß, was du uns anschleppst. In dem Schrank ist alles, was du brauchst. Also, worauf wartest du noch?“

Zögerlich legte ich den Träger in ihre ausgestreckte Hand. Mein Nähzeug war da noch drin und ich musste doch noch die Knöpfe austauschen. Als die Frau sich gerade umdrehen wollte, drückte ich die Handflächen gegen meine Schläfen und schrie laut los. Mein Kreischen hallte durch die Wände. Verwirrt, aber auch verärgert wandte sich die Alte wieder mir zu. Mein Schrei wurde lauter.

„Was ist denn los?“

„Dieses Geräusch. Da, aus dem Schrank. Mein Kopf pocht vor Schmerzen. Das soll aufhören!“

Aus dem Augenwinkel beobachtete ich, wie die Frau auf meine Ausrede reagierte. Sie musterte den Schrank und ging langsam darauf zu.

„Ich kann nichts hören. Bildest du dir das vielleicht nur ein?“

„Nein. Das tut so weh! Bitte. Schauen Sie nach, was das ist. Bitte!“

Seufzend legte sie die Tasche auf den Boden und riss die Türen auf. Sie stöberte zwischen den einzelnen Kleidungsstücken, während ich mir die Seele aus dem Leib schrie. Ich tat so, als würde sie dem Auslöser näher kommen und lenkte ihre Aufmerksamkeit dadurch von mir ab. Noch immer schreiend kramte ich in meiner Tasche und zog das kleine Etui heraus. Danach schloss ich sie wieder und dämpfe meine Stimme, bis ich letztendlich ganz verstummte. Überrascht blickte die Frau zu mir.

„Ist es weg?“

„Ja. Ganz plötzlich.“

Hinter meinem Rücken steckte ich das Etui mit dem Nähzeug in meine Gesäßtasche und zeigte meine Hände wieder vor meinem Körper. Mit dieser Geste bedankte ich mich bei der Frau für ihre Hilfe. Sie kniff ihre Augen zusammen und ließ ihren Blick über mich und den Raum schleifen. Sie schnappte sich meine Tasche vom Boden und verschwand aus dem Zimmer ohne ein weiteres Wort. Ein Grinsen stahl sich auf mein Gesicht.

 

 Ich wartete zehn Minuten, nachdem sich die Tür verschlossen hatte. Erst dann fühlte ich mich sicher genug, um mich in meinem Zimmer umzusehen. Es war genauso aufgebaut, wie mein altes. Ein klappriger Schrank an der einen Wand, ein Bett gegenüber, neben dem eine kleine Kommode stand. Das Fenster war von halb zerrissenen Vorhängen bedeckt und trübte das Licht. Wobei das nicht sonderlich auffiel, denn die Sonne ging sowieso gerade unter. Meine Schritten trugen mich zum Lichtschalter und zurück zum Bett. Die Glühbirne flackerte über mir, während ich mit einer Schere die Knopf-Wanze von meiner Hose schnitt. In meinem Schrank lagen fast nur graue Kleidungsstücke, auf denen ein einzelner schwarzer Knopf auffallen würde. Fluchend suchte ich zwischen meinen neuen Sachen nach etwas Dunklerem. Als ich nichts fand, entschied ich mich doch für die graue Hose und schnitt auch dort den Knopf ab. Mit schnellen Handgriffen befand sich an der Stelle die Wanze, die hoffentlich nicht zu sehr auffallen würde. Gerade rechtzeitig konnte ich mein Nähzeug verschwinden lassen und in meine neue Kleidung schlüpfen. Die Frau stand plötzlich in meinem Raum und nah mir meine alten Klamotten weg. Ich hielt den Atem an, während sie mich anstarrte. Ihr Blick wanderte an mir entlang und blieb an dem schwarzen Fleck auf dem grauen Stoff hängen. Ihre Augen verformten sich zu engen Schlitzen, auf ihre Stirn legten sich Falten. Ich versuchte so viel Unschuld wie möglich in meine Stimme zu legen.

„Stimmt etwas nicht?“

„Nein, nein. Ich dachte nur, dass Betty letzte Woche eigentlich gute Arbeit geleistet haben sollte. Offenbar ist sie farbenblind, aber egal. Da werde ich schon noch ein Wörtchen mit ihr wechseln müssen.“

So wie sie das sagte, klang das nicht wirklich nach einem angenehmen Gespräch für diese Betty. Ich empfand Mitgefühl für die Unbekannte, fühlte mich aber auch schuldig.

„Wer ist Betty?“

„Ein Mädchen, das neu hier ist. Sie wurde aus einem Nebenhaus, wie wir die anderen Waisenhäuser unserer Verbindung nennen, hergebracht.“

„Warum?“

„Schweig gefälligst, du dummes Ding! Hat man dir nicht beigebracht, dass man nur spricht, wenn man dazu aufgefordert wird?“

„Entschuldigung.“

Ihre plötzliche Wut verschreckte mich. Sie klemmte meine Sachen enger unter ihren Oberarm und marschierte aus dem Raum. Hinter sich sperrte sie die Tür zu und mich damit im Inneren ein. Schwer schluckend setzte ich mich auf mein Bett. Ich hoffte, dass Betty wegen mir jetzt keine Strafe erhielt, denn das würde ich mir nur schwer verzeihen können. Aber ich tat, was getan werden musste.

 

 

  

 

 

 

 

 

Durch die Augen eines Kindes

Lange wälzte ich mich auf der harten Matratze hin und her, bis ich endlich einschlafen konnte. Die Luft um mich herum war heiß und stickig, als ich erwachte. Schweißperlen standen mir auf der Stirn und ich wischte sie mit meinem rechten Handrücken weg. Auch meine Augen rieb ich mir, um die Müdigkeit los zu werden. Der Mond schien in mein Zimmer und ließ mich die Umrisse der Möbel erkennen. Aus dem Augenwinkel nahm ich eine Bewegung neben der Kommode wahr. Unter meiner Decke verkrampfe ich mich und griff nach meinem Teddy. Er stand mir bei, während sich die Augen des Monsters mir gegenüber sich auf mich richteten. Er sah mich an, kam näher und blieb direkt über mir stehen. Wie gebannt starrte ich ihm entgegen und bewegte mich keinen Millimeter, als er sich zu mir auf mein Bett setzte. Erst als ich seine Hand an meiner Wange spürte, erwachte ich aus meiner Starre und ließ mich in seine Arme fallen. Er wohnte in dem Waisenhaus, so wie ich und war kein Monster. Fest drückte er mich an sich.

„Wie bist du hier…“

Weiter kam ich nicht, denn der Junge hielt mir den Mund zu. Er flüsterte in mein Ohr, sodass sein Atem meinen Nacken streichelte.

„Tut mir leid, dass ich dich erschreckt habe. Du brauchst aber keine Angst vor mir zu haben. Ich bin ein Freund und würde dir nichts tun. Nicht so wie…du weißt schon. Du musst mir jetzt ganz genau zuhören, ja?“

Ich nickte leicht, riss meine Augen weit auf während er sprach und lauschte ihm gespannt.

„Was hier passiert, ist nicht normal. Egal, was man uns erzählt. Ich hab einen Ausweg gefunden und werde euch alle so schnell wie möglich nachholen. Glaubt nicht, was diese Monster euch hier einreden wollen, hörst du? Lass nicht zu, dass sie Besitz von euch ergreifen. Lauf weg, solange du kannst. Hast du das verstanden?“

Wieder nickte ich.

„Gut. Dann schließ jetzt die Augen und versuche wieder zu schlafen. Im Moment kann dir nichts passieren, das verspreche ich.“

Seine Stimme klang so aufrichtig, wie ich keine zuvor je gehört hatte. Ich glaubte ihm und kniff die Augen zusammen. Als ich mich langsam entspannte und mir die Decke bis unter mein Kinn zog, seufzte der Junge zufrieden und gab mir einen Kuss auf die Wange. Dann hörte ich leise Schritte und ein Knacksen. Es wurde still und ich war wieder alleine.

 

Erschrocken riss ich meine Augen auf und starrte an die Decke über mir. Diese Erinnerung kam unerwartet. Was war mit dem Jungen damals passiert? Zum ersten mal ärgerte ich mich über meine Verdrängungskünste. Trotzdem überdachte ich meinen Traum noch einmal ganz genau. Wie konnte der Junge damals in mein Zimmer kommen? Den Schlüssel trug doch immer die Alte bei sich. Wie aufs Stichwort klapperte das Metall in meinem Schloss.

„Aufstehen.“

Mehr sagte sie nicht, als sie ihren Kopf kurz durch den Türspalt steckte. Ich konnte hören, wie sie auch die anderen Kinder nacheinander aus ihren Zimmern rief. Was wurde jetzt von mir erwartet? Mit langsamen Schritten ging ich zur Tür und beobachtete, wie sich die Kleinen durch den Flur drängten. Alle gingen sie auf eine Tür am Ende des Ganges zu und verschwanden darin. Nervös folgte ich ihnen, denn ich kam mir vor, wie ein Tier, das auf den Schlachter zumarschierte. Kurz bevor auch ich durch die Tür treten konnte, wurde ich von hinten gepackt und auf die Seite gezogen.

„Du nicht.“

Eine tiefe, männliche Stimme erklang an meinem Ohr. Ein Schauer jagte mir über den Rücken und nur mit viel Überwindung schaffte ich es, mich zu ihm zu drehen. Er war vielleicht sechzehn, siebzehn Jahre alt und starrte mich an. Ein entschuldigendes Lächeln huschte über seine Lippen und er hob abwehrend die Hände. Eine davon streckte er mir wieder entgegen, als ich ein Stückchen Abstand zwischen uns brachte.

„Ich bin Lewis. Die Aufpasserin hat mich geschickt, um dich zu holen. Du musst noch deine Anweisungen erhalten, bevor du dich in diesem Haus auch nur einen Schritt bewegst. Ich werde ihr mal nicht verraten, dass du schon fast im Waschraum gestanden hättest.“

Sein Grinsen wurde breiter und ich vertraute ihm kein bisschen. Seine Art erinnerte mich viel zu sehr an die Masche der Frau und seine Haltung machte ihn jederzeit zum Zugreifen bereit. Einem Monster vertraut man nicht und so wie er von der ‚Aufpasserin’ sprach, zählte er eindeutig zu ihren Drohnen. Viel zu lange kam mir der Moment vor, in dem er meine Hand in seiner hielt uns sie zur Begrüßung schüttelte. Sein Griff war fest, weshalb ich mich selber nicht daraus befreien konnte. Ich überspielte meine Unsicherheit mit einem leichten Lächeln und ließ mich von dem Jungen in die andere Richtung führen. Mir war sehr unangenehm, dass er seinen Arm um meine Schulter legte und mich an seinen Körper drückte. Wir waren keine Freunde, geschweige denn ein Paar und er verhielt sich, als kannten wir uns schon eine halbe Ewigkeit. Ich versuchte, mich unauffällig aus seiner Nähe zu winden und genügend Freiraum zwischen uns zu bringen. Er brachte mich die Treppen herab in das Kellergeschoss. Soweit ich mich erinnern konnte, befanden sich dort nur die Küche und die Arbeitsräume. Ich dachte, ich sollte mit der Alten reden, warum wurde ich also nicht in ihr Zimmer geführt? Verwundert beobachtete ich, wie Lewis mich in die hinterste, unbeleuchtete Ecke des Stockwerks führte und sich vor mir eine zweite Treppe in die Tiefe erstreckte. Gab es die schon immer? Angst kochte in mir hoch. Es kostete mich viel Überwindung, dem Jungen die Stufen in völlig unbekanntes Gebiet zu folgen. Auch dort gab es kein Licht und ich musste aufpassen, nicht gegen die Wand zu laufen oder über meine eigenen Füße zu stolpern. Plötzlich blieb Lewis neben mir stehen und klopfte auf eine Holzfassade vor ihm. Nicht lange und auf das dumpfe Geräusch folgte ein Quietschen und das Holz bewegte sich auf uns zu. Auf der anderen Seite hing eine einzelne Lampe von der Decke und ließ mich die Umrisse der Tür erkennen, die sich soeben geöffnet hatte. Ich wurde von mehr als zwei Händen gepackt und in den Raum gezogen. Bevor ich mich wehren konnte, war ich an den Stuhl in der Mitte des Raumes gefesselt und blickte fremden Augen entgegen. Wut, aber auch ungeheure Angst machten sich in mir breit. Hatte mein Training mit Julian mir wirklich gar nichts gebracht?

„Warum werde ich an einen Stuhl gefesselt?“

Ich versuchte, meine Stimme so naiv wie möglich klingen zu lassen, damit ich eine ausführliche Antwort für die Aufzeichnungen bekommen würde. Die Männer waren mir echt was schuldig.

„Stell keine dummen Fragen!“

Lewis Tonfall klang wie das Zischen einer Schlange, die sich gerade zum Angriff bereit machte. Ich schluckte schwer. Noch immer lag ein weiteres Augenpaar auf mir, das ich nicht einordnen konnte. Stechendes Grün zog mich in seinen Bann, dann schritt ein Mann aus dem Schatten. Er zog einen Gegenstand hinter seinem Rücken hervor, der kurz im Licht aufblitze. Ein Messer. Shit! Was sollte das? Panik benebelte meine Sinne. Ich hatte doch nichts gemacht, warum sollte ich jetzt schon bestraft werden? Tränen, die ich eigentlich zurückzuhalten versuchte, liefen an meinen Wangen herab. Das hatte ich davon. Warum musste ich auch weglaufen? Nein, warum musste ich zurückkehren? Immer näher kam mir der Mann, er beugte sich über mich. Sein Gestank stieg mir in die Nase und trieb mir weitere Tränen in die Augen. Sollte es wirklich so enden?

„Was haben Sie mit dem Messer vor?“

Meine Stimme versagte, auch wenn ich ihr Stärke verleihen wollte. Erst beim zweiten Versuch schaffte ich es, meine Frage auszusprechen. Lewis wollte mir ins Wort schreiten, doch er wurde unterbrochen. Der Mann warf ihm einen verächtlichen Blick hinzu, zog sein Messer und rammte es durch das Seil. Er zerschnitt meine Fesseln mit nur einem Ruck.

„Ich habe nie gesagt, dass du sie fesseln sollst. Verschwinde!“

Geknickt verließ der Junge den Raum und ließ mich mit dem Fremden alleine. Ob ich mich darüber freuen konnte, war mir nicht ganz klar. Er legte das Messer auf die Seite und verschwand wieder im Schatten. Als sich mir von hinten ein Schatten näherte, erschrak ich so sehr, dass ich einen Aufschrei nicht unterdrücken konnte. Eine faltige Hand legte sich über meinen Mund und brachte mich zum Schweigen. Die Frau war da und ich war vermutlich noch nie so erleichtert, sie zu sehen. Schon an meinem zweiten Tag in dem Haus war ich ein nervliches Wrack. Ich entspannte mich, damit sie mich unbesorgt loslassen konnte und drehte mich dann zu ihr herum.

„Ihr habt nach mir verlangt?“

„Ja, allerdings nicht hier unten. Wie bist du nur auf die Idee gekommen, dass ich meine Gespräche in dieser Kammer führe?“

„Aber, Lewis hat doch…“

„Es gibt keinen Lewis in diesem Haus, Abbey.“

Sie neigte ihren Kopf ein Stückchen auf die Seite und starrte mich durch ihre milchigen Augen an. Ihr Lächeln war scheinheilig wie immer, doch diesmal war es offensichtlich, dass sie mir etwas vorlog. Ich hatte mir den Jungen doch nicht eingebildet, geschweige denn den Weg hier herunter alleine gefunden. Der andere Mann hat ihn doch auch gesehen.

„Da in der Ecke hat noch ein Mann gestanden. Er hat sogar mit ihm gesprochen.“

Die Frau schüttelte den Kopf und ging in die Richtung, in die mein Finger zeigte. Der Raum war bis auf uns beide völlig leer. Hilfe suchend schaute ich zur Stelle, wo das Messer liegen sollte. Es war weg. Das gleiche Lächeln wie zuvor war auf dem Gesicht der Frau zu sehen, als sie sich umdrehte. In ihren Augen funkelte der Schalk. Sie forderte mich dazu auf, ihr nach oben zu folgen und wollte die Tür hinter sich schließen. Aus dem Augenwinkel sah ich noch für einen kurzen Moment das Aufblitzen eines kleinen, roten Lichtpunktes in der Ecke. Zu gern hätte ich mir das genauer angesehen, doch ich wurde bereits ungeduldig erwartet.

 

 Eindeutig zu oft saß ich in dem Raum der Alten. Nervös trommelte ich mit den Fingern auf meinen Oberschenkel und murmelte vor mich hin, was mir so durch den Kopf ging. Man sollte schließlich nicht für ungewöhnlich halten, dass ich alles um mich herum kommentierte und Selbstgespräche führte. Man hielt mich für verrückt und das war gut so.

„Jeden Morgen muss ich auf meinen persönlichen Unterricht warten. Meine Strafarbeit habe ich bereits erledigt, meine Aufgaben sind erledigt. Fehlt nur noch das Einzelgespräch mit der Hausherrin.“

Die Alte hatte die gruslige Angewohnheit, immer wie aufs Stichwort zu mir zu kommen. Ihre Mine war kalt, etwas war passiert.

„Wir werden heute auf unser Gespräch verzichten müssen, Abbey. Ich habe noch etwas zu erledigen und das kann nicht warten. Ich gratuliere dir, du bist um die letzte Nachhilfestunde herum gekommen. Jetzt musst du nicht mehr die anderen Kinder meiden und kannst dich eingliedern. Mal sehen, wie du dich da machst.“

Das hellte meine Stimmung erheblich auf. Ich war nicht mehr mit ihr allein in einem Raum gefangen und konnte mich beinahe frei bewegen. Jetzt konnte ich mich richtig im Haus umsehen. Als die Alte durch die Tür verschwunden war, sprang ich vom Sofa auf und durchsuchte erneut ihren Schreibtisch. Aber auch diesmal konnte ich keine Hinweise oder Schlüssel finden. Frustriert ballte ich meine Hände zu Fäusten und drehte mich einmal um die eigene Achse. Hier musste doch irgendwo ein Hinweis sein. Entweder waren die Schlüssel für das Kästchen hier versteckt, oder die Frau trug sie stets bei sich. Letzteres wollte ich einfach nicht in Erwägung ziehen. Ich überwand mich sogar dazu, jedes Fell auf dem Sofa abzutasten, hinter den Urkunden und Bildern, die an den Wänden hingen, nachzusehen und die Fenster einschließlich Vorhänge zu untersuchen. Es war zwecklos. Ich fand nicht, was ich wollte.

Eine Glocke erklang und teilte den Hausbewohnern mit, dass sie zum Abendessen kommen sollten. Bis heute wurde ich dafür auf mein Zimmer geschickt und vom gemeinsamen Speisesaal ausgeschlossen. Jetzt aber folgte ich dem Klingeln und den Schritten der Kinder in die Küche. In einer Reihe standen circa zwanzig Kinder im Alter von fünf bis achtzehn vor mir an und warteten auf ihre Portion Griesbrei. Mit den vollen Tellern in der Hand, verteilten sie sich an die Tische und unterhielten sich leise, während sie aßen. Hoffentlich waren das echte Freundschaften, die ich hier beobachtete. Ich stand meine Zeit damals alleine durch, weil ich verstoßen wurde. Mit meinem eigenen Tablett stand ich unentschlossen im Raum und sah dabei wahrscheinlich etwas verloren aus. Ich kannte keinen und die anderen kannten mich auch nicht. Ich wüsste nicht, wie sie mich aufnehmen würden. Dann zog ein kleines Mädchen, abseits von allen anderen, ihre Aufmerksamkeit auf mich. Sie war von den anderen komplett ausgegrenzt und ihr wurden verstohlene Blicke zugeworfen. Ich fühlte mit ihr, weil ich diese Situation so gut kannte. Ich beschloss, mich zu ihr zu gesellen. Sie blickte dabei nicht vom Teller auf, sondern stocherte weiter in ihrem unangerührten Essen herum.

„Hast du keinen Hunger?“

Sie schüttelte stumm den Kopf, starrte weiter auf den Brei dabei.

„Wie heißt du?“

„Mein Papa hat gesagt, ich soll nicht mit Fremden reden.“

„Das hast du aber gerade.“

Sie hob ihren Kopf und schaute mich mit angstvoll geweiteten Augen an. Tränen sammelten sich in ihren Augen, als ob ich sie gerade beim schlimmsten Vergehen ihres Lebens erwischt hätte.

„Keine Angst, ich werde ihm das sicher nicht sagen. Ich kenne ihn ja nicht. Unser Gespräch bleibt also ein Geheimnis. Ich bin übrigens Abbey.“

Erwartungsvoll hielt ich ihr meine Hand entgegen und hoffte, dass sie mir jetzt doch ihren Namen sagte. Sie starrte mich mit offenem Mund an, schnappte sich ihre Sachen und rannte aus dem Raum. Vielleicht hätte ich nicht so grob vorgehen sollen. Mit einem ‚hmpf’ machte ich mich über mein Essen her und brachte meinen Teller zurück an die Theke. Als ich mich umdrehen wollte, um auf mein Zimmer zu gehen, rief mich eine zärtliche Stimme zurück. Meine Augenbrauen schossen in die Höhe während sie sprach.

„Warte mal. Mach dir keinen Kopf wegen der Kleinen. Sie redet nicht gerne und wenn, dann verpetzt sie die anderen Kinder. Deshalb sitzt sie immer alleine. Aber das hast du nicht von mir, okay?“

Ich nickte dem Mädchen zu und schleppte mich in mein Zimmer. Die verblüffende Ähnlichkeit zu Lewis ist mir nicht entgangen, nur dass das Küchenmädchen wahrscheinlich erst dreizehn war. Die Müdigkeit ließ mich aber jeden weiteren Gedanken daran vergessen. Nur gedämpft hörte ich das knacksende Holz unter meinen Schritten und ich wurde leicht misstrauisch. Um diese Zeit war ich nie müde, warum also jetzt? Das ganze Haus war ungewöhnlich still und ich sprach diese Tatsache laut aus, bevor ich völlig fertig auf meinem Bett zusammenbrach.

 

Das Klingeln zum Abendessen riss mich wieder aus meinem Schlaf. Ich setzte mich auf und strich mir meine Haare aus dem Gesicht. Als ich an mir herabblickte, fielen mir die Schuhe an meinen Füßen auf. Warum hatte ich die denn nicht ausgezogen? Verwirrt schaute ich mich im Raum um und hoffte, dort vielleicht eine Erklärung zu finden. Nichts war ungewöhnlicher als sonst, die gleichen modrigen Wände und Möbel ragten in mein Sichtfeld. Die Glocke ertönte lauter. Das Zeichen, dass noch nicht alle Kinder im Esszimmer waren, wo sie sein sollten. Ich brauchte kurz, um zu registrieren, dass ich damit gemeint war. Ich sprang von meinem Bett auf, ohne darauf zu achten, was ich dabei fallen ließ, und rannte den Gang entlang. Die Tür war bereits verschlossen, die Glocke war auf einen Schlag ruhig. Ich war zu spät. Sie ließen mich nicht mehr herein, ich war dem Zorn der Aufseherin ausgeliefert.

„Sieh an, sieh an. Wen haben wir denn da?“

Erschrocken drehte ich mich um, als Lewis Stimme gewagt nahe hinter mir ertönte. Wie schaffte er es nur, sich immer wieder unbemerkt so dicht an mich heranzuschleichen? Ich fluchte innerlich, weil er mich so aus dem Konzept brachte. Nach außen hin versuchte ich das aber zu verbergen und setzte ein schüchternes Lächeln auf.

„Lewis. Hallo, was machst du denn hier?“

Ohne eine Antwort zu geben, packte er meinen Arm und zog mich hinter sich her.

„Was machst du? Wo ziehst du mich hin? Au, du tust mir weh. Lewis, lass mich los.“

Er drängte mich in ein Zimmer, das ich nicht kannte und schloss die Tür hinter sich ab. Es gab nur ein ganz kleines Fenster am anderen Ende des Raumes, durch das nur wenig Licht fiel. Die Luft war feucht und stickig, es hätte mich nicht gewundert, wenn sich auf der Wand große Schimmelflecken gebildet hätten. Trotzdem war ich froh, das nicht erkennen zu können. Nichts als Dreck, Staub und ein Verrückter waren mit mir hier drinnen. Der Junge wandte sich mir zu und drängte mich mit den Rücken an die Tür. Ich konnte mir mein Lachen nicht verkneifen. Ich hatte wochenlang mit drei Mördern zusammengelebt, mit dem Wissen, dass sie mir jeden Moment eine Kugel durch den Kopf jagen könnten, und sollte jetzt vor einem Halbwüchsigen Angst bekommen? Er konnte natürlich nicht wissen, was mich so amüsierte, weshalb er an meiner Reaktion kein bisschen Gefallen fand. Sein Griff an meinen Schultern wurde fester und er schüttelte mich kurz.

„Hör gefälligst auf zu Lachen, oder willst du, dass ich dich endgültig zum Schweigen bringe?“

Seine Feindseligkeit machte mich unfähig, auch nur einen weiteren Laut aus meinem Mund zu bekommen. Seine Haltung wurde dadurch wieder ein wenig entspannter, bis er sich aufrichtete und einen Schritt zurücktrat.

„Wo warst du letzte Woche?“

Ich verstand nicht, worauf er hinauswollte. Ich war doch bis gestern jeden Morgen bei der Aufseherin gewesen und hatte nichts Verbotenes getan.

„Ich hab getan, was von mir erwartet wurde. Was sonst?“

„Und warum habe ich dich dann nie beim Essen gesehen, seit du die Petze zum Heulen gebracht hast?“

„Das war doch erst gestern, wie soll…warum schüttelst du den Kopf?“

„Dein Zeitgefühl scheint wohl nicht so gut zu sein. Heute ist Samstag und die Aufseherin ist ziemlich misstrauisch, weil du dich so verkrochen hast.“

Mir blieb die Luft weg. Hatte ich tatsächlich sechs Tage lang durchgeschlafen? Das war nicht möglich, egal wie ausgelaugt man war. Das grenzte ja schon an Bewusstlosigkeit, doch dafür gab es keinen Grund. Oder? Lewis sah mir meine Verwirrung offensichtlich an, verbarg aber sein Grinsen.

„Was ist so witzig?“

„Nichts.“

Wütend kniff ich die Augen zusammen. Julian hatte mir genug Kampftricks beigebracht, sodass ich den Jungen vor mir zur Strecke bringen konnte. Er sollte lieber aufpassen, doch das konnte er ja nicht wissen. Ich unterdrückte den Drang, ihm den Schlüssel aus der Hosentasche zu ziehen und ihn dabei ‚versehentlich’ zu verletzen. Ich wollte hier dringend heraus. Woher diese starken Gefühle kamen, war mir nicht klar. Tief im Inneren wusste ich aber, dass alles nur pure Angst war, die mich antrieb.

„Also, bringst du mich nun zur Aufseherin, damit sie mich zu Gesicht bekommt?“

Er presste seine Lippen zusammen und machte den Weg frei. Nachdem Lewis mich zum Arbeitszimmer der Alten geführt hatte, packte er meinen Unterarm und verdrehte ihn schmerzhaft. Ich wollte mich aus seinem Griff befreien, doch er hatte schon ein Messer gezückt. Mit seinem linken Arm klemmte er mich zwischen ihm und der Wand ein, bereit, mir jeden Moment das Genick zu brechen. Ein unterdrückter Schrei steckte in meiner Kehle, während er mit dem Messer durch mein Fleisch schnitt. Blut quoll aus der Wunde nahe meiner Hauptschlagader. Lewis sah zu, wie es floss und setzte dann einen ohrenbetäubenden Schrei aus. Gleichzeitig ließ er mich los, um mich sofort wieder an den Schultern zu packen und dann in das Zimmer der Frau zu ziehen. Seine Mine war ausdruckslos, seine Augen waren leer. Die Alte saß auf ihrem Sofa und stöberte in ihrer Zeitung. Zum ersten Mal wünschte ich mir, dass sie mich mit ihren milchigen Augen ansah. Ich wollte, dass sie mir half und mich aus den Händen dieses Irren befreite. Nach einer gefühlten Ewigkeit schweifte ihr Blick zu uns. Sie starrte mir entgegen, ohne auch nur mit einer Wimper zu zucken. Es schien völlig normal zu sein, dass ich halb verblutend vor ihr stand. Lewis Brust hob und senkte sich schwer, während er neben mir stand. er schien sehr aufgeregt zu sein und fiel plötzlich auf die Knie. Beinahe ehrfürchtig warf er einen Blick zur Alten und reichte ihr das Messer entgegen. Mein Blut klebte an der Klinge. Weiteres Blut tropfe auf den Boden neben mir. Die Frau erinnerte mich an eine Schlange, die ihre Beute ins Visier nahm, als sie mich musterte. So hatte ich mir ihre Reaktion nicht vorgestellt. Mir war klar, dass sie Dreck am Stecken hatte. Ein Mädchen einfach verletzt stehen zu lassen, war aber doch ein ganz anderes Kaliber.

„Hast du überhaupt die geringste Ahnung, wie enttäuscht ich von dir bin?“

Zuerst dachte ich, sie würde mit Lewis reden, doch ihr wutverzerrter Blick wich nicht von mir. Was hatte ich denn getan?

„Es tut mir leid. Ich habe versucht, sie aufzuhalten, aber sie hatte sich das Messer schon in ihr Fleisch gerammt. Als ich sie hier her bringen wollte, hat das Miststück mich sogar gebissen. Sehen Sie.“

Er streckte seinen Arm hervor, auf dem sich tatsächlich ein Zahnabdruck befand. Der war sicher nicht von mir, das wüsste ich. Entsetzt sog die Alte die Luft ein. Glaubte sie ihm etwa?

„Erst befolgst du nicht die Regeln dieses Hauses, entziehst dich deinen Terminen, ohne dich bei mir abzumelden, greifst in dein Schicksal ein, das du mir in die Hände gelegt hast und übst dann zu alle dem noch Gewalt an einem anderen Bewohner aus?“

„Nein. Das ist alles ganz anders, als Sie denken. Bitte, Sie müssen mir glauben!“

Noch mehr Wut blitze in ihren Augen auf. Sie schritt auf mich zu und hob die Hand. Der Schlag traf mich mitten ins Gesicht und brachte mich zum Stolpern. Mein Sichtfeld verschwamm leicht, doch ich kämpfte gegen die Kraftlosigkeit an. Weiteres Blut schoss aus meiner Wunde, als ich mich auf meinen Arm stütze, um meinen Sturz abzufangen. Erschrocken keuchte ich auf. Das war nicht fair, ich hatte doch nichts getan. Schmerzlich wurde mir bewusst, dass ich einen schlimmen Fehler begangen hatte. Niemals hätte ich mich hierzu überreden lassen sollen. Niemals hätte ich zurückkehren dürfen. Die Müdigkeit ergriff immer mehr Besitz von mir und ich sackte komplett zu Boden. Als mein Kopf auf dem kalten Holz aufkam und meine Augen einen letzten Blick nach oben warfen, tauchte ein Schlüsselbund in meinem Sichtfeld auf. Er hing an der Gürtelschlaufe der Frau, die sich über mich beugte. Immer wieder schlug sie auf mich ein, bis ich in tiefes Schwarz gehüllt wurde. Lewis Grinsen, als er mit einem Fläschchen auf uns zukam, entging mir nicht.

 

 

Kreischend richtete ich mich auf und fiel dabei aus dem Bett. Ein stechender Schmerz fuhr durch meine Glieder, stöhnend stand ich wieder auf und setzte mich auf den Rand der Matratze. Als sich die Erinnerungen an den gestrigen Abend in mir ausbreiteten, fröstelte ich leicht. Ich zog die Decke zu mir und wickelte mich darin ein. Dabei fiel mir mein Arm auf, an dem kaum ein Kratzer zu entdecken war. Wie konnte das sein?

„Meine Wunde ist weg. Lewis hat mich doch gestern erst geschnitten. Oh Gott, ich habe mein Zeitgefühl verloren.“

Ich rieb mir die Tränen aus den Augen, die beinahe übergelaufen wären. Dann klopfe es an meiner Tür.

„Du sollst zur Aufseherin kommen.“

Wieder fröstelte ich. Wie konnte eine Kinderstimme nur so kalt und leblos klingen, wo sie doch eigentlich nur Freude und Glück widerspiegeln sollte? Was die Sekte hier tat, war alles andere als menschlich. Egal, wie sie sich rechtfertigten.

 

Ich zögerte etwas zu lange, bevor ich mir Zugang zu ihrem Zimmer verschaffte. Hinter mir schloss ich die Tür und nahm wie immer auf dem Sofa Platz. Die Frau wandte sich mir sofort zu und lächelte mir freundlich entgegen. Zumindest versuchte sie, so zu wirken. Ich wusste aber, welche Gemeinheit sich hinter den schiefen Zähnen und der faltigen Maske, die sie Gesicht nannte, verbarg.  

„Wie geht es dir, meine Liebe?“

Sie neigte ihren Kopf leicht zur Seite, als ich ihr keine Antwort gab. Solange ich nicht wusste, was sie bezweckte, blieb ich schweigsam. Leicht glitt ihr Lächeln aus den Fugen und ich musste meine Zähne zusammenbeißen, um nicht die Fassung zu verlieren. Sie hätte mich beinahe verbluten lassen und hat mich verprügelt. Eine alte Frau hat auf mich eingeschlagen und ich konnte mich trotz meines Trainings nicht wehren. Wie erbärmlich war das denn?

„Ist dein Fieber endlich gesunken?“

„Welches Fieber?“

„Ach Kindchen, erinnerst du dich etwa nicht? Die letzten beiden Wochen warst du völlig ausgelaugt an dein Bett gefesselt. Wir mussten dir ganz viel Medizin geben, damit du wieder auf die Beine kommst. Wie du siehst, hat das ja endlich angeschlagen.“

„Warum weiß ich nichts davon?“

Meine Stimme klang schärfer als beabsichtigt und ich biss mir auf die Zunge. Ich sollte mich nicht provozieren lassen.

„Versteh einer den menschlichen Verstand. Du hattest auch schreckliche Halluzinationen und dauernd von diesem Lewis gesprochen. Wo auch immer du diesen Namen aufgeschnappt hast.“

Meine Hände ballten sich wie von alleine zu Fäusten. Wollte sie mir wirklich diese Geschichte für wahr verkaufen? Für wie dumm hielt die Alte mich eigentlich? Entsetzen machte sich in mir breit. Ich hatte keinen blassen Schimmer, wie ich jetzt reagieren sollte. Zum Glück sprach die Frau immer weiter und beachtete mich nicht mehr richtig.

„Wir haben uns solche Sorgen gemacht, Abbey. Auch um die anderen Kinder, weil wir nicht wussten, was dich so krank gemacht hat. Gott sei Dank, war das nur ein Virus, den du von außen angeschleppt hast und der nicht auf die anderen Kinder übertragen wurde. Das hat zumindest der Arzt gesagt.“

Jetzt war ich mir sicher, dass sie log. In meinem früheren Aufenthalt hier, hatte sie nicht ein einziges Mal einen Arzt gerufen, oder etwas gegen die Krankheiten der Bewohner getan. Sie hat die Leidenden einfach sterben lassen, egal welche Qual sie erlitten. Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag. Bilder zuckten vor meinem inneren Auge auf. Ich blinzelte schwer, um die Erinnerungen wieder aus meinem Kopf zu bekommen und verkniff mir ein Stöhnen. Warum passierte das? Ich wollte mich nicht erinnern, ich wollte meine Vergangenheit tief eingesperrt lassen. Während ich so vor mich hinbrodelte, sprach die Aufseherin immer weiter von den Geschehnissen der letzten Wochen, die mich kein bisschen interessierten. Nichts davon war wirklich geschehen, während ich in meinem Bett lag. Zumindest hoffte ich das, weil ich schon spürte, wie ich nach und nach meinen Verstand verlor.

Ich hörte der Frau nicht mehr zu, bis sie mich erwartungsvoll anblickte. Hoffentlich hatte sie mir keine Frage gestellt. Eine Regung, die sie zu unterdrücken versichte, huschte über ihr Gesicht und dann lächelte sie wieder. Ich fühlte mich ertappt und fluchte innerlich. Warum musste ich immer mit den Gedanken abschweifen?

„Abbey, hast du mir zugehört?“

Mein Herz raste, während ich mir so schnell wie möglich eine plausible Ausrede einfallen ließ.

„Ich fürchte, dieser Virus war schwer zu besiegen. Ich fühle mich noch immer sehr schwach. Verzeiht mir meine Unaufmerksamkeit.“

Ein hässliches Lachen entblößte ihre Zähne und ich wich ein Stück von ihr zurück. Offenbar glaubte sie mir. Auf diese Art Zeichen dafür hätte ich aber gerne verzichtet. Sie widerte mich an.

„Dann will ich dich nicht länger quälen. Leg dich am besten schlafen und finde Ruhe. Aber bitte, würdest du zuvor noch einen Bissen essen? Sonst fällst du mir noch vom Fleisch, mein Kind.“

Ich hasste es, wenn sie wie eine fürsorgliche Großmutter sprach, die sich wirklich um das Wohl ihrer Schützlinge sorgte. Trotzdem neigte ich ergeben meinen Kopf, um ihr zu zeigen, dass ich verstanden hatte. Sie erhob sich daraufhin von ihrem Platz neben mir und stellte sich vor das Fenster. Ich traute mich nicht zu fragen, was sich draußen so besonderes befand und verließ stattdessen ohne ein weiteres Wort den Raum.

 

Ich lief gerade mit meinem Teller in der Hand von der Essensausgabe zu einem freien Platz im Speisesaal, als der komplette Raum plötzlich totenstill war. Bis auf ein Räuspern, das hinter mir ertönte. Misstrauisch drehte ich mich um und zog eine Augenbraue nach oben. Als ich aber erkannte, wer hinter mir stand, glitt mir mein Essen aus der Hand und verbreitete sich samt den Scherben meines Tellers auf dem Boden. Der Mann runzelte die Stirn, als er mich musterte und warf einen Blick zurück über seine Schulter. Ein zweiter Mann betrat den Raum, doch ich musste meine Aufmerksamkeit nicht vom ersten abwenden, um zu wissen, wer da gerade erschienen war. Trotzdem musterte ich ihn aus den Augenwinkeln und sah meine Annahme bestätigt. Was zum Teufel hatte die Abfallbeseitigung hier zu suchen?

„Meine Herren, ich glaube, sie sind hier falsch.“

Die Stimme der Frau riss uns alle drei aus unserer Trance. Mein Puls stieg in die Höhe. Wenn Erik und Jordan mich verraten würden, dann wäre es aus. Die Aufseherin würde sofort merken, dass etwas mit mir nicht stimmte und die zwei Männer könnten mich gleich mitnehmen. Mehr tot als lebendig, versteht sich. Ich schluckte schwer und beobachtete die Reaktion der beiden ganz genau. Sie tauschten vielsagende Blicke aus und drehten ihren Kopf immer wieder in meine Richtung. Die Alte wurde langsam unruhig.

„Abbey! Steh hier nicht so dumm herum und räum deine Sauerei weg. Das wird kein anderer für dich erledigen, egal wie lange du darauf wartest.“

Wütend drehte sie sich um und führte die Männer fort, vermutlich in den Keller. Der Dicke zwinkerte mir zu, bevor er verschwand und als er nicht mehr zu sehen war, ging ein Raunen durch den Saal. Dann lachte ein Mädchen. Ich hob meinen Kopf, um zu sehen, was passiert war. In Mitten eines Kreises flüsterte das Kind ihren Freundinnen zu, was sie so amüsierte und brachte dadurch alle anderen auch zum Lachen. Immer wieder warfen sie der Petze am anderen Ende des Saals verstohlene Blicke zu und kicherten wieder. Ich bekam Mitleid mit der Kleinen, auch wenn sie laut der Küchenhilfe den anderen Hausbewohnern das Leben schwerer machte.

Ich beeilte mich, als ich die Überreste meines Abendessens beseitigte und ging dann auf die Kleine zu. Ohne ein Wort setzte ich mich neben sie und löffelte in meinem neuen Teller Suppe. Sie sah kurz auf und senkte ihren Kopf dann wieder. Sie starrte auf ein Bild in ihrer Hand, das sie fest in ihrem Griff hatte. Als ich merkte, dass ihr einige Tränen über die Wange liefen, reichte ich ihr meine Serviette als Taschentuch. Erst zögerte sie, doch dann griff sie danach. Mit einem leisen ‚Dankeschön’ schnäuzte sie sich und stand dann auf, ohne mich ein zweites Mal anzusehen. Sie erinnerte mich so sehr an mich selbst, dass es mir weh tat, sie so einsam vorzufinden.

 

Nachdem ich gegessen hatte, brachte ich meinen Teller zurück an die Ausgabe, warf dem Mädchen, das Lewis so extrem ähnlich sah, ein Lächeln zu und verschwand dann auf mein Zimmer. Ich war eigentlich nicht müde, ließ mich aber trotzdem auf mein Bett fallen und starrte an die Decke. Ich zog gedanklich die Linien der Holzbalken nach, bis mich das zu sehr langweilte. Frustriert wandte ich meinen Kopf ab und schaute mich im Raum um. Ich hasste diesen Ort. Ich hasste ihn so sehr. Als ich schon nach meinem Kissen greifen wollte, um es mir auf die Augen zu legen, nahm ich aus den Augenwinkeln etwas glitzerndes am Boden neben dem Schränkchen wahr. Ich rappelte mich auf und ging darauf zu, bis ich das Etui mit dem Nähzeug erkannte. War das die ganze Zeit über so offen in meinem Zimmer gelegen? Paranoid drehte ich mich einmal um mich selbst, um das Zimmer nach einem Hinweis auf eine Falle zu überprüfen. Ich entdeckte nichts weltbewegendes und griff nach dem Etui. Ich musste es neulich vom Schränkchen gestoßen haben, als ich aus dem Raum geeilt bin. Ich drehte den Gegenstand in meinen Händen und überlegte mir ein passendes Versteck dafür. Das hätte ich schon viel früher machen sollen, fiel mir in diesem Moment auf und ich ärgerte mich über meine eigene Fahrlässigkeit. Mir jetzt Vorwürfe zu machen, half aber nichts und ich suchte den Raum nach einem verborgenen Ort ab. Mit meinen Händen tastete ich die Bodendielen ab, um Hohlräume darunter zu entdecken, wurde aber enttäuscht. Auch die Wände hinterließen nicht den Eindruck, bei meiner Suche irgendwie hilfreich zu sein. Frustriert legte ich den Kopf in den Nacken und starrte an die Decke. Meine Stirn zog sich in Falten, als ich die Nische zwischen den Balken und der Decke entdeckte. Ein Grinsen stahl sich auf meine Lippen, als ich auf mein Bett stieg und das Holz genauer abtastete. Meine Hand passte gerade so in die Lücke, nachdem ich das Etui verstaut hatte. Aus möglichst vielen Winkel am Boden meines Zimmers schielte ich zu der Stelle an der Decke. Man konnte nicht erkennen, dass ich dort etwas hinterlassen hatte. So sollte es sein. Ich lachte kurz und verstummte sogleich wieder. Ich wollte doch keine Aufmerksamkeit erregen. Zufrieden legte ich mich in mein Bett und schlief sofort ein.

 

 

Lange wälzte ich mich auf der harten Matratze hin und her, bis ich endlich einschlafen konnte. Die Luft um mich herum war heiß und stickig, als ich erwachte. Schweißperlen standen mir auf der Stirn und ich wischte sie mit meinem rechten Handrücken weg. Auch meine Augen rieb ich mir, um die Müdigkeit los zu werden. Der Mond schien in mein Zimmer und ließ mich die Umrisse der Möbel erkennen. Aus dem Augenwinkel nahm ich eine Bewegung neben der Kommode wahr. Unter meiner Decke verkrampfe ich mich und griff nach meinem Teddy. Er stand mir bei, während sich die Augen des Monsters mir gegenüber sich auf mich richteten. Er sah mich an, kam näher und blieb direkt über mir stehen. Wie gebannt starrte ich ihm entgegen und bewegte mich keinen Millimeter, als er sich zu mir auf mein Bett setzte. Erst als ich seine Hand an meiner Wange spürte, erwachte ich aus meiner Starre und ließ mich in seine Arme fallen. Er wohnte in dem Waisenhaus, so wie ich und war kein Monster. Fest drückte er mich an sich.

Moment Mal! Das kannte ich doch bereits. Während der Junge mich an seine Brust drückte, spürte ich kaum noch Geborgenheit. Ich wusste, dass ich träumte. Ich wusste, dass das eine Erinnerung war, die mich schon einmal im Schlaf heimgesucht hatte. Wollte mein Unterbewusstsein etwas mitteilen? Hatte ich etwas übersehen?

„Wie bist du hier…“

Weiter kam ich nicht, denn der Junge hielt mir den Mund zu. Er flüsterte in mein Ohr, sodass sein Atem meinen Nacken streichelte.

„Tut mir leid, dass ich dich erschreckt habe. Du brauchst aber keine Angst vor mir zu haben. Ich bin ein Freund und würde dir nichts tun. Nicht so wie…du weißt schon. Du musst mir jetzt ganz genau zuhören, ja?“

Unruhe machte sich in mir breit. Wie war es möglich, dass ich das hier erlebte? Nie zuvor konnte ich zwischen Traum und Wirklichkeit unterscheiden.

Ich nickte leicht, riss meine Augen weit auf während er sprach und lauschte ihm gespannt.

„Was hier passiert, ist nicht normal. Egal, was man uns erzählt. Ich hab einen Ausweg gefunden und werde euch alle so schnell wie möglich nachholen. Glaubt nicht, was diese Monster euch hier einreden wollen, hörst du? Lass nicht zu, dass sie Besitz von euch ergreifen. Lauf weg, solange du kannst. Hast du das verstanden?“

Es war unglaublich, was er mir sagte. Hatte er damals tatsächlich einen Weg gefunden, uns aus dem Waisenhaus zu holen? Wie war er in mein Zimmer gelangt? Den Schlüssel trug immer die Aufseherin bei sich, ich hatte den Bund an ihrem Gürtel gesehen. Hatten die Männer in der Wohnung richtig gelegen und es gab Geheimgänge? Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch es kam kein Ton heraus. Die Atmosphäre veränderte sich. Immer mehr trat ich in die Realität zurück und der Traum glitt mir aus den Händen. Ich wollte den Jungen fragen, was ich tun sollte, aber soweit kam ich nicht. Er schritt mir ins Wort, doch aus seinem Mund kam ein ächzendes Geräusch. Es klang wie das Knarren von Holz. Immer und immer wieder gab er solche Töne von sich, bis es vor meinen Augen plötzlich schwarz wurde. Wieder ertönte das Geräusch, ganz nah an meinem Ohr. Ich riss die Augen auf und wusste diesmal ohne Zweifel, dass ich wach war. Als sich plötzlich eine große Hand auf meinen Mund presste, wollte ich schreien. Dass ich das nicht konnte, war natürlich von dem Mann in meinem Zimmer beabsichtigt. Seine Haut war schwitzig und der Geruch breitete sich in meiner Nase aus. Ich überlegte mir zweimal, ob ich in seine Hand beißen sollte, um mich zu befreien, doch er zog sie schon weg. Er trat einen Schritt zurück und hob die Arme an. Ein Zeichen, dass er mir nichts tun würde. Unter seinem Gewicht knarrte der Boden. Von da an wusste ich, was ich im Schlaf gehört hatte.

„Vorsicht.“

Er nuschelte in seinen Bart und drückte dann den Lichtschalter. Trotz seiner Warnung blendete mich das Licht und ich hob schützend einen Arm vor meine Augen. Auch er blinzelte ein bisschen, doch das bemerkte ich nur am Rande.

„Das ist jetzt nicht wahr.“

Entschuldigend blickte er mir entgegen.

„Hi. Ich bin Erik.“

„Ich weiß, wer du bist. Was willst du hier?“

„Das selbe haben Jordan und ich uns auch gefragt, als Harveys Betthäschen plötzlich vor uns stand.“

„Ich bin nicht sein Betthäschen.“

Leider klang meine Stimme nicht so überzeugend, wie ich es gerne vernommen hätte. Erik überging das aber mit einem Schulterzucken.

„Was willst du hier in meinem Zimmer? Ich habe ehrlich gesagt keine Lust, mit der Abfallbeseitigung in Verbindung gebracht zu werden.“

Er schmunzelte.

„Ach Süße, du solltest wirklich aufpassen, wie du dich ausdrückst. Das war nicht nett und es ist völlig egal, was du in diesem Haus zu suchen hast. Ich werde mit Sicherheit am längeren Hebel sitzen. Verstanden?“

Ich schluckte meine Wut hinunter. Es war nicht gut, mir noch mehr Feinde zu schaffen, wenn ich schon mit den jetzigen kaum zurecht kam. Irgendwie war ich sogar froh, ein bekanntes Gesicht von außerhalb zu sehen.

„Verstanden. Aber bitte, ich frage dich jetzt zum dritten und letzten Mal. Was machst du hier?“

„Wir haben wieder einen Auftrag bekommen.“

„Wieder?“

Er lachte kurz auf, verstummte aber schnell, als ich ihm gegen die Schulter haute. Man sollte ihn hier doch nicht bemerken und er verstand offenbar mein Anliegen.

„Du hast doch sicher bemerkt, dass die Kinder mucksmäuschenstill waren, als wir im Speisesaal standen, oder?“

Ich nickte. Ich dachte allerdings, dass die Kleinen einfach so Angst vor fremden Männern hatten.

„Sie sind nicht dumm. Immer wenn wir aufgetaucht sind, ist einer von ihnen verschwunden und ein paar Tage danach in einem Leichensack von uns raus getragen worden.“

„Seid ihr aus dem selben Grund auch heute wieder da?“

„Glaubst du, wir würden unsere Zeit verschwenden?“

Natürlich nicht. Oh Gott, ich wusste gleich, dass ihre Anwesenheit nichts Gutes zu bedeuten hatte.   

„Und was hat das jetzt mit mir zu tun? Warum weckst du mich mitten in der Nacht auf?“

„Du schuldest mir Geld.“

„Bitte was? Ich schulde dir gar nichts!“

„Du bist Harveys…“

„Nichts bin ich! Vergiss einfach, dass du mich jemals mit ihm gesehen hast, okay? Wende dich an ihn, wenn du deine Kohle willst.“

Wenn er mich noch einmal an den gefühlskalten Idioten erinnerte, dann würde mir tatsächlich bald die Hand ausrutschen. Erik hob eine Augenbraue.

„Du weißt nicht zufällig wo er sich mit Julian versteckt?“

„Warum sollte ich?“

Er glaubte mir nicht, was ich ihm aber nicht wirklich verübeln konnte. In meiner Stimme lag kein bisschen Überzeugungskraft. Als er nichts mehr sagte, wurde ich nervös.

„Wie bist du hier überhaupt rein gekommen? Die Tür wurde von außen verschlossen.“

„Du armes, ahnungsloses Mädchen. Wie bist du hier nur hineingeraten?“

Ich mochte es nicht, wenn man mich wie eine Fünfjährige behandelte. Ich schlug seine Hand von meiner Wange und stand auf. Der Dicke überragte mich gerade so einen halben Kopf. Trotzdem wich ich wieder ein Stück zurück. Er war stark und mir deshalb nicht geheuer. Ein Grinsen stahl sich auf sein Gesicht und er packte mein Kinn. Er drehte es leicht und betrachtete mich von allen Seiten.

„Die Leiche, die uns damals entgangen ist, das warst du, hab ich Recht? Das war deine Wohnung, wo ihr euch versteckt habt, stimmt’s?“

„Ist das wichtig? Immerhin bin ich am Leben.“

„Also liege ich richtig. Meine Güte. Dir ist klar, dass deine Jungs sich für dich den Arsch aufreißen, oder?“

Ich befreite mich aus seinem Griff und drehte mich um. Mein Blick glitt aus dem Fenster in die Ferne, als er weiter sprach.

„Wir wissen zwar nicht, wo sie sich zurückgezogen haben, aber ich weiß, wo der Neuling arbeiten geht. Er verkriecht sich wieder bei den Bullen und hilft bei Hausdurchsuchungen. Kein schöner Job, wenn du mich fragst.“

Ein leises Schnauben entwich meiner Kehle.

„Und Leichen verschwinden zu lassen, um ihre Körperteile zu verticken, ist besser?“

„So war das nicht gemeint. Mädel! Gegen Matthew läuft ein Verfahren, weil er sich selbst angezeigt hat. Oder glaubst du etwa, dass seine Kollegen ihn mit offenen Armen empfangen haben, nachdem er sich aus dem Staub gemacht hat. Zusammen mit den meistgesuchten Verbrechern der Stadt, denen er nebenbei auch noch wunderbar unter die Arme gegriffen hat?“

Ich hielt den Atem an. Stimmte das etwa? Hatte sich Matt wirklich ans eigene Messer geliefert?

„Wieso sollt er das tun?“

„Sie brauchen Geld, um unsere Rechnung zu begleichen. Deine Rechnung. In Harveys Haut möchte ich aber auch nicht stecken. Wie ich Julian kenne, wird er seinem Kumpel deswegen ganz schön die Hölle heiß machen.“

Das konnte ich mir vorstellen.

„Woher weißt du das alles?“

„Ich habe meine Quellen.“

Misstrauisch wandte ich mich wieder zu ihm und beäugte ihn kritisch. Nichts deutete darauf hin, dass er mir etwas vorspielte. Nur was kümmerte ihn das alles? Es zeigte ihm doch bloß, dass er sein Geld bekommen würde und das wollte er doch.

„Dann werden deine Quellen die Jungs auch sicher ausfindig machen.“

Ich betonte das extra, um durch das Mikro in meinem Knopf eine Warnung zu schicken. Sie sollten lieber aufpassen, man war ihnen auf der Spur. Wenn Erik und Jordan sie finden konnten, war das sicher auch anderen möglich, die es darauf ansetzten.

„Ach Kleine, du bist so schön naiv.“

Erst wollte ich ihm dafür eine kleben, doch stattdessen setze ich ein verspieltes Lächeln auf, legte eine Hand auf seine Schulter und lugte unter meinen Wimpern hervor zu ihm. Etwas betreten wich er zurück, doch ich vergrub meine Fingernägel in seiner Haut. Er zuckte etwas zusammen und versuchte sich dem Schmerz zu entziehen.

„Vielleicht will ich ja, dass man das von mir denkt. Vielleicht bin ich ja naiv, um meinen Gegenüber leichtsinnig werden zu lassen.“

Mein Griff wurde fester und ich hob mein Knie an und platzierte es direkt in seine Weichteile. Nur noch ein Stück und er würde sich vor mir krümmen und winseln, damit ich aufhörte. Oh ja, ich konnte mich verteidigen und das wurde ihm gerade schmerzlich bewusst.

„Schon gut, schon gut. Ich hab verstanden. Tu jetzt nichts, was du später bereust. Wie gesagt, ich sitze am längeren Hebel.“

Ich ließ von ihm ab und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Ach ja? Und das weißt du, weil..? Du hast keine Ahnung, was ich hier mache, geschweige denn, welchen Rang ich hier habe. Leg dich nicht mit der Falschen an. Sonst wirst du es sein, der bereut, nicht ich.“

Ich bluffte und strengte mich an, dabei so überzeugend wie möglich zu sein. Wenn er merkte, dass ich ihm etwas vormachte, wäre ich dran. Abwehrend hob er die Hände und ging auf meinen Schrank zu. Was hatte er vor? Ich lugte an seiner Schulter vorbei und traute meinen Augen nicht. Wie hatte mir die ganze Zeit entgehen können, dass der Schrank zur Seite geschoben worden war? Hinter der Holzwand befand sich ein kleiner Durchgang, der nur mit einem lockeren Brett verdeckt war. Gab es das in jedem Zimmer? Ich versuchte, mir meine Überraschung nicht anmerken zu lassen. Wenn er mir glauben sollte, dass ich im Waisenhaus einiges zu sagen hatte, musste ich auch über die Geheimgänge informiert sein. Aber hatte ich mich denn nicht sowieso schon verraten? Immerhin habe ich mehrmals gefragt, wie er in mein Zimmer gekommen war. Er musterte meine Reaktion von der Seite. Es war offensichtlich, dass meine Gedanken sich nur so überschlugen, aber den Inhalt konnte er zu meinem Glück nicht durchblicken.

„Was ist?“

„Ach. Ich ärgere mich nur darüber, dass ich nicht selber auf die Idee gekommen bin. Ich hätte mir die Frage, wie du zu mir gekommen bist, auch sparen können.“

„Ja allerdings.“

Er nickte mir zu und quetschte sich durch das Loch in der Wand. Entsetzt schaute ich ihm nach. Wollte er den Weg nicht wieder hinter ihm verschließen?

„Worauf wartest du?“

Sollte ich hinter ihm dicht machen? Erik steckte seinen Kopf wieder zurück in den Raum.

„Hallo? Ich warte. Beweg deinen Arsch hier her.“

Ich schluckte schwer. Erwartete er tatsächlich, dass ich ihm folgte? Aber ich wusste doch nicht, wo er mich hinführen würde. Vielleicht war das ja auch eine Falle und ich würde mich selber ausliefern. Mein weiteres Zögern brachte den Mann auf die Palme.

„Was ist dein Problem?“

„Ich weiß nicht, warum ich mitkommen sollte.“

„Na weil du wissen willst, was sich am anderen Ende des Durchgang befindet. Schau nicht so, ich hab doch gemerkt, dass du keine Ahnung hast.“

Ich presste meine Lippen aufeinander und wandte den Blick von dem Loch ab. In meinem alten Zimmer musste es so etwas auch gegeben haben, sonst hätte der Junge aus meinem Traum niemals zu mir gefunden.

„Klar weiß ich, was das ist. Eine Verbindung zwischen den einzelnen Räumen der Kinder. Ich bin doch nicht blöd.“

„Und weiter?“

Mehr fiel mir auch nicht ein. Ich musste mir schnell eine Ausrede einfallen lassen.

„Ich hab die Zweitwege eben noch nicht benutzt, aber nur, weil ich es nicht gebraucht habe. Ich bin noch nicht lange in dieses Haus hier versetzt worden und wollte die Aufseherin nicht überrumpeln. Sobald ich die Zeit habe, werde ich mich schon umsehen, keine Sorge.“

Den letzten Teil meinte ich sogar wirklich so. Die Gelegenheit, im Haus zu stöbern, würde ich mir sicher nicht entgehen lassen.

„Warum nicht jetzt?“

„Wie schon gesagt, ich möchte nicht mit der Abfallbeseitigung in Verbindung gebracht werden. Also, es wäre mir sehr lieb, wenn du endlich verschwinden würdest.“

Ich setzte ein Lächeln auf, das nicht erwidert wurde. Mit viel Überwindung ging ich auf Erik zu, nahm das Brett und versperrte den Durchgang. Den Schrank dann wieder an die richtige Stelle zu schieben, war einfacher als gedacht. Die Frau musste ihre Zimmer mit extra leichtem Holz ausgestattet haben, damit sie einfach in die Zimmer eindringen konnte. Das war so krank. Ein hysterisches Lachen entwischte meiner Kehle. Ich wollte gar nicht wissen, wie oft die Alte oder ihr Mann damals unbemerkt in meinem Zimmer waren während ich schlief.

 

 

Die nächsten beiden Tage hatte ich weder Jordan, noch Erik zu Gesicht bekommen und wollte mich eigentlich darüber freuen. Dennoch konnte man die Anspannung aller Hausbewohner in der Luft spüren. Wir warteten schon darauf, dass eine Leiche weggeschafft werden musste. Wie oft das wohl vorkam? Ich schüttelte die schlechten Gedanken von mir ab und machte mich auf den Weg in den Speisesaal. Es schien beinahe so, als würde ich meine Zeit in dem Haus nur dort und auf meinem Zimmer verbringen. Tatsächlich hatte ich vor, bald die Initiative zu ergreifen und mich durch die geheimen Gänge zu schlagen. Das würde ich mich aber erst trauen, wenn die Aufseherin außer Haus war. Ich wollte nicht von ihr erwischt werden, geschweige denn einen Grund bieten, mich zu bestrafen.

Wie immer setzte ich mich zur Petze und ich glaubte, selber auch schon einen schlechten Ruf zu haben. Es war erbärmlich, wie Kinder miteinander umgingen, doch irgendwie konnte ich sie auch verstehen. Sie hatten alle Angst und keiner wollte der nächste sein, der ins Gras biss. Ich stocherte in der grauen Pampe herum, die Kartoffelbrei genannt wurde, als mich etwas von hinten am Kopf traf. Am Rande meines Sichtfelds erkannte ich, dass es sich um eine Erbse handelte. Dann traf mich noch eine und ich merkte, wie auch das Mädchen neben mir zusammenzuckte. Dann kicherten die Kinder am anderen Ende des Raums. Tränen stahlen sich in die Augen der Kleinen und Wut kochte in mir hoch. Wenn sie schon mit Essen um sich werfen mussten, dann doch bitte auf jemanden, der sich wehren konnte. Das Mädchen war die Jüngste im Waisenhaus und erhielt keinerlei Unterstützung. Kein Wunder, dass sie sich von den anderen abwandte. Mir reichte es. Ich erhob mich und schmiss dabei versehentlich meinen Stuhl nach hinten um. Das war mir egal. Ich hätte mich nicht provozieren lassen sollen, doch auch das interessierte mich im Moment herzlich wenig. Ich musste ausgesehen haben wie ein schnaubender Bulle, der nach dem roten Tuch suchte, als ich mich im Raum umblickte. Alle Anwesenden wurden ganz still und beäugten mich neugierig, aber auch spöttisch. Ein Junge, der ungefähr zwölf sein musste, ließ ein ironisches „Uuh, jetzt hab ich aber Angst“ hören und machte sich daher nicht gerade beliebt bei mir. Ich packte ihn am Kragen und hob ihn etwas an. Seine Zehenspitzen berührten gerade noch so den Boden, seine Augen waren ganz weit aufgerissen. Der Hosenscheißer hatte wahrscheinlich doppelt so viel Angst, wie alle anderen zusammen.

„Wer hat uns abgeworfen? Warst das du?“

„Nein! Ich…ich…ich hab keine Ahnung, wer das war. Ich schwöre.“

Als ich eine Augenbraue nach oben zog, bewegten sich seine Augen kurz zu einem Mädchen neben ihm und wieder zu mir. Sie schüttelte kaum merkbar den Kopf und wollte gerade verschwinden. Ich kam ihr dazwischen, indem ich den Jungen auf seinen Stuhl fallen ließ und sie an der Rückseite ihres Kleids packte. Erschrocken keuchte sie auf, als ich sie zu mir herumdrehte.

„Entschuldige dich bei der Kleinen.“

Ihr Blick wurde trotzig und sie reckte ihr Kinn nach vorne.

„Nein. Sie hat mich schon so oft verpfiffen und ich habe keine Lust mehr auf ihr Getue. Soll sie doch als nächstes in den Keller gerufen werden, mir egal.“

Ich sah in ihrem Blick, dass sie das nicht so hart meinte. Wusste sie denn überhaupt, was sie da sagte?

„Und was ist dann in diesem Keller?“

„Woher soll ich das denn wissen. Aber wenn die Kleine so gerne plaudert, wird sie uns das ja dann berichten.“

„Bitte. Ich meinte die Frage ernst. Was weißt du über den Keller?“

Sie drehte sich Hilfe suchend zu ihren Freundinnen um. Alle zuckten sie mit ihren Schultern. Ich richtete mich daraufhin an alle.

„Wisst ihr, ich weiß, dass ihr Angst habt. Mir geht es doch auch so. Eigentlich ist es gut, dass ihr so zusammenhaltet und euch unterstützt. Ich bitte euch, schließt niemanden aus eurem Kreis aus. Das ist so grausam, ich weiß, wovon ich rede. Würdest du dich jetzt entschuldigen?“

„Es tut mir leid, Marie.“

Sie meinte das nicht ernst, doch das genügte mir. Jetzt wusste ich wenigstens, wie die ‚Petze’ wirklich hieß. Zufrieden lächelte ich das Mädchen vor mir an.

„Geht doch, warum nicht gleich so?“

Sie streckte mir ihre Zunge raus und wollte meinen Griff von ihrem Kleid lösen. Ich wollte gerade von ihr ablassen, als die Aufseherin in den Raum trat.

„Was. Ist. Hier. Los?“

Ich wich ein großes Stück zurück und hob meine Hände, als die Alte mich an meinem rechten Ohr packte und in ihr Zimmer zog. Dort ließ sie mich genauso grob los.

„Du wagst es, dich an den Kindern zu vergreifen?“

„Das war nicht, wie es ausgesehen hat!“

„Ja, das sagen sie alle. Behalte deine Ausreden für dich, ich will sie nicht hören. Zur Strafe wirst du morgen alle Räume dieses Hauses putzen.“

Ich öffnete meinen Mund, um zu protestieren, schloss ihn aber sogleich wieder. Zum einen, weil die Frau mir einen Killerblick zuwarf, zum anderen weil ich mich bei der Gelegenheit gleich ein bisschen besser umsehen konnte. Ergeben nickte ich.

„Und wehe, ich komme morgen Abend zurück und entdecke ein Staubkörnchen auf dem Boden.“

Wieder nickte ich. Das würde ich nie schaffen und mich erwartete eine weitere Strafe. Also musste ich mich auch nicht wirklich anstrengen und konnte mich tatsächlich auf meine Suche konzentrieren. Nach was genau ich suchen sollte, wusste ich zwar nicht. Nur, dass ich es erkennen würde, sobald ich es in den Händen hielt. Ich unterdrückte ein Grinsen. Wie sie sagte, war sie morgen den ganzen Tag nicht zu Hause und ich hatte die Erlaubnis, in jedem Raum zu sein, in den ich wollte. Besser konnte meine Bestrafung kaum sein.

 

Ich beobachtete vom Fenster aus, wie die Alte den Weg entlang ging und uns alleine ließ. Jetzt konnte es losgehen. Ich schnappte mir Besen, Eimer, Lappen und Wischmopp aus der Abstellkammer und reinigte zuerst die Küche und die Speisekammer von Essensresten. Ich brauchte länger als gedacht, weil viele Leute hier durchmarschierten und immer wieder ihren Dreck mit herein brachten. Nach drei Stunden glänzten der Boden und die Tische, sowie die Stühle, Fenster und Küchenutensilien. So schnell war ich noch nie gewesen. Zufrieden mit meinem Werk, stürmte ich aus dem Raum in mein eigenes Zimmer. Hier putzte ich so grob wie möglich, weil ich die Geheimnisse, die hinter der Holzfassade lagen, schon kannte. Dann machte ich mich an die Zimmer meiner Mitbewohner. Alle waren mit den selben Möbeln ausgestattet, die aber immer wieder an anderen Wänden standen. Das lag vermutlich daran, dass sich hinter den Schränken immer die Eingänge zum Geheimgang verbargen. Ich war versucht, sogleich dort hinein zu schlüpfen, unterdrückte meine Neugier jedoch. Wenn, dann würde ich von meinem eigenen Zimmer aus losgehen und mich durch die Dunkelheit kämpfen. Zuvor müsste ich mir sowieso noch eine Taschenlampe besorgen. Trotzdem nutzte ich in den anderen Zimmern die Gelegenheit, die Bretter vor den Zugängen von der Innenseite mit einer leichten Kerbe in der rechten Ecke zu markieren. Dann würde ich wissen, dass ich mich bei meiner Suche auf dem falschen Weg befand, denn die Zimmer meiner Mitbewohner strebte ich eigentlich kein zweites Mal an.

Es war schon spät geworden und ich hatte noch ein Kinderzimmer vor mir. Maries. Das, in dem ich früher wohnte. Ich klopfte an, denn ich hatte die Kleine den ganzen Tag nicht mit den anderen im Aufenthaltsraum gesehen. Das Holz schwang nach innen offen und machte mir den Weg frei. Ich drehte mich in der Mitte des Raumes um meine eigene Achse. Die Ausstattung sah aus, wie in den anderen Zimmern. Ich atmete erleichtert durch, weil sich keine Erinnerungen an die Oberfläche gruben. Marie räusperte sich leise und erregte dadurch meine Aufmerksamkeit. Plötzlich schlangen sich ihre schwachen Ärmchen um meine Beine und sie schluchzte leise. Es war herzzerreißend und ich nahm sie in die Arme. Ich tätschelte ihren Kopf, als wir uns auf ihr Bett setzten und sie sich an meine Brust schmiegte. Eine halbe Stunde später hatte sie sich wieder beruhigt und sah mir in die Augen. Ich wischte ihr die Überreste ihrer Tränen von den Wangen und biss mir auf die Unterlippe. Eigentlich hatte ich jetzt keine Zeit, mich weiter um sie zu kümmern.

„Danke.“

„Keine Ursache. Nur, weißt du, ich muss mich wieder an die Arbeit machen.“

„Oh, also in meinem Zimmer ist es nicht dreckig. Das habe ich schon erledigt.“

„Tatsächlich. Dann ist es wohl an mir, mich zu bedanken.“

„Nein, schon gut. Du hast mich vor den anderen unterstützt und eigentlich ist es meine Schuld, dass du bestraft wurdest. Und mein Daddy hat auch gesagt, dass ich immer ordentlich sein soll.“

„Du hast deinen Vater sehr gern, hab ich Recht?“

Sie nickte und stand vom Bett auf. Sie kniete sich hin und zog unter ihrer Matratze ein altes Foto hervor. Sie trug es neulich im Speisesaal auch bei sich, doch genaueres konnte ich damals nicht erkennen. Jetzt hielt sie es mir unter die Nase und ich lächelte, als ich Marie in einem schönen Sommerkleid auf den Armen eines Mannes erkannte. Sie schmiegte sich an seine Brust und schien unglaublich glücklich zu sein.

„Das ist er.“

Sie zog ihren Finger auf die Seite, sodass ich sein Gesicht erkennen konnte. Mir stockte der Atem, mein Herz setzte aus. Julian hatte eine Tochter? Warum war sie dann im Waisenhaus? Wieso kümmerte er sich nicht um sie? Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen und stellte mich dumm.

„Darf ich fragen, was mit Ju…ich meine deinem Vater passiert ist?“

Sie runzelte die Stirn, schien aber nicht über meinen Patzer nachzudenken.

„Ich weiß nicht. Er kommt mich manchmal besuchen und sagt, dass er mich so bald er kann zu sich holt. Aber so ein Mann mit schwarzem Kittel hat ihn bis jetzt immer aufgehalten.“

„Ein Mann mit schwarzem Kittel? Meinst du einen Richter?“

Sie nickte, dankbar, dass mir das passende Wort eingefallen war. Ich konnte es nicht fassen. Julian hatte eine Tochter und konnte vor Gericht nicht durchsetzen, sie aus den Fängen der Sekte zu befreien. Ich fühlte mich schrecklich. Irgendwie bot mir das einen weiteren Anreiz, die Machenschaften hier zu beenden. Hier und in jeder Zweigstelle. Jetzt wusste ich, was Harvey meinte. Mir ging es längst nicht mehr nur um Rache. Das Wohl so vieler Kinder stand auf dem Spiel.

„Was ist denn mit deiner Mutter?“

„Die ist in einem anderen Haus. Man hat mich vor zwei Monaten von ihr getrennt und hierher gebracht.“

„Will deine Mutter, dass du so eine Erziehung bekommst?“

Sie nickte und Tränen rannten ihr wieder über das Gesicht. Ich zog sie zu mir, damit sie ihren Kopf an meiner Schulter stützen konnte. Komischerweise fühlte ich mich für sie verantwortlich.

„Daddy wird das schon machen, wenn ich nur brav bin. Dann werden die anderen Kinder nicht mehr lachen. Die sind nur eifersüchtig, weil sie keine Eltern mehr haben und ich schon. Deshalb schließen sie mich aus.“

„Du bist ein sehr kluges Mädchen, Marie. Glaub mir, dein Vater setzt alle Hebel in Bewegung, damit du bald bei ihm sein kannst.“

„Woher willst du das wissen?“

„Das hab ich einfach so im Gefühl.“

Ich gab ihr einen Kuss auf die Stirn und ließ sie dann in ihrem Zimmer alleine. Jetzt war keine Zeit mehr, um mich um fremde Angelegenheiten zu kümmern. Auch wenn es mir im Herzen weh tat, die Kleine alleine zu lassen, räumte ich mein Putzzeug zurück in die Kammer und schnappte mir die Taschenlampe aus dem Regal. Jetzt ging es an die wirkliche Drecksarbeit.

 

 

 

 

 

Verrückte!

Als ich den Schrank von dem Geheimgang wegrückte und das Brett entfernte, fühlte ich mich, als würden hundert Augenpaare auf mich gerichtet sein. Paranoid drehte ich mich immer wieder, um einen Blick über meine Schulter zurück werfen zu können. Mit geschlossenen Augen atmete ich einmal tief ein und aus und entspannte mich ein wenig.

„Alles ist gut. Ich gehe jetzt durch den Gang und suche nach etwas Verdächtigem. Keine Ahnung, was mich erwartet, aber die Aufseherin wird es hoffentlich nicht sein. Noch ist sie außer Haus. Trotzdem, wer weiß, welche Gefahren sich in den alten Gemäuern verstecken.“

Zum einen flüsterte ich mir selbst Mut zu, zum anderen erstattete ich den Männern in der Wohnung Bericht über mein Vorhaben. Nach kurzem Zögern entschied ich mich im Durchgang dafür, den Weg hinter mir zu verschließen, das Brett allerdings einen Spalt breit offen zu lassen, damit ich wieder in mein eigenes Zimmer zurückfand. Von völliger Dunkelheit eingehüllt, führte ich meine Handgriffe sehr gehetzt durch. Ich rechnete damit, dass mich jeden Moment etwas von hinten packen und wegschleifen könnte, wenn ich das Licht meiner Taschenlampe nicht schnell darauf richtete. Erst als der gelbe Strahl mir meine Sicht zurückbrachte, presste ich die Luft wieder aus meinen Lungen. Auch wenn ich mich nun wieder auf meine Sinne stützen konnte, gefiel mir nicht, was sich vor meinen Augen auftat. Der Gang war schmal und der Putz bröckelte von den Wänden, als ich mit meiner rechten Schulter dagegen stieß. Der Weg war wie ein Labyrinth aufgebaut, durch das ich mich Schritt für Schritt kämpfte. Alles in mir schrie danach, umzukehren und mich in meinem Bett zu verkriechen, bis Harvey mich wieder herausholte. Aber dann wäre alles umsonst gewesen und mein Besuch hier wäre nutzlos geblieben. An jeder Abzweigung sprach ich mir neuen Mut zu, um nicht völlig durchzudrehen. Worauf hatte ich mich hier nur eingelassen?

Immer wieder drangen leise Geräusche an meine Ohren. Ich erschrak mich beinahe jedes Mal zu Tode, wenn hinter mir jemand hustete oder weinte, aber es waren nur die Kinder in ihren Zimmern. Meine Schritte wurden umso schneller, je weiter ich mich von meinem eigenen entfernte. So gut es ging, versuchte ich die Angst hinunter zu schlucken und trieb mich selbst stets weiter voran. Als ich aber die Stimmen von Erik und Jordan aus einem Gang neben mir hörte, bereute ich meine Waghalsigkeit. Sofort schaltete ich meine Taschenlampe aus und drängte mich an die Wand. Die Stimmen kamen immer näher, die Richtung konnte ich aber nicht genau bestimmen. Es echote hier drin, weshalb ich nicht so einfach weglaufen konnte, ohne ihnen direkt in die Arme zu laufen. Erst als ich den Kegel ihrer Lampe entdeckte und große Schatten an der Wand erkannte, zog ich mich weiter in die Dunkelheit zurück. Diesmal machte mir sie keine Angst, sondern bot Schutz.

„Der Kleine ist schwerer als gedacht.“

„Jammer nicht. Dann ist wenigstens etwas an ihm dran.“

Ich runzelte die Stirn. Was meinten sie damit? Vorsichtig lugte ich über meine Schulter und konzentrierte mich auf die Schatten. Verzerrt erkennbar waren tatsächlich Eriks und Jordans Gestalten, aber auch etwas Flaches am Boden, das ich zunächst nicht genau identifizieren konnte. Erik schleifte es hinter sich her und plagte sich dabei ab. Dann ließ er los und Jordan griff unter sich. Er hievte das Unbekannte nach oben und warf es sich über die Schulter. Nur mit allen meinen Kräften konnte ich mich zusammenreißen und biss mir leicht auf die Zunge, um nicht laut aufzukreischen. Ein leises Wimmern entwich trotzdem meiner Kehle, als die Männer direkt mein Blickfeld kreuzten und im nächsten Gang verschwinden wollten. Ein Junge, vielleicht zwölf Jahre alt, baumelte Kopf über an Jordans Körper herab. Die Augen direkt auf mich gerichtet, der Mund zu einer Grimasse verzerrt. Tot. Es war der Kleine, der sich noch einen Tag zuvor mit mir angelegt hatte. Er war quietschlebendig, als ich ihn das letzte Mal sah und jetzt hat die Lebenskraft ihn verlassen. Er war vorlaut und hat bei mir die Sicherungen durchbrennen lassen, aber so ein Ende hatte er sicherlich nicht verdient.

„Hast du das gehört?“

„Siehst du schon wieder Gespenster, Erik?“

„Nein, im Ernst, da heult doch jemand.“

Der Mann trat ein Stück in meine Richtung. Ertappt wich ich zurück und schlug ohne Licht einen neuen Weg ein. Dabei achtete ich nicht gut genug auf meine Füße und stolperte in einen Raum. Neben dem Durchgang lehnte ich mich mit dem Oberkörper gegen die Wand und lauschte, ob die Männer mir gefolgt waren.

„Jetzt lass das Erik. Das sind bestimmt die Kinder in ihren Zimmern, die sich vor Angst in die Hosen machen.“

Sein Partner erwiderte darauf etwas in einer anderen Sprache, die ich nicht genau verstehen konnte. Ihre Stimmen wurden leiser und verloren sich schließlich in der Entfernung. Erleichtert stieß ich die Luft aus und lehnte meine Stirn an die Wand vor mir. Das war knapp. Der Dreck blieb leicht an meinem Schweiß hängen, doch das war mir egal. Ich rieb ihn mir  gelassen mit dem Handrücken fort und wandte mich um, damit ich den Raum genauer unter die Lupe nehmen konnte. Als sich zwei wütende Augen auf mich richteten und eine Hand nach vorne schnellte, um mir die Luft abzuschnüren, hasste ich mich für meinen viel zu verspäteten Einfall. Neben mir wurde gegen die Wand geschlagen und der Raum erhellte sich. Lewis.

„Was zum Teufel hast du hier zu suchen?“

Ich öffnete den Mund, um ihm zu antworten, brachte aber keinen Ton heraus. Er musterte mich von oben bis unten und ließ dann von mir ab. Keuchend rieb ich mir die Kehle, als ich wieder atmen konnte.  

„Also? Ich warte auf deine Antwort!“

„Hab mich verlaufen.“

„Für wie blöd hältst du mich eigentlich, Abbey?“

Ich hielt es nicht für nötig, ihm darauf eine Antwort zu geben, denn er drehte sich um. Seinen Bewegungen folgte ich mit den Augen und entdeckte dabei ein gemütlich eingerichtetes Zimmer. Ein Bett, eine Kommode und ein Schrank wie bei mir. Doch das Sofa, die Bücher und die Bilder an den Wänden vermittelten eine verdächtig angenehme Atmosphäre unter diesem Dach.

„Wohnst du hier?“

Er grummelte ein bestätigendes ‚Hm’ zur Antwort und kramte in der obersten Schublade seines Schrankes.

„Was suchst du denn da?“

Ohne etwas zu erwidern, richtete er sich auf und ich sah, wie sich seine Rückenmuskeln plötzlich anspannten. Was hatte er vor? Mit geweiteten Augen musterte ich, wie er mit dem gesuchten Gegenstand in seiner Hand und einem wutverzerrtem Gesicht zu mir zurückkehrte. Weglaufen war zwecklos, das wusste ich. Und selbst wenn ich flüchten wollte, hätten mich meine Beine keinen Meter mehr weit getragen. Mein Überlebensinstinkt schrie mich an, dass ich an Julians Training denken und nicht weich werden sollte, aber mein Körper bewegte sich kein bisschen. Wie ein Spiegel wirkte die Klinge auf mich, als er das Messer hob und ich mein Gesicht darin erkannte.

„Bitte. Leg das Messer weg. Ich hab dir doch nichts getan.“

„Ach nein? Du kreuzt hier einfach so auf und meinst, dass du nichts getan hättest? Du bekommst die meiste Aufmerksamkeit der Aufseherin und sagst, dass du nichts dafür kannst? Ich bin an der Reihe, so lange musste ich schon warten. Jeden verfluchten Tag warte ich darauf, dass er zu mir kommt und mich zeichnet. Jeden Tag will ich in den Bund aufgenommen werden und warte vergeblich darauf. Und dann kommt so ein dummes Mädchen dahergelaufen und bekommt vor ihrer ersten Nacht einen Vertrag unter die Nase gelegt? Ich fasse es nicht. Du hättest dich einfach raushalten sollen!“

Lewis redete sich immer weiter in Rage und merkte dabei kaum, dass er dabei Details verriet, die ich sehr gut auf meiner Suche gebrauchen konnte. Geschickt probierte ich, ihm noch mehr zu entlocken und stachelte ihn dabei noch weiter an.

„Wer soll kommen und dich zeichnen?“

„So oft habe ich ihn darum gebeten, so oft habe ich ihn unterstützt, doch nie war es genug.“

„Wer, Lewis. Von wem sprichst du?“

„Du weißt genau, wen ich meine. Der Mann im Keller. Ich hab getan, was er verlangt hat. Ich hab dich zu ihm gebracht, auch wenn es mir nicht gefallen hat. Ich wollte sein Zeichen. Du hattest es nicht verdient!“

„Was für ein Zeichen? Ich weiß wirklich nicht, wovon du redest?“

Lewis schlug mir mit einer Hand so fest ins Gesicht, dass mein Kopf auf der anderen Seite gegen die Wand schlug. Benommen öffnete ich die Augen und sah ihn wieder an.

„Du miese, kleine Lügnerin. Du dringst in mein Reich ein und wagst es, mir etwas vorzuspielen. Ich habe die Bilder gesehen. Da!“

Er drang mit dem Messer unter den Stoff meines Pullovers und ich erwartete schon den Schmerz des Stiches, als er mir nur ein Loch in mein Oberteil schnitt. Dann ließ er das Messer fallen und vergrößerte den Riss im Stoff noch mehr, um mich zu entblößen. Ich stieß ihn von mir, wollte seine Hände nicht auf meinem Körper spüren, doch er hielt meine Taille umklammert. Seine Hand wanderte besitzergreifend an meinem Rücken hinab, als wäre sie auf der Suche nach einer bestimmten Stelle. Wir beide zuckten leicht zusammen, als er meine Narbe erreichte. Ich, wegen dem Schmerz, den er mir zufügte und er, weil er seinen Beweis nun in der Hand hatte.

„Jetzt hör verdammt noch mal damit auf. Ich will nicht angefasst werden!“

Er ging nicht darauf ein, drängte seinen Körper an mich und presste mich an die Wand. Immer wieder streichelten seine Finger über meine Narbe und zeichneten beinahe andächtig ihre Form nach. Ich wand mich unter seinem Griff und drehte meinen Arm, um mich von ihm zu befreien. Er lehnte sich noch weiter an mich und dann legte es einen Schalter in mir um. Wer nicht hören konnte, musste eben fühlen. Mit voller Wucht trat ich ihm gegen das Schienbein, rammte meinen Ellbogen in seinen Magen, drückte ihn von mir und brachte ihn mit einem gezielten Kick in die Kniekehlen auf den Boden. Er stöhnte kurz und sah dann erschrocken zu mir nach oben. Tränen reicherten sich in seinen Augen an und standen in Kontrast zur Spucke, die er mir entgegenschleuderte. Ich wich aus und musterte den Jungen abfällig. Jetzt hatte er mich kennen gelernt.

„Ich hab dich gewarnt.“

„Miststück!“

Ich lachte. Mehr hatte er nicht zu bieten? Sein Mund verzog sich zu einem dünnen Strich. Er beobachtete mich dabei, wie ich zu seinem Schrank ging und mir ein Shirt herauszog. Auch wenn es mir ein bisschen zu groß war, zog ich es mir über. Schließlich wollte ich nicht nur in Unterwäsche bekleidet durch das Haus spazieren, nachdem Lewis mir meine Sachen zerstört hatte. Dass ich nicht meine eigenen Klamotten trug, fiel kaum auf, denn er besaß selbst nur die graue Alltagskleidung. Während ich so darüber nachdachte, hatte ich ihn aus den Augen gelassen. Erst als es zu spät war, bemerkte ich ihn direkt hinter mir. Er hatte sein Messer offenbar vom Boden aufgehoben und mir nun an meine Hauptschlagader am Hals gelegt. Sein Mund war direkt an meinem Ohr, als er mir die Drohung zuhauchte.

„Du hörst mir jetzt zu. Ich bin länger hier als du und habe einen guten Draht zu den Aufsehern, verstanden?“
Ich nickte nur leicht, damit die Klinge sich nicht tiefer in mein Fleisch bohren konnte.

„Gut. Also. Ich werde nicht verraten, dass du dich in den Gängen herumtreibst und du wirst kein Wort darüber verlieren, dass ich von deinem Zeichen weiß, klar?“

„Woher weißt du überhaupt von meiner Narbe?“

„Falsche Antwort, Schätzchen!“

Die Klinge bohrte sich tiefer in mich und ein Schlag auf den Kopf nahm mir das Bewusstsein. Ich sackte in den Armen des Verrückten zusammen und dämmerte hinweg.

 

Mit brummendem Schädel wachte ich auf. Das Licht blendete mich, als ich die Augen öffnete. Schützend legte ich deshalb eine meiner Hände über das Gesicht, mit der anderen rieb ich mir über den Hinterkopf. Eine Beule konnte ich nicht ertasten, wohl aber die schmerzende Stelle, wo mich Lewis getroffen hatte. Zu meiner Erleichterung konnte ich mich noch an alles erinnern, auch wenn ich nur die Hälfte davon wirklich verstand. Nachdem mein Blick durch das Zimmer schweifte, stellte ich fest, dass der Schrank sehr weit an die Wand gerückt worden war. Lewis hatte also gute Arbeit geleistet und den Durchgang hinter sich verschlossen. Neugierig wie ich war, wollte ich mich am liebsten vergewissern, dass mir der Zugang zum Geheimgang nicht gänzlich versperrt blieb, doch ich traute mich nicht. Woher sollte ich denn wissen, ob Lewis sich nicht hinter der Wand verschanzt hatte, um mir aufzulauern?

Ich schüttelte den Kopf und setzte mich vom Bett auf. Vom Schwindelgefühl gepackt, fasste ich mir an die Stirn. Sie war zwar warm, aber nicht heiß. Von draußen schien die grelle Sonne herein, die bald untergehen würde. Mal wieder. Wie lange ich wohl diesmal geschlafen hatte? Auf wackligen Beinen verließ ich mein Zimmer und ging auf den Waschraum zu. Die Wände in meinem Umfeld drehten sich und ich bildete mir ein, dass sie immer näher kamen. Ich streckte meine Hand nach der Türklinke aus, verlor aber den Halt und sank auf die Knie.

„Was ist nur los mit mir?“

Vor meinen Augen öffnete sich die Tür und kleine Füße schoben sich in mein Blickfeld. Ich hob meinen Kopf leicht, um das Mädchen vor mir zu sehen. Ihre Augen waren gerötet und vor Schreck weit aufgerissen. Ich wollte sie gerade fragen, warum sie so sehr schwankte, als ich merkte, dass das meine Schuld war. Meine Sinne spielten verrückt und ich war wehrlos dagegen. Das Mädchen kannte ich durch den gleichen Vorfall wie den toten Jungen. Ein Schluchzen kam aus meiner Kehle. Ich hatte gesehen, wie er in den Armen der Abfallbeseitigung lag und ich konnte nichts tun. Nochmals schluchzte ich. Das wurde mir hier alles zu viel, der Druck wurde immer größer. Auch wenn es mir leid tat, dass die Kleine mich so sehen musste, erbrach ich mich direkt vor ihr auf den Boden. Sie kreischte angewidert, aber auch verängstigt auf und wich zurück in den Waschraum. Im Grunde war ich ihr dankbar dafür, denn sie erregte dadurch die Aufmerksamkeit der anderen Bewohner auf sich. So wurde ich gefunden und zurück in mein Zimmer gebracht. Wer mich trug, wusste ich nicht. Ich spürte nur die Arme, die mich hoch hoben und von den Blicken der anderen wegbrachten. Ich vergrub meine Nase in das T-Shirt des Mannes und sog seinen Duft ein. Der Geruch kam mir bekannt vor, war aber schwer einzuordnen. Ich spürte weitere Hände an meinem Hals und nahm am Rande auch Stimmen wahr. Der Mann und eine Frau stritten sich. Kinder tuschelten. Mehr konnte ich nicht erfassen, bevor ich mal wieder die Macht über meinen Körper verlor.

 

 

„Gott, endlich bist du wach!“

Keine zwei Sekunden, nachdem ich die Augen geöffnet hatte, schlangen sich dürre Ärmchen um mich. Völlig perplex brauchte ich kurz, um mich zurechtzufinden. Ich lag in meinem Bett, hatte einen Verband am Arm und ein Pflaster an meinem Hals. Marie hielt mich in einer kindlichen Umarmung fest und kuschelte sich an mich. Beruhigend strich ich ihr über das Haar.

„Was ist denn passiert?“

„Erinnerst du dich denn nicht?“

Still schüttelte ich den Kopf und bekam ein Seufzen als Antwort.

„Dann kann ich dir auch nicht weiterhelfen. Man erzählt sich nur, dass du vor dem Waschraum zusammengeklappt bist und Tanja dich gefunden hat.“

„Und was sind das für Verletzungen?“

Sie zuckte mit den Schultern, aber eigentlich war das auch nicht wichtig. Ich wusste schließlich, dass Lewis mir am Hals einen Schnitt verpasst hat und ich mich auf meine Hand stützte, als ich vor dem Bad gestürzt bin. Ich wollte eigentlich nur wissen, was die offizielle Version war, die im Haus herumgesprochen wurde. Vielleicht war es aber doch besser, wenn sich Unschuldige wie Marie sich nicht so direkt mit dem Thema auseinandersetzten.

Bevor ich mich weiter mit dem Mädchen unterhalten konnte, klopfte es an der Tür und die Alte trat zu mir ans Bett. Sie musterte uns streng und schickte Marie fort. Widerwillig ließ die Kleine von mir ab, gehorchte aber trotzdem dem Befehl. Sie war gut erzogen, da hatte Julian ganze Arbeit geleistet. Ein schmales Lächeln stahl sich auf mein Gesicht, das sich beim Anblick der Aufseherin sofort wieder in Luft auflöste. Sie runzelte die Stirn und musterte mich von oben bis unten.

„Möchtest du mir freiwillig erklären, warum du dich selbst verletzt, oder muss ich dich dazu zwingen?“

„Ich hab mich nicht selbst verletzt.“

„Du sollst nicht lügen!“

Von ihrer einfühlsamen Art war keine Spur mehr übrig, während sie mich anschrie. Ich zuckte unter ihrem herablassenden Blick zusammen. Was wollte sie denn von mir hören? Was davon konnte ich ihr wirklich sagen? Dass ich mich in den Zweitwegen herumgeschlichen habe und dabei den toten Jungen sah und mich mit Lewis angelegt hab? Wohl kaum.

„Ich…ich hab mich beim Putzen verletzt.“

„Du wolltest dich nur vor deinen Pflichten drücken. Das nächste Mal, wenn du nicht rechtzeitig fertig wirst, stellst du dich dieser Einsicht und verletzt dich nicht selbst. Sobald du morgen wieder gerade stehen kannst, wirst du in der Küche helfen. Vielleicht liegt dir diese Strafe ja besser.“

Sie ließ mir keine Zeit, um darauf etwas zu erwidern und verschwand einfach. Keine zehn Minuten kam Marie zurück und kuschelte sich wieder an mich. Es überraschte mich zwar, dass sie mir so vertraute, genauso freute ich mich aber auch darüber. Eine Weile schwiegen wir, dann hielt ich es aber nicht mehr aus. Ich strich über ihr Armband und machte sie dadurch darauf aufmerksam.

„Das ist ja hübsch. Woher hast du das denn?“

„Ach das weißt du ja noch gar nicht. Mein Daddy hat mich gestern besucht und mir dieses Geschenk mitgebracht. Weil die Aufseherin gesagt hat, dass ich seit meinem Umzug hier her keinen Ärger gemacht hab und immer anständig gewesen bin.“

„Das ist aber lieb.“

Ich schluckte den Kloß in meiner Kehle herunter und rang mir ein Lächeln für die Kleine ab. Julian ist hier gewesen. Ob er mich gesehen hat? Ob er mich überhaupt gesucht hat, oder keine Verbindung zwischen uns herstellen wollte? Bevor ich mir noch weitere Gedanken darüber machen konnte, wurde ich von Marie abgelenkt.

„Er lässt meiner Freundin eine schöne Besserung ausrichten.“

„Ach ja? Hat er sonst noch etwas gesagt?“

Ihr Blick wurde misstrauisch und sie kniff die Augen zusammen. Lachend stupste ich ihr mit dem Zeigefinger auf die Nase, um sie zu beruhigen.

„Keine Sorge, ich nehme dir deinen Vater schon nicht weg.“

„Nein, das ist es nicht. Er hat tatsächlich noch etwas gesagt, aber ich hab es nicht verstanden. Er meinte, dass in Verstecken manchmal mehr liegt, als man erwartet. Aber ich hab unter meinem Bett nachgesehen und da war noch alles so wie zuvor. Weißt du, was er damit gemeint haben könnte?“

Ja! Mein Versteck. Julian, deine Tochter ist die Beste. Freude kochte in mir hoch und ich konnte es kaum abwarten, bei meinem Nähzeug selber nachzusehen.

„Nein, tut mir leid.“

Ich gähnte ausgedehnt und streckte mich unter der Decke. Ein offensichtliches Zeichen.

„Schade. Oh und du bist müde. Dann sollte ich dich lieber schlafen lassen. Möchtest du dich morgen beim Essen wieder zu mir setzen?“

„Ich fürchte, das werde ich nicht können, weil ich jetzt auch hinter der Theke stehen muss.“

Sie nickte verständnisvoll und schloss dann die Tür hinter sich. Als ich mir sicher war, dass sich keiner mehr auf dem Gang befand, stand ich auf und stütze mich am Bettpfosten ab, um nicht wieder das Gleichgewicht zu verlieren. Beim zweiten Versuch erreichte ich den Balken an der Decke und tastete mein Versteck ab. Das Etui mit dem Nähzeugs war da, sonst nichts. Enttäuscht wollte ich mich schon zurückziehen, da erfassten meine Hände ein Stück Papier. Ich griff danach und fand ein Kuvert vor. Ein Grinsen breitete sich quer über meinem Gesicht aus.

„Ich liebe euch, Jungs.“

 

 

Abbey,

mach dir keine Sorgen, wir werden dich bald rausholen. Nur noch ein Stück, dann müsstest du das Geheimnis in den Händen halten. Du solltest unbedingt versuchen, noch in den Keller zu kommen. Drei Wochen nachdem du diesen Brief erhalten hast, wird etwas Ungewöhnliches passieren. Verbrenn die Nachricht wenn möglich, oder spül sie die Toilette runter. Niemand außer dir soll das lesen können, sonst bringst du dich nur noch weiter in Gefahr. Sei vorsichtig!

H.

 

Eigentlich war dieser Brief von enormen Wert für mich, weil ich dadurch wusste, dass die Jungs hinter mir standen. Aber trotzdem verbarg sich unter der glänzenden Oberfläche ein leichter Kummer, weil Harvey nichts Persönlicheres zu sagen hatte. Leider setzte mir der Gedanke mehr zu als ich mir eingestehen wollte, sodass ich mich gar nicht mehr richtig freuen konnte. Mit einem Schulterzucken verscheuchte ich die schlechten Gefühle und las die Zeilen erneut durch. Etwas Ungewöhnliches würde passieren. Nichts in diesem Haus war normal, nicht einmal meinem eigenen Verstand traute ich so richtig. Dann werde ich mich wohl überraschen lassen müssen. Ich hoffte, dass ich die Anzeichen früh genug erkennen würde und meine eigene Flucht nicht verpasste.

Das Zerstören der Nachricht war für mich selbstverständlich, doch ich hatte kein Feuerzeug bei mir. Ob es in diesem Haus überhaupt etwas der Art gab, fiel mir auch nicht ein. Seufzend steckte ich den Brief in meine Hosentasche, um sie nahe bei mir zu haben. Niemand würde da herankommen, ohne zuvor meinen Körper zu durchsuchen. Ich warf einen prüfenden Blick an mir herab, um zu überprüfen, dass man die Umrisse des Papiers in meiner Hose nicht erkennen konnte. ich rückte das Kuvert ein Stückchen zurecht und legte mich dann zufrieden wieder in mein Bett. Eine Mütze voll Schlaf sollte mir gut tun, auch wenn ich das Gefühl hatte, das erste Mal seit einer Ewigkeit wieder freiwillig schlafen zu gehen.

 

 

Ich verbarg mich im Schatten der Treppe, weil ich unentdeckt bleiben wollte. Aus der Tür am Ende des Flurs drang gedämmtes Licht und der Schrei der jungen Frau, die vor zwei Stunden im Haus ankam. Verängstigt hielt ich mir die Ohren zu und wartete darauf, dass die Fremde sich wieder beruhigte. Eine Diskussion brach in dem Zimmer aus und die Tür wurde plötzlich ganz weit aufgestoßen. Die Alte und ihr Mann redeten auf die Fremde ein, deren Gesicht von Tränen überströmt war. In ihren Armen trug sie den leblosen Körper eines Jungen. Sein Kopf hing auf der anderen Seite schlaff herunter, seine Brust hob und senkte sich nicht mehr zum Zeichen, dass er atmete. Ich riss meinem Teddy beinahe die Beine heraus, so fest umklammerte ich meinen besten Freund. Furcht saß tief in meinen Knochen. Die Diskussion wurde immer lauter, die Fremde wandte sich von den Alten ab und trat endgültig aus dem Raum. Sie strich dem Jungen in ihren Armen einzelne Haarsträhnen aus der Stirn und lief an mir vorbei. Ich erkannte ihn erst, als sie die Treppen emporstieg und sich in der nächtlichen Dunkelheit davonstahl. Es war der Junge, der sich nachts immer wieder in mein Zimmer geschlichen hatte. Er wollte uns hier herausholen. Sie hatten ihn umgebracht. Diese Monster hatten meine einzige Chance beseitigt, vor ihnen zu fliehen. Er war tot. Die Wunde an seiner Schulter sah gefährlich aus. Er war fort. Für immer. Und ich blieb zurück. Alleine.

 

Ich stieß hörbar den Atem aus, als ich erwachte. Meine Augen brannten, denn ich hatte im Schlaf nicht gerade wenige Tränen vergossen. Der Tod des Jungen erklärte wohl ganz gut, warum ich damals alleine weggelaufen bin. Mit dem Handrücken wischte ich mir die Überreste meiner Heulerei von den Wangen. Auch einst vergessene Erinnerungen schmerzten höllisch, sobald sie wieder auftauchten. Egal wie alt sie schon waren.

Nach einem kurzem Blick aus dem Fenster und dem Lauschen an meiner Tür, fühlte ich mich sicher genug, um den Raum zu verlassen. In meinem Zimmer hielt ich es einfach nicht mehr aus. Ich stürzte mich ins Badezimmer und drehte die Dusche auf. Samt meiner Kleidung stellte ich mich unter den eiskalten Strahl und ließ das Wasser auf mich herabprasseln. Der kalte Schock schnürte mir zwar die Luft ab, verschaffte mir aber auch einen klaren Kopf. Noch einige weiter Sekunden verharrte ich meiner Starre, gab dann schließlich doch nach und drehte das Wasser ab. Ich griff nach dem erstbesten Hundtuch, trocknete grob meine Haare damit und tupfte mir dann auch den restlichen Körper ab. Ein kurzer Blick in den Spiegel genügte. Ich sah scheußlich aus und das würde ich auf die Schnelle auch nicht ändern können. Warum sollte ich mir also Gedanken darüber machen? Stattdessen griff ich in meine Hosentasche und zog den zerknitterten Brief hervor. An manchen Stellen war die Tinte durch das Wasser verschmiert worden, doch das reichte nicht aus. Während ich auf die Toiletten zuging, zerriss ich das Papier in ganz viele kleine Schnipsel und ließ sie dann in die Schüssel fallen. Dort saugten sich selbst die letzten trockenen Reste mit Wasser voll und wurden dann von dem Strudel in die Tiefe gezogen. Dreimal drückte ich auf die Spülung, um die Geheimbotschaft sicher los zu sein. Dann wischte ich mir die klebenden Haare aus dem Gesicht und warf doch noch einen weiteren skeptischen Blick an mir herab. Ich konnte vielleicht an meinem miserablen Aussehen nichts ändern, doch Klamotten zum Wechseln wären doch ganz praktisch gewesen. Erneut griff ich nach dem Handtuch und rieb über den nassen Stoff meiner Kleidung. Schließlich wollte ich auf dem Weg zurück in mein Zimmer keine Wasserlachen hinterlassen, die direkt vom Waschraum in mein Zimmer führten. Ich hob mein Shirt leicht an und trocknete gerade meinen Bauch, als mir der schwarze Knopf meiner Hose auffiel.

„Heilige Scheiße!“

Panisch griff ich mir an die Stirn und überlegte, was ich jetzt tun sollte. Wie konnte ich nur so blöd sein und vergessen, dass ich ein Mikro am Körper trug, das man nicht unbedingt mit Wasser übergießen sollte? Ich drehte mich einmal um mich selbst und suchte nach einer Lösung. Nachdem ich mir einen Föhn von der Ablage gegriffen hatte und gleich darauf zu retten versuchte, was es zu retten gab, redete ich mir Mut zu. Vielleicht hatte ich die Wanze ja gar nicht zerstört. Auch andere Stellen meines Körpers waren trocken geblieben. Warum also nicht auch die wichtigste Waffe, die ich gegen die Sekte benutzen konnte? Es durfte einfach nicht sein. Von jeder Seite blies ich Luft auf den Knopf und hoffte inständig, dass das etwas half. Wahrscheinlich saßen die Jungs gerade in der Wohnung und wunderten, warum ich quer durch einen Tornado lief. Ich wollte ihnen diese Lärmbelästigung weiter ersparen und legte den Föhn wieder zurück auf seinen Platz.

„Wenn ich hier raus bin und erfahre, dass ich gerade unseren Plan versenkt habe, dreh ich durch. Ehrlich jetzt.“

Damit ließ ich das Thema in meinen Gedanken fallen und warf einen Blick auf die Zukunft. Jetzt brauchte ich dringend noch handfeste Beweise gegen die Sekte. Ansonsten könnten die kommenden drei Wochen für die Katz sein.

 

Ich stand neben dem Küchenmädchen an der Essensausgabe und tischte den Kindern ihre Portion Nudelsuppe auf. Das Mittagessen heute sah tatsächlich genießbar aus und regte auch meinen Appetit an. Als keiner mehr anstand, schöpfte ich auch mir einen Teller aus dem Topf und lehnte mich gegen die Theke beim Essen. Ich wurde dabei von der Seite gemustert.

„Was ist?“

„Bist du nicht eigentlich zum Arbeiten hier?“

Streng wurde ich von der Seite gemustert und ich hielt in meiner Bewegung inne. Bevor ich dem Mädchen, das Lewis so ähnlich sah, eine Entschuldigung entgegenbringen konnte, brach sie schon in schallendes Gelächter aus.

„War nur ein Witz, ich hab doch auch Hunger.“

Mit einer flotten Handbewegung signalisierte sie mir, dass ich Platz für sie machen sollte und ich wich ein Stück zurück, damit auch sie sich ihr Mittagessen nehmen konnte. Noch immer starrte ich sie an und traute mich nicht, weiter meine Suppe zu schlürfen. Sie grinste mich an, als sie meine Reglosigkeit bemerkte.

„Ich bin übrigens Lynette.“

Ich nickte ihr zu und wollte gerade meinen Namen sagen, doch da unterbrach sie mich schon.

„Du bist Abbey, ich weiß. Ich fand deine Aktion neulich eigentlich echt cool. Blöd nur, dass du dafür bestraft wirst. Obwohl ich echt sagen muss, dass eine saubere Küche auch seinen Reiz hat.“

Ich runzelte die Stirn. Das Mädchen redete wirklich wie ein Wasserfall, doch das gefiel mir irgendwie. Ihre gelöste Art lenkte mich einen Moment von der Anspannung ab, die in diesem Haus herrschte.

„Du bist echt…fröhlich. Wie machst du das?“

„Ach, ich habe nichts, worüber ich mich beschweren könnte. Meine Eltern sind zwar tot, aber ich habe noch immer meine Großeltern und meinen Bruder.“

„Tatsächlich? Und warum lebt ihr beiden dann nicht bei euren Verwandten?“

„Das ist kompliziert.“

Plötzlich schien ihr die Lust am Reden ausgegangen zu sein und sie wandte sich wieder ihrer Arbeit zu.

„Lebt dein Bruder auch hier?“

Sie tat so beschäftigt, dass sie meine Frage gekonnt ignorierte, als ob sie mich nicht verstanden hätte. Ich biss mir auf die Unterlippe. Da wollte ich nur bestätigt wissen, dass ich mit meinen Vermutungen nicht komplett daneben lag und bekam keine Antwort. Lewis musste ihr Bruder sein, die Ähnlichkeit war beeindruckend. Doch solange keiner von beiden so recht mit der Sprach herausrückte, blieb ich wohl oder übel im Dunkeln.

 

 

Die ersten Kinder wollten sich gerade wieder erheben, um ihre leeren Teller wieder zu mir zu bringen, da trat die Aufseherin mit einem Klemmbrett in der Hand in den Raum. Ein Raunen ging durch die Menge, doch die Alte rief die Kleinen schnell wieder zur Besinnung. Offenbar geschah das hier öfter, denn die Frau stellte sich wie aus einer alten Gewohnheit heraus vorne in den Saal und hielt sich das Brett unter die Nase. Sie las einen Namen nach dem anderen vor und bekam von jedem Kind ein bestätigendes ‚Ja’ zu hören. Eine Anwesenheitskontrolle.

„Tanja Schrödinger?“

„Was ist mit Benni Salem?“

„Ich habe nach Tanja Schrödinger gefragt!“

„Benni kommt aber vor mir im Alphabet.“
“Hörst du schlecht, du Göre? Tanja Schrödinger?“

„Ja.“

Geknickt setzte sich das Mädchen zurück auf ihren Platz. Benni kam nie wieder. So sehr ich auch an die Kleine und ihren Freund geraten war, um Marie zu verteidigen, tat es mir weh, sie so leiden zu sehen. Ein schreckliches Schicksal erwartete die Kinder und ich konnte nichts tun. Ich sah, wie der Junge weggeschleift wurde und hatte keine Möglichkeit, ihm zu helfen. Er kam nie wieder und Tanja wurde das auch gerade schmerzlich bewusst. Ich sah die Erkenntnis in ihren Augen und senkte den Blick. Ich ertrug ihren Schmerz nicht.

„Marvin Viking?“

„Ja.“

„Abigail Wilson?“

Ich brauchte einen zweiten Aufruf, um zu registrieren, dass ich an der Reihe war. Mit Abigail hatte man mich lange nicht mehr angesprochen.

„Ja.“

Die Stimme brach mir weg. Nur mein Vater nannte mich früher so. Bevor wieder die schrecklichen Bilder auftauchten konnten, wie mein Erzeuger mich am Waisenhaus zurückließ, riss mich Lynettes ‚ja’ neben mir zurück in die Realität. Ich war mir ziemlich sicher, dass kein weiterer Name zwischen uns aufgerufen wurde und stockte. Meine große Klappe handelte schneller als mein Verstand und ich stellte die Frage in meinem Kopf direkt an die Aufseherin.

„Was ist mit Lewis?“

Ich biss mir auf die Zunge, als die Frau sich zu mir umdrehte und mich von oben bis unten abschätzig musterte. Am liebsten wäre ich in einem ganz tiefen Loch im Boden versunken, doch ich erwartete noch eine Antwort von ihr. Ein schiefes Lächeln umspielte ihre Lippen.

„Es gibt keinen Lewis auf meiner Liste, meine Liebe.“

„Aber…“

„Sieh doch nach, wenn du mir nicht glaubst.“

Sie streckt mir ihr Klemmbrett entgegen, doch ich griff nicht danach. Zum einen, weil sie genau das von mir erwartete, zum anderen, weil ich ihr glaubte. Lewis stand wahrscheinlich wirklich nicht auf der Liste. Lynette spannte sich an, als ich trotzig den Kopf schüttelte.

„Ich will nicht auf der Liste nach ihm sehen, sondern hier und jetzt wissen, wo er steckt.“

„Ach Kindchen, ich habe dir doch schon so oft gesagt, dass es keinen Lewis hier gibt.“

Sie legte ihren Kopf leicht schief und kam mir entgegen. Ich zwang mich, nicht vor ihr zurückzuweichen und ließ ihre Hand an meiner Stirn gewähren.

„Du bist wohl doch nicht ganz fitt, wenn du dir schon einen Menschen in deinem Kopf zusammen spinnst.“

Ich presste den Kiefer fest zusammen, um meinen wütenden Schrei zu unterdrücken. Ich war nicht krank. Sie drehte sich wieder zu den Kindern um und sprach in die Menge.

„Oder kennt ihr jemanden namens Lewis, der hier mit uns lebt?“

Alle schüttelten den Kopf. Aus den Augenwinkeln musterte ich Lynette, die sich im Hintergrund hielt und strikt versuchte, keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Mein Verdacht bestätigte sich immer weiter. Die Frau wollte mich für verrückt erklären. Sie wollte mir einreden, dass ich den Verstand verloren hatte, doch das ließ ich mir nicht gefallen. Ich war weder verrückt, noch geistig eingeschränkt! Mir ging es sogar erstaunlich gut und hielt mich mit aller Kraft an einen positiven Gedanken fest. Nicht ich war irre, sondern die Alte. Nicht mich sollte man Verrückte schimpfen, sondern die Aufseherin. Mein Verstand war klar und ich wusste genau, was ich als nächstes tun würde.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Schnipseljagd

Natürlich lächelte und nickte ich, als die Aufseherin mich zurück auf mein Zimmer schickte, damit meine Genesung nicht gestört würde. Marie lächelte mir schüchtern entgegen, als ich ihr zuvor noch einen kurzen Blick zuwarf. Die Kleine war einzigartig, wobei ich wahrscheinlich nicht wirklich objektiv beurteilte. Sie war Julians Tochter. Wie konnte es also nichts Besonderes sein, wenn ein so skrupelloser Riese ein süßes kleines Mädchen zur Welt bringen konnte, das ihn über alles liebte?

Die Frau begleitete mich bis vor meine Tür und packte mich dort an meiner Schulter. Mit einer gezielten Handbewegung drehte sie mich zu sich um und kniff ihre Augen zusammen.

„Du solltest dich wirklich hinlegen und dein Bett nicht so schnell verlassen. Wir wollen deine Gesundheit doch nicht gefährden. Ich werde dir eines der Mädchen schicken, damit du heute Abend etwas zwischen die Zähne bekommst. Träum was Süßes.“

Mir wurde speiübel. Mal wieder tat die Alte auf nett und verständnisvoll, obwohl zwischen den Zeilen eine deutliche Drohung mitschwang. Ich sollte im Bett bleiben und meine Nase nicht in fremde Angelegenheiten stecken, wenn mir mein Leben lieb war. Dafür war es nur leider schon etwas zu spät. Ich unterdrückte meine Gefühle gegenüber der Frau und biss mir deswegen auf die Zunge. Wenn ich so weitermachte, würde ich bald für immer die Sprache verlieren. Stumm, als ob es schon jetzt so weit wäre, nickte ich ihr nur zu und beobachtete die Tür ihres Arbeitszimmers, nachdem sie sich dorthin zurückzog. Einen Moment zu lange stand ich dort und blickte ihr nach, statt auf meine eigene Zimmertür zu achten. Erst als sie weit genug geöffnet war, sodass eine Hand durch den Spalt passte, die mich packte und zu sich zog, entdeckte ich das Unheil. Leider etwas zu spät. Mit einem kräftigen Ruck wurde ich von den Füßen gerissen und auf den Knien in mein Zimmer geschleift. Ich hoffte inständig, dass das keines der Kinder mit ansehen musste und presste meine Kiefer fest zusammen, um meinen eigenen Angstschrei zu unterdrücken. Ich knallte mit dem Rücken gegen die Kopfleiste meines Bettes, als ich darauf geschmissen wurde. Eine dunkle Gestalt beugte sich über mich und nagelte mich unter seinem Gewicht auf der Matratze fest.

„Hallo, Schätzchen.“

Lewis grinste mir frech entgegen und hielt meine Hände in einem festen Griff. Zumindest glaubte er das. Seine Haltung war instabil, ich hätte ihn jederzeit von mir wegstoßen können. Ein kleiner Stoß hier, der richtige Griff da und schon läge er unter mir, doch ich spielte das hilflose kleine Mädchen.

„Was willst du noch von mir?“

„Ich will wissen, was dich würdig macht, das Zeichen zu tragen.“

„Ich sagte doch bereits, dass ich es nicht weiß. Du meintest doch, dass du zu der Frau ein gutes Verhältnis hast. Frag sie doch.“

„Du weißt nicht mal zu schätzen, was du da mit dir herumträgst.“

„Dann bring es mir doch bei. Sag mir, was daran so besonderes ist. Sag mir, was die Narbe ausmacht.“
Er zuckte zurück und verdeckte seine Augen mit der rechten Hand. Ich lag nur noch alleine auf dem Bett und brachte meinen Körper in eine angenehmere Position. Langsam wurde ich ungeduldig. Als Lewis sich noch immer nicht rührte, erhob ich mich und schritt auf ihn zu. Sachte hob ich eine Hand und legte sie auf seinen Arm. Der Junge war völlig verspannt. Eine tickende Zeitbombe. Ich musste auf der Hut bleiben.

„Lewis. Du kannst mich würdig machen, wenn es dir dabei besser geht. Vielleicht…“

„Ich habe meine Aufgaben zu erfüllen und ich stelle Forderungen an dich, nicht umgekehrt.“

„Und was sind das für Aufgaben?“

Er nahm die Hand von seinem Gesicht und musterte mich eindringlich. Sein Blick glitt an mir herab und mich schüttelte es bei dem Gedanken, dass er mich vor seinem inneren Auge gerade auszog. Dieser Junge war eindeutig krank. Und er war real. Nicht einmal meine Vorstellungskraft könnte dieses Ausmaß an verstörender Menschlichkeit erfinden. Am liebsten hätte ich der Aufseherin ein fettes ‚Paah!’ ins Gesicht geschrieen, als sie mich für verrückt erklären wollte. Lewis existierte wirklich und stand gerade leibhaftig vor mir. Er kratze sich am Hinterkopf, während er weiter nachdachte. Er brauchte heute eindeutig etwas länger, bis er etwas zu Stande brachte. Seufzend versuchte ich ihm auf die Sprünge zu helfen.

„Hier bin ich, ahnungsloses Mädchen, das die Würde des ‚Zeichens’, oder wie auch immer du das nennst, nicht zu schätzen weiß. Meine Unwissenheit sollte schleunigst beseitigt werden, damit der Orden seine Glaubhaftigkeit behält?“

Weil ich hoffte, dass meine übertriebene Wortwahl nicht zu dick aufgetragen war, hörte sich meine Argumentation eher wie eine Frage an. Lewis schien es aber zu schlucken. Siegessicher grinste ich als er nickte.

„Na gut. Ich kann dir meine Unterrichtsnotizen zeigen, damit du wenigstens ein paar Basisinfos vor dir hast. Komm mit in mein Zimmer.“

Eigentlich wäre es mir lieber gewesen, wenn er mir die Unterlagen einfach brachte, damit ich in den dunklen Gängen nicht auf ihn angewiesen war. Das konnte ich ihm jedoch schlecht sagen, also zog ich den Kopf ein und quetschte mich hinter dem Jungen durch das Loch hinter meinem Schrank.

 

 

„Dort in der untersten Schublade des Schreibtisches müsste die Kiste mit meinen Heften sein.“

Er wedelte mit der rechten Hand in die entsprechende Richtung und ließ sich auf sein Bett fallen. Desinteressiert sah er mir dabei zu, wie ich beim Öffnen der Holztüre abplagte. Verwirrt strich ich an den Kanten entlang und ertastete dabei kaltes Metall. Ein kleines Schloss verweigerte mir Zugriff auf Lewis’ Sachen.

„Sehr witzig. Da ist ja abgeschlossen.“

„Hab ich dir denn erlaubt, dich an meinen Unterlagen zu bedienen?“

„Naia, du hast gesagt, dass ich die Notizen sehen darf. Da hab ich gedacht…“

„Da hast du gedacht, ich würde keine Gegenleistung verlangen, weil ich ein durchaus guter Mensch bin?“

Ich unterdrückte meine Wut, indem ich meine Hände zu Fäusten ballte und versuchte mich zu entspannen.

„Und was willst du?“

Das widerliche Grinsen verschwand aus seinem Gesicht und Lewis wurde wieder ernst. Seine Forderung schien ihm wirklich am Herzen zu liegen.

„Erzähl mir alles. Wie es für dich war, wie die Zeremonie abgelaufen ist. Ich kann dir die Hintergründe erklären. Ich kann dich an den Ort zurückführen, wo es passiert ist. Ich kann dir jede Frage beantworten, was die Theorie betrifft, aber ich habe selbst keinerlei Erfahrung mit der Praxis.“

Nervös kaute ich auf meiner Unterlippe herum. Viel konnte ich ihm nicht berichten, aber sein Einsatz war verlockend hoch. Sollte ich es riskieren und ihm im Notfall ein Märchen auftischen? Bald würde ich sowieso aus dem Waisenhaus verschwinden. Mit einer Menge Infos in der Tasche wäre mein Abgang umso erfolgreicher.

„Du hast mein Wort.“

Er nahm meine ausgestreckte Hand entgegen und schüttelte sie erfreut. Hoffentlich hatte ich mir da gerade nicht in die eigene Suppe gespuckt.

 

 

Lewis sperrte das Schloss auf und drückte mir die Kiste mit seinen Notizen in die Hand. Erstaunt über das Gewicht ließ ich den Karton beinahe fallen, doch ich fand mein Gleichgewicht rechtzeitig wieder. So viele Hefte und Notizblöcke hatte ich nicht erwartet, auch wenn die Menge meine Hoffnung etwas schürte. Ich war auf der Suche nach handfesten Beweisen gegen die Sekte und hielt mit Sicherheit den ein oder anderen brauchbaren Hinweis in der Hand. Umso mehr Material ich sammelte, desto näher rückte der Triumph.

„Darf ich die mit in mein Zimmer nehmen? Dann kann ich mir die Informationen regelmäßig in Ruhe einprägen.“

„Wenn du damit ordentlich umgehst und ich meine Unterlagen bald zurückbekomme?“

„Versprochen.“

Ich zwang ein Lächeln hervor, um ihn von meiner Verlässigkeit zu überzeugen.

„Gut. Dann bring doch die Kiste in dein Zimmer, damit wir weiter können.“

Ohne auf meine Antwort zu warten, scheuchte er mich vorwärts und leitete mir den Weg.

„Wofür sind diese Gänge eigentlich gut?“

Er musterte mich misstrauisch von der Seite, als würde er daran zweifeln, dass ich diese Frage wirklich gestellt hatte.

„Ist das nicht offensichtlich? Die Aufseherin hat zwar jederzeit Zugang zu den Zimmern, aber ihr Mann kann schlecht durch die Gänge wandern, wenn keines der Kinder ihn sehen soll. Das gesamte Tunnelsystem führt in den Keller.“

„Was hat denn der Mann in den Zimmern der Kinder zu suchen?“

„Das sind alles nur Sicherheitsvorkehrungen. Nichts weiter.“

So konnte man es auch nennen. Da steckte aber noch viel mehr dahinter, das ich gerne auf den Aufzeichnungen finden würde. Ich wollte endlich wissen, was der Sinn der Sekte war, was die grausamen Machenschaften begründete und antrieb. Mein Geduldsfaden würde nicht mehr lange halten.

 

*

 

Ich hatte die Kiste einfach auf mein Bett gestellt und folgte Lewis wieder durch die dunklen Gänge. Als wir uns von den Kinderzimmern entfernten, bemerkte ich die leichte Neigung des Bodens. Wir waren tatsächlich auf den Weg in den Keller. Eine Gänsehaut schlich sich auf schnellem Wege meine Arme hinauf. Mein Bauchgefühl riet mir zwar, Lewis zu vertrauen, aber mein Verstand schrie immer und immer wieder ‚Gefahr!’. Im Grunde hätte ich genauso dem Sensenmann durch den Tunnel in das Licht folgen können, doch ich verscheuchte den Gedanken aus meinem Kopf. Was hätte Lewis denn davon gehabt, wenn er mich ins offene Messer hätte rennen lassen? Das gleiche, was die Sekte davon hatte, auf unschuldige Kinder einzustechen? Schwer schluckte ich. Diese Ungewissheit machte mich ganz kirre. Ich zwickte mir selbst zweimal in den Oberarm, um wieder zur Vernunft zu kommen. Abbey Wilson ließ sich nicht unterkriegen. Weder von drei Schwerverbrechern, die sich Zugang zu ihrer Wohnung verschafften, noch von wild gewordenen Verbindungen, die sich einen Spaß mit hilfsbedürftigen Kindern erlaubten.

„Bist du bereit?“

Lewis musterte mich von oben herab und wartete auf eine Reaktion von mir. Ich bemühte mich um Fassung, denn ich hatte gar nicht mitbekommen, dass wir vor einer verschlossenen Tür standen. Etwas verspätet nickte ich und nahm eine sichere Haltung ein. Als der Junge jetzt ein Messer zückte, wich ich allerdings erschrocken zurück. Hatte ich mich tatsächlich in eine Falle locken lassen? War ich wirklich so dumm? Um mich möglichst schnell aus der Gefahrenzone zu bringen, drehte ich meinen Oberkörper seitlich zu ihm und schützte mit einem Arm die ihm zugewandte Gesichtshälfte. Als ich einen sicheren Stand hatte, verlagerte ich mein Gewicht auf ein Bein und stieß ihm mit dem anderen das Messer aus der Hand. Das Metall klirrte, als es auf den Steinboden traf. Lewis starrte mich gebannt an. Er machte keine Anstalten, die Waffe wieder vom Boden aufzuheben. Langsam setzte ich meinen Fuß wieder neben dem anderen ab und lockerte meine Glieder. Verwirrung spiegelte sich im Gesicht des jungen Mannes vor mir wider, während ich von meiner Selbstverteidigungsmasche wieder runter kam.

„Was sollte das?“

„Ich könnte dich das gleiche fragen. Ich dachte, wir hätten eine Abmachung.“

„Dazu zählte aber nicht, mich mit einem Messer zu bedrohen oder zu verletzen.“

Ihm entwich ein genervtes Stöhnen, kopfschüttelnd fuhr er sich mit einer Hand durch sein Haar.

„Siehst du das? An der Tür ist ein Schloss. Ich darf die Räume zwar betreten, aber nur wenn man mir eine Erlaubnis erteilt hat.“

„Du willst nicht ernsthaft versuchen, das Schloss mit einem Messer zu knacken, oder? Hast du das schon mal gemacht?“

„Nein. Bis jetzt bin ich nur durch, wenn es mir gestattet war.“

Leicht verdrehte ich die Augen. Von meiner Angst, die ich keine fünf Minuten zuvor noch verspürte, war keine Spur mehr übrig. Der Typ vor mir war ein Schäfchen, das der Aufseherin und ihrem Mann widerspruchslos folgte. Er würde mir nichts tun, wenn sie es nicht von ihm verlangten. Sie hatten ihm die Tür nicht aufgesperrt, weil sie nicht wussten, dass er mir die Räume zeigen wollte. Er lockte mich sicher nicht in eine Falle. Trotzdem nervte mich, dass er ohne konkrete Anweisungen offenbar keinen Plan hatte, wie er vorgehen sollte. Dann war wohl mein Kommando angesagt. Woher ich den Mut dazu nahm, war mir selber schleierhaft.

„Jetzt zeig mir mal, was du sonst noch so einstecken hast.“

Ohne zu murren, kramte er in seinen Taschen und tastete nach brauchbarem Inhalt. Ich tat es ihm gleich. Wir beide streckten unsere Hände hervor und mit einer hochgezogenen Augenbraue betrachtete ich die Ausbeute. Kaugummipapier, Geldstücke und Fusseln. Ich blies meine Backen auf und rieb die Fusseln an meinen Hosenbeinen ab. So brachten wir das Schloss mit Sicherheit nicht auf.

„Ich könnte ja mal mit dem Messer…“

Ich hielt ihm meine Hand vors Gesicht, um ihn zum Schweigen zu bringen. Zwei kleine Teile brauchte ich, keine grobe Klinge. Mit einer Hand fuhr ich mir durch die Haare und fand…keine Haarnadel. Das wäre auch zu schön gewesen. Betreten ließ ich den Kopf hängen und starrte auf den Boden. Lewis trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Im Schein seiner Taschenlampe blitze dabei etwas an seinem Schuh auf. Der Junge lief den Gang entlang und leuchtete an die Wand, als würde er nach einem verborgenen Hinweis in den Gemäuern suchen. Das war doch lächerlich. Ich wollte ihm gerade meine Meinung sagen, als wieder ein Lichtstrahl auf seinen Schuh traf. Ein Grinsen stahl sich in mein Gesicht.

„Bleib wo du bist!“

Ruckartig drehte er sich zu mir um und beobachtete verwirrt, dass ich mich vor ihm auf den Boden kniete.

„Was machst du da?“

„Halt einfach still.“

Mit gezielten Handgriffen zog ich die Sicherheitsnadeln aus seinen Turnschuhen, mit denen er diverse Buttons befestigt hielt. Zwei davon sollte er schon verschmerzen können. Ich befahl ihm, mit der Taschenlampe Licht zu spenden und bog die eine Nadel am einen Ende zu einem Oval zusammen. Das steckte ich zuerst ins Schloss und dann die gerade hinterher. Nach drei Versuchen und etwas Gefummel hörte ich das lang ersehnte Klicken und das Vorhängeschloss war geknackt. Siegessicher richtete ich mich auf und gab Lewis seine Sicherheitsnadeln zurück.

„Wo hast du denn das gelernt?“

Ich überging die Frage mit einem Schulterzucken. Er brauchte nicht zu wissen, dass Julian mir durchaus einiges beigebracht hatte. Der Junge starrte mich weiterhin erwartungsvoll an. Ich nickte in Richtung Tür und forderte ihn auf, voran zu gehen. Ab jetzt war wieder sein Einsatz gefragt. Seufzend gehorchte er und zauberte mir mal wieder ein Grinsen auf das Gesicht. Es war gerade so einfach, zu bekommen, was ich wollte. Ich fühlte mich, als würde ich einem Kind den Lutscher stehlen.

Der Junge ging immer zehn Schritte voraus um nachzusehen, ob die Luft auch wirklich rein war. Er hatte mir zwar erklärt, dass die Aufseher im Moment keinen Grund hatten, sich im Ritualsaal aufzuhalten, doch man konnte ja nie so genau wissen. Die Frau war vorhin zwar wirklich in ihr Arbeitszimmer verschwunden, was ihr Mann in seiner freien Zeit so trieb, blieb mir aber schleierhaft. In diesem Fall war ich voll und ganz auf Lewis’ Verstand angewiesen. Ich hoffte inständig, dass sich der Kerl nicht irrte. Nervös knetete ich meine Hände während er mich durch diesen Irrgarten führte. Leise murmelte ich in mich selbst hinein, welchen Weg er einschlug. Selbst wenn das Mikro nicht funktioniert haben sollte, prägte ich mir so immerhin den richtigen Weg besser ein. Am Ende des Ganges befanden sich zwei Türen. Eine schwere Eisentür, die an den Ecken schon leicht rostete und eine aus massiven Holz. Lewis wies mich mit einer flüchtigen Geste an, keinen weiteren Schritt darauf zuzugehen und er legte seinen Zeigefinger an seine Lippen. Ich verstand sofort und gab keinen Mucks von mir. Auf Zehenspitzen schlich sich der Junge an die zweite Tür und legte sein Ohr an das Holz. Er lauschte angestrengt und gab sich erst nach zwei Minuten, die sich anfühlten wie eine ganze Stunde, zufrieden mit dem, was er gehört hatte. Oder eben nicht. Ich musste extra nachfragen, worauf er abgezielt hatte.

„Das ist das Zimmer des Aufsehers. Zuerst schien es mucksmäuschenstill zu sein, aber dann hat etwas gequietscht und sein Schnarchen folgte der Ruhe. Er schläft und wälzt sich in seinem Bett herum. Hoffen wir nur, dass er gerade in einer Tiefschlafphase ist.“

Ich nickte zum Zeichen, dass ich verstanden hatte und sah meinen Gegenüber aufmerksam dabei zu, wie er die Eisentür aufdrückte. Ein leichtes Ächzen ertönte und ich zuckte zusammen. Wir beide hielten still und lauschten. Hinter der Holztür stockte das Schnarchen einen Moment und setzte dann noch lauter als zuvor wieder ein. Mein Herz raste, erleichtert stieß ich meinen Atem aus. Etwas zu lange brauchte ich, um mich wieder zu fangen. Zumindest sah Lewis das so und zog mich deshalb ungeduldig am Ellenbogen in das dunkle Zimmer. Die Tür hinter uns ließen wir offen, um nicht mehr Lärm als nötig zu machen. Neben mir knipste der Junge das Licht an und eine einzelne Glühbirne, die befestigt an dem Kabel des Gewindes von der Decke baumelte, flackerte auf. Sie zischte leicht und erhellte erst dann gleichmäßig den Raum.

Ich drehte mich wahrscheinlich zum dritten Mal um meine eigene Achse und sah mich um. Das Zimmer war ziemlich klein, daher fand ich die Bezeichnung ‚Ritualsaal’ nicht sonderlich passend. Gegenüber von der schweren Eisentür, die wir durchschritten hatten, befanden sich zwei weitere Durchgänge. Die linke Tür war einen Spalt breit geöffnet, sodass ich ein bisschen in den Raum dahinter spitzen konnte. Viel konnte ich wegen der Dunkelheit des Kellers nicht entdecken, aber die Treppe erkannte ich. Vor mir lag also der offizielle Weg in den Saal. Desinteressiert wandte ich mich ab. Der zweiten Tür dagegen waren mehrere Riegel vorgeschoben, sodass ich keinen Zutritt hatte. Selbst ohne zu wissen, was sich dahinter verbarg, wurde es zu meinem Ziel, dieses Hindernis zu durchbrechen. Wenn man so schwere Geschütze auffuhr, um etwas zu verstecken, musste dieses Etwas wichtig sein und ans Licht gelangen wollen. Wäre doch schade gewesen, wenn Geheimnisse verborgen blieben.

Bevor ich Lewis ausfragen konnte, was man hier versteckt hielt, forderte er schon nach meinen eigenen Infos.

„Sieh dir das an. Hier muss es passiert sein. Erinnerst du dich?“

Ich unterdrückte den Würgereiz, als er so andächtig über den Holztisch strich, der in der Mitte des Raumes stand. An allen vier Ecken waren Eisenringe befestigt, mit denen man Hände und Füße fesseln konnte. Wenn man genau hinsah, konnte man sogar noch alte Blutspuren erkennen, die sich in der dunklen Maserung verloren. Und das sollte gut sein?

„Natürlich erinnere ich mich. Ich bin schon mal hier gewesen.“

Genau genommen war das nicht einmal gelogen. Lewis hatte mich bei unserer ersten Begegnung hier hin gebracht. Allerdings fehlte der Stuhl, auf den er mich gefesselt hatte. Der Alte hatte die Seile damals mit seinem Messer aufgeschnitten und war dann spurlos verschwunden. Jetzt wusste ich wenigstens, wohin. Es war so dunkel in diesem Raum, dass ich die Eisentür nicht bemerkte.

„Erzähl mir mehr, ich will wissen, wie es abgelaufen ist.“

Ich schluckte schwer. Zwar könnte ich ihm jetzt die wildesten Geschichten auftischen, die mir gerade so in den Sinn kamen, aber würde er das vielleicht merken? Die Theorie kannte er ja angeblich.

„Läuft das nicht immer gleich ab?“

„Nein. Jedes Mitglied bekommt eine besondere Behandlung. Klar gleicht sich das ein oder andere Teil und am Ende tragen alle das gleiche Zeichen, aber ich will deine Erfahrung hören. Wie es sich angefühlt hat.“

„Es war…unbeschreiblich. Mir fallen kaum Vergleiche dafür ein, um es am besten zu beschreiben.“

Ich hoffte, mit langatmigen Begrifflichkeiten seinen Wissensdurst zu verköstigen, doch er ließ nicht locker. Immer mehr Fragen stellte er. Ich umging sie alle auf die selbe Art und Weise, doch irgendwie schien Lewis das zu schlucken. Einfach machte er es mir jedoch nicht. Einen Moment lang wünschte ich mir, ich könnte mich tatsächlich erinnern und ihm die Wahrheit erzählen, doch dann verwarf ich den Gedanken gleich wieder. Schmerz, Trauer und Verzweiflung wollte er aus meinen Schilderungen sicher nicht heraushören.

„Würdest du sagen, dass es dein Leben positiv verändert hat?“

„Ja.“

Auch in dieser Antwort schwang eine Spur Wahrheit mit. Nachdem ich dem Messer ausgeliefert worden war, schaffte ich es zu fliehen und das Waisenhaus hinter mir zu lassen. Bis sich vor Kurzem drei übermütige Kerle in mein Leben einmischten, hatte das auch wunderbar geklappt. Ein ehrliches Lächeln umspielte meine Lippen, als ich an die Männer dachte, die ich mittlerweile in gewisser Weise zu meinen Freunden zählte. Vertrauen konnte ich ihnen allemal. Sie brauchten mich, so wie ich sie brauchte. Lewis riss mich aus meinen Erinnerungen, indem er ein lautes Seufzen von sich gab.

„Ich beneide dich darum. Du hast alles, was ich je haben wollte und du die Chance nicht einmal. Aber immerhin scheinst du die Gabe jetzt zu schätzen zu wissen, so wie du lächelst.“

Ich nickte nur, ich wusste nämlich nicht, was ich darauf sagen sollte.

Erneut drehte ich mich um mich selbst. Der Raum war eigentlich nicht sonderlich spektakulär. Bis auf den Foltertisch in der Mitte, die Glühbirne an der Decke, die Türen zu verschiedenen Räumen und ein kleines Schränkchen in der Ecke, war der Saal leer.

„Was ist das für ein Schrank?“

„Da ist das Zubehör für das Ritual drin.“

„Das Messer?“

„Zum Beispiel. Eigentlich müsstest du das besser wissen als ich. Schließlich bin ich noch nicht gezeichnet worden und war nie dabei.“

„Zu meiner Zeit war hier noch ein Tisch mit den Messern aufgereiht gestanden. Etwas anderes haben sie damals nicht verwendet.“

„Das bezweifle ich.“

„Bitte?“

Ich schluckte schwer und ich spürte, wie mir das Blut aus dem Gesicht wich. Hatte er mein falsches Spiel wirklich durch so eine banale Notlüge entlarvt?

„Ich bezweifle, dass auf dem Tisch damals nur Messer lagen. Eine Fernbedienung müsste auch irgendwo dort gewesen sein.

„Und wofür, wenn ich fragen darf?“

„Na, für die Kamera dort oben. Dummerchen, glaubst du denn ernsthaft, dass die Gemeinschaft nicht jeden neuen Zutritt bewundern möchte?“

„Willst du mir gerade erzählen, dass Il Coltello Aufnahmen davon macht, wie sie Kinder mit einem Messer verletzen, um sich das immer und immer wieder mit anderen der Vereinigung anzusehen?“

„Da ist doch nichts dabei. Was hast du plötzlich?“

„Lass mich raten. Die Videobänder befinden sich alle hinter der verriegelten Tür dort?“

Ich deutete mit meinem Zeigefinger auf den Durchgang, den ich vorhin nur zu gerne inspiziert hätte. Lewis nickte und ich ballte meine Hände zu Fäusten. Ich musste mich abregen, sonst würde ich noch etwas Falsches sagen. Eigentlich war ja gut, was ich gerade eben herausgefunden hatte. Die Sekte hob Beweise an ihren Schandtaten auf, die vor Gericht jederzeit gegen sie verwendet werden konnte. Das wäre eigentlich ein gefundenes Fressen für mich, doch die Sache hatte einen Haken.

„Du hast nicht zufällig einen Schlüssel für das Zimmer, oder?“

Natürlich schüttelte der Junge den Kopf.

„Leider nicht. Ich hätte mir zu gerne angesehen, wie die Rituale ausgestaltet werden, aber die Aufseherin lässt mich nicht einmal in die Nähe ihres Schlüsselbundes. Tatsächlich habe ich einmal versucht, den Schlüssel unbemerkt auszuleihen, aber sie trägt den Bund sogar an ihrem Gürtel, während sie schläft. Seit dem habe ich es nicht wieder versucht und was auch immer du planst, lass es einfach. Sonst bekommst nämlich nicht nur du Ärger, sondern auch ich. Und jetzt lass uns verschwinden. Wir sind schon viel zu lange hier drin, ohne demnächst mal aufzufallen.“

Da musste ich ihm Recht geben. Wir knipsten das Licht aus, zogen die Eisentür hinter uns so vorsichtig wie möglich zu und rannten beinahe den Weg zurück. Es war ein Wunder, dass wir bei der ganzen Aktion nicht erwischt wurden und das stimmte mich glücklich. Viel hatte ich heute erreicht und jetzt hatte ich Blut geleckt. Wenn Lewis schon so offenkundig war heute, sollte ich das noch weiter auskosten. An seinem Zimmer angekommen, wollte er mich eigentlich wegschicken, doch ich folgte ihm hinein.

„Wie kommt es, dass dein Zimmer im Tunnelsystem versteckt ist?“

„Als ich eingezogen bin, war der Raum als einziger noch frei.“

„Aber du hältst dich trotzdem nicht bei den anderen Kindern auf. Keiner kennt dich. Angeblich bist du eines meiner Hirngespinste.“

„Vielleicht bin ich das ja wirklich.“

„Deine Schwester Lynette sieht das aber anders.“

Er stockte und sah mich mit weit aufgerissenen Augen an.

„Ihr kennt euch?“

„Jeder kennt sie. Sie steht jeden Tag an der Essensausgabe.“

„Sie darf sich sehen lassen?“

„Wieso sollte sie nicht?“

Er schwieg. Offenbar hatte ich ihn mit dieser Neuigkeit etwas überrumpelt.

„Als ich gestern mit der Aufseherin gesprochen habe, hat sie mir versichert, dass wir bald gemeinsam unser Debüt haben werden. Bis jetzt sollten wir uns immer im Hintergrund halten und der Gemeinschaft etwas unter die Arme greifen.“

„Das verstehe ich nicht.“

„Ich auch nicht.“

 

Nach diesem Satz war kein weiteres Wort aus ihm herauszubekommen. Er zog sich vollkommen zurück und ich hielt es für besser, ihn alleine zu lassen. Außerdem sollte ich sowieso schleunigst wieder in mein Zimmer. Also klaubte ich die Taschenlampe vom Boden auf und suchte mir meinen Weg zurück. Erstaunlicherweise fand ich ihn auf Anhieb.

 

Während ich meinen Schrank wieder zurecht rückte, überkam mich ein komisches Gefühl. Als wäre ich nicht alleine. Suchend ließ ich meinen Blick durch das ganze Zimmer streifen und fand es so vor, wie ich es verlassen hatte. Fast. Neben meinem Bett stand ein Teller mit Suppe. An dem Löffel darin verfingen sich ein paar Fetttröpfchen. Das Essen war kalt, doch ich hatte es nicht mitgebracht. Die Aufseherin wollte ein Mädchen schicken, das mir etwas brachte. Ich hoffte, dass es eines war, das mich kaum kannte und meine Mahlzeit einfach nur, ohne zu fragen, abgestellt hatte. Mein Bauchgefühl sagte mir trotzdem etwas anderes.

Ich hob den Löffel an und roch an der Suppe. Angewidert drehte ich den Stiel zwischen meinen Fingern und ließ die Flüssigkeit aus der Mulde zurück in den Teller laufen. Bestimmt fünf mal wiederholte sich die Szenerie, bis ich wie von der Tarantel gebissen von meinem Bett aufsprang und mir die Haare raufte. Die Kiste. Lewis Notizen. Ich hatte sie auf meine Kissen geschmissen und war sofort wieder abgehauen. Hatte die Suppe zu diesem Zeitpunkt schon im Raum gestanden? Ich wusste es nicht. Ich wusste gar nichts mehr. Gequält presste ich meine Augen und runzelte die Stirn. Ich versuchte mich zu erinnern, bekam jedoch abwechselnd Bilder von Teller und Kiste in verschiedenen Anwesenheitsformen in meinem Kopf. Zum Schluss glaubte ich schon, dass die Notizen weg waren und ich drehte mich erschrocken um. Ich verfluchte mich selber, als der Karton mit den Heften mich schon beinahe ansprang, so präsent war er. Meine Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt. Tief atmete ich ein und wieder aus, bis ich mich einigermaßen beruhigt hatte. Erschöpft ließ ich mich auf das Bett fallen und zog die Kiste mit einer Hand näher an mich. Vielleicht hatte jemand gesehen, was ich in meinem Zimmer aufbewahrte. Vielleicht auch nicht. Mir einzureden, dass es egal war, half dabei, darüber hinweg zu sehen. Wahllos griff ich nach einem Heft und schlug es auf. Ich begann damit, die ersten Zeilen vorzulesen, um den Jungs in der Wohnung ebenfalls einen Einblick zu verschaffen. Dann wurde es mir allerdings zu blöd. Man konnte mir nicht garantieren, dass das Mikro noch funktionierte und wenn ich die Notizen im Stillen durcharbeitete, kam ich viel schneller voran. Also las ich nur für mich und beschloss dabei, mein Versprechen zu brechen. Ich war für handfeste Beweise gegen die Sekte gekommen und würde Lewis seine Sachen sicher nicht freiwillig zurückgeben. Sobald ich mit dem ersten Teil fertig war, musste ich mir ein Versteck für die Schachtel suchen, doch das hatte Zeit.

 

 

 

Handfeste Beweise

Aus den Augenwinkeln beobachtete ich, wie Lynette einzelne Zutaten in den großen Kochtopf warf und zwischendrin immer wieder mal darin herumrührte. Dabei wurde zwar das Geschirr etwas vernachlässigt, das auf mich zum Abtrocknen wartete, doch das Mädchen bemerkte meine Musterung gar nicht. Stattdessen roch sie gerade an ihrem Werk und schmeckte den Eintopf ab. Sie rümpfte die Nase, schien offenbar nicht sonderlich begeistert von ihrer Kreation zu sein. Ihr Blick wanderte zu mir.

„Probier mal.“

Ohne auf meinen Protest zu warten, schob sie mir einen Löffeln in den Mund und sah mich abwartend an. Ich nahm ihr den Stiel aus der Hand, während ich versuchte, mich nicht zu verschlucken. Der Geschmack von Tomaten und Paprika breitete sich in meinem Mund aus, beinahe in einer perfekten Variation.

„Du könntest mit Oregano oder Basilikum nachwürzen. Ansonsten schmeckt das echt super, kein Wunder, dass man dich zum Kochen eingeteilt hat. Seit wann machst du das schon?“

Sie nahm sich meinen Rat zu Herzen und durchstöberte den Gewürzschrank nach dem richtigen Glas.

„Nicht lange. Kurz bevor du eingezogen bist, hat man mir die kompletten Schichten übertragen.“

„Und der vorherige Koch?“

Sie zuckte mit den Schultern und überging meine Frage dadurch einfach. Zu gerne hätte ich ihr Gesicht gesehen und darin ein Geheimnis gelesen. Wenn sie ohne Lewis’ Wissen eingeteilt wurde, war das gegen den eigentlichen Plan geschehen, den die Sekte verfolgte. Irgendetwas musste also mit dem alten Koch passiert sein. Etwas Außergewöhnliches. Vom Herd kam ein leises Zischen, das uns beide in unserem Tun inne halten ließ. Einen Moment lang blickten wir uns entsetzt an und stürzten dann auf den Topf zu. Lynette zog ihn vom Gas und rührte kräftig im Essen herum, damit es nicht verbrannte. Ohne mich bewegen zu können, sah ich ihr dabei zu. Endlich atmete sie erleichtert auf.

„Da haben wir noch mal Glück gehabt. Könntest du bitte für mich den Basilikum weiter suchen?“

„Klar.“

Ich sah über die Gläschen hinweg und verschaffte mir einen Überblick. Zwischen einzelnen Gewürzen versteckt, entdeckte ich zwei ungewöhnliche Fläschchen, die mir etwas fehl am Platz vorkamen. Beide trugen ein identisches Etikett. Schlaftropfen. Eines der Gefäße war bereits fast geleert.

„Sag mal, was haben die hier in der Küche zu suchen?“

Das Mädchen wandte den Blick nur beiläufig von ihrem Kochtopf ab und wollte sich schon wieder ihrer Arbeit zuwenden, als ihr Kopf plötzlich erneut in die Höhe schoss und sie den Gegenstand in meiner Hand erkannte. Hektisch griff sie danach, ließ das Fläschchen in ihre Hosentasche gleiten und drehte sich wieder weg. Sie wollte mir nicht in die Augen sehen, während sie mich anlog.

„Das sind meine, die muss ich wohl vergessen haben. Ich kann manchmal nicht richtig einschlafen und da helfe ich eben ein bisschen nach.“

Ich nahm ihr diese Ausrede kein Stückchen ab, ließ mir aber nichts anmerken. Ich nutzte lieber aus, dass sie sich selbst zwang, mich nicht anzusehen und steckte das andere Fläschchen unbemerkt selbst ein. Ein neues Souvenir für meine Sammlung. Langsam kam ich mir vor wie ein Eichhörnchen, das seine Nüsse für den Winter hortete, um in schwierigen Zeiten zu überleben.

Dann erledigte ich weiter meine Aufgaben. Wenn die Aufseherin ihren Kontrollgang machte, wollte ich fertig sein. Eine weitere Verzögerung konnte in meinem geplanten Kreuzzug fatale Folgen haben.

 

Nachdem alle Kinder sich auf ihre Zimmer zurückgezogen hatten, wagte ich es, die Kiste mit meinen Notizen zwischen meinen Kleiderstapeln im Schrank hervorzuholen. Die letzten Nächte hatte ich kaum etwas Bedeutendes herausgefunden. Immer wieder hat Lewis sich die gleichen Informationen aufgeschrieben und dabei nur die Wortwahl geändert. Manchmal. Oft fand ich in einem Notizblock nur zwei unterschiedliche Sätze, die er ständig wiederholte. Er musste wie ein Besessener daran gearbeitet haben.

 

Seit Jahrhunderten bietet die Gemeinde eine Stätte der Zuflucht für Kinder in Not. Il Coltello räumt ihnen Recht ein, nicht nur vor dem Gesetz.

 

Viele Stunden zerbrach ich mir den Kopf darüber, welche Botschaft sich hinter den Worten versteckte. Mein Bauchgefühl sagte mir, dass es nicht alleine darum ging, dass die Sekte bereits sehr alt war. Auch wenn mich das doch verschreckte, tat dies nichts zur Sache. Wie eine Gemeinschaft, die hilfsbedürftigen Kindern eine Rechtsgrundlage bot, wirkte das Waisenhaus jedenfalls nicht auf mich. Dass es wirklich nicht um eine Emanzipation ging, zeigte mir die Durchforstung weiterer Unterlagen. Die Sekte war in verschiedene Ränge untergliedert, jeder hatte seinen festen Platz. Nur mit viel Mühe konnte man die Leiter emporsteigen.

 

Il Coltello ist eine Gemeinschaft der Rechtsschaffung. Ganz oben stehen die Mutter der Güte und der Vater des Erbarmens. Wer sich bekennt, steht unter ihrer Obhut.

 

Ich wurde aus den Notizen nicht schlau, sie reihten ein Rätsel an das nächste. Frustriert sah ich dabei zu, wie der Stapel mit den nutzlosen Heften immer weiter in die Höhe schoss und der viel versprechende Haufen in sich zusammenschrumpfte. Wütend pfefferte ich zum Schluss auch das letzte Heft zu den ganzen anderen und ließ mich rücklings in meine Kissen fallen. Das Bett ächzte unter meinem Gewicht, doch das war mir egal. Es hätte unter mir zusammenbrechen können und mich hätte es nicht gejuckt. Ich brauchte Informationen, ich wollte wissen, was der Sinn hinter dem ganzen Waisenhaus war. Wer folterte Kinder und nannte das Recht? Wer verglich schon reinen Gewissens Horror mit Güte und Erbarmen? Ich wollte nicht, dass meine gesamte Rückkehr umsonst war. Ich brauchte etwas in den Händen, um die Sekte in die Enge zu treiben. Ich musste in den Raum mit den Kameraaufzeichnungen kommen. Sonst war ich verloren.

 

 

Es war der letzte Tag, heute wollten mich die Männer aus dem Irrenhaus holen. Ich hatte keine Ahnung wie, ich hatte keine Ahnung wo und ich hatte keine Ahnung wann. Sicher wusste ich aber, was ich zuvor noch erledigen musste.

 

„Hey Jungs. Ich hoffe, dass ihr mich verstehen könnt und das Mikro zumindest jetzt funktioniert. Was auch immer ihr geplant habt, wartet noch ein bisschen. Ich brauche noch Zeit. Vertraut mir.“

 

Tief atmete ich durch und beobachtete, wie die Sonne langsam aufging und durch mein Zimmer bereits einzelne Lichtstrahlen sandte. Das war mein Stichwort. Ich kramte aus meinem Versteck das Fläschchen mit den Schlaftropfen und machte mich auf den Weg in die Küche. Während sich die anderen Kinder noch im Waschraum tummelten, nahm die Aufseherin im Speisesaal für gewöhnlich ihre Tasse Kaffee ein. Stets trank sie ihr Gesöff mit zwei Würfeln Zucker. Zu blöd nur, dass ich letzte Nacht das Schälchen von ihrem Tisch genommen hatte.

„Abbey, Liebes, würdest du mir bitte meinen Zucker bringen?“

Ich unterdrückte ein Grinsen, als ich ihrer Bitte nachkam und zwang mich zu einem freundlichen Lächeln.

„Offenbar tut dir der Küchendienst gut, du benimmst dich nun hervorragend. Setz dich zu mir meine Liebe. Es gefällt mir, wie du lächelst.“

Nur mit viel Mühe war der Würgereiz zu unterdrücken. Ihre milchigen Augen musterten mich. Es fühlte sich an, als würde sie mit jedem Blick erneut ein Messer in mich stechen. Wer wusste schon, ob nicht genau das ihren Gedanken entsprach. Die nötigen Waffen lagen immerhin in ihrem Keller. Nervös knetete ich mir die Hände und zählte bereits die Sekunden. Die Frau schlürfte ihren Kaffee, ihr Blick hing an mir, mein Lächeln erstarrte und mein Herz raste. Es dauerte zu lange. Vielleicht hatte ich einen Fehler gemacht.

„Wieso bewegst du dich denn so komisch?“

Verwirrt blickte ich die Aufseherin an. Ich hatte mich keinen Millimeter vom Fleck gerührt. Die Frau fasste sich an die Stirn, wollte noch etwas zu mir sagen, doch dann sackte ihr Kopf nach hinten weg und sie war bewusstlos. Erleichtert stieß ich den Atem aus, ich hatte nicht bemerkt, dass ich die Luft angehalten hatte. Es war also doch eine gute Idee, das Schlafmittel auf die Zuckerwürfel zu tropfen. Jetzt musste ich nur noch hoffen, dass die Dosis nicht zu schwach war. Im Kopf zählte ich erneut die Sekunden, dieses mal wartete ich absichtlich eine Minute ab. Die Alte rührte sich nicht mehr. Leichte Befriedigung breitete sich in mir aus.

„Wie du mir, so ich dir.“

Ich war schlau genug, um eins und eins zusammen zu zählen. Man hatte mir mehr als einmal Schlaftropfen unter meine Mahlzeiten gemischt. Auf natürlichem Wege hätte ich sonst nicht mehrere Tage durchgeschlafen. Da fand ich es durchaus gerecht, dass die Aufseherin selbst auch mal eine kurze Auszeit bekam. Ihren Schlüsselbund brauchte sie dabei bestimmt auch nicht mehr. Siegessicher zog ich die Tür hinter mir zu und machte mich auf den Weg. Jetzt konnte man mich nicht mehr aufhalten.

 

Meine erste Station war das Arbeitszimmer der Alten. Auf dem Weg dorthin schaute ich mir mehr als nur einmal über die Schulter, um mögliche Verfolger zu entlarven, doch ich blieb alleine. Erst an meinem Ziel angekommen, ließ ich mein paranoides Verhalten ein wenig abklingen. Ein kurzer Blick durch den Raum bestätigte mir, dass ich ungestört war. Ich schickte mich an, den Schreibtisch zu untersuchen und blieb wie beim ersten Mal an dem Kästchen unter der Lampe hängen. Diesmal hielten mich die drei Schlösser allerdings nicht davon ab, mir Zugang zum Inhalt zu verschaffen. Ich suchte mir die kleinsten Schlüssel aus dem Bund heraus und probierte sie abwechselnd durch. Nicht lange und der Deckel sprang  zu meinem Triumph auf. Das leichte Grinsen auf meinem Gesicht wurde immer breiter, als ich mir die verschlossenen Dokumente durchlas und deren Bedeutung entzifferte. In meinen Händen hielt ich den Briefverkehr von geschmierten Richtern, Anwälten, Polizisten, Ärzten und vielen Beamten, die Mitglied der Sekte waren und deren dunkle Machenschaften vertuschten. Eine Mappe mit sämtlichen Verträgen und Listen der Angehörigen verbarg sich auch darunter. Mitten darin war auch der Vorvertrag abgeheftet, den ich bei meiner Rückkehr unterschrieben hatte. Am liebsten hätte ich die gesamte Kiste geleert und bei meiner Flucht mit mir genommen, doch ich konnte bei der weiteren Hausdurchsuchung keinen Ballast gebrauchen. Ich überlegte hin und her und einigte mich zum Schluss auf eine Zwischenlösung. Meine Unterschrift wollte ich nicht im Waisenhaus zurücklassen und auch die Kündigung des Kochs, der offen zugab, dass er mit den Methoden nicht mehr einverstanden war, nahm ich an mich. Die Frage, warum Lynette jetzt am Herd stand, hatte sich nun zumindest geklärt. Zusammengefaltet steckte ich die Papiere in den Bund meiner Hose und verschloss das Kästchen wieder. Ich versuchte, das Zimmer so zu hinterlassen, wie ich es vorgefunden hatte und schloss die Tür hinter mir wieder ab. Ich bemerkte den leichten Aufruhr, als ich die Richtung der Treppe zum Keller einschlug und am Speisesaal vorbeikam. Die Kinder hatten wohl die Aufseherin entdeckt und redeten wild aufeinander ein. Ich lugte durch den Türspalt und sah mit an, wie Lynette sich in Mitten der Kinder um die Alte kümmerte. Sie redete auf die Frau ein und tätschelte ihre Wange. Fragen der Kleinen prasselten dabei auf sie ein, bis sie es nicht mehr aushielt. Schon fast schreiend drehte sie sich um ihre eigene Achse und wies die Kinder an, sich endlich still an ihre Plätze zu setzen. Verschreckt taten alle, wie ihnen geheißen. Marie konnte ich in der Menge allerdings nicht entdecken, was ein mulmiges Gefühl in mir auslöste. Normalerweise hielt sie sich strikt an die Regeln des Hauses und war immer pünktlich. Hoffentlich hatte man ihr nichts angetan. So genau konnte man das in diesen Wänden nie wissen. Während ich mir meine Gedanken über Julians Tochter machte, griff Lynette in ihre Hosentasche und holte ihr Handy hervor. Ebenso wie Lewis hatte sie Privilegien. Alle anderen, darunter auch ich, mussten ihr Hab und Gut vorlegen und durften fast nichts davon behalten. Ein Mobiltelefon gehörte jedenfalls nicht dazu. Normalerweise. Die komplette Bevorzugung der Geschwister und die Heimlichtuerei des versteckten Jungen stank bis zum Himmel. Ihre Großeltern mussten einen besonderen Rang in der Sekte haben, wenn die beiden solche Vorteile genossen und offenbar schon in die Geheimnisse eingeweiht waren. Das Mädchen sah sich nun im Saal um und forderte das älteste Kind auf, wieder zu ihr zu kommen. Einen Moment lang dachte ich, dass sie mit mir gesprochen hatte, weil ihr Blick direkt in meine Richtung führte. Wie gebannt klammerte ich mich an der Türklinke fest und atmete erleichtert auf, als ein Junge aus dem verborgenen Winkel der Tür hervortrat. Der Schreck gab mir einen Adrenalinkick, den ich zum Besten nutzte. Ich wandte mich vom Esszimmer ab und ging weiter meine Route nach, die mich die verborgene Treppe hinab in den Keller führte. Dunkelheit umgab mich und ich war mir nicht sicher, ob ich das gut finden sollte. Normalerweise mochte ich es, wenn man mich nicht sehen konnte und in der Regel konnte ich das auch zu meinem Vorteil nutzen. Das Problem war allerdings, dass ich ebenso wenig lauernde Gefahren rechtzeitig erkennen konnte und mich quasi selber auslieferte. Ich schluckte die Furcht so weit es ging hinunter und durchquerte den schmalen Gang blind. Meine Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt, als ich mich nur auf meinen Orientierungssinn verließ und einen Fuß vor den anderen setzte. Ganz langsam, als könnte sich der Boden unter mir plötzlich in eine tiefe Schlucht verwandeln. Warum mussten die wichtigen Hinweise immer so verborgen sein, sodass auch am Tag kein Licht in die Zimmer fiel? Endlich ertastete ich unter meinen ausgestreckten Händen den Rahmen einer Tür. Ich ließ meine Finger an dem Holz entlang wandern und suchte nach der Klinke. Zu meinem Glück war der Durchgang nicht abgeschlossen und ich musste im Dunkeln nicht erst nach dem richtigen Schlüssel suchen. Das hätte mir enorm viel Zeit gekostet und ich wollte nicht mehr Risiko als nötig eingehen. Erleichtert stellte ich fest, dass in dem Raum nicht bereits auf mich gewartet wurde. Auch hier wollte ich mich zunächst vorantasten, stieß dabei aber auf den Lichtschalter und legte ihn um. Das spärliche Licht enthüllte den Ritualsaal. Den Foltertisch in der Mitte ignorierte ich so gut es ging und die schwere Eisentür an der gegenüberliegenden Wand würdigte ich keines Blickes. Nur die Ecke, in der sonst ein kleines rotes Licht aufblitze, überprüfte ich. Die Kamera war aus. Das gab mir nicht nur die Sicherheit, dass der Mann in Kürze nicht geplant hatte, hier aufzutauchen, sondern auch Gewissheit, dass Marie sich nicht im Keller aufhielt. Es war ruhig, ich war allein und die Aufseherin war außer Gefecht gesetzt. Wie oft bot sich mir schon diese Chance?

Einige Schlüssel aus dem Bund konnte ich ausschließen, als ich nach dem richtigen für das Hintertürchen suchte. Fünf blieben mir schlussendlich noch zur Auswahl. Ich probierte sie alle und wurde immer wieder enttäuscht. Mit rasendem Herzen steckte ich den letzten ins Schloss und drehte ihn. Die Tür reagierte nicht. Das konnte nicht wahr sein. Ungläubig ging ich alle Schlüssel erneut durch und konnte keinen passenden zwischen ihnen finden. Vielleicht hatte nur der Mann Zutritt zu den Aufzeichnungen. Konnte das sein? Mein Inneres krampfte sich zusammen, erst auf den zweiten Anlauf konnte ich die Übelkeit wieder hinunterschlucken. Die Angst und der Frust schwanden aber wieder so schnell, wie sie gekommen waren. Wütend stampfte ich mit einem Fuß auf und überlegte angestrengt, was ich jetzt noch tun konnte. Sollte ich auf die Männer warten und einfach aus dem Waisenhaus verschwinden? Sollte ich flüchten, ohne die Aufnahmen als Beweis mitzunehmen? Ich konnte das nicht einfach so zurücklassen. Bis es vielleicht mal zu einer Gerichtsverhandlung kam, könnte die Sekte die Beweisstücke beiseite schaffen. Ich wollte etwas in der Hand haben, das man mir nicht mehr nehmen konnte. Die Schlüssel klirrten leicht, während ich sie zwischen meinen Fingern drehte. Fast glitten sie mir aus den Händen, doch ich hatte den Bund fest genug im Griff. Ein letztes Mal wollte ich mich vergewissern, dass ich auch keinen Schlüssel übersehen hatte, hielt allerdings in meiner Bewegung inne. Vielleicht war es falsch, nach einem großen Schlüssel Ausschau zu halten. Vielleicht war der offensichtliche Weg doch nicht der richtige. Aus den Augenwinkeln schielte ich zu dem Schränkchen, in dem die Messer weggeschlossen wurden. Vermutlich sollte ich mir dort auch mal den Inhalt ansehen. Vorsichtig, als könnte mich die Maserung des dunklen Holzes plötzlich anspringen, strich ich über die Einkerbung im Metall, in das der passende Schlüssel musste. Zu diesem Schloss konnte nur der kleinste, verschnörkelte und aufwendig gestaltete Schlüssel passen. Die Machart und Materialverarbeitung schrieen gerade zu nach etwas Extraordinärem. Triumphierend nahm ich das Klicken aus dem Schloss war, als ich das kleine geformte Metallstück in meinen Händen darin drehte. Das Türchen sprang einen Spalt auf und knarrte leicht, als ich mit meinen Händen etwas nachhalf. Wegen dem schlechten Licht in meinem Rücken und den Schatten, den ich warf, erkannte ich zunächst sehr wenig. Mit äußerster Vorsicht tastete ich die verschiedenen Gegenstände ab und zuckte jedes Mal zusammen, wenn ich eine stählerne Klinge erfasste. Aus Angst, mich geschnitten zu haben, hielt ich meine Finger schleunigst ans Licht und konnte erleichtert aufatmen. Eigentlich wollte ich nichts durcheinander bringen, doch als ich nach einer halben Ewigkeit noch immer nicht fand, wonach ich aus war, griff ich wild in die Ecken, in denen ich keine scharfen Klingen vermutete. Dabei fiel das eine oder andere Messer zwar heraus, doch ich erreichte, was ich wollte. Für einen kurzen Moment starrte ich den Schlüssel, der sich kaum von denen im Bund der Alten unterschied, nur an ohne eine wirkliche Reaktion zu zeigen. Erst eine Weile später sprang ich filmreif auf, pfefferte die Messer zurück an ihren Platz und steckte meine Errungenschaft in das passende Schloss. Die doppelte Verriegelung machte mich etwas ungeduldig, doch dann ließ sich die schwere Eisentür endlich öffnen. Was sich dahinter vor meinen Augen ausbreitete, wischte allerdings das breite Grinsen von meinen Gesichtszügen. Ein Raum, vielleicht knappe zwei Meter breit und fast drei Meter lang, wurde an den Wänden von Regalen geziert, die über und über mit Videobändern bestückt waren. Mit so vielen Aufzeichnungen hatte ich sicher nicht gerechnet. Langsam setzte ich einen Fuß vor den anderen, um mir die Bänder aus der Nähe anzusehen. Auf jedem stand ein Name und eine Nummer. Letzteres diente vermutlich zur Ordnung. Ich hielt nach einer Liste Ausschau, die mich dem System ein bisschen näher bringen sollte, aber ich konnte keine finden. Mit den Fingern fuhr ich an den Rändern der Regale entlang, überflog einen Namen nach dem anderen und wurde das Gefühl nicht los, manche davon bereits gehört zu haben. Ab einer bestimmten Sprosse häufte sich dieser Hintergedanke, bis ich auf die letzten beiden Namen stieß, die ich an diesem Tag las. 146, Leon Frolder. In meinem Kopf tauchten die Bilder von dem Jungen auf, der sich in mein Zimmer geschlichen hatte, um mich und die andren Kinder zu befreien. Der Junge, der mich beruhigt hat. Der Junge, der mir Hoffnung gab. Der Junge, der durch seinen Tod jegliche Aussicht auf einen Ausweg nahm. Das Messer hat ihn getötet. Nummer 146. Gefolgt von der Nummer, die eigentlich als nächste hätte sterben sollen. Das Mädchen, das nur mit einem gütigen Schutzengel ihrem Schicksal entkam. Nummer 147 auf der Liste. Abigail Wilson. Ich wäre die nächste gewesen.

 

Als ich nach der Aufzeichnung griff, die meinen Namen trug, ließ ich aus Versehen den Schlüsselbund fallen. Zunächst ärgerte ich mich natürlich darüber, doch eigentlich sollte ich dem Missgeschick dankbar sein. Das Klirren der Schlüssel auf dem harten Boden weckte mich aus meiner Betäubung und ich nahm mein Umfeld wieder viel genauer wahr. Gerade rechtzeitig, denn als ich mich herunterbeugte, um den Bund wieder an mich zu nehmen, bemerkte ich das Licht, das durch den Spalt der Tür fiel. Der Mann war wach. Unsicher, was ich in dieser Situation tun sollte, drehte ich mich mehrmals um meine eigene Achse. Ich konnte nicht in dem Raum mit den Videobändern bleiben, auch wenn ich mich dort gerne noch weiter umgesehen hätte. Ohne Licht und Möglichkeiten, mich zu verstecken, würde ich mich sicher nicht in eine Sackgasse begeben. Also sprintete ich aus dem Raum und schloss die Tür mit zitternden Händen ab, wofür ich vermutlich länger als nötig brauchte, weil ich die andre Tür in meinem Rücken nicht aus den Augen lassen wollte. Schritte kamen näher, ein Schlüssel klapperte und ich musste wohl oder übel einsehen, dass ich den Raum nicht so hinterlassen konnte, wie ich ihn vorgefunden hatte. Das Schränkchen war weder verschlossen, noch war dessen Inhalt vollständig. Ich nahm mir nur die Zeit dazu, das Licht zu löschen und zu fliehen. Nur mit viel Glück würde der Mann nicht bemerken, dass jemand in seinen Geheimnissen geschnüffelt und sogar etwas davon entwendet hat. So schnell und trotzdem so leise wie möglich tastete ich mir meinen Weg vorwärts in dem dunklen Gang. Auf meinem Hinweg kam mir die Strecke zur Treppe nicht so lange vor, doch jetzt schien sie schier endlos zu sein. Endlich hatte ich die ersten Stufen erreicht, da sprang die Tür zur Folterkammer auf. Das Licht hinter ihm machte seine Umrisse klar, sein Gesichtsausdruck wirkte wissend. Er war mir auf der Spur. Vorsichtig wollte ich die nächsten Stufen erklimmen, um mich aus dem Staub zu machen, doch der Alte schlug meine Richtung ein. Aus Angst, dass er mich entdecken würde, rührte ich mich doch nicht mehr vom Fleck. Allerdings hielt er wider meinen Erwartungen nicht nach mir Ausschau, sondern steuerte auf die Kammer neben der Treppe zu. Ich drückte mich so weit wie möglich an die Wand hinter mir und wollte mich im Schatten verbergen. Als er jedoch das Licht im Zimmer mir gegenüber einschaltete, vergaß ich alle Sorgen um meine eigene Flucht. Marie saß in der Ecke des Kämmerchens und weinte sich die Augen aus dem Kopf. Nahm der Mann etwa an, dass die Kleine sich Zugang zu den verbotenen Räumen verschafft hatte? Gab er ihr die Schuld an der Unordnung? Würde sie meinetwegen bestraft werden? Ich ärgerte mich über mich selbst. Wie naiv war ich nur gewesen, die Luft für rein zu erklären? Natürlich war es ungewöhnlich, wenn Marie nicht pünktlich im Speisesaal saß. Wie konnte ich nur voraussetzen, dass die ausgeschaltete Kamera Bedingung dafür war, dass es allen Kindern gut ging? Ich wusste noch immer nicht, was der Sinn der Sekte war und tat so, als hätte ich den totalen Durchblick. Wären die Jungs jetzt bei mir gewesen, hätte ich Julian gebeten, mir mal eine Ohrfeige für meine Dummheit zu geben. Marie half das dagegen recht wenig und ich sollte mir schleunigst etwas einfallen lassen, um ihr zu helfen. Mein Schädel brummte, während mir Ideen in den Sinn kamen, die ich schnell wieder verwarf. Derweil machte der Mann einen großen Schritt auf die weinende Marie zu, die sich bei seinem Anblick erhob. Die Arme hatte keine Ahnung, wie ihr geschah. Er wollte sie am Arm packen und sie festhalten, doch die Kleine war schneller. Eine große Welle an Stolz rollte über mich, als Marie den Mut bewies, sich gegen ihren Peiniger aufzulehnen. Sie ließ sich nicht grob anfassen und rannte von den Schlägen weg. Der Mann wollte ihr folgen, als sie auf die Treppe zusteuerte und den Weg zu mir einschlug. Mein Einsatz war gefragt. Geschickt holte ich aus und warf den Schlüssel zu den Videobändern in die andere Richtung. Wie zu erwarten, klirrte er beim Aufprall und zog die Aufmerksamkeit des Mannes auf sich. Diese Gelegenheit nutze ich, um Marie an mich zu ziehen und mit ihr zusammen den Rest der Stufen zu erklimmen. Sie wehrte sich erst gegen meinen Griff, hielt aber schnell inne, als sie mich erkannte. Gleich darauf schlangen sich ihre dünnen Ärmchen um meinen Nacken und sie flüsterte mir Worte des Dankes ins Ohr. Dabei hatte sie sich doch selbst befreit. Sie alleine hatte es geschafft, den Händen des Mannes zu entkommen. Am liebsten hätte ich ihr genau das und viele weitere beruhigende Worte gesagt, doch dafür war keine Zeit. Der Mann konnte uns zwar nicht in Mitten der anderen Hausbewohner verfolgen, doch er hatte einige Handlanger auf seiner Seite. So starke Angst hatte ich noch nie vor einer Begegnung mit Lewis. Jede Ecke, um die ich treten musste, inspizierte ich zunächst gründlich. Marie setzte ich bei ihrem Zimmer ab.

„Hör mir zu. Du suchst dir alle Sachen zusammen, die du brauchst und hältst sie griffbereit. Dann gehst du in mein Zimmer und versteckst dich dort, bis ich dich hole. Verstanden?“

Ohne lange zu zögern, nickte sie mir zu und rannte in ihr Zimmer. Zufrieden konnte ich beobachten, wie sie ihre Geheimkiste aus ihrem Versteck holte. Dann schickte ich mich an, meinen Plan weiter zu verfolgen. Möglichst unbemerkt musste ich der Alten ihren Schlüsselbund zurückgeben und ebenso wie Marie musste ich meine Sachen aus dem Versteck holen. Die Videokassette und die Briefe aus dem Büro der Aufseherin wogen schwer an meinem Körper und ich konnte sie nur mit Mühe verstecken. Trotz meiner Furcht schritt ich mit erhobenem Haupt in den Speisesaal und tat so, als sei nichts Ungewöhnliches an meinem Verhalten zu finden. Mein Plan ging allerdings nicht so auf, wie erhofft. Alle Blicke lagen auf mir, musterten mich teilweise vorwurfsvoll, teilweise verängstig. Zwei Gesichter stachen jedoch aus der Menge hervor. Mein Herz setzte aus und raste anschließend in dreifachem Tempo weiter. Ein Fremder saß am Tisch neben der Frau, die mittlerweile wieder erwacht war. Ganz fitt sah sie zwar nicht aus, doch sie war in ein Gespräch mit ihrem Gegenüber verwickelt. Der Fremde hatte mich bereits entdeckt und strahlte von einem Ohr zum anderen. Er gehörte sicher nicht in die Gesellschaft der Sekte, denn er war mir auf den ersten Blick sympathisch. Er konnte nicht zu den Bösen gehören. Bevor ich den Augenkontakt mit ihm weiter ausdehnen konnte, um mir ein besseres Bild von ihm zu verschaffen, wurde er aber in das Gespräch mit der Alten verwickelt. Sein Ausdruck wurde plötzlich ganz sachlich und konzentriert. Wie von selbst bewegten sich meine Füße auf die kleine Runde zu, die Seitenblicke der Kindern ignorierend. Der Blonde, der der Aufseherin gegenüber saß, drehte sich nun zu mir um und beschleunigte meinen Herzschlag ein weiteres Stück. Ich wusste ja, dass heute etwas Ungewöhnliches passieren sollte, doch Harvey höchst persönlich hier anzutreffen, hatte ich nicht erwartet. Und wer war der Fremde? Die Frage, die ich eigentlich nur mir selbst gestellt hatte, wurde von der Alten beantwortet. Auch sie hatte mittlerweile meine Anwesenheit bemerkt.

„Ach Abbey, wie schön, dass du gerade jetzt kommst. Diese beiden Herren möchten gerne mit dir reden. Das sind Justus Lordani und Harvey Filtsch.“

„Freut mich.“

Ich lächelte ironisch und sah in den Augen der Männer, dass sie die Anspielung verstanden. Ich freute mich tatsächlich, die beiden zu sehen. Ich freute mich darauf, endlich diesem Irrenhaus zu entkommen. Nur war ich sehr gespannt darauf, in den Fluchtplan eingeweiht zu werden. Der Fremde, Justus, ergriff das Wort.

„Ebenso. Hören Sie, Sie sollten wissen, dass sie hiermit nicht vor vollendete Entscheidungen gestellt werden und unseren Vorschlag auch ablehnen können, wenn sie das möchten. Mein Klient hier zeigt deutliches Interesse an ihrer Gesellschaft und hat mich gebeten, einen Vertrag aufzusetzen. Durch ein Missverständnis ging der Antrag zur Adoption allerdings bereits vor Gericht und wurde schon gestattet. Natürlich unter der Voraussetzung, dass auch Sie einverstanden sind.“

Nur sehr langsam sickerten die Infos zu mir durch. Harvey tat so, als wollte er mich adoptieren? Die Adoption war schon genehmigt und die Entscheidung lag nur noch bei mir? Ich bezweifelte, dass die Aufseherin diese Geschichte einfach so hinnahm. Also reichte ich den Männern nicht vorschnell meine Hand.

„Und warum sollte ich den Vertrag eingehen?“

„Erinnern Sie sich etwa nicht mehr an Harvey? Sein Vater war ein guter Freund Ihres Vaters und bei dessen Tod sollte das Sorgerecht ganz offiziell der Familie Filtsch zufallen. Mein Klient will dem eigentlich nur nachgehen. Der Richter hat das Erbe gleich anerkannt und der Adoption aus diesen Gründen zugestimmt.“

„Harvey, Sie waren selbst im Waisenhaus untergebracht. Haben Sie noch Bezug hierzu oder haben Sie in der Welt der Unordnung das Wesentliche aus den Augen verloren?“

„Ich trage meine Erinnerungen mit mir und jeder kann sie mir ins Gesicht geschrieben sehen. Natürlich habe ich meinen Bezug zu Il Coltello nicht verloren.“

Siegessicher grinste Harvey mich an und ich musste mich zwingen, die Mimik nicht zu erwidern.

„Gut. Dann werde ich den Vertrag unterzeichnen. Nur…würde ich ihn mir gerne noch in Ruhe durchlesen.“
“Selbstverständlich. Sie können auf ihr Zimmer gehen, ihre Sachen packen und mit einer frischen Unterschrift auf dem Dokument zurückkommen, wenn Sie soweit sind. Wir klären alles weitere für Sie.“

Ich nickte zum Zeichen, dass ich verstanden hatte und machte auf dem Absatz kehrt. Den kleinen Umweg um den Tisch herum nahm ich in Kauf, um mit einer ausfallenden Handbewegung den Schlüsselbund unter den Stuhl der Alten zu feuern. Ein kurzes Husten sollte das Klirren überdecken und dann machte ich mich richtig auf den Weg in mein Zimmer. Den Vertrag drückte ich an mich und auch auf den restlichen Ballast an meinem Körper gab ich Acht. Eilig beschritt ich den weg zu meinem Zimmer, ich wollte so wenig Zeit wie möglich verlieren. Den Vertrag unterschrieb ich, ohne den Inhalt genau zu studieren, denn ich vertraute Harvey. Meine Aufmerksamkeit galt eher meinen Souvenirs, die ich nicht zurücklassen wollte. Ich stieg auf mein Bett, um an den Spalt im Deckenbalken zu kommen und warf den Inhalt auf die Matratze. Die Aufzeichnung mit meinem Namen und die Briefe aus den Unterlagen der Aufseherin legte ich dazu und sprang dann mit Schwung wieder vom Bett herunter. Achtlos öffnete ich meine Schranktüren und erschrak mich beinahe zu Tode, als mich ein Augenpaar zwischen meinen Hemden musterte. Dass Marie versteckt in meinem Zimmer auf mich wartete, hatte ich völlig vergessen. Lachend zog ich sie heraus und kramte die Kiste mit Lewis Notizen zwischen meinen Klamotten hervor. Ich entschied mich dagegen, alles aus meiner Sammlung mit mir zu nehmen und ließ einige von den Heften zurück, damit in der Schachtel genug Platz für die anderen Sachen, die ich in den letzten Wochen gehortet hatte, blieb. Marie musterte mich verwundert, sagte aber nichts dazu. Sie vertraute mir und das war gut so. Ich konnte sie nicht zurücklassen und das tat ich auch nicht. Warum sollte ich sie auch nicht mit zu ihrem Vater nehmen? Ich packte den Karton unter meinen Arm und hielt in meiner freien Hand die Adoptionspapiere.

„Hast du alles, Marie?“

Sie nickte und lächelte mir fröhlich zu. Ihre Hoffnung war unersättlich.

„Gut, dann hör mir zu. Ich muss noch im Speisesaal ein paar Freunde abholen und du wartest draußen. Du kommst nicht mit rein, weil die Alte dich sicher nicht gehen lassen wird. Verstehst du, was ich sage?“

Wieder nickte sie, dieses schien durch ihre Mimik allerdings die Angst hindurch. Aufmunternd strich ich ihr übers Haar, atmete tief durch und schlug dann wieder den Weg zum Esszimmer ein. Harvey, der Fremde und die Aufseherin kamen uns bereits entgegen und das Herz rutschte mir in die Hose. Wortlos hielt ich der Frau den unterzeichneten Vertrag unter die Nase und wollte gerade ein paar Worte des Abschieds sprechen, da entdeckte sie die Kleine hinter mir. Ihr wehmütiges Lächelnd wandelte sich in einen finsteren Blick und die Zahnräder in ihrem Kopf begannen sich zu drehen. Sie wusste, dass Marie eigentlich gerade eingesperrt im Keller sitzen sollte und sie verstand vermutlich auch, dass ich an ihrem plötzlichen Schlaf nicht ganz unschuldig war. Bevor sie jedoch handeln konnte, wurde ich von Justus am Arm gepackt und aus der Haustür geschleift. Harvey tat bei Julians Tochter das gleiche und zusammen rannten wir, als gäbe es kein Morgen mehr. Wir ließen das Waisenhaus hinter uns und flohen. Ein zweites Mal hatte ich es geschafft, dem Alptraum zu entkommen. Erneut konnte ich die Gräueltaten der Sekte hinter mir lassen. Diesmal hatte ich jedoch Verstärkung bei mir. Diesmal würde Il Coltello nicht ungestraft davonkommen. Das schwor ich mir, als wir rannten. Ich würde meine endgültige Rache schon noch erhalten.

 

 

 

 

 

 

Weil die Wahrheit schmerzt

„Ich liebe es einfach, das Gesetz zu brechen.“

Mein Blick wanderte zu Marie, die sich an meine Hand klammerte, während wir liefen. Unsere Schritte verlangsamten sich etwas, weil wir uns viel sicherer fühlten. Trotzdem würde ich der Kleinen am liebsten diese ganze Aufregung ersparen. Sie in ein Bett legen und dafür sorgen, dass sie alle grässlichen Bilder und Gedanken für immer hinter sich lassen konnte. Aber an solchen Zauberkräften hätte ich wohl noch eine ganze Weile arbeiten müssen. Trotzdem. Um zu verhindern, dass sie noch mehr schlechte Erfahrungen sammeln musste, wollte ich das Gespräch zwischen Harvey und seinem Freund so schnell wie möglich in eine angenehmere Richtung lenken.

„Woher kommst du eigentlich, Justus?“

Die beiden Männer drehten sich kurz zu mir um, lachten und der fremde Helfer ignorierte meine Frage einfach.

„Ich würde sagen, wir sind jetzt quitt, mein Freund. Ich mach mich dann mal auf den Weg nach Hause.“

Justus zwinkerte mir zu, klopfte Harvey auf die Schulter und kniff der Kleinen kurz in ihre rechte Wange, bevor er sich umdrehte und in die entgegen gesetzte Richtung verschwand. Entsetzt blickte ich ihm nach. Komischer Kauz. Bevor ich jedoch wenigstens von Harvey meine Antworten auf sämtliche Fragen erwarten konnte, hob er bereits abwehrend die Hand, um mich zum Schweigen zu bringen. Protestierend schnaubte ich, ließ ihn jedoch in Ruhe. Er legte wieder ein rascheres Tempo vor und ich hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten. Marie nahm er Huckepack auf seinen Rücken und dann rannte er voraus.

 

Als wir in der Stadt ankamen, führte uns Harvey über viele Schleichwege in sein Versteck. Zumindest glaubte ich zunächst, dass er und Julian sich etwas Neues gesucht hatten, um nicht entdeckt zu werden. Da hatte ich mich aber anscheinend getäuscht. Als wir vor der Schwelle standen, die ich kaum drei Monate zuvor bereits überschritten hatte, sah ich fragend zu Harvey.

„Lange Geschichte.“

Ich hatte nicht den Eindruck, dass er mir mehr verraten würde, also beließ ich es dabei. Redebedarf bestand auf beiden Seiten, doch ich wusste ehrlich gesagt selber nicht, ob ich dafür schon bereit war. Er kramte in seiner Hosentasche, um den Schlüssel zu holen. Die Tür knarrte. Marie zitterte. Vielleicht war auch ich es, die ihre Gefühle nicht unter Kontrolle hatte. Oder wir zitterten beide zusammen. Ich nahm alles nur schemenhaft wahr.

Während Harvey Marie durch die Wohnung führte, um ihr alles zu zeigen, zog ich mich von den beiden zurück. In einem Zimmer am Anfang des Flurs entdeckte ich das Arbeitszimmer der Männer, in dem noch die Aufnahmegeräte und Mitschriften lagen. Sämtliche Mitbringsel aus dem Waisenhaus stellte ich auf einen freien Platz daneben. Die Videokassette mit meinem Namen drauf wog allerdings schwer in meinen Händen. Zu schwer. Ich konnte sie nicht dem anderen Material beilegen. Dann würden die Männer sich Zugriff verschaffen und in meiner Vergangenheit stöbern. Ich war noch nicht bereit dazu. Ich konnte nicht ertragen, mir Bildern aus meiner Kindheit konfrontiert zu werden. Ich drehte das Band zwischen meinen Fingern und sah mich weiter im Raum um. Mehrere Kisten mit der Aufschrift „Unbrauchbares Material“ stachen mir ins Auge. Sie waren weit hinten in die Ecke geschoben und sahen tatsächlich ausrangiert aus. Mein Blick fiel von der Kassette zu den Kisten und ich fasste einen Entschluss. Es war meine Sache, wann ich meine Leidensgeschichte Publik machen wollte. Also rückte ich die Kisten ein Stück von der Wand weg, schob das Videoband ganz nach hinten und stellte die Kartons so davor, dass man kaum erahnen konnte, was sich noch dahinter versteckt befand. Die Gewissenbisse schluckte ich herunter. Es war meine Sache. Nach einer Möglichkeit, meine schlechten Gedanken endlich abschalten zu können, sehnte ich mich. Ich wollte mich einfach nur hinlegen und schlafen. Die Kälte der Holzdielen unter meinen Händen fühlen und vergessen. Verdrängen. Ohne dass wieder drei Mörder das Schlechte in mir ans Tageslicht befördern. Ich wollte meine Ruhe und freute mich darauf, mich zurückziehen zu können. Leise schlich ich mich zurück auf den Flur und begegnete dabei wieder Marie und Harvey, die mit ihrem Rundgang gerade fertig wurden. Das Arbeitszimmer wollte er ihr offenbar nicht zeigen und so erwischte er mich immerhin nicht. Harvey hob das Mädchen von seinen Schultern, das sich sofort wieder an mich klammerte, als ihr Blick mich fand. Sie wurde in ein Zimmer gebracht. Harvey legte sie in ein provisorisches Bett, das nur aus einer alten Matratze auf dem Boden bestand. Sie gab sich damit zufrieden, ließ zu, wie der Mann ihr ein paar Strähnen aus dem Gesicht strich und dann dämmerte sie auch schon weg. Ich beneidete sie um ihren ruhigen Schlaf. Gleichzeitig hoffte ich jedoch, dass sie von Alpträumen verschont blieb. Ich wollte nicht, dass es ihr so erging wie mir. Diese Art von Vergangenheit konnte die ganze Zukunft zerstören.

Ich merkte erst sehr spät, dass Harvey mich an der Schulter berührte und seine zweite Hand unter mein Kinn wanderte.

„Hörst du mir überhaupt zu?“

„Entschuldige. Ich fühle mich gerade nicht so gut.“

Seine Hand fuhr an meine Stirn, befühlte meine Wangen, wanderte in meinen Nacken und dann lagen seine Lippen auf meinen. Er wollte mich an sich drücken, den Kuss vertiefen, doch ich löste mich von ihm. Entsetzt brachte ich ein großes Stück Abstand zwischen uns. Der Zeitpunkt war mehr als nur unpassend gewählt. Er sollte nicht ausnutzen, dass ich schwach war. Er sollte mich erst ankommen lassen. Zwischen uns gab es zu viel Distanz, um mit einem kleinen Kuss sämtlichen Abstand zwischen uns zu beheben. Es war falsch, wenn er mir so nahe war. Wenn er es sich erlaubte, mit meinen Gefühlen zu spielen, wo er mir zuvor schon einen Korb gegeben hatte.

„Es tut mir leid. Das war ein Fehler.“

Das war der Punkt, an dem ich Rot sah. Es war eine Sache, wenn ich ihm nicht erlaubte, an mich heran zu kommen. Es war meine Entscheidung, ob ich geküsst werden wollte. Aber wenn er Gefühle zwischen uns als Fehler bezeichnete, machte mich das sehr wohl wütend. Und traurig. Und verzweifelt. Meine Hände ballten sich zu Fäusten, Tränen sammelten sich in meinen Augen und ich hielt die Luft an. Es fühlte sich an, als würde die Strömung mich mitten ins Meer ziehen. Es riss an mir, zerrte mich auseinander und brach mich entzwei. Ich wollte schreien, doch ich brachte kein Wort aus meinem Mund. Noch immer hielt ich die Luft an. Ausatmen ging nicht. Ich versuchte es, doch ich hatte vergessen, wie es geht. Die Welt um mich flackerte. Alles drehte sich. Harvey streckte die Arme nach mir aus und mit einem harten Schlag auf meinen Hinterkopf wurde alles schwarz.

 

 

Ich konnte spüren, wie sie mich im Schlaf näher an sich zog. Wie eine Ertrinkende krallte sie ihre Hände in meine Kleidung, als wäre ich ihre letzte Rettung. Ich wollte Marie nicht wecken, auch wenn meine Kopfschmerzen in dieser Position beinahe unerträglich wurden. Warum ich überhaupt neben ihr auf der für uns beide eigentlich viel zu kleinen Matratze aufwachen musste, war mir zu diesem Zeitpunkt nicht klar. Ich wusste weder, wie ich in dieses Zimmer gekommen war, noch wann ich überhaupt den Beschluss gefasst hatte, schlafen zu gehen. Die Neugierde nagte an meinen Nerven und ich wurde nervös. Ich konnte es nicht leiden, meinen Fragen nicht sofort auf den Zahn fühlen zu können. Marie atmete tief ein und ich bewegte mich leicht unter ihr. Wenn ich Glück hatte, war sie wach genug, um sich auf die andere Seite zu drehen und doch noch so vertieft in ihren Schlaf, dass ich sie nicht ganz aufweckte. Ich zog den Arm ganz langsam unter ihrem schlaffen Körper hervor und strich ihr ganz sachte über ihr Haar. Sie schüttelte ihren Kopf leicht und drehte sich tatsächlich von mir herunter, um nicht weiter gestört zu werden. Ich lächelte triumphierend, richtete mich langsam auf und krabbelte aus dem provisorischen Bett. Maries Atem wurde nach einem kurzen Stocken wieder gleichmäßig, also traute ich mich endlich, über die knarrenden Holzdielen hinweg den Raum zu verlassen. Hinter mir zog ich die Tür zu und lehnte mich dann nach hinten gegen das kalte Holz. Der Schmerz breitete sich von meinem Hinterkopf bis in jedes meiner Gelenke aus. Das Atmen fiel mir plötzlich schwer und ich sackte zu Boden. Was war nur mit mir los? Meine Hände begannen zu zittern und mir wurde schlecht. Ein Wimmern kam über meine Lippen, doch einen Hilfeschrei brachte ich nicht zu Stande. Ich wollte meine Knie und Arme durchdrücken, um mich voran zu ziehen, doch dazu hatte ich keine Kraft mehr. Das Wimmern wandelte sich in ein Schluchzen um und mein kläglicher, beinahe stummer Hilferuf wurde erhört. Harvey hob mich auf seine Arme, trug mich in ein kleines Zimmer, das ich als Küche identifizierte und setzte sich dann mit mir auf seinem Schoß auf einen der klapprigen Stühle. Ich lehnte mich gegen seine Brust und sog seinen Duft ein. Harvey beruhigte mich, indem er sich einfach nur um mich kümmerte und das Gefühl beseitigte, dass ich alleine war. Sanft strich er mir mit einer Hand über den Rücken und lehnte sich zurück, um uns beide in eine angenehmere Position zu bringen.

Lange saß ich auf seinem Schoß, ohne dass wir ein Wort wechselten. Meine Körperbeherrschung kehrte langsam wieder zurück und meine vernebelten Sinne wurden nach und nach wieder klarer.

„Danke.“

„Keine Ursache.“

Ich hob den Kopf, um ihn direkt anzusehen. Noch immer hatte ich Schmerzen am Kopf und ich führte meine Hand an die schlimmste Stelle.

„Was ist mit mir passiert?“

„Du warst völlig fertig mit den Nerven. Dein Körper hat heruntergefahren. Das erste Mal bist du ohnmächtig geworden und mit dem Kopf an die Tischkante aufgeschlagen, bevor ich dich auffangen konnte. Ich hab dich wecken wollen, du kamst ganz kurz zu Bewusstsein und dann hab ich dich neben Marie ins Bett gelegt, damit du dich ausruhen kannst. Als du aufgewacht bist, ging es einem Teil von dir wahrscheinlich wieder zu schnell. Du musst besser auf dich aufpassen. Ich kann nicht immer daneben stehen oder in der Nähe sein, wenn dein Kopf plötzlich beschließt, deinen Körper auszuschalten.“

Seine Brust vibrierte, als er sich sein Lachen nicht mehr verkneifen konnte. Überhebliches Schwein. Er hatte mich doch in das Waisenhaus geschickt. Er wollte doch, dass ich mein Leben dabei riskierte. Er hat mir sogar dabei zugehört, wie ich mit Horrorszenarien konfrontiert wurde. Und dann wagte er es noch, sich über meine Ängste lustig zu machen? Er nahm mich tatsächlich aufs Korn, weil ich die Erfahrungen nicht ohne mit der Wimper zu zucken wegstecken konnte? Ich nahm ihm seine Reaktion übel. So sehr ich gerade noch von seiner Fürsorge begeistert war, so verabscheute ich diese Seite an ihm. Er stieß mich von sich weg. Zumindest was die Gefühlsebene anging. Körperlich machte ich den ersten Schritt. Ich stand auf und verließ die Küche. Ziellos blieb ich im Flur stehen, weil ich nicht wusste, was ich nun tun sollte. Harvey war mir gefolgt und nahm meine Hand in seine. Ich wollte sie ihm entreißen, doch er war stärker.

„Ich bitte dich, Abbey. Das war nicht böse gemeint.“

„Vielleicht solltest du ja lieber aufpassen. Ich kann nicht immer daneben stehen, wenn du deine Gefühle verleugnest und alle um dich herum abweist.“

Er spannte seinen Arm an und wirbelte mich zu ihm herum, sodass ich ihn ansehen musste. Sein Gesicht war nur knappe fünf Zentimeter von meinem entfernt.

„Abgesehen davon, dass das, was du mir vorwirfst, nichts mit dem zu tun hat, was ich vorhin gesagt habe, solltest du dir mal an die eigene Nase fassen. Du hast mich abgewiesen. Ich hab dich geküsst und einen Korb kassiert, schon vergessen?“

„Schon mal daran gedacht, dass du bei dem letzten Gespräch nur zwischen uns beiden gesagt hast, dass ich dich gar nicht kenne? Dass du mich ohne ein Wort des Abschieds in das Waisenhaus hast gehen lassen. Ich hab dir damals gesagt, dass ich dich liebe und du hast angefangen, mich zu ignorieren. Und dann meinst du, mich bei der nächsten Gelegenheit küssen zu dürfen, als wäre nichts gewesen?“

„Es ging mir zu schnell. Wir waren uns zu nichts verpflichtet. Reden und Gefühle waren nie Teil unserer Kompromisse.“

„Es geht aber nicht immer nur um Kompromisse. Es gibt Dinge im Leben, die laufen anders als vereinbart. Du kannst nicht alles kontrollieren oder ausrasten, sobald etwas nicht so geht, wie du es dir vorstellst.“

„Was willst du mir damit sagen?“

„Ich bin es leid, immer das zu tun, was du mir vorschreibst.“

„Du erinnerst dich, wer ich bin? Dir ist noch klar, wie wir uns kennen gelernt haben?“

„Stell dich nicht naiver, als du bist. Über die Mörder-Geisel-Beziehung sind wir doch schon längst hinaus. Ich hatte eigentlich gedacht, dass wir so etwas wie Freunde geworden sind.“

Harvey öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch kein Wort verließ seine Lippen. Wärme legte sich in seine Augen und der zornige Ausdruck verschwand aus seinem Gesicht. Er seufzte.

„Du hast Recht. Wir sind längst mehr als einfach nur Mörder und Geisel. Aber ich kann dir nicht sagen, zu was wir dann geworden sind. Genauso wenig wie ich weiß, was ich gerne hätte. Du nennst es Freundschaft. Belassen wir es dabei, bis wir anderer Meinung sind.“

Überrascht davon, dass seine Wut so einfach verflogen war, brachte ich keinen klaren Gedanken mehr auf die Reihe. Noch immer standen wir uns sehr nahe gegenüber. Es wäre ein leichtes für ihn gewesen, den Abstand zwischen uns wieder zu überbrücken, um mich zu küssen. Diesmal ließ er die Spannung jedoch auf mich wirken und machte es mir erstaunlich schwer, meine Hände nicht einfach in seine Haare zu wühlen und ihn an mich zu pressen.

Ohne die Geräusche wirklich zu registrieren, konnte ich das Klappern von einem Schlüssel an der Tür hören. Mit einem lauten Knall wurde sie kurz darauf aufgestoßen und ein wütender Julian stand auf der Schwelle. Lange hielt er sich dort allerdings nicht auf, da er kaum Zeit verlor, bevor er sich auf Harvey stürzte und diesen zu Boden zwang. Er holte aus, schlug auf seinen Freund ein und wollte erneut zu einem Fausthieb ansetzen. Ein erstickter Schrei entwich mir und ich hielt seinen Arm fest so weit es ging, um ihn zu bremsen.

„Julian. Beruhig dich. Was ist in dich gefahren?“

Der Muskelprotz stand auf, riss seinen Arm frei von meinem Griff und sah abfällig auf Harvey hinab, dem Blut aus der frisch gebrochenen Nase lief.

„Geht’s dir jetzt besser, du Mistkerl? Jetzt, wo du deine Schlampe wieder befreit hast? Haben wir nicht gesagt, wir lassen solche Einzelgängeraktionen wie Matthews bleiben? Haben wir nicht gesagt, wir helfen einander? Du hast mit deiner Aktion alles schlimmer gemacht. Nicht nur, dass die Sekte jetzt eine Verbindung zwischen uns und Abbey herstellen kann. Meine Ex sitzt mir im Nacken weil in diesem ganzen Trubel meine Tochter abgehauen ist. Die Sekte hat sämtliche Fahndungen auf mich ausgelegt und versucht, mich in ihre Fänge zu bekommen. Dabei habe ich doch keine Ahnung, was mit Marie ist. Aber Hauptsache du hast dafür gesorgt, dass die eigens von dir zum Tode verurteilte Geisel nicht im Waisenhaus verreckt und du dich auf meine Kosten mit ihr amüsieren kannst.“

„Jetzt komm mal wieder runter. Justus war doch bei mir.“

Julian und ich schnaubten gleichzeitig. Warum erwähnte er nicht, dass Marie bei uns war?

„Der Urkundenfälscher hatte seine Finger also auch im Spiel. Dir ist aber schon bewusst, dass das die ganze Sache nicht besser macht. Nur weil ich dir für kurze Zeit das Ruder überlassen habe, solltest du nicht alle meine Ziele den Bach hinunterstürzen. Wie soll ich meine Tochter jetzt jemals wiederbekommen? Selbst wenn sie wieder aufgespürt wird. Selbst wenn man sie findet. Das Jugendamt wird sie mir nie zusprechen. Wir hatten einen Plan, verdammt. Du hast mir mein Kind genommen! Du hast alles ruiniert.“

„Aber ich bin doch hier.“

Marie war in der Tür erschienen und rieb sich die Müdigkeit aus den Augen. Dass sie von dem Geschrei geweckt wurde, wunderte mich nicht. Ich hoffte allerdings, dass sie die härteren Worte ihres Vaters nicht mitbekommen hatte und sie ihn nicht so tobend erleben musste. Julian wirbelte herum und stockte bei ihrem Anblick. Man merkte ihm deutlich an, dass er seinen Augen nicht traute. Marie dagegen ließ sich davon nicht beirren und stürzte sich in seine Arme.

„Ich hab dich vermisst, Daddy.“

Er strich ihr übers Haar, drückte sie fest an sich und ein Strahlen legte sich auf seine Lippen.

„Ich hab dich auch vermisst, mein Liebling.“

 Sämtliche Sorgen schienen für einen Moment vergessen, als der Vater sein kleines Mädchen wieder in die Arme schließen konnte. Freudentränen sammelten sich in meinen Augen und ich nahm wahr, wie auch Harvey trotz seiner blutenden Nase lächelte. Ich hielt ihm meine Hand hin, als er sich aufrichtete und half ihm auf die Beine. Er nickte in Richtung einer verschlossenen Tür und forderte mich so auf, ihm zu folgen. Wir ließen Julian und Marie alleine, damit sie in Ruhe reden konnten. Im Bad angekommen schlossen wir die Tür hinter uns. Ich sah Harvey dabei zu, wie er sich über das Waschbecken beugte und sich mit einem verdreckten Handtuch das Blut wegwischte. Doch immer wieder lief neues Blut seine Haut entlang und er musste von vorne beginnen. Ich konnte nicht weiter zusehen und nahem ihm das Handtuch ab.

„Lass mich dir helfen.“

Zunächst kam kaum Wasser aus dem Hahn, als ich ihn aufdrehte, doch dann zischte es doch und floss dann stockend in das kleine Becken. Ich hielt das Handtuch unter den Strahl und forderte Harvey auf, sich über das Porzellan zu beugen. Den kalten, durchnässten Stoff legte ich in seinen Nacken und hoffte, dass es half, die Blutung verebben zu lassen.

„Da hat Julian dich aber ganz schön erwischt.“

„Ich hab es nicht anders verdient. Ich habe die Abmachung gebrochen und eigentlich auch nicht vorgehabt, seine Tochter zu befreien. Das hat sich nur so ergeben, doch das konnte er ja nicht wissen.“

„Welche Abmachung?“

„Nachdem wir Matts Brief gefunden haben, in dem er uns von seinem Plan beichtete, sich selbst an die Polizei auszuliefern, hat Julian sich große Vorwürfe gemacht. Die beiden hatten sich zuvor mal wieder gestritten und Julian hat Matt vorgeworfen, eine Last für uns zu sein. Er hat es doch nicht so gemeint, aber er war mit seinen Nerven völlig am Ende. Er hat von mir den Schwur verlangt, nichts mehr zu tun, ohne mit ihm darüber zu reden. Er wollte nicht, dass sich noch jemand wegen einem Streit in Schwierigkeiten bringt.“

„Und deshalb bricht er dir die Nase?“

„Du musst ihn verstehen. Er hat es nicht leicht mit seiner Ex. Sie hat das alleinige Sorgerecht und als enges Mitglied in der Sekte kann diese sich auch eine gewisse Macht unter den Nagel reißen. Sie droht im ständig und setzt ihn unter Druck. Wenn er ihren Forderungen nicht nachkommt, lässt sie es an Marie aus. Deshalb hat Julian mich ans Steuer gelassen. Ohne Grund hätte er die Führung nicht abgegeben. Aber wenn er weiter im Zentrum unserer Machenschaften gestanden wäre, hätte die Kleine darunter gelitten. Ein krimineller Vater macht sich beim Gerichtsprozess schließlich nicht so gut.“

 

Vorsichtig nahm ich das Handtuch wieder aus seinem Nacken, als das Blut langsam weniger wurde. Erneut hielt ich es unter den Wasserstrahl und fuhr dann mit der feuchtesten Stelle über seine befleckte Haut. Er ließ mich das Blut wegtupfen, zuckte aber zusammen, als ich die geschwollene Nase direkt berührte.

„Das sollte sich ein Arzt ansehen. Gesund sieht es jedenfalls nicht aus.“

„Und was meinst du, soll ich einem Arzt sagen, wer ich bin und wie das passiert ist?“

„Weißt du denn, wie du das versorgen sollst, ohne es schlimmer zu machen?“

„Das ist nicht die erste gebrochene Nase, Schätzchen. Darum können wir uns schon selber kümmern. Du könntest mir zum Beispiel helfen, indem du Julian holst. Der weiß gut genug, wie man meinen Zinken wieder gerade bekommt.“

Harvey grinste schelmisch, konnte mich aber nicht wirklich beruhigen. Auch wenn er so locker sprach, ich merkte deutlich, dass er seine Schmerzen überspielte und nur einen Vorwand suchte, um mit Julian ein paar Worte zu wechseln. Trotzdem kam ich seinem Wunsch nach und begab mich erneut aus dem Raum. Im Schlafzimmer hatte es sich der Muskelprotz auf der Matratze bequem gemacht und sprach dort mit seiner Tochter. Sie lachte, während er sie kitzelte und wieder in seine Arme schloss. Als ich so im Türrahmen stand, stiegen mir die Tränen in die Augen. Nie hätte ich zu glauben gewagt, eine so herzliche Seite an Julian zu sehen und doch schien es mir passend. Ich freute mich für den jungen Vater, sein kleines Mädchen wieder bei sich zu haben. Nur ungern störte ich ihre Zweisamkeit, doch meine Sorgen um Harvey ließen nicht locker. Ich räusperte mich, um ihre Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Sogleich waren zwei Augenpaare auf mich gerichtet. Julian erhob sich und kam auf mich zu. Seine Größe hätte mich vor wenigen Wochen noch eingeschüchtert, doch ich wusste, dass er mir nichts tun würde. Und das lag nicht nur an seiner Tochter, die uns beobachtete.

„Tut mir leid, dass ich vorhin so ausgerastet bin.“

„Eine andere Reaktion hätte doch gar nicht zu dir gepasst.“

„Nicht frech werden.“

Starke Arme schlangen sich um mich und zogen mich an Julians Brust.

„War hier ganz schön langweilig ohne dich. Harvey ist so ein Griesgram, mit dem man kaum ein anständiges Wort wechseln konnte. Die ganze Zeit hing er nur am Hörer und überwachte deine Aufzeichnungen.“

Ein Kribbeln breitete sich in meinem Bauch aus. Ich wusste, dass er auf mich aufpassen würde. Ich wusste, dass er mich nicht im Stich lassen würde.

„Apropos Harvey. Er will, dass du ihm die Nase wieder richtest.“

„Ach ja. Dafür sollte ich mich vermutlich auch entschuldigen. Kann ich dich mit Marie kurz alleine lassen?“

„Klar.“

Der Boden knarrte unter seinen schweren Schritten, als er Harvey im Bad einen Besuch abstattete. Mein Blick fiel auf Marie, die noch immer auf der Matratze saß und mich musterte. Ich setzte mich neben sie auf die Stelle, wo gerade eben noch ihr Vater gesessen hatte.

„Woher kennt ihr euch?“

„Wir haben uns durch einen dummen Zufall kennen gelernt und mussten eine Zeit lang zusammen wohnen. Da haben wir uns ein bisschen angefreundet. Dass du seine Tochter bist, hab ich auf deinem Foto im Waisenhaus erkannt.“

„Und warum hast du nichts gesagt?“

„Die Leute dort sind gefährlich, Marie. Ich wollte dich beschützen.“

„Meine Mama gehört zu diesen Leuten.“

„Weißt du denn, warum du in dieses Waisenhaus musstest, obwohl du keine Waise bist?“

„Es ging irgendwie um die Schule dort. Aber sonderlich oft fand bis jetzt kein Unterricht statt.“

„Ich schätze es ist besser, wenn du nicht so viel weißt.“

Auch wenn ich einen kurzen Moment darauf gehofft hatte, einen Zweck der Sekte aus Marie herauskitzeln zu können, war ich doch erleichtert, dass ihre Unschuld nicht mit dem Glauben der Sekte beschmutzt war. Sie sollte nicht so werden wie ich.

 

Die Männer lachten, als sie gemeinsam aus dem Bad schritten. Harvey hatte einen Verband um die Nase, der nicht sonderlich professionell aussah. Ich hob eine Augenbraue.

„Und so soll die Nase wieder gut abheilen? Der Verband macht doch sicher bereits in der nächsten halben Stunde Bekanntschaft mit dem Boden.“

Und so hatte ich es geschafft, die gute Laune aus dem Versteck zu vertreiben. Das Grinsen auf Julians Gesicht verschwand, als er seine Tochter auf den Arm nahm und Harvey musterte mich kritisch. Seine Ansprache zuvor hatte ehrlich geklungen, doch ich merkte, wie er sich absichtlich von mir distanzierte. Wir konnten keine Freunde sein. Freunde mussten sich vertrauen können. Was auch immer er mit Julian im Bad besprochen hatte, musste sein Vertrauen in mich wieder zunichte gemacht haben. Ich dachte an die Videokassette mit meinem Namen darauf. Das schlechte Gewissen nagte an mir und auch meine Stimmung sank weiter Richtung Keller. Kein Vertrauen. Zu Recht.

 

 

Wir saßen im Arbeitszimmer und hörten Aufnahmen ab, um nach Hinweisen zu suchen. Die Männer hofften noch immer, dass sie etwas überhört hatten. Sie konzentrierten sich vor allem auf meine Schlafenszeit. Wahre Erfolge blieben jedoch aus. Zum einen gab es keine weiteren Auffälligkeiten als knarrende Dielen und zum anderen wurde der Empfang des Mikros von Tag zu Tag schlechter. Meine spontane Badeaktion hatte da wohl auch noch sein Übel zugetan, auch wenn die Männer beteuerten, dass es schlimmer hätte kommen können. Seine Versuche, mich aufzumuntern, scheiterten erbarmungslos. Sie änderten weder etwas an der Situation, noch konnte ich die Wut auf mich selber besänftigen. Wenn man schon drei Monate lang sein Leben riskiert, um Beweise gegen eine Sekte zu finden, die Kinder schändet, sollte man seine Überwachungsmöglichkeiten nicht zerstören.

„Können wir nicht wenigstens etwas mit dem Zeug anfangen, das ich in der Kiste habe?“

„Wenn wir nur damit vor Gericht gehen, haben wir den Prozess schneller verloren, als wir den Namen ‚Il Coltello’ überhaupt denken können.“

„Aber wir den Vertrag, den ich unterschreiben musste“

„Wir haben ein Dokument, der nicht von juristischer Seite aufgesetzt, geschweige denn abgestempelt wurde. Man wird ihn als eine Fälschung darstellen. Es stünde Aussage gegen Aussage und dann heißt es ‚im Zweifel für den Angeklagten’ und wir stehen wieder am Anfang.“

„Und die Kündigung des Kochs?“

„Da haben wir einen guten Ansatzpunkt. Wir müssen ihn ausfindig machen, um ihn auf unsere Seite zu ziehen. Und da stehen wir bereits vor dem nächsten Problem. Der Name ‚Georg Meyer’ ist nicht gerade selten. Drei Männer stehen zur Auswahl in dieser Stadt. Trotzdem bedarf es einer Menge Glück, dass sich der Koch überhaupt hier in der Nähe aufhält und nicht bereits über alle Berge ist.“

„Und ihr meint nicht, dass wir alleine mit der Kündigung eine Ermittlung einleiten könnten? Wenn die Polizei einen Durchsuchungsbefehl bekommt, fliegt doch alles auf.“

„Daran arbeitet Matt gerade.“

„Was ist mit sämtlichen Gesprächen mit Lewis? Oder die Äußerungen der Aufseherin zu dem Jungen? Ist das alles nichts wert? Seine Notizbücher? Das Betäubungsmittel? Das Messer, das ich bereits bei meiner ersten Flucht mit mir gebracht habe? Ihr könnt mir nicht erzählen, dass das alles nichts ist.“

„Darum geht es doch nicht.“

Ich verstand die Welt nicht mehr. Da brachte ich handfeste Beweise mit mir, nur dass sie als nutzlos dargestellt wurden.

„Worum sollte es denn dann gehen? Wir haben Beweise, dass es dort nicht mit rechten Dingen zugeht. Mehr brauchen wir doch nicht.“

„Du begreifst es tatsächlich nicht?“

Zwei Augenpaare lagen auf mir, als ich mich vom Boden erhob, zur Wand lief und mit der geballten Faust gegen die brüchigen Gipsplatten schlug. Harvey machte mich wahnsinnig.

„Ich begreife nicht, warum euch meine Beweise nicht reichen. Warum sollten wir nicht einfach Anzeige erstatten? Wo. Liegt. Das. Problem?“

„Es ist nicht genug. Wir können nur Verdacht äußern, dass im Waisenhaus etwas schief läuft. Aber was genau läuft da? Wir wissen es selbst nicht. Entweder wir finden einen konkreten Sinn der Sekte heraus, oder wir haben handfestes Material, auf dem zu hören ist, wie jemand verletzt wird. Man glaubt uns ohne doch kein Wort. Wenn wir ohne genügend Rückendeckung aufkreuzen, werden die Sektenmitglieder in der Polizei schon dafür sorgen, dass die Ermittlungen eingestellt werden. Verstehst du endlich? Wir müssen dafür sorgen, dass die Sekte keine Chance hat, ihre Vergehen als Kavaliersdelikte darzustellen.“

Erneut konnte ich meine Wut nicht zurückhalten. Die Wand wurde wieder von einem Schlag erschüttert, sodass der Putz von der Wand rieselte und sich in einem kleinen Häufchen am Boden sammelte.

„Der Koch weiß doch bestimmt etwas.“

„Ich will erst die Aufnahmen fertig durch haben.“

„Du wirst darauf nicht finden, was du dir laut deiner Predigt gerade erhoffst. Ich konnte keine Geständnisse festhalten und auch keine Erklärung der Sekte aus der Alten herauskitzeln. Und schlechte Aufnahmen sind es noch dazu.“

„Und wessen Schuld ist das?“

„Ich habe bereits gesagt, dass es mir leid tut.“

„Harvey, reiß dich wieder zusammen. Abbey hat doch Recht. Es hilft nichts, nur in der Wohnung zu sitzen und nichts weiter zu tun, als Zeit zu verlieren.“

„Dann schlagt etwas Besseres vor.“

„Wir finden die Adressen der Meyers heraus und versuchen, an weitere, tiefere Infos zu kommen.“

„Und wenn der Richtige nicht dabei ist? Wenn wir auf keine grüne Spur kommen?“

„Wir sollten nichts unversucht lassen.“

„Ich werde lieber weiter die Aufzeichnungen analysieren. Entweder helft ihr mir dabei, oder ihr lasst mir meine Ruhe, damit ich mich konzentrieren kann.“

„Das ist doch völliger…“

„Abbey.“

Harveys Blick bohrte sich in meinen und brachte mich zum Schweigen. Er wollte keine Widerworte mehr hören, auch wenn sie sich nun in mir anstauten. Lange würde ich meine Aufregung nicht mehr zurückhalten können. Julian bemerkte meine Anspannung und zog mich am Arm aus dem Raum. Er wies mich an, kurz im Flur zu warten, weckte Marie und sperrte uns dann die Tür auf. Mit polternden Schritten rannten wir die Treppe herunter und ließen Harvey alleine in der Wohnung. Sollte er doch seine Ruhe haben. Julian kramte in seiner Hosentasche, holte erst sein Handy und dann einen zerknüllten Zettel hervor. Er faltete ihn auf, tippte eine Nummer in das Telefon und wandte mir und Marie den Rücken zu. Ganz leise konnte ich das gleichmäßige Tuten hören, als eine Verbindung hergestellt wurde. Nach dem dritten Ton hob eine Männerstimme ab.

„Erik, wir haben ein Problem.“

 

 

*

 

Marie klammerte sich an mich, als wir beide gebannt auf die Tür starrten. Immer wieder klirrte das Glockenspiel darüber, als sie sich öffnete und hinter den eingetretenen Besuchern wieder schloss. Ich beobachtete, wie der dicke Mann seinen Mantel an die Garderobe hing und sich in seinem Hemd und der Anzughose auf den Tresen zu bewegte. Der Hocker ächzte leise unter seinem Gewicht, als er sich darauf fallen ließ. Er sah aus wie ein Geschäftsmann und ich erwartete, dass er bei der Kellnerin nun einen Espresso bestellen würde. Sie nahm seine Bestellung mit einem Lächeln um die Lippen auf und wandte sich dann dem Ausschank zu. Sein Blick lag offensichtlich auf ihrem Hinterteil, also genierte ich mich ebenso wenig, ihn ungehemmt von oben bis unten zu mustern. Marie bekam davon jedoch nicht viel mit. Sie hatte noch immer die Eingangstür im Visier und wurde bald für ihre Hartnäckigkeit belohnt. Ein weiterer Mann trat herein, vermutlich im feinsten Anzug, den er auftreiben konnte. Die dunkle Krawatte saß in einem strengen Knoten um seinen Hals, das Jackett verdeckte die Tattoos auf den Oberarmen. Marie ließ kein Auge von ihrem Vater, als dieser sich zu dem Dicken gesellte. Er blickte über seine Schulter und steckte dem Fremden noch vor einem Wort der Begrüßung unauffällig einen dicken Umschlag zu. Der Mann nahm den Umschlag entgegen und steckte ihn vorne in seinen Hosenbund. Die Kellnerin stellte ein Radler vor ihm auf den Tisch und ich kicherte. Marie sah mich verwundet an, blickte aber sofort wieder zurück zu ihrem Vater. Sie wusste zwar nicht, was hier gespielt wurde, doch auch an ihr ging nicht vorbei, dass die Situation nicht zum Spaßen war. Nur hatte es mich belustigt, dass Erik die Rolle eines seriösen Geschäftsmannes nicht  sonderlich gut spielte, indem er sich in einem Nobelcafé das billigste Bier auf der Karte bestellte.

Julien und er tauschten noch ein paar flüchtige Worte aus, Maries Vater erhielt einen kleinen gefalteten Zettel und kam dann auf unseren Tisch zu. Erik sah sich nicht nach ihm um. Seine Augen lagen wieder auf dem Hintern der Kellnerin. Er sollte sich wirklich andere Orte für seine Geschäfte suchen, wenn er sich nicht anständig benehmen konnte. Er verhielt sich mehr als nur auffällig. Allerdings ging auch ich nicht gerade mit einem guten Beispiel voran. Meine Art, ihn anzustarren, blieb wohl auch nicht so unbemerkt wie gedacht. Der Dicke erhob sich von seinem Hocker, legte der Kellnerin ein ordentliches Trinkgeld auf den Tresen, schnappte sich seinen Mantel vom Haken und warf ihn sich über. Ich wollte mich gerade auf Julien konzentrieren, der sich liebevoll mit Marie unterhielt, da drehte Erik sich gezielt in der Tür herum und starrte mir direkt in die Augen. Er musste nicht einmal nach mir suchen. Er wusste sofort, wo ich saß. Flüchtig zwinkerte er mir zu, lächelte schief und verschwand. Wir würden uns wieder treffen. Dieses Versprechen lag in seinem Blick.

Ohne darauf zu achten, dass meine Begleiter eigentlich gerade in ein Gespräch verwickelt waren, ließ ich meine Neugier walten.

„Was hast du herausbekommen?“

Julien zog erst grimmig die Augenbrauen zusammen, dann wurde sein Blick wieder weicher.

„Nicht hier, Liebling. Können wir das nicht auch zuhause besprechen? Wir wollten doch einen schönen Tag mit unserer Tochter verbringen.“

Verwirrt musterte ich ihn. Was redete er da? Marie war ebenfalls zu perplex, um etwas darauf zu erwidern. Beunruhigt strich ich mir mein Kleid entlang der Oberschenkel glatt. Ich wusste nicht, was seine Reaktion zu bedeuten hatte, doch mir war klar, dass er gute Gründe dafür haben musste. Hier würde er mich sicher keine Antwort geben und wie es aussah, hatte er auch nicht so schnell vor, das Café zu verlassen. Ich fühlte mich unwohl. Schließlich hatte ich keine Ahnung, worüber wir sprechen konnten. Worüber ich überhaupt sprechen durfte. Maries Blick wanderte misstrauisch zwischen uns hin und her.

„Wie habt ihr euch nochmal kennengelernt?“

Ich erwartete, dass Julien auch ihre Frage einfach herunterspielen würde wie meine, doch er gab ihr eine grobe Antwort. Sie wickelte ihn mit ihren kindlichen Rehaugen ganz leicht um den kleinen Finger.

„Ich hab sie einfach in ihrem eigenen Haus überrumpelt und hab mich nicht mehr vertreiben lassen. Hartnäckigkeit ist ein gutes Mittel.“

Seine Beschreibung war immerhin nicht ganz aus der Luft gegriffen, Marie sah trotzdem noch verwirrter aus als zuvor. Sie ließ die Sache nun auf sich ruhen, anscheinend hatte sie es aufgegeben, heute noch etwas verstehen zu wollen. Mir ging es ähnlich.

Julien kramte in seiner Hosentasche und holte sein Handy und sein Portemonnaie heraus. Das Telefon drückte er mir in die Hand, dann erhob er sich.

„Ich geh zahlen. Ruf du bitte Harvey an.“

„Und was soll ich ihm sagen?“

„Nichts. Er wird wissen, was ich hören will.“

Misstrauisch erhob ich mich und ging zur Toilette. Ich warf einen kurzen Blick unter die Kabinen, um sicher zu gehen, dass ich nicht belauscht werden konnte. Dann verschloss ich die Tür, setzte mich auf den Deckel eines Klos und durchsuchte Juliens Kontakte.

 

Er ließ sein Handy ziemlich lange klingeln, bevor er endlich abhob. Kein Wort der Begrüßung fiel, keine Frage, mit wem er gerade sprach, wurde gestellt.

„Er hat sich gemeldet. Donnerstag in zwei Wochen.“

Das war alles, Harvey hatte wieder aufgelegt. Er hatte mir keine Gelegenheit gelassen, etwas zu sagen und meine Fragen zu stellen. Ich wurde verrückt, wenn ich nicht wusste, was hier gespielt wurde.

Ich ging zurück in das Innenleben des Cafés und hielt nach Julien und seiner Tochter Ausschau. Auch als ich weiter auf den Tresen zuging, konnte ich sie noch nicht entdecken, doch ich spürte einen Blick auf mir, der sich in meinen Rücken bohrte. Ich suchte die Tische ab und stand plötzlich einem alten Mann mit grauem Haar und Schnauzbart gegenüber, der sich auf seinen Gehstock stützte. Seine Zahnlücken kamen zum Vorschein, als er mir ein Lächeln zuwarf und seine faltige Hand nach mir ausstreckte. Als seine Finger sich um meinen Unterarm schlangen und er mich in seinem festen Griff hatte, musste ich schmerzlich feststellen, dass sein gebrechliches Aussehen mich getäuscht hatte. Er war stark und ließ mich nicht los, obwohl ich versuchte, meinen Arm wegzuziehen.

„Sie sind in Gefahr, junge Dame. Sie müssen sich wirklich sicher sein, auf welcher Seite Sie stehen, bevor Sie den nächsten Schritt wagen.“

„Wie meinen Sie das? Wer sind Sie?“

„Ich bin ein Freund, wenn ich sage, dass Sie sich nicht leichtgläubig täuschen lassen sollen. Das Leben ist ein Spiel, in dem es auch Verlierer geben muss. Sehen Sie zu, dass Sie auf der Gewinnerseite bleiben.“

Ich verstand noch immer nicht, worauf der Alte hinauswollte, doch bevor ich meine Zweifel aussprechen konnte, ließ er mich los und zeigte hinter mich. Ich riskierte einen Blick über die Schulter und entdeckte Julien, der vor dem Schaufenster mit Marie stand, um auf mich zu warten. Der Vater gab mir ein Zeichen, dass ich zu ihnen kommen sollte und ich setzte mich in Bewegung. Ich hatte den Türgriff bereits in der Hand, da drehte ich mich ein letztes Mal um. Der alte Mann stand noch immer an der gleichen Stelle, nickte, winkte mir kurz zu und wandte dann seine Aufmerksamkeit von mir ab. Komischer Vogel. Ich schüttelte den Kopf, um die Gedanken an ihn loszuwerden und verließ das Café. Bestimmt war der Mann einfach nur geistig verwirrt gewesen und hatte mich verwechselt.

 

 

„Kannst du mir bitte mal verraten, was ‚Er hat sich gemeldet, Donnerstag in zwei Wochen’ zu bedeuten hat?“

„Würde ich wirklich gern.“

Julien trat nun zwischen mich und Marie, nahm uns beide jeweils an eine Hand und gab die Richtung an, in die wir gehen sollten.“

„Und warum tust du es dann nicht?“

„Weil ich meinem Bruder versprochen habe, dass ich ihm die Erklärungen überlasse.“

Bruder? Julien hatte einen Bruder? Waren wir etwa gerade auf dem Weg zu ihm? Ich versuchte, mir meine Verwunderung nicht zu sehr anmerken zu lassen und ließ mich einfach mitziehen. Eigentlich hatte er mir gerade gesagt, dass ich bald eingeweiht werden würde. Ich musste meine Ungeduld hinunterschlucken und mich jetzt auf das Wesentliche konzentrieren. Wir mussten den Koch finden und ihn auf unsere Seite ziehen. Ich vertraute Julien, denn er hatte mehr zu verlieren als ich. Es ging hier nicht mehr nur darum, die Sekte zu stürzen. Es ging auch mir schon lange nicht mehr einfach nur um Rache. Wir mussten Marie beschützen.

 

Julien kramte den Zettel, den er von Erik im Café bekommen hatte, aus seiner Hosentasche und hielt sich an den eingezeichneten Weg. Keine halbe Stunde später standen wir in der Vorstadt vor einem kleinen Einfamilienhaus. Es war ruhig in der Gegend, die meisten Leute genossen das wunderbare Abendwetter in ihren Gärten. Drei Anwesen weiter fand gerade eine Grillfeier statt. Ein Kind stand am Zaun und hatte seinen Blick auf uns gerichtet. Der Junge drehte sich kurz um, rief seinen Eltern etwas zu und zeigte dann auf uns. Wir fielen auf. Ich suchte nach Juliens Hand und nahm sie in meine. Wir spielten eine kleine Familie, die auf ihrem Spaziergang nur einen alten Freund besuchen wollte. Gelassen betraten wir das Grundstück mit der Nummer sieben. Julien klingelte an der Haustür, doch es rührte sich nichts. Ich hatte die Befürchtung, dass die Grillparty drüben mit allen Nachbarn veranstaltet wurde und unser möglicher Koch sich gerade dort befand. Julien klingelte noch einmal.

„Sieht so aus, als sei unser lieber Herr Meyer nicht zu Hause.“

„Scheint so.“

Die tiefe Stimme hinter mir ließ mich herumfahren. Wie lange der Mann wohl schon hinter uns gestanden hatte? Maries Vater hatte sich zuerst wieder gefangen und machte einen Schritt auf den Fremden zu.

„Sind sie Georg Meyer?“

„Ich möchte nichts kaufen. Völlig egal, ob Ihre neueste Masche nun ist, die heile Familie zu spielen und ein Mädchen mitzuschleifen, das sich als Ihre Tochter ausgibt. Ich habe kein Interesse an Ihren Produkten. Bitte verlassen Sie mein Grundstück.“

Er deutete auf das Gartentor und machte eine ausladende Geste. Anscheinend hatte er es eilig.

„Bitte, Sie verstehen das falsch. Wir möchten Ihnen nichts verkaufen. Wir haben ein paar persönliche Fragen, die wir Ihnen gerne stellen würden.“

„Ich habe ebenso wenig Interesse daran, an einer Umfrage teilzunehmen.“

Der Mann hatte offenbar schon schlechte Erfahrungen gemacht, wenn Fremde vor seinem Haus standen und sich nicht abwimmeln lassen wollten. Ich hatte schon Angst, dass er uns gleich mit der Polizei drohen würde.

„Sie verstehen uns falsch. Wir sind aus privaten Gründen hier. Wir suchen einen Koch namens Georg Meyer, der im Ligusterweg 14 dieser Stadt gearbeitet hat. Wir müssen ganz dringend wissen, weshalb er damals gekündigt hat.“

„Warum?“

„Ich habe mich für die freie Stelle dort beworben, doch man hat mir keine Auskunft darüber gegeben, was mit meinem Vorgänger passiert ist. Nur durch einen Zufall habe ich den Namen herausgefunden und bitte Sie nun um Ihre Unterstützung.“

„Tut mir leid, da bin ich der Falsche. Ich bin kein Koch. War ich nie und ich habe auch nicht vor, diese Laufbahn je einzuschlagen.“

„Und Sie wissen auch nicht zufällig, wo ich einen Namensvetter von Ihnen finden könnte?“

„Nein.“

„Trotzdem danke. Kommt, wir gehen.“

Julien zog an meiner Hand, damit ich ihm folgte. Wir verließen das Grundstück über den Weg, den uns der Mann vorhin gewiesen hat und machten uns auf den Weg zurück in unser Versteck. Ich drehte mich jedoch noch einmal kurz zu dem Fremden um.

„Einen schönen Sonntag noch. Tut uns leid, dass wir Sie gestört haben.“

Ich warf ihm ein aufrichtiges Lächeln zu und schloss dann wieder zu Marie und ihrem Vater auf. Aus den Augenwinkeln sah ich noch, wie sich die verärgerte Mine des Mannes zu einem verwunderten, beinahe amüsierten Gesichtsausdruck verzog.

 

Man merkte, wie müde Marie wurde. Ihre Schritte wurden immer langsamer und sie konnte uns nur noch schwer folgen. Es war spät geworden und wir hatten noch eine lange Strecke vor uns, bevor wir an der Wohnung ankamen. Also schlug ich ihr vor, sie huckepack zu nehmen, damit ihre Füße nicht noch schwerer wurden. Julien lächelte mir zu, nahm seine Tochter jedoch zu sich. Marie saß nun auf seinen Schultern und grinste wie ein Honigkuchenpferd. Ich wunderte mich, wie Julien es schaffte, so sein Gleichgewicht zu halten, doch die beiden schienen darin schon geübt zu sein. Wir kamen gut voran und erreichten die Wohnung schneller als ich gedacht hatte. Marie nahm meine Hand, als Julien sie vor der Tür wieder auf dem Boden absetzte und den Schlüssel aus seiner Tasche nahm. Lachend gingen wir die Treppe hinauf, auch wenn wir eigentlich bei unserem ersten Georg Meyer einen Misserfolg zu verbuchen hatten. Als ich plötzlich wieder vor Harvey stand, kam meine schlechte Laune zurück. Er musterte uns abfällig und wandte sich dann wieder seiner Arbeit zu.

„Sieh einer an. Die glückliche Familie ist wieder da. Erfolglos nehme ich an?“

Julien verdrehte die Augen und führte seine Tochter ins Schlafzimmer. Die Tür schloss sich hinter ihnen und ich nahm an, dass sie noch einiges zu besprechen hatten und auch der Muskelprotz sich mal ein bisschen Ruhe gönnen wollte. Allerdings war ich nun mit Harvey alleine.

„Wo hast du dieses Kleid her?“

„Wir waren einkaufen.“

„Na dann hoffe ich, dass ihr euch amüsiert habt.“

„Kannst du bitte mal aufhören so zu tun, als wären wir bescheuert? Wir haben kein bisschen Zeit verschwendet. Erik wollte sich mit uns in einem Café treffen und da konnten wir wohl kaum in den schäbigen Klamotten auftauchen, die wir trugen, als wir aus der Wohnung verschwunden sind, oder?“

„Ihr habt Erik mit hineingezogen?“

„Ob du es glaubst oder nicht, die Abfallbeseitigung steckte auch zuvor in der Sache mit drin. Oder was glaubst du, warum ich Erik und Jordan im Waisenhaus getroffen habe?“

Harvey zuckte mit den Schultern. Offenbar genügte ihm das als Erklärung.

„Habt ihr unsere Schulden beglichen?“

„Ich gehe davon aus. Ich hab nur gesehen, wie Julien ihm einen Umschlag zugesteckt hat. Wo habt ihr plötzlich so viel Geld her?“

„Matts Selbstanzeige hat uns einiges eingebracht. Er hat viel aus seiner alten Wohnung verkauft, den Mietvertrag dort gekündigt und lebt nun wieder bei seinen Eltern.“

„Habt ihr noch Kontakt?“

„Ich hab doch gesagt, dass er sich gemeldet hat.“

„Bitte? Wann?“

„Julien hat mich vorhin angerufen.“

„Hat er nicht, da war ich am Telefon. Ich hab es ihm ausgerichtet, aber er meinte nur, dass sein Bruder mir alles erklären würde. Ich wusste gar nicht, dass er einen Bruder hat.“

Harvey musterte mich kurz von der Seite, als er meinen vorwurfsvollen Ton hörte. Er hatte hoffentlich richtig bemerkt, dass mich diese ganze Heimlichtuerei aufregte. Ich wollte Antworten. Jetzt.

„Hat er auch nicht. Damit war ich gemeint. Wir haben abgemacht, dass ich dir alles erkläre.“

„Na dann, schieß doch endlich mal los. Ich hab es satt, dass ich immer nur dumm daneben stehen kann, wenn ihr etwas geplant habt.“

Er seufzte und hielt die Aufnahmen an. Er legte die Kopfhörer auf die Seite und drehte sich zu mir.

„Willst du einen Kaffee?“

Er ging an mir vorbei in die Küche und machte die Maschine einsatzbereit.

„Klar, warum nicht.“

Wir schwiegen, während unser Getränk zubereitet wurde. Harvey schenkte uns beiden jeweils eine Tasse ein und stellte sie auf den Küchentisch. Milch und Zucker stellte er daneben, einen Löffel versenkte er in meiner Tasse. Dann setzte er sich mir gegenüber und nahm seine Tasse in die Hand. Er ahmte meine Geste nach, denn auch ich wärmte mir meine Handflächen am erhitzen Porzellan.

„Was willst du wissen?“

„Was habt ihr vor? Wie soll es jetzt weitergehen? Wir können uns nicht nur hier verschanzen und immer weiter Beweise horten, ohne etwas effektives gegen die Sekte zu tun.“

„Wie gesagt, Matt leitet einen Prozess für uns ein. Um genauer zu sein, ist es schon längst soweit. Donnerstag in zwei Wochen.“

„Dann müssen wir schon vor Gericht?“

„Nein. Bis dahin haben wir spätestens Zeit, uns bei der Polizei zu melden und unsere Aussagen freiwillig zu machen. Marie wird vermisst und Juliens Ex hat uns auf dem Kicker.“

„Und was passiert, wenn wir nicht erscheinen? Oder wenn wir bis dahin keine handfesten Beweise haben, nach denen du so eifrig suchst?“

„Dann haben wir ein Problem.“

„Gibt es einen Plan B?“

„Noch nicht.“

„Das heißt, es hängt jetzt alles daran, dass wir den Koch ausfindig machen und ihn auf unsere Seite ziehen?“

„Wir müssen dafür sorgen, dass die Polizei einen Durchsuchungsbefehl für das Waisenhaus bekommt.“

„Und was sollen die da finden?“

„Sag du es mir.“
Harveys Augen brannten sich in meine. Ich verschluckte mich beinahe an dem Kaffee und setzte die Tasse lieber wieder ab. Sollte ich ihm von dem Raum mit den Videobändern erzählen? Mir steckte ein Kloß im Hals. Ich konnte es nicht.

„Ich könnte von den Geheimgängen erzählen. Dass den Kindern in ihren privaten Räumen auch aufgelauert wird.“

„Das wäre zumindest ein Anfang. Ich bin mir sicher, dass eine Art Razzia, die nicht von der Sekte beeinflusst wird, dort einen großen Erfolg haben könnte.“

„Im Büro der Alten gibt es eine Liste mit den ganzen Anhängern der Sekte. Die müssen wir sichern.“

„Warum hast du die nicht gleich mitgenommen?“

„Weil sie es gemerkt hätte. Vielleicht hätte sie dann alle anderen Beweise auf Seite geschafft, wenn sie sich ertappt fühlt. Ich wollte ihr nicht die Möglichkeit geben, ihren Hintern zu retten, nur weil sie die Anzeichen meines Verrats erkennt.“

„Na gut. Vielleicht ist es besser so. Hoffen wir nur, dass sie nicht trotzdem zu dem Schluss kommt, für uns wichtige Beweise zu vernichten.“

„Das glaube ich nicht. Es gibt bestimmt irgendein Archiv. Es müssen irgendwo die Gründe zu finden sein, warum man Kinder quält, tötet und verletzt und sich darin gerechtfertigt fühlt.“

„Ein Archiv? Hast du da was gefunden?“

Sein Blick wurde immer eindringlicher und ich fühlte mich an die Wand gestellt. Sollte ich schon wieder lügen, oder sollte ich endlich sagen, was ich entdeckt hatte. Ich hatte Angst. Angst, was die Aufzeichnung zeigen würde, aber auch Angst, wie die Männer auf mein Verschweigen reagieren würden. Würden sie mich hassen? Würden sie sich von mir abwenden? Würden sie mich töten, so wie sie es am ersten Tag unserer Begegnung vorgehabt hatten? Bevor ich meine Entscheidung weiter abwägen konnte, kam Julien ins Zimmer getapst. Er schenkte sich ebenfalls eine Tasse Kaffee ein und lehnte sich mit dem Rücken an die Küchenanrichte.

„Hast du auf den Aufnahmen noch etwas gefunden?“

„Nein. Ihr hattet Recht. Wir sollten uns morgen aufteilen. Vielleicht finden wir den richtigen Herrn Meyer schneller, wenn du und Marie dem einen und Abbey und ich dem anderen einen Besuch abstatten. Was ist mit dem dritten?“

„Der im Vorort war eine Niete. Hat uns erst für irgendwelche Vertreter gehalten und wollte uns sofort rausschmeißen.“

„Ihr seid sicher, dass er nicht nur abfällig getan hat, obwohl er eigentlich doch mehr weiß?“

„Für ein bisschen Menschenkenntnis muss man keine Psychologie studiert haben, mein Freund.“

Sie lachten und prosteten sich mit ihren Tassen zu. Ich fand es merkwürdig, die beiden so entspannt zu sehen, als hätten sie den Ernst der Lage nicht erkannt.

„Komm schon, Abbey! Mach dich mal ein bisschen locker.“

Ich seufzte.

„Was machen wir, wenn wir den Koch gefunden haben?“

„Dann gehen wir mit ihm zur Polizei.“

„Und was ist, wenn wir ihn nicht finden, oder ihn nicht für uns gewinnen können?“

„Dann lassen wir uns etwas anderes einfallen. Matthew hat und das Zeitlimit genannt. Notfalls müssen wir ohne dickes Rückenpolster unsere Anzeigen aufgeben.“

„Und was ist, wenn…“

„Ich bitte dich. Hör doch mal auf, dir schon jetzt so viele Sorgen zu machen. Wir werden schon eine Lösung finden.“

Ich wollte gerade etwas erwidern, da klopfte es an der Wohnungstür. Wir wurden alle mucksmäuschenstill und trauten uns einen Moment lang nicht, uns zu bewegen. Erneut ertönte ein Klopfen, gefolgt von einer verärgerten Stimme, die ich bereits gehört hatte.

„Wenn Sie nicht die Tür aufmachen, werde ich die Polizei rufen. Ich will meine Miete.“

Julien und Harvey atmeten beide erleichtert aus, doch ich war noch immer angespannt. Wie sollten wir auch noch drei weitere Monatsmieten aufbringen? Harvey erhob sich und öffnete die Tür. Ohne viele Worte zu verlieren, steckte er dem Mann ein Geldbündel entgegen und wartete. Der Mann zählte nach, nickte zufrieden und ließ uns wieder alleine, ohne einen Ton zu sagen. Harvey drehte den Schlüssel mehrmals um Schloss, um die Tür sicher zu verschließen und kehrte wieder zurück in die Küche.

„Wie kannst du sicher sein, dass er uns nicht trotzdem die Polizei auf den Hals hetzt?“

„Er hat selber Dreck am Stecken und will nur ungern zu solchen Mitteln greifen. Nur wenn er sein Geld nicht bekommt, würde er seine eigene haut riskieren. Er ist gierig.“

„Und ihr wollt mir ernsthaft erzählen, dass ihr das Geld nur durch Matthews Besitz zusammen bekommen habt?“

„Es ist besser, wenn du nicht mehr weißt als das. Glaub mir.“

Wieder seufzte ich. Sie behielten ihre Geheimnisse vor mir, doch ich konnte es ihnen nicht verübeln. Ich war die letzte, die sich über schweigende Lämmer aufregen sollte.

 

Julien hatte sich wieder in das Schlafzimmer mit Marie zurückgezogen. Er wollte sich noch einmal aufs Ohr hauen, bevor wir morgen früh wieder aufbrachen. Harvey musterte mich.

„Wie geht es dir?“

Ich lachte. Hatte er mir ernsthaft diese Frage gestellt?

„Willst du jetzt wirklich Smalltalk führen?“

„Nein, ich bin wirklich besorgt. Du warst lange im Waisenhaus, bist vor Kurzem noch vor meinen Füßen zusammengebrochen und benimmst dich auf einmal so, als wäre nie etwas gewesen. Du hast mir versprochen, alles zu berichten, wenn du wieder da bist.“

Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. Harvey sah ehrlich besorgt aus und erkundigte sich nach mir. Trotzdem fühlte ich mich unter seinen Augen wie ein Versuchsobjekt. Erst schickte er mich zu dieser Sekte und dann analysierte er mein Verhalten.

„Mir geht es erst wieder gut, wenn ich die Alte hinter Gittern weiß.“

„Wovor hast du Angst?“

„Wie bitte?“

„Man sieht es dir an.“

„Ich weiß nicht. Ich…hör endlich auf, mich so anzuschauen. Da wird man ja wahnsinnig.“

„Ich versuche doch nur, dir zu helfen.“

„Helfen nennst du das? Du behandelst mich wie ein Versuchskaninchen, das du durch ein Labyrinth gescheucht hast. Lass den Quatsch!“

„Es tut mir leid, so war das nicht beabsichtigt.“

„Weißt du was? Steck dir dein Psychogelaber sonst wo hin. Ich hab es satt, dass du ständig versuchst, mich mit unpersönlichem Müll beschäftigt zu halten.“

„Was soll ich denn deiner Meinung nach sagen? Dass ich Gefühle für dich habe?“

Der Schlag ging unter die Gürtellinie.

„Nein. Du sollst ja nicht lügen.“

Ich ertrug es nicht mehr, mit ihm an einem Tisch zu sitzen. Ich setzte mich lieber an die Aufnahmegeräte im Arbeitszimmer, um mich abzulenken. Harvey war mir gefolgt.

„Kannst du mir mal bitte verraten, was gerade mit dir los ist? Ich hab dich doch nur gefragt, wie es dir geht und warum du Angst hast. Was darin ist bitte unpersönlicher Müll?“

„Deine Augen. Du schaust mich an, als wäre ich ein Kind. Du behandelst mich wie ein Beweisstück, das du vor Gericht zeigen kannst, um es danach in de Tonne zu treten.“

„Ich hab versucht, dich aufzubauen, damit du mir nicht wieder zusammenklappst.“

„Schon klar. Ich werde meine Aussage machen können, keine Sorge. Du musst nicht so tun, als würde dir wirklich etwas an mir liegen.“

„Abbey.“

„Lass es. Wir bringen die Geschichte zu Ende und dann sind wir fertig miteinander. Ich kann nicht mehr.“

„Sieh mich an.“

„Nein.“

Er ignorierte, dass ich den Kopf von ihm wegdrehte, als er sich vor mich stellte. Er wischte die Tränen von meinen Wangen und kniete sich vor mich.

„Wenn du wirklich meinst, dass uns nach dem Prozess nichts mehr verbindet, werde ich dich in Ruhe lassen. Du kannst dein Leben so weitermachen wie bisher. Wir werden uns nie getroffen haben. Dafür kann ich sorgen. Willst du das?“

Seine Stimme war mit jedem Wort kälter und schneidender geworden. Er hatte die Entscheidung bereits für mich getroffen. Bis auf die Sekte verband uns nichts. Mir blieb nichts anderes übrig, als zu nicken. Er nahm seine Hände von meinem Gesicht und wischte sich über das Kinn. 

„Dann erklär mir nur noch eines. Warum schreist du meinen Namen im Schlaf?“

Seine Frage ließ mich für einen kurzen Moment vergessen, worüber wir gerade noch gesprochen hatten. Ich sah ihm kurz in die Augen, erschrak aber über den mörderischen Ausdruck darin.

„Was hast du geträumt, während du nach mir gerufen hast?“

Ich brachte kein Wort aus meinem Mund. Er hatte seine Hand um meine Kehle geschlungen.

„Du hattest Angst, nicht wahr? Ich hab Erinnerungen an deine Kindheit entdeckt. Dein Unterbewusstsein hat schneller kapiert, was wir beide miteinander zu tun haben, als du selbst, richtig? Es ging nie um Gefühle zwischen uns. Es ging immer nur um verdrängte Erinnerungen aus deiner Vergangenheit.“

„Wir haben uns nicht gekannt.“

„Das spielt keine Rolle. Wenn dein Kopf eine Verbindung zwischen mir und der Sekte hergestellt hat, konntest du nicht verhindern, dass deine Erinnerungen wieder auf dich einströmten. Also frage ich dich ein letztes Mal: Was verheimlichst du mir? Warum schreist du meinen Namen?“

Harveys Hand um meinen Hals drückte fester zu. Ihm war jedes Mittel Recht, um mich zum Reden zu bewegen. Ich verabscheute, was er mir gerade antat. So würde er sicher keinen Ton aus mir herausbekommen. Irgendwann musste auch er das einsehen und er ließ mich los. Ich keuchte und hielt mir meine brennende Kehle. Ich hätte nicht erwartet, dass es zwischen uns wieder so weit kommen könnte. Ich hätte nie gedacht, dass Harvey so sehr die Kontrolle über sich verlieren konnte. Ich hustete. Der Schmerz wurde mir zu viel. Ich bekam keine Luft. Mein Mörder stand vor mir und blickte auf mich herab.

„Du bist noch immer die miese Schlampe, die sich nicht an Kompromisse halten kann.“

Er drehte sich um und ließ mich im Arbeitszimmer alleine. Wir waren tatsächlich über die Mörder-Geisel-Beziehung hinaus. Zwischen uns bahnte sich Hass an, der durch die angespannte Situation immer weiter angeschürt wurde. Nach der Verhandlung würde ich meinen eigenen Weg gehen. Ich würde Harvey, Matthew, Julien und Marie nie wieder sehen. Ich hatte nichts zu verlieren, bis auf meinen klaren Verstand. Ich durfte nicht zulassen, dass die Männer die Aufnahme fanden. Ich durfte die Aufzeichnung nicht sehen, wenn ich nicht wollte, dass ich daran zerbrach. Harvey konnte mir mein Herz brechen, er konnte mir die Luft nehmen und mich mit seinem Hass bestrafen. Aber er konnte mir nicht meinen Willen nehmen.

Wer viel riskiert kann viel verlieren

Ich kauerte am Boden, den Rücken an die Wand gelehnt und die Arme um meine angewinkelten Beine geschlungen. Das Brennen in meinem Hals ließ langsam nach, während ich gedankenverloren auf die Kisten in der Ecke starrte. Ich wollte alles hinter mir lassen. Ich hatte keine Kraft mehr, um zu kämpfen. Die Idee, mein Videoband an mich zu nehmen und damit wegzulaufen, wollte nicht aus meinem Kopf verschwinden. Ich wollte es verbrennen, zerstören und dadurch für jeden Menschen unzugänglich machen. Einschließlich mir selbst. Ich schmiedete Pläne, wie ich mich unbemerkt aus der Wohnung schleichen konnte, wie ich den nächsten Bus nahm, aus der Stadt fuhr soweit ich mit dem gestohlenen Geld aus Juliens Geldbeutel kam und wie ich unter der erstbesten Brücke schlief. Ich würde mir ein Feuerzeug von den Obdachlosen dort schnorren und  die Kleinteile des Videos ankokeln. Ich würde zurück zum Waisenhaus laufen und die Reste an einer ganz bestimmten Stelle vergraben. Ich würde das Funkgerät, das wir bei meiner Rückkehr damals dort platziert hatten, nehmen und den Jungs sagen, was ich gefunden habe. Ich würde so tun, als hätte die Frau meine Beweise vernichtet, aber auch erzählen, dass es noch viele weitere gibt. Ich würde lügen und meine Haut retten. Wenn ich wüsste, dass die Männer sich auf den Weg machte, würde ich rennen. Weg von ihnen, weg von meiner Vergangenheit. Ich hätte meine Pflicht getan. Doch ich konnte es nicht.  Ich würde nie erfahren, ob mein Plan funktioniert hätte, wenn ich mich aus dem Staub machte. Ich hätte nie sicher sein können, dass die Mitglieder von Il Coltello lange genug hinter Gittern saßen. Ich wollte sehen können, ich wollte dabei sein, wenn die Frau in Handschellen abgeführt wurde. Und ich brachte es nicht übers Herz, Julien und Marie zu hintergehen. Und Matt, der mit noch viel härteren Konsequenzen leben musste als ich.

Ich musste fast vollkommen weggetreten sein, denn ich merkte erst sehr spät, dass sich Juliens Schritte mir näherten. Er stand nur noch zwei Meter von mir entfernt, als mein Kopf in meinem Schreck nach oben schoss.

„Ist alles in Ordnung bei dir?“

„Klar.“

Ich versuchte, ein leichtes Lächeln zu Stande zu bringen, doch ich scheiterte. Also gab ich es auf und drehte meinen Kopf wieder in Richtung der Kisten. Ich wusste nicht, wo ich die Aufnahme sonst verstecken sollte.

„Wir werden schon etwas finden, mach dir keine Sorgen.“

„Warum sollte ich mir gerade Sorgen machen?“

Er seufzte und setzte sich neben mich. Seine Beine streckte er von sich und er gähnte. Offenbar war er gerade erst aufgestanden.

„Du starrst die ausrangierten Kisten an, als würdest du sie am liebsten abfackeln.“

Julien wusste ja nicht, wie viel Wahres hinter seinen Worten steckte. Ich nickte also, ohne ihn dadurch anzulügen.

„Kann man so sagen.“

Diesmal kam ein echtes Lächeln über meine Lippen. Es war bitter und kaltherzig. Ob ich langsam meinen Verstand verlor? Ob ich wohl bald keine Kontrolle mehr über mich selbst hatte?

„Du hast dich verändert.“

„Schön, dass das wenigstens dir auffällt.“

„Wie meinst du das?“

Julien klang ernsthaft verwirrt und ich wunderte mich darüber. Hatte Harvey nicht mit ihm darüber gesprochen? War der Muskelprotz nicht deshalb zu mir gekommen, um mich auch zurechtzuweisen?

„Ich hatte vorhin eine kleine…Meinungsverschiedenheit mit Harvey.“

„Über?“

„Er hat dir wirklich nicht davon erzählt?“

„Er ist nicht mehr hier. Ist abgehauen, sobald ich meinen ersten Fuß aus dem Schlafzimmer gesetzt hatte.“

„Wohin?“

„Hat er nicht gesagt. Er wird schon wissen, was er tut. Aber jetzt sag doch endlich, worüber ihr euch mal wieder gestritten habt?“

Ich sah den Mann neben mir an und versuchte Anzeichen zu erkennen, ob er nur mit mir spielte. Ich wollte nicht mit ihm darüber sprechen, wenn er es nicht für sich behielt.

„Er vertraut mir nicht.“

„Geht es etwas genauer?“

Ich zog meinen Kapuzenpulli an der Seite etwas hinunter, damit er die geröteten Stellen sehen konnte, die mir Harvey dort verpasst hatte.

„Er ist auf mich losgegangen wie ein Verrückter. Er meinte, dass ich noch immer eine Schlampe sei, die sich nicht an Kompromisse hält.“

„Es geht hier nicht um den Sex fürs Schweigen, oder?“

„Nein.“

Zwischen uns blieb es still. Ich wusste, dass Julien darauf brannte, mehr von mir zu hören, doch ihm war klar, dass er mich nicht dazu zwingen konnte, meinen Mund aufzumachen.

„Du willst nicht darüber reden?“

Ich wandte den Blick von seinen ehrlichen Augen ab. Mit aller Kraft versuchte ich, nicht nachzugeben. Vergeblich.

„Ich bin wirklich eine Schlampe.“

Tränen liefen mir die Wange hinunter.

„Und ich stehe auf der Abschussliste der Polizei ganz weit oben. Glaub mir, dein Los ist lange nicht so schlimm.“
Er versuchte, mich zum Lachen zu bringen, doch ich brachte nur ein Schluchzen aus meiner Kehle.

„Er hat erneut mit mir geschlafen, damit ich ihm alles verraten würde, wenn ich aus dem Waisenhaus zurückkehrte. Und ich hab mich auch noch darauf eingelassen.“

„Du liebst ihn.“

„Nein. Ich habe geglaubt, dass es Liebe ist, dabei habe ich doch keine Ahnung, wie sich das anfühlt. Ich bin eine Schlampe, weil ich mich an ihn verkauft habe.“

„Du bist nicht verruchter, als er es ist. Zumindest gehören immer noch zwei zu einer solchen Vereinbarung.“

Ich biss mir auf die Unterlippe.

„Ich dachte, er mag mich.“

„Also empfindest du doch etwas für ihn.“

Ich seufzte. Meine Schultern zuckten und wie selbstverständlich legte Julien einen Arm um mich.

„Seit wann bist du der Sanfte von eurer Truppe?“

„Abbey. Wir sind nicht die Bösen in diesem Spiel. Wir haben nur getan, was wir für nötig hielten, um gegen die Sekte vorzugehen. Deshalb sind wir noch lange keine Unmenschen. Aber wenn man sich eine Geisel hält, kann man sich eben nicht von seiner besten Seite zeigen.“

„Trotzdem. Du bist ja schon beinahe weich geworden. Marie hat einen guten Einfluss auf dich.“

„Das hat sie tatsächlich.“

Er nahm den Arm von meiner Schulter und erhob sich. Als er vor mir stand, streckte er mir auffordernd seine Hand entgegen und wollte mir beim Aufstehen helfen. Ich ergriff seine Pranke und lehnte mich leicht nach vorne, um mich nach oben ziehen zu lassen. Als er hätte aufhören müssen, weiter an meinem Arm zu zerren, ließ er nicht locker. So kam es, dass ich stolperte und gegen ihn prallte. Anscheinend hatte er dies allerdings beabsichtigt, denn er fing mich auf und drückte mich an seine Brust.

„Ich wollte mich noch bei dir bedanken. Ohne dich hätte ich meine Tochter vielleicht nie wieder gesehen. Danke.“

Ein Lächeln stahl sich auf meinen Mund.

„Schön zu wissen, dass ich nicht umsonst dort war und ich wenigstens dir helfen konnte.“

Ich löste mich aus seiner Umarmung und machte einen Schritt zurück. Julien musterte mich besorgt.

„Harvey wird sich schon wieder einkriegen. Du kannst doch nichts dafür, wenn du keine weiteren Infos für ihn hasst. Ehrlich gesagt kenne ich ihn so gar nicht. Er geht nie grundlos auf Leute los, die ihm etwas bedeuten. Von mir einmal abgesehen.“

Julien ahnte vermutlich gerade, was er mit seinen Worten in mir angerichtet hatte. Harvey war auf mich losgegangen. Also bedeutete ich ihm nichts.

„Oh nein, es tut mir leid. So war das nicht gemeint.“

„Schon in Ordnung.“

„Nein. Es tut mir wirklich leid, das klang total falsch. Ich verstehe wirklich nicht, warum er auf dich losgegangen ist, wenn du doch so wichtig für ihn bist.“

„Es ging ihm nie um mich. Es ging ihm immer nur um seinen Plan.“

„Nein. Ich kenne ihn schon mein halbes Leben. Er ist wie ein Bruder für mich. Ich kann ihm ansehen, was in ihm vorgeht, auch wenn er es gut zu verstecken weiß.“

„Hör bitte auf. Ich will das nicht hören.“

„Ihr müsst miteinander reden.“

„Glaub mir, das haben wir versucht.“

Ich wollte nicht mehr darüber reden und ließ Julien deshalb zurück. Lieber sah ich mich nach Marie um und vergewisserte mich, dass es ihr gut ging. Sie schlief noch immer und sah diesmal friedlich und zufrieden aus. Auch ihr tat es gut, dass sie wieder Zeit mit ihrem Vater verbringen konnte. Julien stand hinter mir. Er wollte offenbar noch immer mit mir über Harvey und mich reden, doch ich fiel ihm ins Wort, bevor er wieder davon anfangen konnte.

„Ich würde gerne tauschen.“

„Bitte?“

„Kann ich morgen mit Marie gehen und du gehst mit Harvey los?“

„Nein.“

„Aber…“

„Nein! Erstens habe ich der Kleinen versprochen, sie nicht mehr alleine zu lassen und zweitens müssen wir unauffällig sein. Wenn da plötzlich zwei Männer aufkreuzen, die so aussehen, als hätten sie eine Menge Dreck am stecken, erregt das nicht gerade das Vertrauen.“

„Und wenn ich mit Marie beide Meyers befrage?“

„Ich will sie nicht in Gefahr wissen, wenn ich nicht dabei bin. Was ist, wenn jemand auf euch losgeht? Wir wissen nicht, mit wem wir es zu tun haben. Ich lasse nicht zu, dass ihr etwas geschieht.“

„Du vertraust mir nicht.“

„Ich vertraue Georg Meyer nicht. Ganz einfach. Du wirst es schon mit Harvey aushalten. Wenn er dich bis jetzt noch nicht umgebracht hat, wird er es kaum in der nächsten Woche vorhaben.“

„Wer weiß.“

Ich hatte nur geflüstert, doch Julien hatte es gehört.

„Vielleicht solltest du dir mal an die eigene Nase fassen, wenn du von fehlendem Vertrauen sprichst.“

„Vielleicht sollte er mir mal einen Grund geben, warum ich ihm vertrauen sollte.“

„Du bist am Leben.“

Ich fuhr erschrocken herum, als ich Harveys Stimme hinter mir hörte. Er stand in der Küche mit einer Tasse Kaffee in der Hand und musterte uns von oben bis unten.

„Hast du nichts besseres zu tun, als uns zu belauschen? Wir dachten, du wärst aus der Wohnung verschwunden.“

„Hast du nichts besseres zu tun, als mir etwas vorzuspielen?“

Den zweiten Teil meiner Frage ignorierte er einfach. Ob Julien sich geirrt hatte? Vielleicht hatte Harvey ja unser gesamtes Gespräch mitgehört.

„Ich weiß nicht, was du meinst.“

„Du verheimlichst mir etwas. Ich weiß das, weil du plötzlich nicht mehr im Schlaf schreist.“

„Erst passt es dir nicht, wenn ich deinen Namen rufe und nun machst du mir Vorwürfe, weil es aufgehört hat?“

„Ich habe bereits vorhin gesagt, was ich meine. Als dein Kopf die Erinnerungen verarbeiten musste, die durch mich an die Oberfläche kamen, hast du nach mir gerufen. Dein Unterbewusstsein hat mich dafür verantwortlich gemacht, dass dein Schmerz wieder da ist. Die ganze Gefangenschaft, die Unterdrückung, unsere Geiselnahme. Alles hat dich an früher erinnert, ohne dass du es wusstest. Aber warum schreist du jetzt nicht mehr? Was hast du gefunden? Was hat dein Kopf verstanden, das du nicht sagen willst?“

„Harvey, meinst du nicht, dass diese Theorie etwas weit hergeholt ist? Vielleicht kommt sie jetzt einfach nur besser mit der Situation klar.“

„Du meinst, ich bilde mir nur ein, dass sie meinen Fragen ausweicht? Du meinst, ich spinne mir nur eine Verschwörungstheorie zusammen?“
„Nein. Ich meine nur, dass du etwas voreilige Schlüsse ziehst. Ich habe vorhin bereits zu Abbey gesagt, dass ihr ganz dringend reden müsst. Aber ich glaube, manchmal muss man euch echt zu eurem Glück zwingen.“

Bevor ich wusste, was mit mir geschieht, hatte Julien mich in die Küche geschubst und die Tür von außen verschlossen. Ich zerrte an der Türklinke und trat gegen das Holz, um die Tür wieder zu öffnen.

„Du glaubst nicht wirklich daran, dass du stärker bist als Julien, oder?“

„Vielleicht könntest du mir ja mal helfen, statt nur blöde Sprüche zu klopfen.“

„Es gab Zeiten, da fandest du es nicht schlimm, mit mir in einen Raum gesperrt zu sein.“

Ich hasste diesen überheblichen Unterton in seiner Stimme. Ich hasste es, wenn er sich aufführte, wie ein perverses Schwein. Vor allem aber hasste ich, dass er mir damit wehtat. Ich wollte seine Worte eigentlich nicht an mich heranlassen, doch als sich Tränen ihren Weg aus meinen Augen bahnten und meine Wangen feucht wurden, wusste ich, dass ich wieder versagt hatte.

„Warum tust du das?“

„Was tue ich denn?“

„Du verstellst dich. Mit allen Mitteln wehrst du dich dagegen, mit mir wie mit einer Freundin umzugehen.“

„Wir sind keine Freunde. Haben wir das nicht bereits neulich festgestellt?“

„Warum gibst du dich dann mit mir ab? Warum bringst du mich dann nicht einfach um? Ich kann dir meine Aussage auf Band sprechen und dann bin ich nutzlos. Wenn wir keine Freunde sind, stehe ich dir doch nur im Weg.“

Ich hörte, wie er seine Tasse abstellte und auf mich zukam. Er stand dicht hinter mir. So dicht, dass ich seine Wärme in meinem Rücken spüren konnte. Ich hätte mich nur ein Stück nach hinten lehnen müssen und ich wäre gegen ihn gefallen. Mein Körper wollte es und mein Verstand schaltete sich langsam aus, als seine Hand an meinem Hals entlang fuhr und meine Haare auf die Seite strich. Ich stütze mich mit der einen Hand an der Tür vor mir ab, um nicht umzukippen. Sein Atem in meinem Nacken benebelte meine Sinne. Meine Tränen flossen weiter, als sich mein Verstand abstellte. Ich wollte Harvey. Mein Hass war verpocht und hatte sich in Sehnsucht gewandelt. Julien hatte Recht gehabt. Ich empfand etwas für den Mann, der mich an den Rande der Verzweiflung brachte.

Fest griff er mich an der Schulter, um mich schwungvoll zu sich zu drehen. Mein Rücken knallte gegen den Holzrahmen der Tür und auch meinen Kopf stieß ich mir schmerzhaft an. Ich schloss meine Augen für einen kurzen Moment, atmete tief durch und schluckte den Schmerz hinunter. Dann sah ich Harvey in die Augen und wäre erschrocken zurückgewichen, wenn hinter mir Platz gewesen wäre. Er hielt sein Shirt in der Hand und stand mit nacktem Oberkörper vor mir. Zahlreiche Narben prangten darauf. Manche davon schon alt und verblasst, andere waren frisch und stammten offenbar von Wunden, die gerade erst verheilt waren.

„Was ist passiert?“

„Willst du nicht schreiend wegrennen?“

Ich ignorierte seine Frage und überbrückte den Abstand zwischen uns. Ich legte meine Hand auf seine Brust und fuhr die Konturen nach. Als wir miteinander geschlafen hatten, waren mir keine solchen Verletzungen aufgefallen. War ich so blind, oder hatte er sich erst kurz zuvor so zugerichtet? Die Narben sahen anders aus, als die in seinem Gesicht. Wie war das passiert? Vorsichtig strichen meine Finger über seine Haut. Ich wollte ihm nicht wehtun, doch er spannte seine Muskeln an. Sein Atem ging tief und er stütze sich so wie ich zuvor mit einer Hand an der Tür ab.

„Warum glaubst du immer, dass ich Angst vor dir habe, wenn du mir deine Narben zeigst? Als ich dein Gesicht zum ersten Mal sah, hast du mir beinahe die gleiche Frage gestellt.“

„Ich bin es nicht gewohnt, dass man sich Sorgen um mich macht.“

Etwas tropfe von oben auf meine Schulter und ich sah erschrocken zu Harveys Gesicht. Er weinte. Ich ließ meine Hände von seinem Oberkörper sinken, um sie kurz darauf um sein Gesicht zu legen. Er richtete sich leicht auf, und griff nach meiner Taille, damit ich einen Schritt auf ihn zu machen konnte. Ich strich ihm eine Haarsträhne aus den Augen und erwiderte seinen Blick. Ich wich ihm nicht aus und fragte mich, ob in meinen Augen wohl auch jemals so viel Gefühl liegen könnte. Eine weitere Träne stahl sich aus seinem Augenwinkel und floss an den Konturen seiner größten Narbe entlang. Ich biss mir auf die Unterlippe, als ich ihren Weg beobachtete. Lange konnte ich ihm nicht mehr widerstehen. Ich beugte mich zu ihm und küsste die feuchte Spur weg, die seine Trauer auf seinem Gesicht hinterlassen hatte. Vergessen war unser Streit. Vergessen waren die Sorgen, die ich mir gemacht hatte. Es gab nur noch uns. Wie er mich festhielt und wie ich ihm nahe war. Meine Lippen zogen die aufgeraute Haut über seiner früheren Wunde nach und fühlten die Bartstoppeln unter den Küssen. Ich näherte mich seinem Mund und hielt dann inne. Ich wusste nicht, wie er fühlte. Ich wusste nicht, ob es für ihn in Ordnung war und wollte seine Reaktion abwarten. Er hatte die Augen geschlossen, und ich hätte fast verlegen gekichert, als sich seine Lippen zu einem Lächeln verzogen. Wieder biss ich mir auf die Unterlippe und wandte mein Gesicht nach unten. Er sollte nicht sehen, dass ich rot wurde. Er sollte nicht sehen, welchen Effekt er auf mich hatte.

„Ich hab das Messer getestet.“

Seine Stimme klang ernst, doch seine Hand, die mich nicht an ihn drückte, spielte in meinen Haaren. Er legte sein Kinn auf meinen Kopf und ich barg mein Gesicht an seiner Schulter.

„Was meinst du damit?“

Ich wollte wissen, wie es funktioniert. Ich wollte herausfinden, wie meine Narbe zustande kam. Und deine. Es ist gar nicht so einfach. Man braucht viel Druck und Zeit. Die Sekte kann es kaum so hinstellen, als wären die Wunden nur durch Unfälle passiert. Sie werden irgendwann eingestehen müssen, dass sie vorsätzlich verletzt haben.“

„Du hast dir selbst Schmerzen zugefügt? Du hast das Messer an dir selbst ausprobiert?“

„Woran sonst? Obst und Gemüse haben die falsche Konsistenz und gekauftes Fleisch vom Metzger vernarbt nicht. Außerdem würde der Beweis vergammeln.“

„Du willst das vor Gericht zeigen?“

„Ich hab mich dabei gefilmt.“

„Oh mein Gott.“

Er küsste mich auf den Haaransatz und schlang seine Arme um mich. Fest drückte er mich an sich, doch ich wand mich aus seiner Umarmung. Eine Hand stütze ich auf seine Brust, die andere legte ich in seinen Nacken und zwang ihn, mich anzusehen.

„Das erklärt aber noch immer nicht, warum du so kalt zu mir bist. Warum behandelst du mich in der einen Sekunde wie Dreck, wenn du mich in der nächsten in deine Arme schließt?“

„Weil ich mir betrogen vorkomme. Ich kann dir ansehen, dass du etwas vor mir geheim hältst und ich hasse es. Ich hab mich dir anvertraut und ich will, dass du mit mir Klartext sprichst.“

„Bist du deshalb wieder nett zu mir? Weil du an meine Gedanken willst?“

Er schwieg, doch das war mir Antwort genug. Ich ließ von ihm ab und entfernte mich von ihm. Die Tür war noch immer verschlossen, doch das hielt mich nicht davor zurück, mich in die Ecke des Raums zu begeben, die am weitesten von Harvey entfernt war.

„Wir haben tatsächlich ein Vertrauensproblem.“

„Ich fühle mich einfach nur benutzt. Immer wenn wir uns streiten, machst du dich an mich ran und bettelst, dass ich dir alles erzähle, was in mir vorgeht. Und wenn ich von dir verlange, ehrlich zu mir und zu dir selbst zu sein, stößt du mich weg. Du weißt ganz genau, dass ich etwas für dich empfinde. Vermutlich hast du auch das gehört, als ich mich mit Julien unterhalten habe. Aber es hindert dich nicht daran, mit meinen Gefühlen zu spielen. Meinst du, es hilft, wenn du mich berührst, ohne es ernst zu meinen? Hältst du mich für einen falsch programmierten Roboter, der zwar Gefühle hat, daran aber nicht zerbrechen kann? Du hast doch Psychologie studiert. Müsstest du dann nicht eigentlich wissen, was du in mir anrichtest?“

„Es ist nicht meine Absicht, dir weh zu tun.“

„Das glaube ich dir sogar.“

„Aber?“

„Du kannst nicht in einem Moment auf mich losgehen und mich als Schlampe beschimpfen und bei unserer nächsten Begegnung suchst du meine Nähe und drückst auf die Tränendrüse. Ich hab langsam den Eindruck, du bist schizophren.“

Harvey sah mich perplex an und brach dann in schallendes Gelächter aus. Als er merkte, dass ich darauf nicht einging und die ganze Situation offensichtlich nicht zum Lachen fand, kriegte er sich wieder ein.

„Ich bin nicht schizophren, ich bin…“

„Berechnend. Bist du jemals normal mit mir umgegangen? Hast du dich jemals von deinen Gefühlen leiten lassen? Oder handelst du immer nur mit Hintergedanken?“

„Ich glaub, du unterschätzt mich.“

Ich zog meine Augenbrauen fragend nach oben.

„Ich lasse mich viel zu oft von meinen Gefühlen leiten, wenn du in meiner Nähe bist. Du hast einen schlechten Einfluss auf mich.“

„Herzlichen Dank. Jetzt weiß ich ja, woran ich bin. Wobei wir jetzt wieder bei meiner ursprünglichen Frage wären. Warum bringst du mich nicht einfach um?“

Er gab mir erst keine Antwort, doch er kam wieder auf mich zu. Ich verdrehte die Augen, doch ich floh auch nicht.

„Weil ich mich sonst nie wieder im Spiegel ansehen könnte. Weil ich nie wieder aufwachen würde und mir Sorgen darüber machen müsste, was du als nächstes anstellst.“

„Das ist die schlechteste Liebeserklärung, die ich je gehört habe.“

„Weil es keine ist. Ich weiß nicht, warum du immer nur zwischen Liebe und Hass unterscheidest. Es ist zwar etwas zwischen uns, aber ich würde es nicht Liebe nennen. Ich liebe dich nicht, Abbey. Das habe ich dir bereits gesagt. Wir kennen uns zu wenig. Vor einem halben Jahr habe ich nicht einmal gewusst, dass es dich gibt und du meintest bereits nach einer knappen Woche Gefangenschaft, dass du tiefe Gefühle für mich hegst. Ich bereue nicht, dass du lebst und ich will dich auch nicht loswerden. Aber ich liebe dich nicht. Ist dir das Antwort genug?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Was für Gefühle hast du dann? Wie kann es sein, dass ich einen schlechten Einfluss auf dich habe?“

„Ich weiß es selbst nicht.“

„Dann solltest du vielleicht mal mit dir selber klären, was du fühlst, bevor du mir einen Vorwurf machst, dass ich mir mein Empfinden bereits verfrüht eingestanden habe.“

Ich ging zur Tür und klopfte gegen das Holz.

„Julien, ich bitte dich. Langsam wird es kindisch.“

„Dann kommt doch einfach raus.“

Ich hörte, wie er leise lachte und dann wieder etwas mit Marie besprach. Ungläubig drückte ich die Klinke und tatsächlich. Die Tür ließ sich ohne Widerstand öffnen. Wann hatte er wieder aufgemacht? Marie und ihr Vater saßen im Gang am Boden und unterhielten sich. Als sich mein Schatten auf sie legte, sahen beide zu mir. Dann wanderte auf etwas in meinem Rücken und ich musste mich nicht umdrehen, um zu wissen, dass Harvey hinter mich getreten war.

„Habt ihr genug gehört?“

Ich hoffte, dass man die Trauer in meiner Stimme nicht heraushörte. Ich wich Maries klugen Augen aus, die nach einer Erklärung für meine Verzweiflung suchten.

„Geht es dir nicht gut, Abbey?“

„Doch, doch. Alles in Ordnung.“

„Du sollst doch nicht lügen.“

Ich strich ihr über die Wange und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.

„Ich weiß, Süße. Tut mir leid. Hat jemand was dagegen, wenn ich mich mal hinlege, bevor wir losmüssen?“

Ich wünschte, mir wären die bedeutungsvollen Blicke entgangen, die sich die Männer zuwarfen und auch Juliens Mitleid hätte ich mir gern erspart. Natürlich hatte er mitbekommen, was wir besprochen hatten. Woher hätte er denn sonst wissen sollen, wann es Zeit dafür war, die Tür zu öffnen? Ich wollte ihm nicht leid tun. Ich wollte nicht mal mir selber leid tun, doch ich brauchte einen Moment für mich. Ich wollte mich zurückziehen und meine Gedanken sortieren. Also schloss ich die Tür zum Schlafzimmer hinter mir und ließ die anderen unter sich. Ich legte mich auf die Matratze am Boden und rollte mich auf der Seite zu einer kleinen Kugel zusammen. Er liebte mich nicht. Eine Träne ließ sich nicht aufhalten und ihr folgten viele weitere. Ich wollte nicht, dass er mir so weh tun konnte. Ich wollte nicht, dass es mir etwas ausmachte, denn ich wusste nicht einmal selbst, ob es richtig war, von Liebe zu sprechen. Er bedeutete mir etwas. Ich genoss seine Nähe und fühlte mich in seinen Armen geborgen. Noch nie hatte ich so viel Zuneigung empfunden und es fühlte sich so an, wie die Frauen es in meinen Liebesromanen immer beschrieben hatten. Aber ich wusste, dass Harvey Recht hatte. Wir kannten uns zu wenig. Ich konnte nicht von ihm verlangen, dass er starke Gefühle für mich bekam. Ich konnte ihn schlecht dazu zwingen, sich mir gegenüber zu öffnen. Doch ich hatte mich gegen meinen Beschluss vom Abend entschieden. Ich würde nach der Verhandlung nicht alle anderen hinter mir lassen können. Ich würde einen Weg einschlagen, der sich mit ihren kreuzte. Ich würde mir und Harvey eine Chance geben. Ich würde nicht zulassen, dass mich meine einzigen Freunde zurückließen. Dafür hatten wir zu lange an einem gemeinsamen Strang gezogen. Ich überwand den Schmerz, der sich in meinem Herzen ausgebreitet hatte. So sehr es mir auch missfallen hatte, dass er nichts für mich empfand, so schätzte ich auch seine Ehrlichkeit. Er war dazu im Stande, während ich noch immer ein dunkles Geheimnis für mich behielt. Die Aufnahme war noch immer versteckt und mein schlechtes Gewissen kam zurück. Harvey hatte sich selbst mit dem Messer verletzt und ich führte mich wegen einem Film über meine Vergangenheit auf. Ich schämte mich, doch das änderte nichts daran, dass ich noch nicht bereit dazu war, mit meiner Qual konfrontiert zu werden. Ich war nicht stark genug, um mich zu überwinden. Erneut konnte ich meine Tränen nicht zurückhalten, doch diesmal weinte ich aus anderen Gründen. Ich war erbärmlich.

 

 

Viel zu früh weckte mich Marie aus meinem leichten Schlaf. Ich fühlte mich wie gerädert und es kostete mich viel Überwindung, meine Beine zu strecken und mir meine Müdigkeit auf dem Weg in die Küche aus den Augen zu reiben. Ich grummelte den Männern, die am Tisch saßen ein „Morgen“ zu und setzte mich zu ihnen auf den letzten freien Stuhl. Ohne danach gefragt zu haben, wurde mir eine Tasse Kaffee vor die Nase geschoben, die ich dankend annahm. Ich bekam aus den Augenwinkeln mit, wie Marie auf den Schoß ihres Vaters kletterte und sich an ihn kuschelte. Sie spielte mit dem Reißverschluss seiner Jacke und erst da fiel mir auf, dass die anderen alle schon aufbruchbereit waren.

„Oh nein, ich halte gerade alle auf.“

Ich stürzte mein Koffeingetränk, das bereits kalt war, in einem Zug herunter und erhob mich.

„Es tut mir leid. Ich wusste nicht, dass es schon so spät ist. Sollen wir?“

Julien musterte mich amüsiert.

„Du solltest dir vielleicht noch etwas anderes anziehen.“

Ich sah an mir herunter und nickte bestätigend. Ich hatte vergessen, dass ich gestern bei der erstbesten Gelegenheit mein Kleid gegen die zerschlissene Jeans und meinen großen Pulli ausgetauscht hatte. So schäbig würde ich sicher einen schlechten Eindruck machen.

„Harvey hielt mir eine Einkaufstüte hin.“

„Wir waren so frei und haben deinen Kleiderschrank etwas aufgestockt. Such dir was Schönes aus. Aber beeil dich.“

„Kann ich noch duschen?“

Harvey seufzte und wandte seinem Freund einen verzweifelten Blick zu.

„Gib nicht mir die Schuld. Du wolltest sie länger schlafen lassen. Weißt du was, ich gehe mit Marie schon mal voraus. Ihr werdet von uns hören, was wir herausgefunden haben. Vielleicht ist es sogar besser, wenn wir nicht zeitgleich aufbrechen. Komm, Schätzchen.“

Julien erhob sich vom Stuhl und nahm Marie bei der Hand. Ich nutzte die Gelegenheit und folgte ihnen den Gang entlang bis zum Badezimmer. Ich wünschte den beiden noch viel Erfolg und dann waren sie aus der Tür. Ich zog mich aus und legte meine Kleider auf den Boden. Mir war etwas unwohl, weil ich die Tür zum Bad nicht verschließen konnte, doch Harvey wusste ja, dass er gerade nicht unbedingt hineinplatzen sollte. Also packte ich in aller Ruhe meine Pflegeutensilien aus und drehte das Wasser voll auf. Erst befürchtete ich, dass ich kalt duschen musste, doch der Strahl erwärmte sich nach der Zeit doch etwas. Ich genoss das Prickeln auf meiner Haut und das plätschernde Geräusch, als die schweren Tropfen auf den Boden der Duschkabine trafen. Meine Muskeln entspannten sich und ich wachte langsam wieder auf. Dieses lebendige Gefühl in meinen Knochen hatte ich vermisst. Ich verfluchte den Moment, als ich mich wieder meinen Pflichten widmen musste und das Wasser wieder abstellte. Widerwillig trocknete ich mich ab und schlüpfte in meine Unterwäsche. Ich wickelte mir das Handtuch mit einem lockeren Knoten um meinen Körper, als ich nach der Tüte mit den neuen Klamotten Ausschau hielt. Ich hatte sie vergessen. Ich verfluchte meine Schusseligkeit und presste das Handtuch näher an mich. Unauffällig spitzte ich aus der Tür und entdeckte Harvey im Arbeitszimmer. Er konzentrierte sich gerade auf seine Notizen und ich ergriff die Gelegenheit, um mich aus dem Bad zu stehlen. Auf leichtem Fuße schlich ich in die Küche und schnappte den Griff der Tüte. Mein Handtuch verrutschte in der Eile leicht, doch ich würde bald wieder im Bad sein. Schnell drehte ich mich um und stieß gegen eine harte Brust. Also hatte Harvey mich doch bemerkt. Ich verlor mein Gleichgewicht und fiel nach hinten um auf meinen Hintern.

„Tut mir leid, das wollte ich nicht.“

Er streckte mir seine Hand entgegen, um mir hoch zu helfen und ich nahm sie dankend an. Allerdings hatte ich in der anderen noch das Plastik im Griff und vergaß somit, mein Handtuch an meinem Körper zu sichern. Halbnackt stand ich vor Harvey und wir schienen beide nicht wirklich zu wissen, was wir dazu sagen sollten.

„Rote Spitze? Also ich weiß, warum ich mich damals auf den Kompromiss eingelassen habe.“

Er lachte, doch es klang leicht nervös. Ich entriss ihm meine Hand und tapste zurück zum Bad. Das Handtuch ließ ich einfach auf dem Boden liegen, denn ich hatte keine Lust, ihm auch noch meinen Po entgegenzustrecken, während ich es aufhob. Sollte er sich doch nützlich machen.

 

Wir hatten kein Wort mehr gewechselt, seit ich in einer schwarzen Röhrenjeans und einer weißen Bluse gekleidet das Bad verlassen hatte. Die komplette Straßenbahnfahrt und den restlichen Fußweg zur gesuchten Adresse über hatten wir uns angeschwiegen. Wir näherten uns einem schäbigen Plattenbau, der sich stark von dem Rest des eigentlich hübschen Stadtviertels abhob. Ich hatte den Verdacht, dass unser Ziel dieses mal leider kein süßes Häuschen in einem friedlichen Vorort sein würde und mein Bauchgefühl täuschte mich nicht. Harvey steuerte direkt auf die Absteige zu, die so gar nicht in die Umgebung passte. Er griff nach meiner Hand und zog mich näher an sich, als uns ein paar zwielichtige Gestalten entgegentaumelten. Die Fremden hatten offensichtlich etwas zu tief in ihr Glas geschaut und sie hatten uns entdeckt. Ich hoffte, dass wir einer Konfrontation aus dem Weg gehen konnten und blickte zu Boden, als die Männer unseren Weg kreuzten. Beiderseits liefen sie an mir und Harvey vorbei, allerdings nicht, ohne mir einen Klaps auf den Hintern zu geben. Ich wollte protestieren, doch Harvey hielt mir den Mund zu. Er zog mich weiter und löste sich erst wieder von mir, als wir die Fremden außer Sichtweite waren.

„Wir wollen doch keinen Streit mit solchen Leuten anfangen.“

„Heißt das, ich soll mir so ein Gegrabsche einfach widerstandslos gefallen lassen? Hast du sie noch alle?“

„Ich bitte dich. In jedem anderen Fall hätte ich dir zugestimmt, aber nicht heute. Wir können jetzt keine Auseinandersetzung mit Leuten brauchen, die sich den Verstand tot gesoffen haben.“

Ich nahm seine Erklärung hin und ließ mich nicht weiter davon beirren, dass ich gerade eigentlich sexuell belästigt worden war. Wir hatten Wichtigeres vor uns.

Bald kamen wir an der Haustür an und suchten nach der richtigen Klingel. Unter den beschrifteten Knöpfen, war kein Herr Meyer zu finden.

„Na toll. Was jetzt?“

„Entweder ist unser möglicher Koch bei jemand anderem untergekommen, oder er hat seine Klingel nicht beschriftet. Wir sollten die beiden leeren Felder ausprobieren.“

Ohne auf meine Zustimmung zu warten, drückt er den obersten Knopf und wartete auf eine Antwort. Es blieb still. Harvey drückte erneut, diesmal ließ er seinen Finger jedoch länger auf dem Knopf liegen. Wieder keine Reaktion. Ich seufzte und drückte auf die zweite Alternative, die uns übrig blieb. Auch hier erhielten wir keine Antwort. Wir wollten uns gerade umdrehen, da öffnete sich die Tür vor uns. Eine zierliche Frau steckte ihren Kopf durch den Spalt und musterte uns.

„Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir?“

„Entschuldigen Sie bitte die Störung. Meine Frau und ich sind auf der Suche nach Georg Meyer.“

Ein Kribbeln durchströmte mich, als er mich als seine Frau vorstellte, doch ich zwang mich zu einem Lächeln. Bei Julien hatte sich das bei Weitem nicht so gut angefühlt, doch davon durfte ich mich nicht ablenken lassen. Die Frau sah noch verwirrter aus als zuvor.

„Da sind Sie bei mir wohl an der falschen Adresse. Ich lebe alleine.“

Sie öffnete uns die Tür ein Stückchen weiter und gewährte uns einen Blick auf den Hund, der hinter ihr auf der Treppe stand.

„Naia, nicht ganz alleine. Ich habe ja noch meinen kleinen Franky. Aber wie kommen Sie denn dazu, bei mir zu klingeln?“

„Wir wurden zu diesem Haus bestellt, aber auf keiner Klingel stand der Name Meyer geschrieben. Also haben wir es bei den unbeschrifteten Knöpfen versucht und sind wohl bei Ihnen gelandet. Tut uns leid wegen der Störung.“

„Kein Problem. Leider kann ich Ihnen nicht weiterhelfen. Ich habe noch nie etwas von einem Herrn Meyer gehört, der hier wohnen soll. Und ich lebe seit fünf Jahren hier.“

„Trotzdem danke.“

„Einen schönen Tag noch. Komm, Franky!“

Die Tür fiel hinter der Frau wieder ins Schloss und wir standen genauso ratlos vor dem Gebäude, wie wir vor unserem Weg hier her angefangen hatten. In langsamen Schritten entfernten wir uns vom Plattenbau und ließen uns den Plan noch einmal durch den Kopf gehen. Harvey kramte sein Handy hervor und wählte Juliens Nummer. Wir hatten noch die Hoffnung, dass Marie und ihr Vater mit mehr Glück gesegnet waren als wir. Erst nach dem fünften Tuten hob Julien ab. Im Hintergrund war Straßenlärm zu vernehmen, also war er bereits wieder unterwegs. Ich konnte nur ganz schlecht verstehen, was er Harvey erklärte, doch dieser sah nicht begeistert aus. Ich vermutete das Schlimmste, als die beiden wieder auflegten und Harvey sein Handy wieder wegsteckte.

„Und?“

„Er ist sich nicht sicher. Der Mann will ihm nicht sagen, ob er der gesuchte Herr Meyer ist. Dreck am Stecken hat der Kerl auf alle Fälle, aber das mag Zufall sein.“

„Was machen wir jetzt?“

„Wir fahren da hin und gehen auf Konfrontationskurs. Er soll mir ins Gesicht sehen und dann wissen wir, ob er der Mann ist, den wir ausfindig machen wollten.“

 

Wir brauchten mindestens zwei Stunden, um wieder ans andere Ende der Stadt zu gelangen, doch diese Strecke war es uns wert. Von Harvey wusste ich, dass Julien und Marie bereits auf dem Weg nach Hause waren und uns das Feld überließen. Wir wollten den Mann ja nicht in die Enge treiben. Auch dieser Herr Meyer hatte nicht genug Geld, um sich eine anständige Wohnung zu leisten, doch der Hinterhof des Schuhgeschäfts war immer noch in einem besseren Zustand als der Plattenbau. Auch hier klingelten wir. Nach ein paar Sekunden knisterte es in der Freisprechanlage und eine kratzige Stimme ertönte aus dem Lautsprecher.

„Ja?“

„Wir sind weder von der Polizei, noch von Il Coltello. Wir wollen Ihnen nur ein Angebot machen.“

 

Nach einer langen, ermüdenden Diskussion mit dem Herren, bewegte sich der Mann doch dazu, aus dem Haus zu kommen und persönlich mit uns zu sprechen. Julien hatte uns ja bereits vorgewarnt, doch dass es so viel Überzeugungskraft kostete, hatten wir nicht erwartet. Herr Meyer trug einen Kapuzenpulli, den er sich tief ins Gesicht zog, um sich darunter zu verstecken. Er traute uns nicht, doch ich nahm es ihn nicht übel.

„Guten Tag, Herr Meyer. Freut uns, dass Sie sich doch die Zeit nehmen.“

„Ich weiß nicht, was das bringen soll. Ich kenne dieses ‚Il Coltello’ nicht und ich möchte, dass Sie mich damit in Ruhe lassen.“

Harvey Handy klingelte und wir schreckten alle auf. Er zog es hervor und schaute auf den Display. Mit einem kurzen Nicken holte er mein Einverständnis, mich mit dem Fremden kurz alleine zu lassen, um mit Julien zu telefonieren. Er lief ans andere Ende des Hofes, sodass der Mann ihn nicht belauschen konnte. So blieb das Gespräch allerdings auch mir verloren.

Herr Meyer hatte uns noch gar nicht richtig angesehen. Seine Augen waren immer auf den Boden gerichtet und man sah ihm an, dass er eigentlich gar nicht hier sein wollte.

„Hören Sie. Wir brauchen Ihre Hilfe. Unser Freund und seine Tochter haben uns bereits erzählt, dass sie mit Ihnen gesprochen haben. Wir wissen, dass Sie etwas bedrückt und wir wollen Ihnen ganz sicher nichts böses.“

Der Mann ließ ein Schnauben hören, gab aber keine weitere Reaktion preis. Harvey telefonierte noch immer.

„Ich bin im Waisenhaus aufgewachsen und bin irgendwann weggelaufen. Ich hab es nicht mehr ausgehalten. Als ich neulich dort war, hab ich die Kündigung des Kochs gefunden. Was sind Sie von Beruf, Herr Meyer?“

Er schwieg.

„Sie sind Koch, hab ich Recht?“

Er starrte auf seine eigenen Füße und wippte leicht hin und her.

„Ich bitte Sie. Wir wollen etwas gegen die Sekte tun. Wir können nicht zulassen, dass noch mehr Alpträume in Erfüllung gehen.“

Erneut schnaubte er. Er wusste also ganz genau, wovon ich sprach.

„Sie glauben mir nicht? Ich hab bei meinem erneuten Aufenthalt Beweise gesammelt. Ich hab das Betäubungsmittel aus dem Küchenschrank beschlagnahmt und gehe davon aus, dass darauf auch Ihre Fingerabdrücke zu finden sind.“

Plötzlich schoss sein Kopf ruckartig nach oben.

„Ich hab das Zeug nie reingeschüttet. Nie. Das müssen Sie mir glauben!“

Erleichterung machte sich in mir breit. Das war unser Mann. Am liebsten hätte ich Harvey zu uns gewunken, doch dieser sah noch immer nicht so aus, als könnte er so schnell auflegen. Wut lag in seinen Augen und ich fragte mich, was Julien zu berichten hatte.

„Ich glaube Ihnen. Ich habe Ihre Kündigung gelesen und an mich genommen. Es würde als Beweisstück gegen die Sekte vor Gericht dienen, aber wir bräuchten Ihre Hilfe. Sie müssen für uns aussagen.“

„Nein! Ich kann nicht zur Polizei! Entweder sperren die mich ein, weil ich ein Mitglied war, oder sie bringen liefern mich an die Sekte aus.“

„Glauben Sie mir, wenn die Sekte Sie finden wollte, wären Sie schon längst aufgespürt worden. Oder woher glauben Sie, haben wir Ihre Adresse? Aus unserem Hexenbuch?“

„Aber ich kann mich doch nicht selbst anzeigen.“

„Das erwarten wir nur nicht. Aber wir bräuchten Ihre Unterstützung. Bitte. Jeder Zeuge ist wichtig für den Prozess. Wir können nicht zulassen, dass noch mehr Kinder zu Schaden kommen. Sie haben vorhin Marie getroffen. Wollen Sie zulassen, dass das Mädchen wegen ihrer Mutter ihre Kindheit weiter im Waisenhaus verbringen muss? Ich hab sie dort nicht herausgeholt, um zuzulassen, dass sie wieder dorthin zurückkehren muss.“

„Woher weiß ich, dass Sie mich nicht täuschen? Wie kann ich sicher sein, dass Sie mich nicht auf dem besten Weg in den Knast befördern?“

„Wir haben einen Freund bei der Polizei, der sich selbst ausgeliefert hat. Wir haben ein Mädchen entführt, das eigentlich unter der Aufsicht des Waisenhauses steht und mein Mann und ich haben unsere Kindheit dort verbracht. Wir sind in den Fängen der Sekte groß geworden.“

Harveys Telefonat war beendet, er kam mir zur Hilfe. Seine Mine war finster und seine Haltung war starr. Etwas war passiert.

„Sehen Sie in mein Gesicht. Schauen Sie sich an, womit ich mein Leben lang herumlaufen muss. Glauben Sie, dass ich diese Narbe gerne Trage? Dass ich den Schmerz wollte?“

„Nein.“

„Was gibt es denn dann noch groß zu überlegen? Wir können Ihnen nicht garantieren, dass alles gut werden wird, aber wir geben Ihnen die Chance, etwas zu bewirken. Sie können auch ablehnen, uns zu helfen und weiter in ihrer schäbigen Unterkunft hausen wie die Ratten in der Kanalisation. Sie werden sich immer verkriechen können und Unterschlupf finden, aber zu welchem Preis? Helfen Sie uns, oder lassen Sie es bleiben. Es liegt bei Ihnen. Morgen wird die Polizei vor Ihrer Tür stehen und Sie zu einer Aussage auffordern. Wenn Sie nicht da sind, werden wir Sie in Ruhe lassen. Wenn Sie sich dazu bequemen, uns zu helfen, muss es Ihr eigener Entschluss sein. Sie wissen Bescheid.“

Ohne einen Abschiedsgruß ließ er den Mann stehen und zog mich an meinem Arm fort. Er war sauer, doch mit der Sprache rückte er nicht heraus. Es war etwas passiert, das auch für mich schlimme Konsequenzen hatte. Ich hatte Angst. Harvey packte mich grob an der Schulter und zog mich in die U-Bahn. Er schwieg, doch sein Bein zappelte, als wir durch den Untergrund in die Richtung unserer Wohnung fuhren.

 

Er stampfte die Treppe hinauf und ich folgte ihm auf den Schritt. Die Nervosität nagte an meinen Nerven. Bald würde Harvey platzen, wenn er seinem Ärger nicht bald Luft machte. Doch als es plötzlich mucksmäuschenstill war und alle Blicke auf mich gerichtet waren, wusste ich, was Sache war. Erik, Jordan, Harvey und Julian standen versammelt in der Küche. Sie starrten mich an, als wäre ich ein widerlicher Parasit. Hinter ihnen standen ein Laptop und ein tragbarer Datenleser auf dem Tisch. Meine eigenen Augen starrten mich vom Bildschirm aus an. Ich sah mich selbst als Kind. Blutüberströmt lag ich auf dem Foltertisch und schrie. Man hatte die Aufnahme angehalten. Geschockt sank ich zu Boden, als meine Beine nachgaben. Sie hatten das Videoband gefunden. Sie hatten mein Leben in den Händen. Ich hörte noch, wie Harvey seine Pistole lud und sah, wie er sie auf mich richtete. Nun hatte ich es geschafft, mein Leben endgültig zu verspielen.

 

Das Leben ist nicht fair

„Harvey, was soll das? Du kannst nicht bei jeder Gelegenheit zur Waffe greifen und Abbey umlegen wollen.“

„Ach nicht?“

„Hast du vergessen, dass wir keine Unschuldigen in den Tod reißen wollten? Hast du etwa vergessen, worum es hier geht?“

„Wer sagt denn, dass sie unschuldig ist? Sie hat uns so oft hintergangen. Mehrmals hat sie mir dreckig ins Gesicht gelogen. Ich hab gewusst, dass sie etwas verbirgt. Wer sagt denn, dass sie kein Mitglied der Sekte ist? Wer sagt denn, dass sie sich nicht gegen uns wendet, wenn wir vor Gericht stehen?“

„Glaubst du das wirklich?“

Mir war schlecht. Julien versuchte, Harvey zu beruhigen und ihn milde zu stimmen, doch ich konnte kaum etwas dazu beitragen. Das Bild von mir selbst prägte sich in mein Gedächtnis. Ich musste mein Ebenbild anstarren und konnte den Blick nicht vom Bildschirm abwenden. Meine Sicht verschwamm, als heiße Tränen an die Oberfläche traten. Ich hatte nicht gewollt, dass die Männer sauer auf mich waren, doch ich wusste ganz genau, warum ich das Video nicht sehen wollte. Ich hatte gewusst, dass ich den Anblick nicht ertragen konnte. Ein Wimmern kam mir über die Lippen. Ich würde nicht mehr lange durchhalten.

„Macht es aus.“

Sie hörten mich nicht. Julien redete noch immer auf seinen Freund ein, die Waffe sinken zu lassen. Dafür war ich ihm dankbar. Auch wenn ich oft gefragt hatte, warum er mich nicht einfach umbrachte, lag mir viel an meinem Leben. Ich war Julien etwas schuldig, weil er mich nicht zum ersten Mal aus dieser Lage rettete. Ich musste schon oft dem Lauf von Harveys Waffe entgegenblicken und unterschätzte seine Wut. Er schien mir nie wirklich weh tun zu wollen, doch wenn er mich mit einem Arm über den Abgrund hielt und somit mein Leben in der Hand hatte, konnte er seine Wut besser verarbeiten. Er zeigte mir, wozu er fähig wäre, doch ich wusste, dass er mich nicht wirklich töten wollte. Zumindest hoffte ich, dass er auch jetzt bei sich blieb und nicht vorschnell handelte.

„Macht es aus.“

Erneut verlangte ich, dass sie mich nicht weiter mit meiner Vergangenheit quälten. Erik und Jordan hatten mich verstanden. Der Dicke schaltete den Bildschirm aus und klappte den Laptop zu. Ich war froh, dass er meiner Bitte nachging. Wahrscheinlich wäre ich sonst vor ihren Augen zusammengeklappt. Nun konnte ich meinen Blick senken und ich schaute auf meine Hände, mit denen ich mich am Boden abgefangen hatte. Ich riss mich zusammen und versuchte so gut es ging meine Angst zu verbergen. Langsam richtete ich mich wieder auf und hob abwehren meine Hände. Ich wollte schließlich nicht, dass Harvey wegen einer hastigen Bewegungen voreilige Schlüsse zog und einen Schuss auf mich abfeuerte.

„Ich sollte es eigentlich als Beleidigung ansehen, dass du ernsthaft glaubst, ich hätte mich auf die Seite der Sekte geschlagen. Nimm die Waffe runter, Harvey. Du machst dich ja lächerlich.“

„Ich glaube dir kein Wort mehr. Die Alte könnte schon längst hinter Gittern sitzen, wenn du uns das Videoband nicht vorenthalten hättest. Welchen Grund solltest du also sonst haben, uns dieses klitzekleine Mitbringsel zu verschweigen?“

„Ich wollte nicht…“

„Du wolltest nicht, dass der Sekte das Handwerk gelegt wird. Sie haben dich zu einem Mitglied gemacht.“

„Das ist doch Schwachsinn, ich habe den Vertrag mitgebracht. Das zeigt doch…“

„Das zeigt gar nichts! Ein Vorvertrag. Was ist denn mit dem richtigen Dokument? Unter deiner Matratze im Waisenhaus? Oder doch in dem Geheimgang, den du uns verschwiegen hattest?“

Ich öffnete den Mund, um etwas darauf zu sagen, doch sein letzter Kommentar machte mich stutzig. Er hatte mich grundsätzlich kaum ausreden lassen und drehte mir die Worte im Mund herum. Harvey musterte Erik und Jordan kurz aus den Augenwinkeln und wandte sich dann wieder mir zu. Julian redete erneut auf ihn ein.

„Harvey, bitte. Wir können doch in Ruhe darüber reden.“

„Oh nein. Ich hab lange genug still gehalten und mir auf der Nase herumtanzen lassen. Ich hab keine Lust mehr auf ihr Spiel. Wir haben das Band. Das ist alles, was wir brauchen.“

Harveys Blick bohrte sich tief in meinen, als sein Finger zuckte. In dem Moment, als er den Auslöser drückte, schubste Julian mich beiseite, um mich vor der Kugel zu schützen. Ich hörte den Knall und stürzte zu Boden. Meine Knie brannten, doch das war meine geringste Sorge. Julien konnte einen Schrei nicht unterdrücken. Auch er hatte sich auf den Boden fallen lassen, doch das schien nicht die Ursache für seinen Schmerz zu sein. Er hielt sich die Schulter und hatte die Zähne fest zusammengebissen.

„Das ist wohl der passende Zeitpunkt für uns, um zu verschwinden. Harvey, lass deine Freunde am Leben.“

Erik und Jordan waren fluchtartig aus der Wohnung verschwunden und hatten uns zurückgelassen. Ich war auf Julien zugerobbt und wollte seinen Arm untersuchen. Hoffentlich hatte der Schuss ihn nur gestreift. Ich wollte nicht, dass er wegen mir schlimm verletzt wurde.

„Es tut mir so leid. Ich wollte das nicht. Ich wollte nicht, dass wegen mir jemand verletzt wird. Es tut mir leid. Das war keine…“

Absicht. Ich brach meinen Satz in der Mitte ab, weil Julien mich ansah, als wäre ich bekloppt. Ich hatte den Schuss schließlich nicht gelöst. Da Harvey aber keine Anstalten machte, seinem Freund zu helfen, ergriff ich die Initiative.

„Zeig her. Wir müssen dich zum Arzt bringen.“

„Abbey.“

„Tut es arg weh, oder geht es bis zum Krankenhaus?“

„Abbey!“

„Was ist denn? Los, wir müssen uns beeilen!“

„Abbey! Du kannst aufhören. Erik und Jordan sind schon längst zur Tür raus.“

„Wie bitte?“

Statt mir eine Antwort zu geben, erhob Julien sich einfach, klopfte den Staub von seiner Hose und setzte sich an den Küchentisch. Er sah total entspannt aus und ich traute meinen Augen nicht. Ich hatte zwar nicht erwartet, auf seinem schwarzen Pullover Blutflecken erkennen zu können, doch einen Beweis, dass er gerade Harveys Schuss, der auf mich gerichtet war, abgefangen hatte, erwartete ich eigentlich schon. Sein Oberteil war unangetastet und er sah nicht mehr so aus, als hätte er Schmerzen.

„Du hast nicht ernsthaft geglaubt, dass Harvey auf mich gezielt hat, oder?“

„Nein. Aber. Aber ich dachte. Er hat doch auf mich gezielt.“

„Ach Schätzchen. Wir haben einen Weg gesucht, Erik und Jordan aus der Wohnung zu schaffen.“

Die Wahrheit fühlte sich an, als hätte man mir ins Gesicht geschlagen.

„Ihr habt mich reingelegt.“

„Sieht so aus.“

„Wozu?“

„Wir wissen, dass Jordan ein Mitglied der Sekte ist. Matthew hat in seine Polizeiakte Einsicht bekommen, eins und eins zusammengezählt und wir haben den Rest eingefädelt. Das Treffen mit Erik im Café war ein Zeichen, dass wir etwas gegen die Sekte vorhaben. Und heute hat die Abfallbeseitigung sich quasi selber an uns ausgeliefert. Oder warum glaubst du, standen Erik und Jordan mit dem Datenleser für alte Videobänder in der Tür?“

„Das heißt, sie haben gemerkt, was ich aus dem Waisenhaus gestohlen habe. Und jetzt? Sie wissen, wo wir uns aufhalten.“

„Wir müssen hoffen, dass Jordan an die Sekte weiterleitet, dass du ihre Ideale teilst. Dass du nur durch einen Vorwand gegangen bist. Dass du von uns erpresst wurdest, uns aber hinters Licht geführt hast. Uns täuschen konntest. Uns wird nichts passieren.“

„Und warum hab ihr nichts gesagt? Hättet ihr mich nicht einweihen können?“

Julien setzte auch bei dieser Frage auf eine Antwort an, doch nun meldete sich Harvey wieder zu Wort. Er hatte nicht mehr mit mir gesprochen, seit er mich zur Zielscheibe erklärt hatte.

„Warum wir nichts gesagt haben? Warum wir dich angeschwiegen haben? Warum wir dich nicht in unsere Pläne eingeweiht haben. Ist das dein Ernst?“

Er klang richtig wütend.

„Es tut mir leid.“

„Lass es gut sein, Abbey. Ich will dein Gejammer nicht hören. Ich hab dich mehrmals gefragt, was du verheimlichst. Ich hab darauf vertraut, dass du weißt, was du tust. Aber ich hätte nicht gedacht, dass du so egoistisch bist.“

„Nur weil ich meinen eigenen Willen habe, bin ich nicht egoistisch.“

„Nenn mir einen guten Grund dafür, uns nicht in deinen Fund einzuweihen.“

„Ich wollte doch selbst nicht wahrhaben, dass es existiert, okay? Ich hab einfach gehofft, dass das Waisenhaus gründlich durchsucht wird und die Polizei den Raum findet, in dem ich die ganzen Aufzeichnungen gefunden habe. Jedes Kind ist archiviert. Jeder hat eine Nummer bekommen. Ich wollte meinen Namen nicht daneben stehen lassen. Ich war sogar kurz davor, das Band zu zerschneiden, zu verbrennen und zu vergraben, damit ich es niemals zu Gesicht bekomme. Bevor ihr mich dazu zwingt, mich selbst schreien zu hören, reiße ich dir lieber deine Pistole aus der Hand und halte sie mir in den Mund.“

Harvey hielt sie mir entgegen.

„Du kannst es ja hiermit versuchen.“

Ich runzelte die Stirn.

„Platzpatronen.“

Mehr sagte er nicht. Eine angespannte Stille breitete sich zwischen uns aus. Julien ließ sich davon nicht beirren.

„Ernsthaft, Mädchen, du hättest uns davon erzählen sollen. Wir hätten es verstanden.“

„Und dann? Ihr hättet euch das Band angeschaut und mir davon erzählt. Oder man zeigt Ausschnitte davon vor Gericht, die ich mir ansehen muss. Ich will, dass es verschwindet. Ich habe kein Problem damit, wenn die Polizei sich andere Videos anschaut. Aber nicht meins.“

„Und du bist nicht auf die Idee gekommen, uns wenigstens von dem Archiv zu erzählen?“

„Ich konnte einfach nicht.“

Ich senkte den Blick. Noch nie hatte ich mich so geschämt. Juliens vorwurfsvoller Blick war unerträglich. Er erhob sich und seufzte.

„Ich hab das Video gesehen. Deshalb fällt es mir ziemlich schwer, richtig sauer zu sein, auch wenn ich dir am liebsten den Kopf abreißen würde. Wir hätten schon längst in einer Verhandlung sitzen können und die Sekte wäre gestürzt.“

Er küsste mich auf die Stirn und seufzte erneut.

„Ich muss mal Marie aus ihrem Versteck holen. Sonst macht sie sich noch Sorgen. Ach und Abbey? Mach nie wieder solchen Mist. Rück lieber jetzt mit der Sprache heraus, sonst bist du wirklich noch unten durch bei mir.“

Er zwinkerte mir zu und ließ mich dann mit Harvey alleine in der Küche stehen. Verwundert sah ich ihm nach. Er hatte das Video gesehen und keinen Ton darüber verloren. Er hatte mir sogar verziehen, dass ich geschwiegen hatte. Viel besser fühlte ich mich jedoch noch immer nicht. Mein schlechtes Gewissen nagte an mir. Und Harveys Schweigen. Ob er seine Wut auch so schnell hinunterschlucken konnte wie Julien?

„Harvey?“

Er stand mit dem Rücken zu mir und blickte stur aus dem Fenster. Seine beiden Hände waren zu Fäusten geballt. Ich legte die Pistole auf den Tisch und trat hinter ihn. Auch wenn ich es nicht für möglich gehalten hätte, spannte er sich noch mehr an, als er meine Nähe spürte.

„Ich glaube, du ahnst gar nicht, wie sehr ich mir einen Moment lang gewünscht hätte, dass die Waffe mit echter Munition geladen gewesen wäre. Wie gern ich abgedrückt hätte, als du direkt in meinem Visier warst.“

„Es tut mir leid.“

„Was tut dir leid? Dass deine Lüge aufgeflogen ist? Dass du geschwiegen hast, obwohl du mir das Gegenteil versprochen hattest?“

„Ich wollte das Band nicht besitzen.“

„Ich frage mich wirklich, was dir wohl durch den Kopf gegangen ist, als ich dich als Schlampe beschimpft habe, die sich nicht an Kompromisse hält. Ich bin nur kurz aus der Wohnung abgehauen und habe bereut, was ich gesagt habe. Ich wollte dir keine falschen Vorwürfe machen. Doch die ganze Zeit über lag ich richtig. Du hast es tatsächlich geschafft, mich zu täuschen. So lange die Unschuldige zu spielen, bis ich es dir geglaubt hab.“

„Du musst versuchen, mich zu verstehen.“

„Das tue ich. Wirklich. Aber ich kann es einfach nicht begreifen.“

Er drehte sich zu mir herum. Zwischen uns waren nur knappe zehn Zentimeter Platz und ich konnte seinen Atem auf meiner Haut spüren. Er strich mir eine Haarsträhne hinter mein Ohr. In seinen Augen konnte ich die blanke Enttäuschung ablesen und sie schlug auf mich über. Auch ich war von mir enttäuscht.

„Ich hätte nicht gedacht, dass ihr so verständnisvoll sein könntet. Ich hatte Angst, dass ihr mich mit dem Video konfrontieren würdet.“

„Du hältst uns noch immer für Unmenschen.“

„Nein. Und das weißt du genauso gut wie ich.“

Während er nickte, biss er sich leicht auf die Unterlippe. Ich starrte auf seinen Mund, war davon wie gefesselt und im nächsten Moment lagen seine Lippen auf meinen. Fordernder als sonst. Es war keine Versöhnung, doch er legte viel Gefühl in unseren Kuss. Ich spürte, dass er mir nicht verziehen hatte, doch er war dabei, mein Verhalten zu verarbeiten. Der Kuss wurde immer inniger. Verzweiflung mischte sich hinein. Mein Herz schlug schnell. Harvey wühlte seine Hand durch meine Mähne und presste mich mit dem Griff in meinem Nacken näher an ihn. Ich bereute, dass ich gelogen hatte. Ich bereute, dass ich geschwiegen hatte. Es tat mir leid, dass ich die Männer enttäuscht hatte, aber ich genoss Harveys Nähe. Ich hätte gern noch länger etwas davon gehabt, doch viel zu bald löste er sich wieder von mir. Leicht rang er nach Atem, doch davon ließ er sich nicht aus der Ruhe bringen.

„Ich habe gesagt, dass du egoistisch warst und das sehe ich noch immer so. Und jetzt bin ich egoistisch. Das Band wird nicht gelöscht. Es wird nicht zerstört und nicht mehr versteckt. Wir werden es bei der Polizei aufgeben und vor Gericht zeigen. Es kann sein, dass es sich nicht vermeiden lässt, dass du Teile davon siehst. Aber wenn es darum geht, meine Ziele zu verfolgen, muss ich auch egoistisch sein.“

Bevor ich ihm antworten konnte, um meinen Protest zu äußern, hauchte er mir erneut einen Kuss auf die Lippen und drängte sich dann an mir vorbei. Er griff sich den Laptop und das Zubehör und schloss sich im Arbeitszimmer ein. Perplex ließ ich mich an der Küchenzeile hinunter gleiten und setzte mich auf den Boden. Meine Finger fuhren wie fremd gesteuert zu meinen Lippen und suchten nach dem Kuss, der mir die Sprache verschlagen hatte. Keine Liebe lag darin, doch es war der beste gewesen, den wir je ausgetauscht hatten.

 

 

 

Ich stand vor dem Spiegel und betrachtete mein Aussehen. Der Hosenanzug sah nicht wirklich gut an mir aus, doch ich wusste nicht, was ich sonst zu der Verhandlung hätte anziehen sollen. Ich wollte, dass man mich ernst nahm. Ich wollte, dass man mir glaubte und dann konnte ich schlecht in den ranzigen Klamotten auftauchen, die ich auf dem Flohmarkt gefunden hatte. Bis auf Matthew hatten mich bei der Polizei zunächst alle angesehen, als wäre ich von allen guten Geistern verlassen gewesen. Es hatte eine Menge Überzeugungsarbeit gekostet, einen Durchsuchungsbefehl für das Waisenhaus genehmigt zu bekommen, doch als Harvey auf dem Revier mein Videoband vorführte, änderten sich die Mimiken der Polizisten. Ich war zwar aus dem Raum verschwunden, um meine eigenen Schreie nicht hören zu müssen, doch ich sah das Mitleid in den Augen der Kripo. Und heute war der finale Tag gekommen. Bereits gestern hatte eine Verhandlung stattgefunden, die sich direkt auf den Strafbestand der Sekte als Organisation richtete. Heute standen einzelne Leute auf der Anklageliste.

Mein Blick glitt ein letztes Mal an meinem Spiegelbild hinab, dann drehte ich mich weg und schloss mich meinen Mitbewohnern an, die bereits auf mich warteten.

 

 

Es war wie eine Massenabfertigung. Ein Angeklagter nach dem anderen wurde verhört und hatte ähnliche Antworten zu der Sekte, wie sie in Lewis Notizen standen. Man merkte, wie die Richter vorne langsam ihre Geduld verloren. Sie brannten genauso wie ich darauf, endlich einen Sinn hinter der Kinderschänderei zu erkennen. Jeder Befragte stand auf der Mitgliederliste im Büro der Alten. Sie hatten alle mit Strafen zu rechnen und das wussten sie. Eine psychische Restabilisierung war von Nöten. Die meisten erhielten Therapien und Kliniken als Bewährungsauflage, manche würden nicht mehr so schnell den Sonnenaufgang von der anderen Seite ihres Zellenfensters betrachten können. Die Verhandlungen entwickelten sich zu einem Skandal, den nach und nach immer mehr Journalisten verfolgten. Die Zeitungen schrieben darüber, das Fernsehen berichtete. Wir hatten Verbrechen aufgedeckt, die für den normalen menschlichen Verstand schwer zu begreifen waren. Man hatte die Alte und ihren Mann dabei zusehen lassen, wie die Mitglieder ihrer Sekte in Handschellen abgeführt wurden. Mit jedem Verurteilten wurde die Aufseherin rasender. Sie und ihr Mann saßen bei jeder Verhandlung auf der Anklagebank, doch sie wurden erst zum Schluss vernommen. Zuvor wurden noch die beiden Enkel in den Zeugenstand gerufen und ich erwartete, kleine Kinder vor mir zu sehen, als sich die Flügeltür zum Gerichtssaal öffnete. Ich traute meinen Augen kaum, als ich zwei Jugendliche entdeckte. Lewis und Lynette. Mein Mund klappte auf und ich sah vermutlich etwas dümmlich aus, doch das war mir egal. Jetzt verstand ich, warum die beiden eine besondere Stellung in der Sekte hatten. Nun wusste ich auch, warum man Lewis verbarg. Er wusste zu viel. Er war eingeweiht. Und er war instabil. Ich kniff die Augen zusammen. Ich krallte mich in meinen Sitz, während erst Lynette ihre Aussage machte und zuckte zusammen, als Lewis sich in hastigen Schritten auf den Weg zum Vernehmungspult machte. Ich kaute auf meiner Unterlippe herum. Ich wollte, dass er erzählte. Ich hoffte, dass der eigene Enkel der Alten endlich offenkundig darüber sprach, warum die Sekte auf arme Kinder einstach. Marie griff meine Hand und drückte sie leicht, als ich vor Schreck zusammenzuckte. Ich hatte nicht mit ihrer Berührung gerechnet, doch ich fand es süß von ihr, dass sie mich beruhigen wollte. Lange konnte sie meine Aufmerksamkeit allerdings nicht auf sich ziehen. Ich musste den Prozess verfolgen.

Lewis hatte die Lippen fest aufeinander gepresst, als er von der Staatsanwaltschaft verhört wurde. Man nahm ihn ins Kreuzvisier und ich musste mir auf die Zunge beißen, um nicht gönnerhaft loszulachen. Er war nervös und auch die Richter merkten, dass es nicht nur die Aufregung vor dem Prozess war, die ihn verunsicherte. Er verschwieg etwas. Sie durften nicht aufhören, Fragen zu stellen. Sie mussten ihn immer weiter löchern und aus ihm herauskitzeln, was wir alle hören wollten. Doch er blieb standhaft. Ich hätte nicht gedacht, dass er es aushalten würde, doch er gab tatsächlich nicht nach. Sein Blick wanderte zu seiner Großmutter als er sich wieder setzen durfte und die Verhandlung unterbrochen wurde. Man hatte zwar feststellen können, dass die Aufzeichnungen in den Heften zu Lewis Handschrift passten, doch man hatte noch immer nicht geklärt, was damit gemeint war. Es war zum verzweifeln.

 

Ich stand mit dem Rücken zur Wand und hatte die Augen geschlossen. In fünf Minuten sollte der Prozess fortgesetzt werden, doch meine Nerven lagen blank. Die Alte und ihr Mann waren an der Reihe, doch ich bezweifelte, dass sie eine vernünftige Aussage abliefern würden. Geschweige denn ein Geständnis. Wir hatten so viel Hoffnung in den Prozess gesetzt, doch ich begann zu zweifeln. Mit keinem Wort waren die Videobänder erwähnt worden. Hatte man sie bei den Ermittlungen vernichtet? Hatte die Polizei bei der Hausdurchsuchung nichts mehr gefunden? Hatte man mein Video verschwinden lassen? Ich stütze meinen Kopf in meine Handflächen. Ich wollte die Alte hinter Gittern wissen. Ich wollte, dass es bald ein Ende nahm.

Eine Durchsage schallte durch den Gang. Die Verhandlung ging weiter. Die Menschenmenge drängte sich wieder in den Gerichtssaal. Ich reihte mich in die Schlange und hielt nach den Männern Ausschau. Eigentlich hatte ich vorgehabt, mich auf meinen alten Platz zu setzen, doch dieser war nicht mehr frei. Eine blonde, schlanke Frau saß darauf und unterhielt sich angeregt mit Julien. Ich hatte sie noch nie gesehen, doch mein Bauchgefühl sagte mir sofort, dass sie nichts Gutes im Sinn hatte. Bei der Diskussion mit dem Muskelprotz schien es sich nicht gerade um einen freundlichen Smalltalk zu handeln. Ich schritt auf die beiden zu, wollte neben Marie Platz nehmen wie zuvor. Die Fremde drehte sich zu mir um und mir fiel es wie Tomaten von den Augen. Die Ähnlichkeit war nicht zu übersehen. Maries Mutter blickte mich abfällig an, erhob sich ohne ein Wort von meinem Stuhl und machte sich mit eiligen Schritten davon aus dem Gerichtssaal. Fragend blickte ich erst ihr hinterher, dann musterte ich Julien. Er sah besorgt aus. Gedankenverloren strich er Marie über den Arm. Ein Unheil war im Anmarsch. Ich schluckte und setzte mich. Die Tür zum Saal schloss sich, die Richter nahmen vorne Platz und wandten sich nun der Aufseherin des Waisenhauses zu.

 

 

Genugtuung durchströmte mich, als die Alte sich immer tiefer in ihr Lügennetz verstrickte und ihre Aussage immer unglaubwürdiger wurde. Kein Richter und keiner der Staatsanwälte ließ locker. Immer mehr Beweisstücke wurden zu Tage gebracht. Die Kündigung des Kochs und das Protokoll dessen Verhörung bei der Polizei. Das Betäubungsmittel mit den Fingerabdrücken der Alten und von Lynette. Das Messer, das ich bei meiner ersten Flucht aus dem Haus an mich gerissen hatte. Die Hefte mit Lewis Notizen. Mit ihrem Mann machte man das gleiche. Er berief sich auf sein Recht zu schweigen und sagte kein Wort. Nicht einmal, um sich zu verteidigen. Also konzentrierte sich das Gericht auf die Frau. Man nahm jeden Satz, der ihren Mund verließ, genauestens unter die Lupe. Der Rechtsanwalt der Alten wollte gerade einen Appell an das Gericht ausarbeiten, warum seine Mandanten nicht verurteilt werden konnten, da wurde er in seiner Rede unterbrochen. Vor der Tür des Gerichtsaals brach ein Streit aus. Eine laute Diskussion, ein Schrei, ein Schlag und dann wurde die Tür aufgestoßen. Maries Mutter stürmte herein, gefolgt von zwei Polizisten, die versuchten, die Frau aufzuhalten. Sie wehrte sich gegen die harten Griffe auf ihrem Oberarm und riss sich aus der Gewalt der Beamten.

„Ich will meine Tochter wieder!“

Ihr Schrei hallte durch die kahlen Wände und es breitete sich ein Gemurmel im Saal aus. Die Kameras der Journalisten waren auf die Blondine gerichtet. Der oberste Richter rief schnell zur Ruhe auf und bat die Frau, an das Vernehmungspult zu treten und zu erklären, was sie mit ihrer Aussage meinte. Maries Mutter strich sich eine Haarsträhne hinter das Ohr, richtete ihr Kleid, das bei der Auseinandersetzung mit den Polizisten leicht verrutscht war und ging der Aufforderung des Richters nach. Sie musste ihren Namen und ihre Beziehung zu den Angeklagten angeben und durfte dann eine Aussage ablegen.

„Man hat meine Tochter entführt. Ich hab sie in die Obhut dieser guten Frau gegeben, weil ich wusste, dass es ihr dort gut gehen würde und man hat sie aus ihrem Kinderbettchen gerissen.“

„Und warum bringen Sie das nicht zur Anzeige, statt diese Verhandlung zu unterbrechen.“

„Weil ich wusste, dass meine Kleine hier sein würde. Sie sitzt im Publikum. Die Männer, die mein Kind entführt haben, haben die Aufseherin angezeigt. Was ist denn das für eine Moral?“

„Sie wissen schon, dass die einen Anschuldigungen nichts mit den anderen zu tun haben, oder? Und Sie wissen auch, dass hier eigentlich ein dringlicher Tatbestand geklärt werden muss?“

„Ich will mein Kind nicht in den Armen dieser Verräter wissen!“

„Passen Sie mit ihren Anschuldigungen auf. Sie stehen immerhin vor dem Bundesverfassungsgericht.“

„Ist Kindesentführung denn ein Kavaliersdelikt?“

Die Richter warfen sich verstohlene Blicke zu und schienen einen Moment lang nicht wirklich zu wissen, wie sie den eigentlichen Prozess am besten fortsetzen könnten. Ein Staatsanwalt ließ sich von der allgemeinen Verwirrung allerdings nicht anstecken. Er ergriff das Wort.

„Mich würde mal interessieren, warum Sie ihre Tochter eigentlich in ein Waisenhaus bringen, wenn die Kleine doch offenbar nicht verwaist ist. Immerhin stehen Sie vor uns.“

„Ich wollte nur das Beste für sie.“

„Indem Sie das Kind alleine lassen?“

„Sie war doch nicht alleine. Am Anfang war ich ja noch bei ihr, aber ich konnte ihr nicht die Ausbildung geben, die sie verdient hat.“

„Ein Waisenhaus ist keine Schule.“

„Il Coltello schon.“

Die Alte atmete scharf ein. Die Blondine sah zu Boden. Sie schien begriffen zu haben, dass sie zu viel gesagt hatte. Die Richter gaben dem Staatsanwalt ein Zeichen, dass er die Vernehmung fortsetzen sollte.

„Wissen Sie denn, was ‚Il Coltello’ heißt?“

Sie schwieg.

„Wissen Sie, was eine einfache Übersetzung ins Deutsche aussagt?“

Sie starrte zu Boden.

„Das Messer. Sagt Ihnen das etwas?“

Sie rührte sich nicht mehr. Der Staatsanwalt erhob sich von seinem Platz, holte das Messer vom Pult mit den Beweisstücken und hielt es der blonden Frau unter die Nase.

„Haben Sie das schon einmal gesehen? Die Klinge mit den Widerhaken? Eine Waffe, die gefertigt wurde, um den Gegner absichtlich brutal zu verletzen und zu zeichnen. Sind Sie sicher, dass die Erziehung in diesem Waisenhaus so sinnvoll ist?“

„Ich bin doch selbst damit groß geworden?“

„Und deshalb wollen Sie, dass mit Ihrer Tochter das gleiche passiert?“

„Mir hat es nicht geschadet.“

Der Staatsanwalt lächelte und legte das Messer zurück auf seinen Platz.

„Was hat Ihnen nicht geschadet?“

Erschrocken schoss der Kopf der jungen Mutter in die Höhe.

„Il Coltello ist das Beste, was mir je passiert ist. Ich wollte, dass meine Tochter auch erleben kann, was es heißt, gerechtfertigt auf dieser Welt zu sein.“

Es wurde still im Gerichtssaal. Ich hielt die Luft an. Mein Herz raste in der Hoffnung, dass sie noch mehr verraten würde.

„Sie finden es richtig, Menschen, vor allem Kinder, zu misshandeln, dem Tod auszusetzen und sie mit Narben zu schänden, die beim Überleben immer an die Schmerzen erinnern werden?“

„Gerade das macht das Leben doch erst lebenswert. Wenn man weiß, dass man sich seine Existenz verdient hat. Dass man nicht zu schwach ist, um sich als Erwachsener durchzusetzen. Nur die Starken kommen weiter.“

Mir wurde schlecht. Ihre Rede klang sehr nach den Idealen des Nationalsozialismus. Wie oft wollten Menschen ihre Gewalt mit einer verkorksten Auslegung von Darwins Theorie der natürlichen Auslese begründen? Nur die Starken kommen weiter? Der oberste Richter runzelte die Stirn und warf seinen Kollegen erneut einen skeptischen Blick zu.

„Sie wollen ihre Tochter auf ihr zukünftiges Leben vorbereiten, indem Sie zulassen, dass sie Schmerzen leidet? Sie riskieren freiwillig, dass ihr Kind stirbt.“

„Sie würde es zu schätzen wissen. Sie würde es verstehen, wenn sie vor der gleichen Entscheidung stünde wie ich damals.“

„Wenn?“

„Ich werde nicht zulassen, dass sie ein uneheliches Kind gebärt. Sie soll unsere Linie der Sünde nicht fortsetzen.“

Ein leises Husten im Publikum unterbrach die unheimlich Stille. Ich bekam eine Gänsehaut. Tränen standen mir in den Augen. Eine Richterin ergriff das Wort.

„Verstehe ich Sie richtig? Sie sind der Meinung, dass uneheliche Kinder ihr Recht auf Leben erst verdienen müssen? Die Sekte, der Sie offenbar angehören, gründet sich also auf eine Mischung aus Vergebung der Sünden und einer Art Sozialdarwinismus?“

Die Frau antwortete nicht.

Il Coltello ist eine Gemeinschaft der Rechtsschaffung. Ganz oben stehen die Mutter der Güte und der Vater des Erbarmens. Wer sich bekennt, steht unter ihrer Obhut. Seit Jahrhunderten bietet die Gemeinde eine Stätte der Zuflucht für Kinder in Not. Il Coltello räumt ihnen Recht ein, nicht nur vor dem Gesetz. Sie kennen diese Schwüre, nehme ich an. ‚Kinder in Not’ - Sind das die unehelichen Kinder? Die Menschen, die Sie als Sündiger bezeichnen? ‚Eine Stätte der Zuflucht’ - Soll das der Foltertisch sein, auf dem die Kleinen festgebunden werden, damit sie sich bei den Messerstichen nicht wehren können? ‚Die Mutter der Güte und der Vater des Erbarmens’ - Sind das die beiden Aufseher?“

Sie nickte und bekam die Erlaubnis, sich auf den letzten freien Platz im Publikum zu setzen. Der Mann neben ihr rückte leicht auf die Seite. Offenbar war es ihm unangenehm, neben der Blondine zu sitzen. Ich konnte es ihm nachempfinden. Marie ließ die Augen nicht von ihrer Mutter, klammerte sich an ihren Vater. Ich strich ihr sanft über den Kopf und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Sie zwang sich ein Lächeln auf und verbarg dann ihr Gesicht wieder an der Schulter ihres Vaters. Er hielt sie fest.

Der oberste Richter hatte nun wieder die Alte und ihren Mann im Visier.

„Wollen Sie noch etwas dazu sagen?“

Der Mann schwieg. Ich zweifelte daran, dass er wirklich sprechen konnte. Auch seiner Frau schien es die Sprache verschlagen zu haben. Sie ließ ihren Blick über die Menschenmenge schleifen und blieb an mir hängen. Hass legte sich in ihre Augen. Sie sprang auf. Ihr Stuhl kippte nach hinten um, als sie sich erhob und wild gestikulierte. Ihre Finger zeigten auf mich.

„Du! Ich wusste schon immer, dass du Böse bist. Ich wusste, dass es ein Fehler war, dich leben zu lassen!“

„Bitte beherrschen Sie sich. Nehmen Sie wieder Platz.“

„Sie hat es nicht verdient, auf dieser Welt zu sein. Sie hat gelogen, betrogen, mich hinters Licht geführt, ein Kind aus meiner Obhut verschleppt und mich bestohlen. Sie hat mich vor Gericht geführt. Mich und meine Enkel. Sie hat mein Lebenswerk ruiniert.“

„Wir haben genug gehört.“

Der Richter rief ein paar Polizisten zu sich und forderte diese auf, die Alte abzuführen, bevor sie noch handgreiflich werden konnte. Die Frau wehrte sich gegen die Handschellen.

„Nein! Ich will, dass das jetzt zu Ende gebracht wird. Ich will, dass Abigail Wilson nicht ungestraft davonkommt. Ich hab es ihrem Vater versprochen. Ich habe geschworen, jedes Kind in meinem Haus zu erziehen und auf den richtigen Pfad zu führen. Ich hatte sie fast soweit. Ich hatte es fast geschafft und sie hätte mir geglaubt. So wie alle anderen. Bald hätte sie einen Vertrag unterschrieben.“

„Warum sind Sie so versessen darauf, ihren Willen durchzusetzen? Wie kamen Sie nur auf die Idee, nur noch nach Ihren eigenen Gesetzen und Regeln zu handeln. Das ist Pseudomoral und kann vom Gericht nicht geduldet werden.“

„Sie haben es nicht anders verdient. Wer keinen Schmerz aushalten kann, wer sich nicht den Starken anschließt, wird niemals auf dieser Welt bestehen können. Man muss das Eisen schmieden, solange es noch heiß ist.“

 

Der Prozess wurde erneut unterbrochen. Die Anführer der Sekte wurden abgeführt. Juliens Exfrau wurde ebenfalls in Untersuchungshaft gebracht. Man führte einen Zeugen nach dem anderen ab, der in Verbindung mit der Sekte stand und der Saal leerte sich so langsam. Die ersten Journalisten verließen bereits den Saal, denn sie hatten für diesen Tag genug Material für ihre Berichte gesammelt. Die Geständnisse hatten gesessen. Mir war noch immer leicht schlecht, doch ich vergaß meine Sorgen darüber, als ich von den Richtern in den Zeugenstand gerufen wurde. Harvey warf mir einen Blick zu, den ich nicht deuten konnte. Er wirkte nicht begeistert, als mein Name durch den Raum schallte. Hatte ich denn etwas zu befürchten?

Ich erhob mich von meinem Platz und machte mich auf dem Weg zum Vernehmungspult. Ich stützte mich auf den Tisch, als meine persönlichen Angaben überprüft wurden.

„Abigail. Sie wissen, dass wir die Aufzeichnung gesehen haben, die Sie aus dem Waisenhaus mitgenommen haben. Sie wissen auch, dass alle anderen Beweisstücke auf ihre Echtheit überprüft worden sind. Und Sie haben gesehen, worauf der Prozess gegen Il Coltello hinausgelaufen ist. Wir können Ihnen versichern, dass alle Anhänger dieser Sekte ihre gerechte Strafe bekommen.“

„Das ist toll, ich bin froh, dass meine Aussage helfen konnte. Aber warum wurde ich erneut aufgerufen?“

Der Richter gab dem Polizist, der an der Tür stand, ein Handzeichen. Der Mann näherte sich mir und hielt seine Handschellen bereit.

„Es tut mir leid. Auch Sie werden nicht um die Anklagebank herumkommen. Gegen Sie liegen mehrere Anzeigen vor. Kindesentführung, vorsätzliche Täuschung und Urkundenfälschung. Der Termin mit Ihrem Pflichtverteidiger steht bereits, damit wir den Prozess bereits morgen fortsetzen können.“

Kein Protest kam über meine Lippen. Mein Atem stockte. Ich war geschockt. Wie gelähmt ließ ich mir die Handschellen vom Polizisten anlegen und mich mitführen. Ich hörte, wie Julien aufgerufen wurde. Ich drehte mich um und sah Maries verzweifelten Blick. Wir hatten gewusst, dass auch wir manchmal gegen das Gesetz verstießen, um unser Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Wir wussten, dass auch unser Handeln Konsequenzen haben würde. Aber wir hatten nicht damit gerechnet, selbst hinter Gittern zu landen, wenn wir doch eigentlich nur versuchten, das Richtige zu tun.

 

 

 

 Ich hatte den Richter überzeugen können, mir das Videoband über meine Qual nicht ansehen zu müssen. Ich wusste schließlich nicht, ob ich die Bilder verkraftet hätte. Ich versuchte, so eindringlich wie möglich davon zu erzählen, wie sehr ich unter meiner Vergangenheit gelitten hatte. Wie mein Leben den Bach hinunter ging, weil ich geflohen war. Dass ich keine Zukunftsperspektive hatte, weil ich versteckt lebte. Ich hatte immer Angst, gefunden zu werden, auch wenn ich meine Kindheit verdrängt hatte und mich nicht erinnern konnte, wovor ich eigentlich weglief. Die Sekte hatte eben nicht nur Narben auf meiner Haut hinterlassen.

Bereits am Vortag hatte ich erlebt, dass die Richter des Verfassungsgerichts nicht vorschnell urteilten und ihre Fälle streng bearbeiteten. Harveys Verhör folgte meiner Aussage. Auch gegen ihn liefen Ermittlungen wegen Urkundenfälschung, Kindesentführung und Diebstahl, doch bei ihm kamen noch Verbrechen hinzu, von denen ich nichts gewusst hatte. Er hatte offenbar ein Auto aufgebrochen und sämtliche Wertgegenstände daraus entwendet. Er hatte einer alten Dame die Handtasche entrissen und die Geldbörse leer zurückgelassen. Auch Harvey brachte seine Vergangenheit in der Sekte zur Sprache. Er erzählte wie bei der ersten Verhandlung von den Seminaren, die er damals im Waisenhaus besuchen musste. Er berichtete, wie er Julien kennen lernte und bestand darauf, dass er nie etwas Schlechtes im Sinn hatte. Viel Überzeugungskraft lag in seinen Worten und man sah den Richtern und den Staatsanwälten deutlich an, dass sie von seiner Aussage beeindruckt waren. Er wusste, wie er sich präsentieren musste.

Doch dann war Julien an der Reihe. Ich erschrak, als der Staatsanwalt die Anklage vortrug. Gegen den Vater wurde der Vorwurf erhoben, einen Mord begangen zu haben. Die einzigen Spuren führten zu ihm und er geriet in eine Zwickmühle. Anders als bei mir und Harvey konnte Julien sich in seinem Handeln auf seine Vergangenheit stützen. Er gab zwar an, dass Marie sein ein und alles war und er zu ihrem Schutz Himmel und Hölle in Bewegung bringen würde, doch er bestand darauf, dass er kein Mörder war. Ich biss mir auf die Lippe. Bei unserer ersten Begegnung, als die Männer bei mir eingebrochen waren, hatte ich sie belauscht. Ich hatte gehört, wie sie von einer alten Frau sprachen, die erschossen wurde. Julien wollte das nicht. Ich hatte die Männer zwar für abgebrüht gehalten, doch ich wusste, dass sie keine Unmenschen waren. Ich wusste, dass sie nur die Sekte stürzen wollten. Mir war klar, dass Julien nur Marie schützen wollte und für sie da sein musste. Mir schossen Harveys Worte durch den Kopf. Ich war egoistisch. Ich hatte den Männern mein Videoband vorenthalten und dabei nur an mich gedacht. Ich musterte Julien, dem der Schweiß auf der Stirn stand. Der Staatsanwalt hatte ihn auf dem Kicker. Es sah nicht gut für ihn aus. Marie schluchzte. Sie wurde von einer Sachbearbeiterin des Jugendamts getröstet. Man hatte ihr gesagt, dass sie die Verhandlung nicht mit ansehen musste. Man wollte nicht, dass sie darunter litt, ihren Vater verurteilt zu sehen. Ich wollte ihr die Tränen von der Wange wischen. Ich wollte aufstehen, um sie im Arm zu halten. Ich wollte ihr helfen. Doch es gab nur eine Möglichkeit, wie ich etwas gegen ihre Verzweiflung tun konnte. Ich musste dafür sorgen, dass die Kleine nicht getrennt von ihrem Vater aufwachsen musste. Ich musste endlich aufhören, egoistisch zu sein.

 

 

 

 

 

Wo die Sonne nur abgedunkelt scheint

Die Schlüssel klapperten in der Tür, als man meine Zelle aufsperrte. Das freundliche Gesicht einer jungen Wärterin spitzte herein, als sie mir mein Abendessen brachte.

„Lass es dir schmecken, Abbey.“

„Danke.“

Und schon war sie wieder verschwunden. Die Brotscheiben und die Bratwürste rochen herrlich und ich ließ den Teller nicht lange unangetastet auf dem Tisch stehen. Ich war froh, dass die Gerüchte von Brot und Wasser nicht zutrafen und ich auch etwas Anständiges vorgesetzt bekam. Mittags half ich selbst in der Küche aus, um mir ein bisschen Geld zu verdienen, damit ich mir etwas Neues zum Anziehen leisten konnte. Viel verdiente man im Gefängnis nicht pro Stunde, doch ich fühlte mich gut, wenn ich nicht den ganzen Tag abgeschottet in meiner Zelle verbringen musste.

 

Es wurde spät und ich lag auf meinem Bett. Ich musterte die Kerben in der Wand. Wer auch immer vor mir diese Zelle bewohnt hatte, schien die Tage mitgezählt zu haben. Ich ließ meine Finger über die Rillen gleiten und spürte den rauen Anstrich unter meinen Fingern. Wie jeden Abend zählte ich die Kerben. 1389. Mein Vorgänger hatte fast vier Jahre lang diese Zelle bewohnt. In meinen ersten Tagen hatte ich noch Mitleid mit ihm, doch ich hatte ihn oder sie mittlerweile um fast drei Jahre überholt. Auch wenn man wegen meiner Vergangenheit das Strafmaß gelindert hatte, wurde ich zu vierzehn Jahre Freiheitsstrafe verurteilt. Man hatte mir geglaubt, dass ich den Mord begangen hatte, weil ich meine Fingerabdrücke auf Juliens Waffe hinterlassen hatte, als er mich damals trainierte und ich kein Alibi vorzuweisen hatte. Dafür, dass ich in Wirklichkeit unschuldig war, musste ich zwar eine hohe Strafe hinnehmen, doch ich bereute nicht, dass ich die Schuld auf mich genommen hatte. Ich wusste, dass ich Marie und Julien dadurch glücklich machen konnte. Es war gut, dass ich den Mord auf mich nahm. Ich hätte es mir nie verziehen, wenn ich anders gehandelt hätte.

 

 

Ich saß zu der vereinbarten Zeit im Besuchsraum und wartete auf meine Ablenkung. Nicht lange ließen die beiden auf sich warten. Ein Polizist öffnete die Tür und erlaubte Julien und Marie den Eintritt. Ich schloss die beiden in die Arme und hielt Marie auf eine Armlänge Abstand.

„Es ist unglaublich, wie du gewachsen bist.“

„Du hast mich doch erst vor zwei Wochen gesehen.“

„Und immer wieder habe ich das Bild von der kleinen Marie im Kopf, die ich so lieb gewonnen hab.“

Sie nahm mich in den Arm und drückte mich fest.

„Ich hab dich auch lieb.“

Mir standen Tränen in den Augen. Ich war so stolz auf mein Mädchen. Sie war wie eine kleine Schwester für mich und es freute mich, sie so glücklich zu sehen. Sie war erwachsen geworden und hatte bereits ihren Schulabschluss in der Hand. Auch in Juliens Augen konnte ich Stolz glänzen sehen.

Ich wusste, dass ich die richtige Entscheidung getroffen hatte. Mit Vorstrafe hätte Julien niemals das Sorgerecht zugesprochen bekommen. Im Gefängnis hätte er sich nicht um sie kümmern können.

Auch der Muskelprotz drückte mich fest. Jeden Monat kamen die beiden mich ein- oder zweimal besuchen und berichten mir vom Leben außerhalb meiner Zelle. Die Besuchszeiten versüßten mir immer meinen Tag und hielten mich davon ab, vor Einsamkeit durchzudrehen.

Auch Matthew hatte mir ab und zu einen kurzen Besuch abgestattet, doch er nahm sich nie so viel Zeit für mich wie die kleine Familie, die gerade vor mir saß.

„Wie geht es Harvey?“

Zwei Augenpaare lagen auf mir. Meine Besucher wussten nicht, was sie auf meine Frage antworten sollten.

„Kleiner Scherz.“

Ich wollte nie wissen, was Harvey trieb. Seit er nach einem Jahr aus der Haft entlassen wurde, hatte er sich nicht bei mir blicken lassen. Nie. Kein Brief, kein Anruf, kein Besuch. Marie und ihr Vater wussten, dass es mich verletzte und wir hatten seit Jahren nicht mehr über ihn gesprochen. Ich wusste selbst nicht, warum ich das Thema ausgerechnet heute anschnitt. Vielleicht weil ich letzte Nacht von ihm geträumt hatte? Es war egal. Er war egal.

Ich musterte Julien und Marie. Etwas war anders als sonst. Sie schwiegen. Sonst war das Mädchen stets sofort mit Neuigkeiten aus der Schule, von ihren Freunden und ihren Nachbarn losgeschossen. Doch nun kaute sie auf ihrer Unterlippe herum. Auch Julien nutzte nicht die Gelegenheit, um von seiner Arbeit zu erzählen.

„Was ist hier los? Sonst kommt ihr mit Hummeln im Hintern zu mir und heute werde ich totgeschwiegen?“

„Es tut mir leid. Ich muss dir etwas beichten.“

Ich zog die Stirn in Falten. Das hörte sich nicht gut an. Marie sah Hilfe suchend zu ihrem Vater. Er nickte ihr aufmunternd zu.

„Ich weiß, ich hätte dir schon viel früher davon erzählen sollen und es tut mir leid, dass ich so lange nichts gesagt habe. Ich wusste einfach nicht, wie ich das Thema am besten ansprechen sollte.“

„Abbey wird dir schon nicht den Kopf abreißen, Schätzchen.“

Ich lächelte. Julien hatte Recht.

„Na schön. Ich habe ein Stipendium in Yale bekommen.“

„Das ist doch großartig! Warum glaubst du, dass ich mich nicht für dich freue? Du meine Güte, das ist doch der absolute Wahnsinn. Ich wusste, dass du ein kleines Genie bist.“

„Wir werden wegziehen.“

„Komm her.“

Ich stand auf und schloss das Mädchen in die Arme.

„Du hast so lange auf diese Chance hingearbeitet. Du hast dich so sehr angestrengt und bist eine von ganz wenigen, die für ein so wertvolles Stipendium überhaupt in Erwägung gezogen werden. Wie sollte ich dir böse sein, wenn du mich doch so stolz machst?“

„Wir haben bereits eine Wohnung gefunden. Unser Flug geht in drei Tagen. Heute ist das letzte Mal, dass wir dich besuchen kommen, bevor wir nach Amerika ziehen.“

„Wie bitte?“

„Es tut mir leid. Ich weiß, ich hätte viel früher was sagen sollen und Dad hat auch gesagt, dass ich es nicht zu lange vor dir geheim halten soll, aber ich konnte dich einfach nicht enttäuschen.“

Diese Nachricht setzte mir mehr zu, als ich nach Außen preisgab. Ich zwang mich selbst, ein ehrliches Lächeln zu zeigen und in meine Stimme keine Trauer zu legen.

„Ich werde euch so vermissen. Aber ich würde euch niemals aufhalten wollen. Ich bin nicht enttäuscht von dir. Ich bin stolz.“

Sie umarmte mich fester und schluchzte.

„Ich werde dich auch vermissen.“

Ich sah Julien über Maries Schulter hinweg an. Auch in seinem Blick schwang eine Entschuldigung mit. Ich lächelte. Alles war in Ordnung. Ich wusste, dass dieser Tag irgendwann mal kommen musste. Allerdings hatte ich am Morgen nicht damit gerechnet, dass es heute schon soweit sein sollte.

 

Seit meine Liebsten abgereist waren, fühlte ich mich wirklich einsam. Ich bekam keine regelmäßigen Besuche mehr und langweilte mich an den Besuchstagen in meiner Zelle. Es war Sonntag und ich musste heute nicht arbeiten, also erhob ich mich schon mit einer miesen Laune vom Bett. Ich hasste die Tage, an denen ich keine Ablenkung bekam. Wenn ich nur auf meiner schlecht gepolsterten Matratze sitzen und an die Decke starren konnte. Ich vermisste Marie und Julien. Umso länger sie sich nicht meldeten, desto öfter verschwendete ich meine Gedanken an Harvey. Ich nahm es ihm übel, dass er sich nicht bei mir blicken ließ. Dass es ihn nicht kümmerte, dass ich bei unserem gemeinsamen Vorhaben auf der Strecke blieb. Immerhin hatte ich einen Mord auf meine Schulter genommen, den er Julien aufgetragen hatte. Solange ich Marie immer wieder zu Gesicht bekommen hatte, wusste ich, warum ich meine Entscheidung im Gerichtssaal getroffen hatte. Doch nun begann ein Feuer in mir zu lodern. Wut. Ich wollte, dass Harvey meine Tat zu schätzen wusste und ich wollte, dass er mir seine Anerkennung zeigte.

 

Es klopfte an meiner Tür, der Schlüssel drehte sich im Schloss und das schwere Eisen ächzte in den Angeln, als die Zelle geöffnet wurde. Ein junger Polizist trat zu mir und schloss die Tür hinter sich. Er nahm seine Mütze ab und offenbarte seine rote Mähne.

„Hey Matt.“

Ich stand vom Bett auf und wurde in einer herzlichen Umarmung empfangen.

„Hallo Kleine, lange nicht mehr gesehen.“

Ich lachte und löste mich aus seinen Armen. Mein Finger landete auf seiner Brust und ich piekste ihn leicht.

„Ist ja nicht meine Schuld. Bin schließlich fast den ganzen Tag hier.“

Ich lachte, doch wir wussten beide, dass in meinen Worten ein Vorwurf mitschwang.

„Ich weiß, es tut mir leid. Ich hätte dich öfter besuchen sollen. Vor allem seit Marie und Julien nicht mehr da sind.“

„Hast du mal was von ihnen gehört?“

„Sie haben geschrieben. Ich hab den Brief aber erst vor wenigen Tagen bekommen. An dich ist bestimmt auch einer adressiert, aber die Post muss hier im Gefängnis erst durchsortiert und auf gefährliche Gegenstände durchsucht werden. Du weißt ja, wie das läuft.“

Ich nickte, denn ich war mit seiner Antwort zufrieden. Jetzt hatte ich wenigstens Hoffnung auf eine Nachricht und konnte mich auf Neuigkeiten freuen.

„Und sonst? Gibt es etwas Neues, oder hattest du einfach mal Lust, eine alte Knastfreundin zu besuchen?“

Matthew lachte und strich sich verlegen durch die Haare.

„Ich hab dir tatsächlich was zu erzählen. Setz dich.“

Wir nahmen nebeneinander auf meinem Bett Platz und schauten auf die Wand uns gegenüber.

„Um genau zu sein, habe ich tolle Nachrichten für dich. Abigail Wilson, du wirst nach sieben Jahren und zwei Monaten aus diesem Gefängnis entlassen.“

Das Lächeln um meine Lippen starb. War das sein Ernst?

„Ich dachte, du willst mir etwas Tolles erzählen. Ich weiß doch selber, wie lange ich noch hier bleiben muss. Herzlichen Dank. Hätte fast vergessen, warum ich überhaupt hier bin.“

Ich erhob mich vom Bett und drehte dem jungen Polizisten den Rücken zu. Musste das sein? Auch noch Salz in die Wunde streuen?

„Du verstehst mich nicht richtig. Ich spreche von einer vorzeitigen Entlassung nach dieser gesamten Zeit. Du wirst, wenn du draußen auf der Wiese stehst, keine vierzehn Jahre hier verbracht haben, sondern sieben.“

Ruckartig drehte ich mich um. Ich glaubte meinen Ohren nicht.

„Wenn du nur einen Witz machst, reiß ich dir den Kopf ab.“

Er lachte.

„Nur zu, aber dann kann ich beim Richter das nächste Mal wohl kein gutes Wort mehr für dich einlegen.“

Erst jetzt begriff ich langsam, was er mir da berichtete. In weniger als einem Monat sollte ich entlassen werden. Bald wäre ich wieder frei. Ich fiel Matthew um den Hals und lachte unbeschwert. Das war die beste Nachricht, die ich seit Wochen bekommen hatte.

 

Gemeinsam mit meinem Pflichtverteidiger hatte ich die Bewährungsauflagen durchgesehen und mir ein Bild von meiner Zukunft verschafft. Meine Zelle war leer geräumt worden, mein gesamter Besitz hatte in einen einzige Sporttasche gepasst. Ich bekam gefährliche Gegenstände zurück, die ich bei meiner Ankunft hatte abgeben müssen und sollte kurz an der Ausgabestelle warten. Die Polizistin, die sich um meine Sachen gekümmert hatte, kehrte aus dem Hinterzimmer zurück und hatte einen Zettel bei sich. Sie reichte ihn mir.

„Der hier ist für Sie hinterlegt worden. Ich wünsche Ihnen das Beste für die Zukunft und dass wir uns hier nie wieder sehen müssen.“

Ich lächelte ihr zu und folgte den Schildern, die den Ausgang beschrifteten. Weitere Beamte standen davor und nickten mir zu. Mir wurde die Tür geöffnet. Ich schlüpfte hinaus, ohne mich noch einmal umzusehen. Ich ließ das Gefängnis hinter mir.

 

 

Ich wunderte mich nicht, dass vor dem tristen Gebäude kein Empfangskomitee stand, um mich willkommen zu heißen. Ich wagte es gar nicht, nach einer Menschenseele Ausschau zu halten, die mich eventuell in Empfang nahm. Falsche Hoffnungen hätten nur geschmerzt. Ich schloss lieber die Augen und reckte mein Gesicht der Mittagssonne entgegen. Ich spürte die Wärme auf meiner Haut und fühlte mich sofort wohl. Ein leichter Wind zerzauste meine Haare und ich fühlte mich befreit. Endlich konnte ich wieder tief durchatmen. Ich lächelte und raffte die Tasche näher an mich, um sie auf meinem Weg nicht zu verlieren. Ich lief einfach los, ohne wirklich zu wissen, was mein Ziel war. Die Häuser hatten sich über die Jahre hinweg nicht wirklich verändert und es schien, als wäre ich nicht wirklich lange weg gewesen. Noch immer lag Müll von Menschen auf dem Boden, die zu faul waren, einen Mülleimer zu suchen. Noch immer fuhren zu viele in zu großen Autos mit zu viel Kraftstoffverbrauch herum und verpesteten die Luft. Noch immer wurden sämtliche Hinterhöfe von Firmengebäuden von Graffiti geziert. Ich hatte fast vergessen, wie schrecklich und schön zugleich die Freiheit doch sein konnte.

Ich lief immer weiter geradeaus, bis ich an einer Kreuzung stand. Die Ampel war rot und hielt mich davon ab, meine Richtung fortzusetzen. Jetzt erst begann ich darüber nachzudenken, wohin ich eigentlich wollte. Ich hatte kaum Geld in der Tasche und konnte mir so kaum eine Wohnung leisten. Ob ich mir zuerst einen Job suchen sollte? Ich sah an mir herab. So würde ich mich kaum bewerben können, ohne sofort wieder hinausgeworfen zu werden. Abgesehen davon hatte ich keine Ausbildung vorzuweisen, geschweige denn einen Schulabschluss. Ich war eine mittellose, vorbestrafte, arme Frau, die nicht wusste, was sie mit ihrem Leben anfangen sollte.

Die Ampel vor mir hatte zum zweiten Mal auf grün umgeschaltet. Eine Menschenmenge drängte sich an mir vorbei. Ich wurde angerempelt und mit bösen Blicken bedacht, weil ich im Weg stand und nicht zur Seite wich, um die Eilenden durchzulassen.

ich kramte den Zettel, den mir die Polizistin bei meiner Entlassung gegeben hatte, aus meiner Hosentasche. Er war zerknittert und mehrmals gefaltet. Es handelte sich um die Besitzurkunde eines Bankschließfachs. Ich runzelte die Stirn. Ich hatte nie etwas besessen, das ich bei der Bank hätte hinterlegen können. Handelte es sich um ein Missverständnis? Ich drehte den Zettel in meiner Hand und entdeckte meinen Namen in krakeliger Schrift auf der Rückseite stehen. Harvey.

 

Ich stand vor dem hohen Bankgebäude und rückte mir meine Stofftasche auf der Schulter zurecht. Ich wagte es nicht, die Treppen zu erklimmen. Man würde mich sicherlich für eine Bettlerin halten und mich gar nicht zu Wort kommen lassen. Die Leute, die an mir vorbeiliefen, musterten mich herablassend von der Seite. Ob man mir ansah, dass ich gerade erst aus dem Gefängnis kam? Ich fühlte mich, als stünde mir meine Vergangenheit auf die Stirn geschrieben, doch ich wusste auch, dass ich mich da in etwas hineinsteigerte. Ich schluckte meine Bedenken hinunter und nahm immer zwei Stufen auf einmal, um in die Eingangshalle der Bank zu gelangen. Ich stellte mich an einem Schalter an und wartete geduldig, bis die Frau vor mir ihre Angelegenheiten fertig geklärt hatte. Es dauerte nicht lange, da war ich an der Reihe. Der Bankier verzog keine Mine, als ich das zerknüllte Dokument auf den Tresen zwischen uns legte. Er las sich die Angaben durch, bat mich, meinen Ausweis vorzulegen, nickte, als er die Daten verglich und bat mich, kurz auf ihn zu warten. Ich wippte auf meinen Fußballen hin und her, als ich ihm nachsah. Er verschwand kurz in einem Nebenzimmer, kam mit einem kleinen Päckchen in der Hand zurück.

„Mehr ist nicht für Sie hinterlegt worden.“

„Vielen Dank.“

Ich verabschiedete mich von ihm und verschwand auf dem Weg, wie ich gekommen war. Vor dem Gebäude befand sich eine Bushaltestelle und ich setzte mich dort auf die Wartebank. Meine Tasche stellte ich achtlos auf den Boden neben mich. Ich war viel zu neugierig, um noch einen Moment länger zu warten, um das Päckchen zu öffnen. Es war leicht. Ich riss das braune Papier am Rand auf und ließ meine Finger hineingleiten. Kantiges Plastik konnten meine Fingerspitzen ertasten. Ich rüttelte leicht und stülpte das Papier um. Eine schlechte Vorahnung überkam mich, als ich die schwarze Hülle erkannte. Eine Videokassette. Meine Aufnahme. Ich bekam eine Gänsehaut. Tränen sammelten sich in meinen Augen. Ich hätte gedacht, dass man die Aufzeichnungen vernichtet hatte. Ich wollte sie niemals wieder in meinen Händen halten. Als hätte ich mich daran verbrannt, ließ ich das Päckchen fallen. Die alte Dame, die neben mir saß, musterte mich verwundert. Ich ignorierte ihren Blick und starrte zu Boden. Ein Seufzen kam über meine Lippen. Ich hob das Video wieder auf und riss den Rest der Verpackung weg davon. Ein kleiner roter Zettel fiel heraus. Ich schnappte ihn mir, bevor der Wind ihn davontragen konnte und hielt das Papier zwischen meinen Fingern. Eine Adresse war darauf angegeben und ich hatte auch hier keine Zweifel, dass es sich um Harveys Schrift handelte. Wer sollte mir auch sonst wortlos etwas hinterlassen haben?

Die Frau neben mir lächelte mir aufmunternd zu.

„Ist alles in Ordnung, mein Kind?“

Ich nickte und las die Adresse erneut durch. Ich hatte keine Ahnung, wo sich diese Straße befand und überlegte, wo ich meine Suche am besten beginnen sollte. Ich hob meinen Kopf und sah die Dame an.

„Könnten Sie mir vielleicht helfen? Wissen Sie zufällig, wo das hier ist?“

Sie griff mit ihren faltigen Händen nach dem Zettel und richtete ihre Brille auf der Nase. Ihre Nase kringelte sich leicht, als sie überlegte.

„Das dürfte nicht weit von hier sein. Ich bin mir aber nicht sicher. Aber wissen Sie, dort hinten um die Ecke ist ein Museum für moderne Kunst. Davor befindet sich ein Stadtplan. Wenn Sie Glück haben, ist diese Straße dort vermerkt.“

Ich lächelte ihr zu und raffte meine Besitztümer an mich.

„Dankeschön. Sie haben mir sehr geholfen!“

Ohne mich umzusehen, stürmte ich los. Ich war aufgeregt und fragte mich, warum Harvey mich nicht einfach abholte, statt so eine Schnipseljagd mit mir zu veranstalten. Ich hoffte, dass bei der angegebenen Adresse nicht wieder nur ein neuer Zettel auf mich wartete. Das Museum war nicht schwer zu finden und auch der Stadtplan davor war nicht zu übersehen. Ich strich mit meinem Zeigefinger die einzelnen Straßennamen ab und suchte nach dem einen, der mich an mein Ziel führen sollte.

 

Ich hielt nach einem Schild mit der richtigen Hausnummer Ausschau, als ich mich die Straße entlang vorarbeitete. Bald musste ich doch angekommen sein. Ich warf einen letzten Blick auf das rote Papier und überprüfte, dass ich mich nicht verlesen hatte. Dabei lief ich weiter geradeaus, ohne auf meinen Weg zu achten. Dass ich daher selbst Schuld war, dass ich mit einem Mann zusammenstieß und beinahe stürzte, war mir klar. Als ich jedoch in das Gesicht des Fremden schaute, blieb mir meine Entschuldigung im Hals stecken. Er war zwar älter geworden, doch ich konnte ihn ohne Probleme wieder erkennen. Auch ihm schien es die Sprache verschlagen zu haben. Wir starrten uns an, doch ich brachte ein großes Stück Abstand zwischen uns.

„Es tut mir leid.“

„Keine Ursache.“

Wieder brach eine Stille zwischen uns aus. Lewis seufzte, richtete seinen Pullover und machte sich wieder auf den Weg. Er hatte sich verändert. Er wirkte nervös und verunsichert. Es kam mir beinahe so vor, als hätte er Angst vor mir gehabt. Ich schüttelte den Kopf. Das war seltsam. Ich sah ihm einen Moment lang nach, doch dann drehte ich mich wieder um. Er war aus dem Gebäude rechts von mir gekommen. Ich wollte gerade weitergehen, da merkte ich, dass ich bereits vor dem Haus stand, das ich gesucht hatte. Was hatte Lewis hier gewollt? Ich öffnete das Gartentor und näherte mich der Eingangstür. Ich erkannte bereits von der Straße aus, dass ein großes Schild neben der Klingel hing und war gespannt, was ich darauf zu lesen bekam.

Ich hielt die Luft an, als mir bewusst wurde, was die Inschrift zu bedeuten hatte. Harvey hatte mich nicht nur zu irgendeiner beliebigen Psychologiepraxis gelotst. Ich stand vor seinem Büro. Ich blickte über meine Schulter, um mich zu vergewissern, dass keine versteckte Kamera einen schlechten Scherz filmte. Ich war allein. Ich überlegte, an der Tür zu klingeln und mich genauer davon zu überzeugen, was das Schild mir zu vermitteln versuchte. Meine Finger zitterten. Ich konnte mich nicht überwinden, den Knopf zu drücken. Ich war wie gelähmt. Wie hatte es Harvey nur geschafft, sich in so einem noblen Stadtviertel einzurichten? Wie kam er dazu, Lewis in seine Behandlung zu nehmen. Und warum sollte ich ihn hier aufsuchen? Ich wusste nicht, ob es richtig war, hier her gekommen zu sein. Doch was hätte ich sonst tun sollen?

Die Tür öffnete sich und eine Frau kam in Begleitung eines kleinen Mädchens hinaus. Sie drängten sich an mir vorbei, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Ich fasste allen meinen Mut zusammen und stellte meinen Fuß in die Tür, bevor sie wieder zufallen konnte.

Der Eingangsbereich war warm und in schlichten Farben gehalten. Eine große Lampe ließ den Raum in einem angenehmen Licht erstrahlen. Ich fühlte mich wohl hier. Langsam schritt ich an den Empfangsbereich und ließ meine Hände nervös in meine Jackentaschen gleiten. Die Frau in der weißen Arbeitskleidung schrieb noch einen Satz in ihren Unterlagen fertig und sah dann freundlich lächelnd zu mir auf. Sie war bildhübsch. Ich beneidete sie um ihre blonden Locken und vollen Wimpern, die sie wie einen Engel wirken ließen.

„Wie kann ich Ihnen helfen?“

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Also legte ich den roten Zettel und das Videoband auf den Tisch. Sie griff danach und las die Beschriftungen. Ihre anfängliche Verwirrung wich einem verständnisvollen Blick.

„Dr. Filtsch ist gerade noch in einem Gespräch mit seinem Patienten. Da darf ich ihn eigentlich nicht stören.“

Sie muss die Enttäuschung in meinem Gesicht gesehen haben und biss sich kurz auf die Unterlippe.

„Wissen Sie was? Ich werde sehen, was sich machen lässt. Vielleicht kann er seine Sitzung mal einen Moment unterbrechen.“

Sie stand von ihrem Schreibtisch auf und ging auf ein verschlossenes Zimmer am Ende des Flurs zu. Sie klopfte vorsichtig und spitze mit dem Kopf durch den Türspalt. Ich verstand nicht, was sie sagte, doch ihre Worte schienen sehr eindringlich zu sein. Nicht lange blieb sie alleine. Ich hörte Gemurmel aus dem Inneren des Behandlungszimmers und sah einen Schatten, der sich der Tür näherte. Die Frau machte einen Schritt zur Seite und wank mich zu ihr. Zögernd ging ich ihrer Aufforderung nach. Und dann stand ich ihm gegenüber. Nach über sieben Jahren. Mein Herz setzte einen Moment aus wie am ersten Tag, als ich ihm ins Gesicht geblickt hatte. Die ganzen alten Gefühle kochten in mir hoch und ich bezweifelte, dass ich in meinen Gefängnisjahren überhaupt auch nur ansatzweise damit begonnen hatte, ihn mir aus dem Kopf zu schlagen. Er hatte sich verändert. Seine Haare waren kürzer und hingen ihm nun nicht mehr zerzaust in der Stirn. Er hatte sich rasiert und nur ein paar verruchte Bartstoppeln ganz bewusst stehen lassen. Ich konnte sein Aftershave riechen. Meine Knie wurden wackelig. Seine Augen glitten auch an meiner Form hinab und sein Mund verzog sich zu einem frechen Lächeln, als er die schmuddeligen Klamotten an mir betrachtete. Ich raffte meine Jacke enger um mich.

„Kim, würdest du sie bitte in unsere Wohnung lassen und ihr alles zeigen? Ich kann hier nicht einfach weg.“

Er hatte kein Wort an mich verloren, bevor er die Tür hinter sich wieder geschlossen hatte.

„Keine Sorge, so ist er eben. Man gewöhnt sich dran.“

„Ich weiß.“

Meine Antwort klang bissig und der blonde Engel zuckte leicht zusammen. Es war mir egal. Das alte Feuer brannte in meinen Knochen und ich musste mich beherrschen, nicht um mich zu schlagen und gegen sämtliche Wände zu treten, um meine Wut herauszulassen. Kim führte mich am Behandlungszimmer vorbei, ging die Treppe voraus hinauf ins Obergeschoss und sperrte die Wohnung dort auf. Sie hielt die Tür offen, damit ich ihr folgen konnte und zeigte mir Küche, Bad und Harveys Zimmer. Sie nahm mir meine Tasche ab und stellte sie neben das große Doppelbett. Dann ließ sie mich alleine. Ich setzte mich auf den Rand der Matratze und stützte mich nach hinten mit meinen Armen ab. Es war unglaublich. Er hatte sich ein neues Leben aufgebaut. Er war erfolgreich in seinem Beruf. Zumindest konnte er sich eine so nobel eingerichtete Wohnung leisten. Ich wagte es nicht, mir die anderen Räume anzusehen, die mir Kim nicht gezeigt hatte. Ich wollte ihr Vertrauen nicht missbrauchen, wenn sie mich schon unbeaufsichtigt in ihre Wohnung ließen. Ein Stich durchzuckte mein Herz. Er hatte eine Frau gefunden. Er teilte sich sein Heim mit einer Schönheit, mit der ich nie hätte mithalten können. Ich musterte meine Schuhspitzen. Dreck klebte an meiner Sohle und ich fühlte mich unwohl. In meiner schäbigen Kleidung passte ich nicht in diese penibel geputzte Einrichtung. Ich hob mich ab, wie eine schwarze Fliege von der frisch gestrichenen Wand.

 

 

Es hatte gut getan, mich unter das heiße Wasser zu stellen. Meine Muskeln konnten sich unter den prickelnden Tropfen entspannen und ich atmete tief durch. Es war, als würde ich den Schmutz und meine Vergangenheit von mir waschen können. In der Ablage der Dusche stand ein Shampoo. Der Erdbeerduft hüllte mich ein und ließ mich einen kurzen Moment vergessen, wo ich mich gerade befand. Ich wusste nicht, ob es für Kim und Harvey in Ordnung war, dass ich es mir in ihrer Wohnung so bequem machte, doch das war mir egal. Ich stellte das Wasser ab, hüllte mich in ein flauschiges Handtuch und band es mir mit einem Knoten vor die Brust. Ich hinterließ feuchte Fußabdrücke auf den Fliesen, als ich mich auf den Weg zurück ins Schlafzimmer machte. Dort hatte ich meine Sachen achtlos auf den Boden geschmissen. Ich kniete mich hin und wühlte in meiner Tasche nach etwas Anständigem zum Anziehen. Doch alles, was ich zwischen meinen Fingern hielt, musste ich mit Kim vergleichen. Sie war sicher viel modebewusster gekleidet und wusste, was sie Harvey bieten musste. Ich seufzte. Immer noch nur im Handtuch bekleidet, stellte ich mich vor Harveys Kleiderschrank und öffnete die breite Schiebetür. Ich schmunzelte, als ich das Chaos erblickte. Hier war eben doch nicht alles sauber gehalten und ich war froh, dass ich immerhin ein Stück weit den alten Harvey wieder erkannte. Auch auf der anderen Schrankseite waren hauptsächlich Männersachen untergebracht. Ich wunderte mich. Sagte man eigentlich nicht eher den Frauen nach, dass sie den größten Teil des Kleiderschranks für ihre Klamotten brauchten? Nur eine Tüte stand am Schrankboden. Ich zog sie heraus und spitzte hinein. Das kannte ich. Ich hielt das Kleider und Blusen in Händen, die mir dir Männer damals vor der Verhandlung besorgt hatten. Ob die nun Kim gehörten? Ich drehte das gelbe Sommerkleid um und entdeckte das Preisschild am Rücken. Es war noch ungetragen.

 

Ich wusste nicht, warum ich mich so herausgeputzt hatte. Ich fühlte mich wohl in dem Kleid, auch wenn meine alten Sneaker nicht gerade gut dazu passten. Ich flocht mit meine langen Haare zu einem Zopf, um sie nicht föhnen zu müssen. Ich saß in der Küche auf dem Stuhl und wartete auf ihn. Eine Menge Klärungsbedarf stand noch zwischen uns und ich wollte wissen, was er sich dabei gedacht hatte, sich nie zu melden. Ich wollte mit ihm besprechen, was ich nun tun sollte. Ich hatte keine Zukunftsperspektive.

Bereits eine Stunde war vergangen, doch er kam nicht. Weder er, noch Kim sahen sich nach mir um. Ich wurde ungeduldig. Immerhin war ich gerade erst aus dem Gefängnis entlassen worden und wollte nun nicht nur wartend herumsitzen. Ich erhob mich vom Stuhl, schnappte mir den noch ungeöffneten Brief von Julien und Marie aus meiner Tasche und verschwand aus der Wohnung. Ich spitzte durch die Tür zur Praxis und wollte mich hinaus schleichen. Kim erwischte mich, doch sie war mir nicht böse.

„Abbey! Du musst dich nicht verstecken.“

„Sie kennen meinen Spitznamen?“

„Du kannst ruhig Kim zu mir sagen. Und ja. Harvey hat mir von dir erzählt.“

Ich nickte. Natürlich hatte er das. In einer Beziehung schweigt man sich natürlich nicht an.

„Du siehst hübsch aus. Hast du noch etwas vor?“

Ich murmelte ein „Danke“ und wog den Brief zwischen meinen Händen. Ihr Blick fiel darauf.

„Am Ende der Straße ist ein schöner Park. Ein toller Ort für Spaziergänge und zum Nachdenken.“

Ich nickte erneut und verschwand zur Tür hinaus. Warum war sie so nett zu mir? Hatte Harvey ihr etwa nicht die Wahrheit über mich erzählt? Wer glaubte sie, dass ich war?

Ich folgte ihrem Tipp und machte mich auf dem Weg zum Park. Die Blätter in den Baumkronen rauschten im leichten Wind und die Bienen summten, als sie von einer Blume zur nächsten flogen. Ich atmete tief durch. Es war tatsächlich schön hier. Ich setzte mich auf eine Bank und genoss die Sonnenstrahlen auf meiner Haut. Es war nicht mehr so warm wie bei meiner Entlassung aus dem Gefängnis. Die Sonne stand schon viel tiefer am Himmel. Ich hätte mir eine Jacke mitnehmen sollen, doch das war mir egal. Ich hielt den Brief fest, als ich den Klebestreifen vom Umschlag auftrennte. Ich roch am Briefpapier und musste lächeln. Es gehörte zu Maries Eigenart, mir einen Duft mitzuschicken, wenn sie mir von ihren Erlebnissen berichtete. Ich studierte ihre Worte und mir standen Tränen in den Augen. Sie liebte ihre Uni. Mir Julien lief alles bestens, er hatte einen neuen Job gefunden und hatte sich auch gut in Amerika eingelebt. Mein Mädchen glänzte in der Schule und hatte sogar einen Jungen kennen gelernt. Sie war glücklich. Eine Träne rollte mir über die Wange. Ich wusste, dass ich mich damals richtig entschieden hatte. Ich wusste, dass es für alle das Beste gewesen war. Ich wischte mir mit dem Handrücken die Nässe von meiner Haut. Ich wollte nicht weinen. Vielleicht würde es auch für mich noch ein gutes Ende nehmen. Ich durfte die Hoffnung einfach nicht aufgeben.

 

Ich kehrte von meiner zweiten Runde durch den kompletten Stadtpark zurück zum Eingang und hing noch meinen Gedanken nach, als die Sonne so langsam unterging. Ich entschied mich dafür, mich langsam wieder auf den Weg zurück zur Arztpraxis zu machen. Kim kam mir bereits entgegen.

„Gefällt es dir hier?“

„Es ist wirklich schön. Ich könnte noch weitere Stunden hier verbringen, aber ich muss langsam mal zurück.“

„Deshalb bin ich hier. Harveys letzter Patient ist im Gespräch, dann hat er Feierabend. Er wird mit dir reden wollen.“

Ich seufzte.

„Tut mir leid, wenn ich euren Alltag durcheinander bringe.“

„Keine Sorge, du kannst nicht viel stören. Er sitzt abends meistens nur in seinem Zimmer und vegetiert vor sich hin. Ich habe noch nie einen solchen Glanz in seinen Augen gesehen, wie bei deinem Anblick.“

„Bitte?“

„Versprich mir, dass du ihm eine Chance gibst. Er mag manchmal etwa barsch sein, aber im Grunde ist er ein guter Kerl, wenn er jemanden an sich heran lässt.“

„Aber ich dachte…Du und er. Seid ihr nicht…zusammen?“

Sie sah mich an, als wäre ich von allen guten Geistern verlassen gewesen und lachte.

„Ich und Harvey? Nein. Niemals. Das heißt, ich habe es am Anfang tatsächlich mal bei ihm versucht, aber es war aussichtslos. Er hat all die Jahre, die ich ihn kenne, sich auf keine Frau eingelassen.“

„Aber ihr wohnt zusammen.“

„Stimmt. Wir beide und mein Freund Dillan. Dessen Bruder Kevin und sein Kumpel Matt wohnen gegenüber, aber meistens hocken die Männer bei uns herum.“

„Matthew? Polizist? Rote Haare?“

„Ach stimmt ja, ihn kennst du ja auch. Hatte ich ganz vergessen. Jedenfalls würde ich mich freuen, wenn du uns ein bisschen erhalten bleibst. Manchmal machen die Jungs mich wirklich wahnsinnig. Es kann so anstrengend sein, nur mit Männern zusammenzuleben.“

„Wem sagst du das.“

Wir lachten. Offenbar kannte sie sich sehr gut in meiner Geschichte aus, doch ich würde ein andermal mit ihr darüber reden. Sie war nett. Vor allem wurde sie mir aber ein ganzes Stück sympathischer, weil ich nun wusste, dass zwischen ihr uns Harvey nichts lief.

 

Zum zweiten Mal sperrte sie mir die Wohnung auf und ließ mich eintreten. Ich ließ mich erschöpft auf Harveys Bett sinken und streckte alle Viere von mir. Kim lachte und wünschte mir einen schönen Abend. Sie war mit Dillan verabredet und wollte ihn nicht warten lassen. Mein erster Eindruck von ihr passte wie die Faust aufs Auge. Sie war ein Engel.

Ich musste eingenickt sein, als ich auf dem Bett lag, denn als ich meine Augen öffnete, schien kein Sonnenstrahl mehr durch das Fenster an der gegenüberliegenden Wand. Ich hatte mich im Schlaf zusammengerollt und in meiner Müdigkeit sogar vergessen, mir die Schuhe auszuziehen. Ich gähnte und richtete mich auf. Wie spät es wohl war? Ich zog an meinen Schnürsenkeln und streifte mir die Schuhe von den Füßen. Mit etwas zu viel Schwung kickte ich sie weg, sodass einer im offenen Schrank landete. Seufzend stand ich vom Bett auf, um ihn zu holen, da fiel mir erst auf, dass ich mein Kleid in der anderen Hälfte gefunden hatte. Der Schrank hätte hier eigentlich verschlossen sein müssen. Ich tapste misstrauisch zur Tür und horchte in den Flur hinein. Im Bad rauschte Wasser. War Harvey schon in der Wohnung? Warum hatte er mich nicht geweckt. Nervös zupfte ich mir mein Kleid zurecht. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Wo ich auf ihn warten sollte. Was ich sagen konnte. Das Wasser wurde abgestellt und ich hörte, wie die Tür der Duschkabine geöffnet wurde. Nervös drehte ich mich im Kreis. Ich setze mich auf das Bett, überschlug die Beine und kam mir dabei bescheuert vor. Ich setzte mich im Schneidersitz hin und befürchtete, dass man so wegen dem Kleid meine Unterwäsche sehen konnte. Als ich Schritte vor der Tür hörte, legte ich mich hin und stellte mich schlafend. So würde zumindest nicht sofort peinliche Stille zwischen uns ausbrechen, wenn ich ihn offenbar bereits erwartete.

Die Tür öffnete sich und ich widerstand dem Drang, zu blinzeln und Harvey zu mustern. Ich versuchte, so gleichmäßig wie möglich einzuatmen und nicht aus dem Takt zu geraten.

„Du weißt schon, dass ich vorhin noch gesehen hab, dass du im Bett Schuhe anhattest. Haben die sich von selbst ausgezogen, oder stellst du dich schlafend?“

Ich fluchte in mich hinein. Ich hatte einer peinlichen Konfrontation entgehen wollen und so hatte ich mich nur erst recht blamiert.

„Wonach sieht’s denn aus?“

Ich öffnete die Augen und sah, wie sich Harvey zu mir an die Bettkante setzte. Ich rutschte ein wenig in die Mitte, um ihm Platz zu machen. Er roch nach herben Duschgel, seine Haare waren noch nass.

„Wie geht’s dir?“

„Gut.“

Ich richtete mich auf und stützte mich auf meine Unterarme.

„Sind wir mal ehrlich. Wir beide hassen Smalltalk. Also kommen wir lieber gleich zur Sache.“

Er lächelte.

„Direkt wie immer.“

„Tut mir leid, aber ich hab sieben Jahre lang auf dieses Gespräch gewartet. Eines davon konnte ich nachvollziehen, dass du dich nicht gemeldet hast. Immerhin musstest du selbst ins Gefängnis. Aber dann? Du hast dich mit keinem Wort bei mir gemeldet.“

„Ich hab mich geschämt.“

„Wofür?“

„Du bist für einen Mord ins Gefängnis gegangen, der meine Schuld war. Ich hab Julien dazu genötigt, abzudrücken. Ich hätte die Zeit absitzen müssen, aber ich hab Angst bekommen, als ich vor Gericht saß.“

„Und da dachtest du, dich nie bei mir zu melden, macht alles wieder gut? Wenn du mich hinter Gittern versauern lässt?“

„Ich dachte, du willst vielleicht Abstand von mir. Wir sind nicht gerade im Guten auseinander gegangen.“

„Das hört sich für mich nach einer schön zurecht gelegten Ausrede an.“

„Ich konnte dir einfach nicht mehr in die Augen schauen. Ich war feige. Es tut mir leid. Ich hab mich in mein Studium gestürzt, meinen Doktortitel nachgeholt und meine eigene Praxis eröffnet. Kim hat mir geholfen. Ich hab sie bei meinem Studium kennen gelernt. Sie kam auf die Idee, sich an die Presse zu wenden und das hat eingeschlagen. Meine Vergangenheit und meine eigene Auseinandersetzung mit einer traumatischen Kindheit haben mir enormen Zulauf an Patienten verschafft.“

„Schlecht scheint es dir tatsächlich nicht zu ergehen.“

„Ich weiß nicht, was du von mir hören willst.“

„Hast du dich all die Jahre eigentlich mal nach mir erkundigt? Hast du an mich gedacht?“

„Jeden Tag. Jede Nacht.“

Er seufzte, als ich meinen Blick sinken ließ. Er wusste, dass ich ihm nicht glaubte.

„Ich habe ein Konto für dich angelegt. Jedes Gehalt, das ich nach meinem Gefängnisaufenthalt je erhalten habe, ist auf getrennte Konten geflossen. Du kannst dir das Geld jederzeit holen und dein altes Leben zurücklassen, wenn du möchtest.“

„Du willst mich loswerden. Mit Geld abfertigen und dir meine Vergebung erkaufen.“

Er schüttelte verzweifelt den Kopf.

„Nein. Es ist eine Alternative.“

„Und dann? Was soll ich dann tun? Ich bin vorbestraft. Kann keine Ausbildung vorweisen. Nicht einmal einen Schulabschluss. Ich kann nirgends hin.“

„Dann bleib hier.“

„Meinst du das ernst?“

Ich setzte mich komplett auf, um ihn nicht ständig zu ihm aufsehen zu müssen. Unsere Gesichter waren nicht weit voneinander entfernt. Sein Blick hielt meinem Stand. Es wäre ein Leichtes gewesen, meine Lippen auf seine zu legen, doch ich hielt mich zurück.

„Du weißt selber nicht, was du willst? Du hast einfach nur keine Ahnung, wo du hin sollst, doch dein Stolz lässt nicht zu, dass du dich auf mich einlässt.“

„Warum sollte ich mich auf dich einlassen? Du hast mich so oft abserviert.“

„Du urteilst zu vorschnell. Man kann Gefühle eben nicht erzwingen.“

„Man kann sie aber auch nicht verbieten.“

„Aber ich kann dir anbieten, von vorne anzufangen. Du kannst bei mir wohnen so lange du willst. Du kannst dir neue Sachen kaufen von dem gesparten Geld. Oder du kannst verschwinden und dir weit weg von mir ein neues Leben aufbauen. Die Entscheidung liegt bei dir.“

„Du würdest mich einfach gehen lassen? Ohne Widerstand?“

Ich musterte sein Gesicht und versuchte, eine Regung darin zu erkennen. Er hatte die kalte Maske aufgesetzt, die ich so verabscheute und antwortete mir nicht. Ich hasste es, wenn er das tat. Ich schlug gegen seine Schulter.

„Antworte mir! Würde es dir nichts ausmachen, wenn du wüsstest, dass du mich nie mehr wieder sehen müsstest?“

Er schwieg. Seine Augen bohrten sich in meine. Ich ballte meine Hände zu Fäusten.

„Du wärst vermutlich sogar froh, wenn du mich los bist. Wenn ich dir nicht mehr wie eine Klette am Bein hinge.“

Er presste seine Lippen fest zusammen. Er provozierte mich, doch ich ging darauf ein. Ich schlug gegen seinen Oberkörper und stieß ihn von der Bettkante. Ich sprang auf und griff meine Tasche.

„Ich weiß nicht, warum ich überhaupt auf dich gewartet habe. Ich will dein dreckiges Geld nicht. Es würde mich nur immer daran erinnern, dass ich dich gekannt habe.“

Ich schulterte den Träger meiner Tasche und stürmte aus der Tür. Lange war ich nicht mehr so ausgerastet. Er brachte mich immer wieder aufs Neue auf die Palme. Ich konnte nicht mehr. Eigentlich hatte ich einen dramatischen Abgang machen wollen, doch als die Tür hinter mir ins Schloss fiel und sich die Treppen nach unten vor mir erstreckten, konnte ich keinen weiteren Schritt mehr gehen. Ich ließ mich an der Wand hinab gleiten und legte meinen Kopf auf meine angewinkelten Knie. Die Tür öffnete sich, Harvey griff nach meiner Tasche und brachte sie in die Wohnung. Er sprach kein tröstendes Wort aus, um mich zu beruhigen und meine Tränen zu verbannen. Er schob nur seine Arme unter meinen Körper und trug mich wieder in sein Schlafzimmer. Ich ließ mich von ihm auf die Bettkante setzen, stand jedoch sofort wieder auf. Ich wollte ihm eine erneute Hasstirade an den Kopf knallen, doch er drängte mich gegen den Schrank und versiegte meinen Protest mit einem Kuss. Zärtlich drückte er seine Lippen auf meine, er knabberte leicht an meiner Unterlippe und raubte mir den Verstand. Als er merkte, dass mein Widerstand bröckelte, verlangte seine Zunge Einlass in meinen Mund und sein Körper drängte sich enger an mich. Vergessen war das Gefängnis. Vergessen war der Schmerz. Vergeben war die Einsamkeit. Wer weiß, wie ich bei einem Besuch von ihm im Gefängnis reagiert hätte. Wer weiß, ob ich einen Brief nicht für eine schlecht geschriebene Lüge gehalten hätte. Ich hab mich schließlich auch nicht bei ihm gemeldet. Ich weinte in unseren Kuss hinein. Ein Schluchzen aus meiner Kehle unterbrach unsere Sinnlichkeit.

„Du bringst mich noch um.“

„Da siehst du mal, wie es mir vor sieben Jahren ging.“

Er lachte und drückte mir einen Kuss auf die Stirn.

„Es tut mir leid. Ich hab dich wirklich vermisst, aber ich hätte nicht gewusst, wie ich dir in der Zelle hätte gegenüberstehen sollen.“

„Ich weiß.“

Ich wischte mir meine Tränenspur von der Wange.

„Ich hätte vermutlich auch nicht gewusst, wie ich reagieren soll. Vermutlich hätte ich dann auch einen Grund gefunden, um auf dich los zu gehen.“

Ich zwang ein Lächeln auf meine Lippen.

„Vermutlich.“

Ich seufzte. Sieben Jahre. Er sah so anders aus. Doch die Narbe war geblieben. Ich scheute nicht davor, wie früher mit meinen Fingerspitzen darüber zu streichen.

„Manchmal frage ich mich, ob ihr mich nicht einfach hättet umbringen sollen. Dann wäre mir der ganze Dreck erspart geblieben.“

„Soll ich mein Versprechen noch einlösen? Aus den sieben Tagen sind dann zwar sieben Jahre geworden, aber wenn du darauf bestehst…“

Er lachte und sein Körper presste sich dabei noch näher an meinen. Mein Stirnrunzeln verschwand und wich einem Stöhnen. Ich konnte kaum noch klar denken.

„Deine Zeit ist abgelaufen.“

Ich wusste nicht, wo er plötzlich das Messer herhatte, doch als ich die Klinge an meinem Hals spürte, verdrehte ich die Augen.

„Wir wissen beide, dass du es nie über das Herz brächtest, mich umzubringen. Wer sollte denn sonst noch Kompromisse mit dir eingehen wollen?“

Argwöhnisch musterte er mich, um dann lachend von mir abzulassen. Er hob seine Hände und ließ das Messer achtlos auf den Boden fallen.

„Darum geht’s dir also?“

„Du solltest dein Gesicht sehen.“

Er fuhr mit der Hand über sein Kinn und ich folgte seiner Bewegung mit meinem Blick.

„Ich würde gerne ganz von vorne anfangen.“

„Das heißt, du willst mit dem Geld verschwinden?“

Ich legte den Kopf schief und musterte ihn von der Seite. Er wich mir aus und versuchte sogar, vom Thema abzulenken.

„Hast du dir das Videoband eigentlich angesehen?“

Ich vergaß tatsächlich für einen Moment, worüber wir zuvor noch gesprochen hatten.

„Nein. Und ich habe auch nicht vor, das jemals zu ändern. Wie bist du da überhaupt drangekommen?“

„Mit Matthew hab ich bei der Polizei wirklich einen wahren Meisterdieb geschaffen. Nein, im Ernst. Es handelt sich nur um eine Kopie. Das Original ist im Archiv des Gerichts. Aber ich dachte, dass du es dir vielleicht irgendwann mal anders überlegst. Dass du vielleicht mal endgültig damit abschließen willst und dich deiner Angst stellst.“

„Eher nicht.“

„Ich würde dich unterstützen.“

„Trotzdem, nein Danke. Ich will es nicht sehen.“

Ich senkte den Kopf. Zunächst rührte sich nichts im Raum. Doch dann hob Harvey mit seinem Zeigefinger mein Kinn an und sah mir fest in die Augen.

„Vielleicht hast du Recht. Es ist besser, sich auf die Zukunft zu konzentrieren. Also. Was hast du vor? Nimmst du mein Geld an?“

„Ich habe dir doch bereits gesagt, dass ich das nicht annehmen kann.“

Er atmete tief durch.

„Aber?“

„Ich würde dich gerne um einen Gefallen bitten.“

Er nickte.

„Ich will zum Grab der Aufseherin. Ich will mich von ihr und ihrem Mann verabschieden.“

„Du weißt davon?“

„Marie hat mir damals den Zeitungsbericht mitgebracht. Ich hätte gedacht, dass ich mich gut fühlen würde, wenn sie ihre gerechte Strafe erhalten hat. Aber sie tut mir leid. Und irgendwie fühle ich mich schuldig. Erinnerst du dich daran, was sie bei der Verhandlung zu mir gesagt hat? Sie meinte, ich hätte ihr Lebenswerk ruiniert. Kein halbes Jahr später hat sie sich gemeinsam mit ihrem Mann in der Zelle erhängt. Das ist kein Zufall. Ich will das nicht so stehen lassen.“

„Und ich soll doch begleiten?“

Ich nickte.

„Bist du dir sicher, dass du dazu bereit bist?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Nein. Noch nicht heute. Aber versprich mir, dass du mich an ihrem Todestag daran erinnerst.“

„Du bist unglaublich.“

Er legte seine Hand in meinen Nacken und zog mich zu ihm heran. Ich barg mein Gesicht an seiner Schulter und genoss seinen Duft in meiner Nase.

„Bleib bei mir.“

Ich löste mich aus seiner Umarmung, um ihn anzusehen. Ihm standen Tränen in den Augen.

„Ich will nicht, dass du aus meinem Leben verschwindest. Bitte.“

Es überwältigte mich, ihn so aufgelöst zu sehen. Ich nickte schnell, um ihn zu beruhigen und drückte ihm einen Kuss auf den Mund. Ich wollte wieder mehr Abstand zwischen uns bringen, doch er ließ nicht los. Ohne auf meinen Protest zu achten, küsste er mich erneut. Diesmal allerdings stürmischer und verlangender als zuvor. Seine Leidenschaft riss mich beinahe von den Füßen, doch sein Griff um meine Taille stützte mich. Meine Hände wühlten sich erst in sein Haar, dann löste ich mich aber aus seiner Liebkosung. Schwer rang ich nach Atem, ihm ging es nicht anders. Er legte seine Stirn an meine und sah mir in die Augen.

„Ich will wissen, was es heißt, sich unsterblich in eine Frau zu verlieben. Ich will morgens neben ihr aufwachen und ihre Wärme spüren. Ich will sie in den Arm nehmen dürfen und mir einen Kuss stehlen, wenn mir danach ist. Ich will wissen, wie es ist, eine Beziehung zu führen. Und ich weiß, dass du die Richtige dafür bist.“

Er beugte sich weiter zu mir herunter, streifte mit seinen Lippen leicht über meine und küsste sich seinen Weg hinter zu meinem Ohr. Sein Atem kitzelte leicht in meinem Nacken und jagte mir heiße Schauer über den Rücken. Mein Herz schlug schnell. Der Moment war perfekt. Ich schloss die Augen, als er mich gegen den Schrank in meinem Rücken drückte und ich meine Arme um seinen Nacken schlang, um den Kuss zu vertiefen. Es war wie in einem Rausch. Ich konnte nicht genug von ihm bekommen. Nie.

 

Ende.

 

 

 

Impressum

Texte: Aus der Hand von black.humour
Bildmaterialien: Gestaltet von black.humour
Tag der Veröffentlichung: 29.04.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
***Meine Leser sind die Besten*** Entschuldigt bitte die Rechtschreibfehler - ich werde sie bei Gelegenheit noch überarbeiten. Ich hoffe, ihr hattet beim Lesen genauso viel Spaß wie ich beim Schreiben. Über Kommentare und Kritik würde ich mich sehr freuen - man lernt schließlich nie aus.

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