Stille. Kein Geräusch in der Nähe. Bis auf eines. Der tropfende Wasserhahn auf der anderen Seite des Raums. Tropf, Tropf, Tropf.
Es macht mich wahnsinnig. Tropf.
Es soll aufhören. Tropf.
Weshalb tut dieses Geräusch in meinem Kopf so weh? Tropf. Tropf.
Kann mir denn niemand helfen? Tropf.
Ein Klempner? Tropf.
Irgendwer? Tropf.
Ach ja ich vergaß. Ich bin auf mich alleine gestellt.
Tropf.
Der Morgen ist wunderschön und warme Sonnenstrahlen haben mich geweckt. Klingt doch perfekt, wie ein schöner Anfang. Tia, schön wäre es! Ich hatte einen Alptraum, der muss sogar richtig schlimm gewesen sein. Aber was reg ich mich eigentlich auf? Erinnern kann ich mich sowieso nicht an ihn. Trotzdem trübt es meine Stimmung, wie ein dunkler Schatten über meiner Seele. Ein Blick auf den Kalender zeigt mir auch einen guten Grund dafür - mein siebzehnter Geburtstag. Welch Ironie. Ein neuer Lebensabschnitt beginnt und in meiner Familie zählt es als erster Schritt zum erwachsen werden. Ich selbst sehe es als Tor zur Verdammnis. Meine zahlreichen Selbstmordversuche halfen im Grunde gar nichts. Meine Eltern fanden mich rechtzeitig und konnten mir noch helfen. So nennen sie das zumindest. Sie seien froh, mich gerettet zu haben. Aber nicht einmal ansatzweise fühle ich mich erlöst, im Gegenteil. Es kommt mir so vor, als hätten sie mich persönlich in die Hölle manövriert. Siebzehn zu werden schließt in meinem Fall keine große Feier mit Freunden ein, angenommen ich hätte welche. Nein. Siebzehn zu werden bedeutet für mich strenge Selbstkontrolle, Erhalten einer Maske, Führen eines eintönigen Lebens und Beugen des Schicksals. Kein Wunder, dass ich mich zuvor befreien wollte, oder? Leider zwecklos.
Seufzend gehe ich zu meinem Schrank und nehme die vorbereitete Kleidung heraus. Dort hängt sie schon seit meiner Geburt. Als ob ich jemals eine Wahl gehabt hätte. Mein Leben wurde von Anfang an geplant, ohne dass ich das auch nur im Geringsten hätte beeinflussen können. Kopfschüttelnd streiche ich über den blauen Stoff, der sich falsch auf meiner Haut anfühlt. Einfach nur unpassend. Trotzdem ziehe ich mir das lange Kleid pflichtbewusst an und schlüpfe in die Schuhe, die mir meine Mutter letzte Woche dazu gestellt hat. Sie drücken ein wenig, aber kein Wunder. Nicht einmal sie durfte ich mir selbst aussuchen. Einen Blick in den Spiegel kann ich nicht werfen, es gibt keinen mehr in meinem Zimmer. Ich wollte die Scherben des letzten benutzen, um mir die Kehle aufzuschlitzen. Messer gibt es in unserem Haus auch schon keine mehr in meiner Reichweite.
Am liebsten würde ich auf unschuldige Gegenstände einschlagen - die Wut und die Verzweiflung einfach aus mir herausprügeln, aber das Gehör meiner Eltern würde mich verraten. Es geht mir nicht um meine Würde, die hatte ich schließlich schon längst verloren. Ich habe Angst. Angst vor den Schlägen, Angst davor, ein Opfer meiner selbst zu sein. Ich würde mir eine eigene Falle stellen, wenn sie mich wieder erwischen. Als Kind kommt man davon. Als Kind hat man noch Ausreden. Als Kind kann man wenigstens versuchen, wegzulaufen. Trotzdem, mir hat es nichts gebracht. Sie haben mich gefunden. Sie haben meine Flucht vertuscht. Niemand darf sie als schlechte Eltern ansehen. Ich kann sie nicht verraten. Ich kann nicht um Hilfe rufen. Keiner würde mir glauben. Warum auch? Einer Psychopathin, die nicht weiß, was sie tut? Wohl kaum. Ich habe einen klaren Kopf, ich weiß, was zu tun ist. Mir ist auch bewusst, wo meine Pflichten liegen, doch ich will diese Bürde nicht länger auf mir spüren. Ich will weg. Der heutige Tag wird mich verfolgen bis zu meinem Lebensende. Aber ich habe keine Wahl. Wie schon immer eigentlich. Ich muss mich ausliefern wie auf einem Präsentierteller. Ich verlasse den Raum ohne einen letzten Blick zurück. Diesen Raum sollte ich nicht so schnell wieder zu Gesicht bekommen. Und jetzt? Jetzt bin ich kein Kind mehr, jetzt bin ich siebzehn. Na super!
Vorsichtig steige ich die Treppen hinunter und sehe dabei nicht auf. Auch so weiß ich, dass der Saal voller Gäste ist, die mich aus ihren unnatürlichen Augen aus anschauen. Keiner unter ihnen ist ein Mensch, genauso wenig wie ich. Jetzt nicht mehr. Seit heute kommen die Gene meiner Werwolfseltern zum Vorschein. Mein Körper hat sich über Nacht verändert, das kann ich in der Reflexion unserer Fensterscheiben sehen. Das Grün meiner Augen sticht viel zu sehr hervor und abhängig von meinen Gefühlen wird sich die Farbe ändern.
Hinter mir ertönt ein Räuspern und die Aufmerksamkeit der Leute weicht endlich von mir ab. Innerlich atme ich erleichtert auf, doch ich darf es mir nicht anmerken lassen. Das wäre mein Ende. Damit meine ich nicht den Tod, denn den wünsche ich mir ja mehr als alles andere im Moment. Nein, ich meine meine Strafe. Die Zelle im Keller. Dort war ich schon viel zu oft, jedoch nur für kurze Dauer. Immerhin war ich bloß ein Kind. Ab jetzt darf ich mir keinen einzigen Fehler erlauben. Aus der Zelle könnte ich mich nie selbst befreien.
Meine Eltern stellen sich beiderseits von mir auf und begrüßen die Gäste in meinem Namen. Sie erklären das sogenannte Fest für eröffnet und halten die Ansprache zur offiziellen Einweihung in das Dasein als Werwolf. Sie platzen beinahe vor Stolz und der Wortfluss nimmt seinen Lauf, während ich gespielt zufrieden lächele und mich meinem Unglück hingebe. Ab sofort soll es kein zurück mehr geben. Ich bin ein Werwolf und somit an ein vorausgeplantes Leben mit strengen Regeln gebunden.
Mit guter Miene zum bösen Spiel nehme ich die Glückwünsche entgegen. In diesem Raum bin ich die einzige, die es hasst, ein Wolf zu sein. Ich kann es nicht verstehen, schließlich beruht unsere gesamte Existenz auf Lügen und Intrigen. Der erste Mensch, der sich in einen Wolf verwandeln konnte, war ein Mörder. Sicher, er war auf sich alleine gestellt, aber es machte ihm Spaß. Er mutierte förmlich auch gedanklich zum Tier. Wäre er damals anders gewesen, hätte er den Männern unter uns nicht diese schreckliche Seite vererbt. Nur eine Sache kann männliche Werwölfe vor dem kompletten Blutrausch bewahren - eine Frau. Dabei geht es aber keineswegs um Liebe oder etwas in die Richtung. Es geht nur darum, das Verlangen des Mannes auf eine andere Weise als Mord zu stillen. Wie primitiv! Die Gefühle der Frauen wurden früher nicht einmal annähernd beachtet und auch heute grenzt es an Vergewaltigung, nur nicht mehr zwangsweise. Die Kultur der Werwölfe wurde gesitteter, was mich aber nicht vor einer Zwangsheirat beschützen wird. Sie wird spontan stattfinden, aber hoffentlich habe ich noch eine lange Zeit bis dahin. Am meisten sehne ich mich nach einem unbeschwerten Leben, aber ich werde es nie bekommen. Deshalb wünsche ich mir den Tod. Lieber ginge ich diesen Weg, als mich einem Fremden zu öffnen und ihm mehr zu geben als jemals einem anderen zuvor.
Als ich mit meiner Mutter darüber sprach, gab sie mir eine Ohrfeige. Es war nichts Ungewöhnliches. Meine Eltern lieben mich nicht, wie denn auch? Sie lieben sich ja auch nicht gegenseitig. Sie haben ihren gemeinsamen Alltag und was in der Nacht passiert, möchte ich lieber nicht wissen. Später werde ich es am eigenen Leib erfahren. Davor habe ich Angst. Es werden Schmerzen auf mich zukommen, ohne Zweifel. Ich solle mich nicht so anstellen, hat meine Mutter gesagt. Ihre abweisende Art lässt mich aber schon beinahe kalt. Jeden Tag die gleichen Sprüche und Forderungen. Sie sollte sich lieber mal etwas Neues einfallen lassen.
Ich werde von einer Hand zur nächsten gereicht, damit man mir ausreichend gratulieren kann. Wenn die wüssten, was ich wirklich über unsere Existenz dachte, stünde ich nicht mehr hier. Das Anzweifeln unserer Herkunft ist strengstens verboten und wird bestraft. Nicht um sonst gibt es in jedem Haus eines Gleichartigen eine Zelle im Keller. Zum Schluss stehe ich einem sehr jungen Werwolf gegenüber, seine Einführung müsste letztes Jahr gewesen sein. Er streckt mir wie die anderen auch seine Hand entgegen und misstrauisch betrachte ich ihn. Warum sieht er so zufrieden aus? Stelle ich mir die kommenden Jahre nur zu schwer vor? Er lächelt mich an und ein Schauer durchzuckt mich wie ein Blitz. Sein Lächeln ist aufrichtig und anscheinend ernst gemeint, aber ich bin es nicht gewohnt. Gequält versuche ich ebenfalls ein Lachen um meinen Mund erscheinen zu lassen, aber selbst ich merke, wie unecht es aussieht. In seinen Augen kann ich förmlich die Erkenntnis aufblitzen sehen, dass ich jedem in diesem Raum etwas vormache. Ich bekomme Angst. Er ist älter und weiß über meine Gefühle Bescheid. Er wird sie meinen Eltern melden und die werden mich dann bestrafen. Erschrocken über den Gedanken weiche ich ein Stück zurück, er hält meine Hand schon viel zu lange in seiner. Nur zögernd lässt er mich los und ich drehe ihm den Rücken zu. Er darf den Schock in meinem Gesicht nicht länger sehen. Sein Misstrauen scheint auch so schon groß genug zu sein.
Endlich habe ich alle Gäste in dem Raum begrüßt und muss nun das Buffet eröffnen. Ich setze mich mit nur wenig Speisen auf meinem Teller zum nächstgelegenen Platz. Die Gäste nehmen sich ebenfalls etwas zu Essen und verteilen sich im Raum. Die Atmosphäre lockert sich zwar ein wenig, doch ich bin noch genauso verspannt wie zuvor. Neben mir wird ein Stuhl zurückgezogen und der junge Wolf von vorhin nimmt neben mir Platz. Für mich kann es nichts Gutes heißen, wenn er mich verfolgt. Es beweist mir sogar, dass ich unangenehm aufgefallen bin. Er räuspert sich.
"Hast du keinen Hunger?"
Statt einer Antwort sehe ich hinunter auf meinen Teller. Tatsächlich habe ich mein Essen nicht angerührt. Mit der Gabel schiebe ich mir einen Happen Salat in den Mund. Wieder lächelt er. Hätte ich nicht solche Angst vor seinem Verrat, würde es mir vielleicht sogar gefallen. Er widmet sich ebenfalls seiner Portion, lässt mich dabei aber nicht aus den Augen. Ich muss mich stark konzentrieren, keinen Fehler zu machen oder etwas Unüberlegtes zu tun.
So schnell wie möglich verdrücke ich das Essen und stehe gleich auf. Meinen Teller bringe ich in die Küche und spüle ihn ab. Um mich abzulenken, mache ich mit dem Geschirr der Gäste weiter und achte nicht auf die Person hinter mir. Es ist nur ein Schatten, den ich aus den Augenwinkel erkennen konnte. Zumindest bis seine Stimme meine Verdrängungskünste ruiniert.
"Wo sind bei euch die Geschirrtücher? Ich würde dir gern helfen."
"In dem Schrank über dem Herd, aber das musst du nicht tun."
"Ich weiß, aber an diesem Tag solltest du nicht schuften müssen."
Ich will mich umdrehen und meinem Helfer ein dankbares Lächeln schenken, doch als ich sehe, wer da zur Tat schreiten möchte, bringe ich keines zu Stande. Ich setzte ein Pokerface auf.
"Sag mal verfolgst du mich?"
"Ich muss mit dir reden."
"Also doch. Worum geht’s?"
"Ehm, eigentlich um nichts Bestimmtes. Du wirkst nur eher schlecht gelaunt, dafür dass heute dein Geburtstag ist."
"Das bildest du dir bestimmt nur ein."
"Aber warum bist du hier statt auf dieser Feier Spaß zu haben?"
"Du bist doch auch hier? Und sag mal wer bist du denn? Mein Psychologe oder was?"
"Wie schon gesagt, ich bin hier um ein Gespräch mit dir zu führen. Und um dir zu helfen."
Ich bleibe misstrauisch, aber zu einem Gesprächspartner sage ich nicht nein. Ich atme einmal tief durch und versuche, ein neues Thema zu finden. Das jetzige ist doch sehr gewagt nahe an meinem Hass auf Werwölfe dran.
"Geb's zu, dir ist in Wirklichkeit langweilig. Schließlich sind wir die einzigen in unserem Alter hier."
"Ach ja? Für wie alt schätzt du mich denn?"
"Na gut, du bist schon achtzehn, aber so groß ist der Unterschied doch wohl nicht oder?"
"Ich bin kurz davor, einundzwanzig zu werden."
"Was? Du hattest doch letztes Jahr erst deine Einführung. Wie kannst du dann jetzt schon beinahe ein vollwertiger Werwolf sein?"
Immerhin kann ich mir jetzt sein Aussehen erklären - welcher 18-Jährige hat schon Muskeln wie ein Profi-Boxer und auch so schon die Statur eines erwachsenen Mannes? Ich muss vorsichtig sein und ihn auf Abstand halten. Bald wird er zu dem werden, was ich an Werwölfen so sehr hasse. Wenn er mit einundzwanzig jeden Vollmond die Kontrolle über seinen Körper verliert, möchte ich lieber nicht in seiner Nähe sein. Und auch so wird er unter enormen Spannungen stehen, die nur eine Frau lösen kann. Dafür werde ich sicher nicht Schlange stehen.
"Es gab Probleme mit dem früheren Termin, also mussten wir die Einweihung verschieben. "
"Was waren das denn für Probleme?"
"Etwas familiäres, ich darf nicht darüber sprechen."
Ich kann einen kleinen Seufzer nicht unterdrücken. Seine Situation kenne ich nur zu gut. Bloß dass er bald von den Pflichten gegenüber seiner Eltern loskommen und sein eigener Herr werden wird. Und der Herr eines unschuldigen Mädchens. Ich kann ihn nicht mehr ansehen. Er wird keine Wahl haben. Und auch eine unschuldige Werwolf-Frau wird sich ihm beugen müssen.
"Entschuldige bitte, ich wollte nicht zu neugierig sein. "
"Kein Problem, du bist nicht die erste, die sich darüber wundert. "
"Das Geschirr ist sauber. Ich denke, ich werde mal zu meinen Eltern schauen müssen. Sie erwarten mich bestimmt."
Er nickt und ich drehe mich von ihm weg. Meine Eltern stehen auf der anderen Seite des Raums und blicken zu uns hinüber. In ihren Gesichtern ist deutlich Misstrauen zu erkennen. Sie vermuten einen Fehler meinerseits, doch als ich mich von dem Jungen weg bewege, wirken die beiden zufriedener. Sie haben unser Gespräch belauscht, keine Frage.
"Warum gibst du dich mit ihm ab?"
"Ist es mir verboten? Ich dachte nicht, dass auf dieser Feier unerwünschte Gäste sein könnten."
"Das nicht, aber ich und deine Mutter glauben nicht, dass er ein guter Umgang für dich ist. Halte bitte eine Zeit Abstand von ihm."
"Wie ihr wünscht."
Ich zwinge mich zu einem Lächeln und suche mir einen ungestörten Platz im Salon. Was soll ich nur von diesem Mann halten? Vertrauen kann ich ihm nicht. Erstens weil er bald ausgewachsen sein wird und zweitens weil er mehr über meine Gefühle weiß als gut für mich ist. Gut für mich sein kann. Meine Eltern haben nicht Unrecht, er ist wirklich kein Umgang für mich. Das Verbot ist das perfekte Alibi, um keine weitere Unterhaltung mit ihm führen zu müssen.
"Du sitzt hier ja schon wieder ganz alleine. Solltest du dich nicht lieber amüsieren gehen?"
"Ich bin gern alleine. Außerdem habe ich auch keine andere Wahl, schließlich habe ich keine Freunde."
"Wie wäre es, wenn wir Freundschaft schließen?"
Oh nein, das meint er doch nicht ernst oder? Vor ihm hat sich niemand für mich interessiert und wenn mir mal ein Freund angeboten wird, darf ich ihn nicht annehmen? Na gut, bei ihm ist es besser so. Seine Ausstrahlung ist etwas einschüchternd. Ich kann nicht sagen, ob es gut oder schlecht für mich wäre, wenn ich mich auf ihn einließe, aber es war mir auch so schon verboten. Frust überkommt mich. Zu gern würde ich eine eigene Entscheidung treffen und mein Glück probieren. Wie soll man denn seine eigene Menschenkenntnis einschätzen können, wenn man davon nie selbst Gebrauch machen kann? Moment, stopp! Ziehe ich diesen beinahe fremden Mann als Freund in Erwägung? Er weiß doch schon jetzt zu viel über mich. Anscheinend hat er nicht vor, mich an meine Eltern zu verraten, sonst hätte er es schon längst getan. Auf welcher Seite steht er nur?
"Ich denke nicht, dass eine Freundschaft zwischen uns eine gute Idee wäre."
"Warum nicht? Du scheinst nett zu sein."
"Du weißt doch nicht das Geringste von mir, oder?"
Ich bereue die Frage. Auch ohne Antwort sehe ich in seinem Blick meine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Er weiß, was ich über Werwölfe denke. Flüchtig sehe ich mich im Raum um und halte nach meinen Eltern Ausschau. Sie achten aber zu meinem Glück nicht auf mich, sonst würde mich sofort eine Strafe erwarten. Immerhin hatte ich gegen ihren Befehl verstoßen, dem Jungen aus dem Weg zu gehen. Er folgt meinem Blick und ein gemeines Grinsen zuckt über sein Gesicht. Er steht auf und bewegt sich auf den Kreis der Ältesten zu. Das erregt die Aufmerksamkeit meines Vaters und sein Blich wandert von mir zu ihm und wieder zu mir. Mein Herz rast und mein Puls schießt in die Höhe. Das Adrenalin sammelt sich in meinem Körper, während mein Vater wütend auf mich zukommt.
"Ich sagte doch, du sollst dich nicht mit ihm einlassen. Du hast mir zu gehorchen!"
Ich versuche seinem harten Griff auszuweichen. Der Werwolf in mir will sich nicht kontrollieren lassen. Das Gefühl ist neu für mich, wie ein gewaltiges Feuer, das sich in mir ausbreitet, doch plötzlich wird es unterdrückt. Mein Vater als Oberhaupt der Familie kann mich gefügig machen, ob es mir passt oder nicht. Er zieht mich aus dem Salon in Richtung Keller. Mein angsterfüllter Blick erhascht noch den Jungen. Er hat es nicht bemerkt und geht weiterhin auf den Kreis der Erwachsenen zu.
Mein Vater öffnet die schwere Eisentür und sperrt mich dahinter weg. Ich probiere nicht zu schreien, das würde nichts helfen. Im Gegenteil, es würde mir nur mehr Zeit hier drin verschaffen. Aber ist es nicht eigentlich auch so schon egal? Der junge Wolf wird meinen Eltern verraten, dass er über meine Gefühle bescheid weiß. Das würde bedeuten, dass mein Hass gegenüber meiner eigenen Art nach außen vorgedrungen ist. Damit habe ich die oberste Regel gebrochen und werde auf ewig in dieser Zelle festsitzen. Nicht einmal durch den Tod könnte ich mich befreien. Als Werwolf stirbt man nur durch den Verlust seines kompletten Blutes. Die Lebensessence muss den Körperkreislauf verlassen, damit die Gene keine Heilung mehr bewirken können.
War nicht leicht das heraus zu finden. Ich habe Tabletten genommen und bin eine Woche später wieder aufgewacht. Ich habe Nahrung verweigert, was mich gelähmt hat, bis mich meine Eltern zwangen, wieder etwas zu mir zu nehmen. Durch Zufall, oder besser gesagt durch Belauschen meines Vaters, fand ich das mit dem Bluttod heraus. Nicht einmal zwei Minuten später musste mein Spiegel dran glauben...
In dieser Zelle gibt es aber nichts hilfreiches, denn der Raum ist bis auf ein kleines Waschbecken, einer Toilette und einem kleinen Bett völlig leer. Ich breche in Tränen aus. Frühestens in drei Tagen würde ich wieder Sonnenlicht zu Gesicht bekommen. Da muss mir mein Vater Nahrung bringen, aber dabei wird er kaum Zeit verlieren. Ich weiß nicht, wie lange ich hier bleiben muss. Ich weiß nur, dass es wie eine Ewigkeit für mich sein wird.
Ich kann die Gäste hören. Sie gehen gerade, ohne wirklich zu wissen, was mit mir ist. Sie denken ich wäre zu Bett gegangen. Am liebsten würde ich einfach um Hilfe rufen, aber wen denn? Kein anderer Werwolf wird sich der Erziehung meiner Eltern in den Weg stellen, es ist ihnen untersagt. Abgesehen davon, dass mich hier sowieso niemand finden kann. Meine Schreie würden mich nur noch länger hier drin einsperren. Wie ich diesen Raum hasse! Schon als kleines Mädchen verbrachte ich einige Stunden unfreiwillig zwischen diesen vier Wänden. Schon oft ist die Luft ausgegangen und ich wäre erstickt, wenn ich so sterben könnte. Verdammtes mutiertes Blut in meinen Adern! Ich seufze und kann wie eine Antwort ein Knurren hören, das von meinem Vater kommt. Er belauscht mich ununterbrochen. Selbst wenn ich eingesperrt und vor der Welt verschlossen bin, traut er mir nicht über den Weg. Ich sinke zu Boden und lehne mich an der Wand an. Es gibt keine Beschäftigung für mich, also starre ich auf einen Fleck mir gegenüber. Eigentlich bin ich gefangen, um über mein Verhalten nachzudenken. Vielleicht ist das Sortieren meiner Gedanken gar keine schlechte Idee. Mal überlegen, was war heute eigentlich so passiert? Ich bin eine eingeweihte Werwölfin. Ich werde anfangen müssen, meine Gefühle stärker zu kontrollieren, damit ich niemanden in meiner Gegenwart angreife. Ich werde nicht mehr zur Schule gehen können, denn dort wimmelt es nur so von Menschen. Es ist nicht so, dass man als Werwölfin keine Kontrolle über den eigenen Körper behalten kann, aber in der Anfangszeit fällt es schwer. Ich würde mich nur in Schwierigkeiten bringen. Meine Eltern kümmern und sorgen sich nicht wirklich um mich. Nur um ihren Ruf in der Wolfs-Gesellschaft.
Die Feier war zwar für mich bestimmt, aber so sehr wurde ich auch wieder nicht beachtet, bis auf.... der Junge. Warum konnte er mich nicht in Ruhe lassen und sich um seinen eigenen Kram kümmern? Nur wegen ihm stecke ich in diesem Schlamassel. Er wird auch dafür sorgen, dass ich noch lange an diesem grausamen Ort sein muss. Ich brauche Auslauf. Das liegt in der Natur von Werwölfen. Bewegungsfreiheit steht auf unserer Wunschliste ganz oben, was der Grund für diese Art der Bestrafung ist. Außerdem werde ich langsam paranoid. Ich bilde mir schon ein, dass die Wände auf mich zukommen. Als ob das möglich wäre. Aber die Erinnerung an die Klischee Zellen aus Filmen machen mich verrückt. Es fehlt nur noch die Zwangsjacke, aber wer weiß. Auf diese Idee könnten meine Eltern ja auch kommen. Pff, Eltern! Sind sie das überhaupt noch? Klar, ich bin ihr Fleisch und Blut, doch sie verhalten sich wie meine schlimmsten Feinde. Langsam habe ich die Nase voll. Warum kann ich nicht einfach ein normales Leben führen, mit jemandem, der mich wirklich gern hat? Einen normalen Freund finden, so wie, wie...wie der Junge. Was?? Bin ich denn bescheuert? Ich denke immer noch über eine Freundschaft mit diesem Verräter nach. Aber davon abgesehen...er war nett. Netter als jeder andere vor ihm. Wie kann das sein? Es macht mir Kopfschmerzen. Er macht mir Kopfschmerzen! Ich will nicht darüber nachdenken müssen, aber ich habe keine Wahl mehr. Sein Gesicht geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Seine braunen, fast schwarzen Haare, die seine markanten Gesichtszüge auf eine besondere Art einrahmen. Sein roter Mund und seine Stubsnase. Und am besten, seine Augen. Jedesmal in einem anderen braun, doch jeder einzelne Farbton war wunderschön. Ein hysterisches Lachen verlässt meinen Mund. Er gefällt mir, das kann ich nicht abstreiten. Vorhin stand ich unter Druck und es fiel mir nicht auf. Das Kribbeln soll weg gehen! Bitte! Tränen laufen mein Gesicht hinab. Wie lautet sein Name denn überhaupt? Was weiß ich schon über ihn? Er hat mich in Schwierigkeiten gebracht und ich habe nichts besseres zu tun, als mich in seinen Augen zu verlieren? Sie sind so schön und ich werde sie nicht wieder sehen. Vielleicht ist es besser so. Er. Ist. Kein. Guter. Umgang. Das muss doch endlich in mein Hirn. Nur aus diesem Grund bin ich doch eingesperrt worden. Ich bin so müde. Vielleicht sollte ich lieber schlafen. Das ist leichter gesagt als getan. Lange liege ich noch wach und habe sein Gesicht in meinem Kopf. Es geht da nicht weg, egal wie lange ich es auch nur versuche. So ein verdammter Mist! Hab ich schon erwähnt, dass ich mein Leben hasse?
Seit einer Woche bin ich schon eingesperrt. Zumindest schätze ich die Zeit so ein. Mein Vater hat mir schon zweimal eine Mahlzeit vorbei gebracht. Dabei sah er mich nie an, als ob ich nicht mehr seine Tochter wäre. Mir soll es Recht sein, so gefühlt habe ich mich auch so nie. Von meiner Mutter höre ich nicht das Geringste, nur wenn sie nachts vor Schmerzen schreit. Dank meinem verbesserten Gehör dringt es durch die dicken Wände bis zu meinem Bewusstsein vor. Auch wenn sie mir nie die Liebe gab, die ich mir wünschte, tut sie mir leid. Ich kann ihr nicht einmal böse sein. Sie sieht in mir die Schmerzen, die mein Vater ihr bereitet. Da kann sie mich ja nicht gern haben. Und jetzt mache ich ihr noch zusätzlich Schwierigkeiten. Meine Eltern müssen meinen Ungehorsam vertuschen und meine Mutter bekommt jeden Abend den Zorn meines Vaters auf mich verstärkt zu spüren. Es tut mir wirklich so leid! In vielen Situationen hätte ich einfühlsamer sein können und auch müssen! Sobald ich wieder aus meinem persönlichen Knast komme, werde ich gehorsam sein. Bestimmt werde ich bald zur Heirat gezwungen werden und ich werde es widerstandslos über mich ergehen lassen. Ich habe nur solche Angst! Es soll bitte, BITTE, jemand sein, der nicht durch und durch böse ist. Es wird schon genug weh tun, wenn er sich mit mir vergnügt. Ein Vergewaltiger würde sogar dem Teufel Angst einjagen. Warum haben eigentlich immer die Männer das Vergnügen und die Frauen müssen darunter leiden? Vielleicht habe ich ja Glück und mein Partner wird nett. Hoffentlich hat mein Vater mich noch nicht ganz aufgegeben und sucht einen annehmbaren Werwolf für mich.
Lange Zeit muss ich noch in dieser kleinen Hölle verbringen. Meine Eltern reden kein Wort mehr mit mir, aber ich weiß, dass sie mein Bereuen spüren können. Vor allem mein Vater kann es nicht lassen, in meinem Kopf nach Anzeichen auf Verrat zu stöbern. Da kann er lange suchen! Mir ist jetzt klar, dass ich nicht vor meinem Schicksal weglaufen kann. Alleine könnte ich es nie schaffen und Freunde habe ich keine. Nicht dass ich wüsste. Der Junge schien sein Angebot wohl kaum ernst gemeint zu haben, wenn er mich verpetzt hat. Obwohl ich mir mittlerweile nicht mehr sicher bin, ob er wirklich etwas weiß. Vielleicht habe ich mir ja auch alles nur eingebildet. Ich muss ihn vergessen, schließlich wird sicher bald eine Hochzeit bevor stehen - Meine. Zumindest sobald ich raus gelassen werde. Mein Vater hat da so eine Andeutung gemacht... Oh Gott! Halte einen großen Alptraum von mir fern. Von solchen habe ich schon genug!
Das Licht ist so schön. Ich hasse die Dunkelheit und freue mich, dass ich endlich wieder etwas auf gewöhnliche Weise sehen kann. Sonst verschwindet dieses Glücksgefühl immer sofort, weil mein Vater kein Risiko eingehen will - ich könnte ja weglaufen. Jetzt steht er im Türrahmen und starrt mich an. Wie? Er sieht mich wirklich an? Wie lange hatte er das schon nicht mehr getan? Ich hab irgendwann vor zwei Monaten aufgehört die Tage zu zählen. Wie ich auf genau zwei Monate komme? Mein Vater hat mich am Arm aus den Raum gezogen und ein Kalender hängt mir gegenüber. Ich atme tief durch und ignoriere den schmerzenden Griff um mein Handgelenk.
"Du lässt mich raus? Bin ich wieder frei?"
"Ich hole dich bloß aus dieser Zelle raus, denn du musst dich umziehen. Morgen werden deine Mutter und ich dich offiziell los sein. Wir haben deine Ehe so schnell wie möglich arrangiert und dich verkauft. Wenn du dich bei deinem Mann genauso aufführst wie bei uns, wirst du auch in deinem neuen Zuhause eingesperrt sein."
Das muss ich erst verdauen. Mir ist durchaus bewusst, dass es mein Vater ernst meint. Er will mir drohen. Sobald ich einen Fehler mache, wird er meinem Zukünftigen meine Meinung über Werwölfe sagen und dieser wird mich ungestraft misshandeln können. Als mein Vater stand ihm das nicht zu, alte Regel unter Werwölfen. Eine unter vielen.
Er öffnet die Tür zu meinem Zimmer, in dem schon meine Mutter auf mich wartet. Er wirft ihr noch einen strengen Blick zu bevor er uns alleine lässt. Sie redet kein Wort mit mir. Ich kann die Schmerzen aus den Nächten in ihrem Gesicht ablesen. Sie werden weniger, wenn sie mich los sind, denn dann wird mein Vater keinen Zorn auf mich mehr verspüren müssen.
Mein Herz rast in meiner Brust und meine Hände zittern vor Aufregung. Ich habe keine Ahnung, mit wem ich den Rest meines Lebens verbringen muss. Meine Mutter macht keine Anstalten, mit mir darüber zu sprechen. Sie zieht mich ins Bad und hilft mir beim Waschen. Dann schneidet sie mir meine Haare und frisiert mich. Sie hilft mir auch beim Anziehen und legt mir mein Make-up auf. Unter ihrer Aufsicht darf ich mich im Spiegel betrachten. Das Kleid ist weiß, schlicht und bodenlang. Um die Taille ist ein cremefarbenes Band gewickelt, das meine Oberweite etwas zur Geltung bringt. Die Träger werden im Nacken zusammengehalten und ein V-Ausschnitt entsteht. Meine hellbraunen Haare werden mit Hilfe von einigen Klammern und Spangen hochgesteckt und passen dadurch perfekt dazu. Ich kann nicht anders als mich zu bedanken. Sie hat zu ersten Mal meinen Geschmack berücksichtigt. Wortlos hält sie mir noch die Schuhe hin und ich ziehe sie etwas wacklig auf den Beinen an.
"Setz dich hin. Ich muss mich auch noch schnell umziehen, sonst werde ich nicht mehr fertig."
Sie huscht schnell aus dem Raum und kommt mit ihren eigenen Sachen wieder. Sie darf mich nicht aus den Augen lassen, aber ich habe nicht vor, ihr Probleme zu machen. Heute wird meine Hochzeit sein, damit werde ich mich abfinden müssen.
"Wen werde ich denn heiraten?"
"William Chester. Er stammt aus gutem Hause."
"Sollte ich ihn kennen?"
"Sei bitte leiser. Die Gäste sind schon unten und könnten dich hören."
"Aber was wäre daran so schlimm? Jeder weiß doch, dass diese Hochzeit nicht meine eigene Entscheidung war."
"Es gehört sich aber trotzdem nicht, schlecht darüber zu sprechen. Tu mir bitte einen Gefallen und benehme dich."
"Es tut mir leid."
"Was hast du gesagt?"
"Ich hab gesagt, dass es mir leid tut."
"Was meinst du damit?"
"Deine Schmerzen. Ich habe Vater verärgert und er lässt es an dir aus. Und ich mache dir auch noch andere Sorgen. Du weißt, dass ich mir ein anderes Leben wünsche und ich weiß, dass es sich nicht gehört und auch unmöglich ist. Aber glaub mir, du hättest auch ein anderes Leben verdient. Alles Gute, Mutter."
Sie weint. Tatsächlich. Damit habe ich nicht gerechnet.
"Hab ich was falsches gesagt?"
Sie schüttelt nur den Kopf und sieht mich zweifelnd an. Dann umarmt sie mich. Nur ganz leicht, doch es ist die erste ernst gemeinte Umarmung, die ich jemals von ihr bekommen habe. Sie lässt mich los, wischt sich die Tränen weg und atmet tief durch.
"Es ist so weit."
Wieder schießt mein Puls in die Höhe und ich atme stockend. Meine Knie werden weich als ich mich aus dem Zimmer traue. Mein Vater erwartet mich und führt mich die Treppe hinunter zum Altar. Ich spüre viele Blicke auf mir, aber habe nicht die Geduld, sie zu beachten. Ich will nur wissen, an wen ich nun gebunden werde. Meine Augen finden den Bräutigam und mein Herz setzt aus. Vor mir steht ein junger Mann im Anzug. Er hat braune, fast schwarze Haare, die sein markantes Gesicht einrahmen, einen roten Mund und eine Stubsnase. Seine Augen haben wieder einen anderen Braun-Ton angenommen, der mich auf ein neues den Atem verlieren lässt. Immerhin kenne ich jetzt seinen Namen. Reichlich spät, wenn man bedenkt, dass ich ihn jetzt heiraten werde. Oh Schicksal, warum tust du mir das an? Ich wollte jemanden, der mich verschont. Jemanden, dem ich mich ohne mehr geben zu müssen, beugen kann. Dieser Junge kennt wahrscheinlich meine dunkelsten Gedanken und wird sie gegen mich verwenden. War das die Absicht meines Vaters? Hat er mir deshalb schon vorhin gedroht? Ich kenne die Antwort. Ja, er will mich leiden lassen. Mit der Person, die das am besten schafft. In ihm steckt nicht das geringste Stück Menschlichkeit. Eine Träne rollt mir über das Gesicht und William wischt sie weg. Alle Gäste sehen sehr erstaunt über die vertraute Geste aus. Auch ich kann es nicht ganz glauben. Er lächelt mich an und für einen Moment sind meine Ängste verschwunden.
"Möchten sie, Loretta Binfield, den hier anwesenden William Chester zu ihrem Ehemann nehmen. Ihm Treue und Gehorsam schwören und ihm alle Bedürfnisse erfüllen? So schwören sie auf ihre eigene Existenz."
"Ich schwöre auf meine eigene Existenz."
"Und möchten sie, William Chester, die sich nun als treu und hingebungsvoll bekennende Loretta Binfield als Frau an ihrer Seite und Mutter ihrer Kinder annehmen? So antworten sie schlicht mit ja."
"Ja."
"Das Bündnis zwischen diesen beiden Werwölfen tritt nun in Kraft. Es darf durch keine böse Absicht gestört oder behindert werden. Widerworte werden bestraft. Mister und seine frisch angetraute Misses Chester werden uns nun verlassen. Ich und meine Frau geben unsere Tochter frei und bitten die Gäste an den Esstischen Platz zu nehmen. Lebe wohl, Loretta mein Kind."
William nimmt meinen Arm und führt mich den Gang entlang an den Gästen vorbei. Als Ehepaar nehmen wir nicht an der Feier teil. Bei Werwölfen herrschen andere Sitten. Nur die Gäste genießen das Fest, während wir in unser gemeinsames Haus fahren. Es gibt keine Flitterwochen oder so etwas in der Art wie bei Menschen. Sprachlos folge ich dem Jungen zu dem schwarzen Porsche. Meine Mutter scheint nicht gelogen zu haben - er kommt aus gutem Hause. Jetzt verstehe ich wenigstens ihre Reaktion auf die Frage, ob ich diesen William kenne. Wie hätte ich denn jemals erraten können, dass der verbotene Junge zu meinem Mann wird? Er hat mir nur Freundschaft angeboten. Wie scheinheilig war das denn eigentlich? Von wegen Freundschaft! Er war von Anfang an auf etwas ganz anderes aus. Auf meine Unschuld. Wut baut sich in mir auf und ich drohe überzukochen. Sein Lächeln reißt mich aus meinen Gedanken. Er hält mir die Tür seines Autos auf und wartet darauf, dass ich endlich einsteige. Nur zögernd kann ich es tun, denn seit einer Ewigkeit kann ich endlich wieder die Sonne und den Wind direkt auf meiner Haut spüren. Ich würde am liebsten einfach loslaufen und immer weiter rennen. Es würde meinen Geist befreien und meiner Seele gut tun. Typisch Werwolf. Seufzend steige ich in die Enge des Autos und zucke beim Starten des Motors ein wenig zusammen. William kann sich ein schelmisches Lachen nicht verkneifen und ich werfe ihm einen bösen Blick zu.
"Ach komm schon. Immer noch schlecht gelaunt? Warst du seit deinem Geburtstag auch mal in einer anderen Stimmung?"
"Tut mir leid, aber mir ist gerade nicht sonderlich nach lachen zumute. "
Schlagartig verschwindet das Grinsen aus seinem Gesicht. Nach einer Weile fährt er den Wagen rechts ran und verwundert sehe ich aus dem Fenster.
"Unser Zuhause. Gefällt es dir?"
Ich muss erst einmal schlucken. Ein wunderschönes Häuschen steht vor meinen Augen. Es sieht fast so aus, als befänden wir uns in einem Wald, so viele Bäume umkreisen es. Ich liebe schlicht gehaltene Gegenden, sie sind nicht so einschüchternd. im Gegensatz zu der Villa, in der ich bis vor Kurzem noch gelebt habe. William streckt mir seine Hand entgegen, um mir aus dem Auto zu helfen. Zögernd gehe ich darauf ein.
"Sag mal, hast du Angst vor mir?"
Was soll ich antworten? Er hat ins Schwarze getroffen. Ich habe wirklich Angst vor ihm. Vor dem, was er über mich weiß. Vor dem, was er mir antun kann. Ich möchte ihm nicht zu viel offenbaren, also stelle ich mich dumm.
"Gibt es denn Gründe dafür?"
Er grinst mich an und ein Funkeln taucht kurz in seinen braunen Augen auf. Oh Gott, er wird mir wehtun. Panik überkommt mich während er mich in das Haus zieht. Vielleicht sollte ich mich nicht so über diese Wohngegend freuen. Niemand könnte mir helfen, wenn er mir etwas antut. Niemand würde es bemerken. Ich kann nirgends hin flüchten. Es scheint genau dieser Hintergedanke in der Auswahl des Ortes gesteckt zu haben. Ich kann einen Aufschrei nicht unterdrücken, als er mich hochhebt, bis ich begreife, dass er mich nur über die Schwelle tragen will. Peinlich berührt werde ich rot und er strahlt mich an.
"Tut mir leid, ich hätte dich vorwarnen sollen."
Ich nicke nur. Der Anblick der Innenausstattung überwältigt mich. Es entspricht genau meinen Träumen. Den Tag könnte ich hier vielleicht doch genießen, die Nächte muss ich dann einfach ertragen. William stellt mich wieder auf die Füße und lässt mich den Rest des Hauses noch begutachten. Vor der Tür zum Keller schrecke ich kurz zurück und versuche sie zu ignorieren, genauso wie Williams Reaktion auf meine offensichtliche Angst. Er runzelt die Stirn und denkt nach. Die Küche ist in schwarz und weiß gehalten - sie gefällt mir. Ich liebe es zu kochen und hier wird es noch mehr Spaß machen als mit meiner Mutter. Am Esstisch stehen nur zwei Stühle, was bedeutet, dass William keinen Besuch empfangen will. Ich werde die ganze Zeit alleine mit ihm sein. Tief durchatmen Loretta. Du weißt ja noch nicht, wie die Nächte sein werden. Mit so einem attraktiven Mann an deiner Seite könnte es ja sogar ganz schön werden.
Das Wohnzimmer ist dunkelgrün und beige gestrichen und dekoriert. Ich liebe das Zusammenspiel dieser beiden Farben, es verleiht dem kleinen Sofa und dem Kamin die nötige Gemütlichkeit. Eine ganze Wand des Raums ist mit vollen Bücherregalen bedeckt und ich beschließe, jedes davon zu lesen.
Das Bad ist ein wahrer Traum. Die schwarzen Fliesen sind beheizt und die riesige Badewanne zieht mich magisch an - sie ist auch ein Whirlpool. Ich kam mir vor wie im Paradies, bis ich die nächste Tür geöffnet habe. Ich stehe im Schlafzimmer. In der Mitte ist ein riesiges Doppelbett. Langsam gehe ich darauf zu und betrachte die dunkelbraune Bettdecke. Sie passt perfekt zu Williams Augen. Am liebsten hätte ich mir für meinen eigenen Gedanken mit der Hand an die Stirn geschlagen. Was interessieren mich denn seine Augen? Ich wende meinen Blick ab zu dem gigantischen Kleiderschrank. Ich habe eine riesige neue Auswahl an Kleidung bekommen. Auch wenn ich mir wieder nichts selbst aussuchen durfte, bin ich mit dem Stil zufrieden.
"Ich weiß, die Sachen sind sehr schlicht und ich hoffe, du bist nicht enttäuscht über das kleine Haus, aber..."
"Nein! Es ist perfekt. Glaub mir, du hast meinen Geschmack auf Anhieb besser getroffen als meine eigene Mutter in siebzehn Jahren. Ich denke, die Tage werde ich hier genießen können."
Ach du scheiße! Ich hab ihm gesagt, was ich denke. Mit vor Angst geweiteten Augen versuche ich seine Reaktion abzuschätzen. Er spannt sich an und in seinen Augen kann ich beinahe etwas wie einen Schmerz entdecken.
"Du hast ja tatsächlich Angst vor mir. Glaub mir, das musst du nicht. Erinnerst du dich noch an mein Angebot?"
Verständnislos sehe ich ihn an.
"Ich würde gerne dein Freund sein. Mir ist klar, dass du mich nicht wirklich kennst, aber es ist besser, wenn du keine Angst vor mir hast. Es könnte dir sogar zum Verhängnis werden."
Mit diesen Worten dreht er sich um und lässt mich alleine. Und wie ich Angst vor ihm habe. Wie kann er nur behaupten, ein Freund zu sein und mir im gleichen Satz auch noch drohen? Irgendetwas stimmt hier ganz und gar nicht. Normalerweise hätte er mich schon längst für meine Worte und Gedanken bestrafen müssen. Er hat mich auch das Haus erkunden lassen und er legt Wert auf meine Meinung. Was hat er nur vor?
Ich beschließe mich umzuziehen. Ich will nicht länger in einem Hochzeitskleid stecken, auch wenn es noch so schön aussieht. Ich ziehe eine einfache blaue Jeans aus dem Schrank und ein schwarzes Shirt dazu. Im Schuhschrank sehe ich schwarze Chucks und Pumps stehen und freue mich. Ich entscheide mich für die Chucks, sie passen perfekt. Woher kennt er denn meine Schuhgröße und meine Kleidergröße? Schon etwas peinlich, wenn man bedenkt, dass er für mich shoppen gegangen ist. Und unheimlich. Nun zu seiner Verteidigung, er hat nichts aufreizendes oder so besorgt, das wär ja noch schöner. Dann müsste ich ihn zur Rede stellen. Wo ist er überhaupt? Ich suche das ganze Erdgeschoss nach ihm ab, bis ich schließlich vor der Kellertür angekommen bin. Von alleine gehe ich da sicher nicht runter! Da müsste er mich schon runter tragen.
"Erstens stehe ich direkt hinter dir und zweitens kann ich dich gerne runter tragen, wenn du möchtest."
William war draußen, die Tür steht noch offen, aber das war sofort vergessen, als er mich packt und mich in den Keller schleift. Er lässt das Licht aus und ich kann noch nicht genug sehen. Meine Augen müssen sich erst noch an die Verhältnisse hier gewöhnen. Ich höre das Quietschen einer großen Eisentür und bekomme Panik. Ich weiß, dass William schon dabei ist, meine Gedanken zu lesen, seit wir verbunden sind, doch er scheint die Situation falsch einzuschätzen. Er sperrt mich ein, zumindest hört es sich so an. Ich kenne das Geräusch der sich öffnenden Zelle von zu Hause. Ich will nicht! Noch heute morgen war ich für über zwei Monate eingesperrt. Ich will frei bleiben, weshalb ich schreie und panisch um mich schlage. Ich weine wie ein Wasserfall und mein Herz rast vor Angst. William versteht mich nicht. Er denkt ich mache einen Witz. Oh Gott, wenn er mich schon jetzt ohne Grund einsperren will, was passiert dann, wenn ich wirklich mal etwas falsch mache?
"Lass mich los. Bitte! Bitte, BITTE! Lass. Mich. RAUS!!!! "
Wie eine Verrückte schlage ich um mich und bekomme einen hysterischen Anfall. Es dauert nicht lange, bis ich erschöpft das Bewusstsein verliere.
Vorsichtig öffne ich meine Augen und bin total perplex. Das war nicht, was ich erwartet habe.
"Wo bin ich?"
"Immer noch in unserem Keller. Du warst gerade ohnmächtig, ist alles in Ordnung?"
Macht er sich etwa Sorgen um mich? Seine Augen haben ein ganz helles Braun angenommen. Die Farbe sehe ich zum ersten mal, also könnt er wirklich so etwas wie Sorge empfinden. Ob sie wirklich mir gilt, oder doch dem Vergnügen, das ihm entgehen könnte, kann ich aber nicht sagen.
"Ja, ich denke schon. Was ist das hier?"
"Der Trainingsraum. Ich wollte ihn dir schon vorhin zeigen, aber du hast diese Tür komplett ignoriert. Nachdem du erst einmal heftig zurück geschreckt bist, sollte ich vielleicht noch dazu sagen. Guck nicht so erstaunt, natürlich ist es mir aufgefallen, aber ich konnte den Gefühlsstrom in deinem Kopf nicht einordnen. Genauso wenig wie gerade eben. Kannst du mir mal verraten, warum du bis eben solche Panik hattest?"
"Mir wurde gesagt, in jedem Haus eines Werwolfs ist im Keller eine Zelle. So wie bei meinen Eltern auch."
"Tut mir leid, das zu sagen, aber es stimmt. Gegen diese Regel durfte ich nicht verstoßen. Der Raum gegenüber ist nur von außen zu öffnen. Dachtest du, ich will dich da hineinstecken?"
Ich nicke stumm und Schauer laufen mir den Rücken hinunter. Er schüttelt fassungslos den Kopf und hebt mich wieder hoch. Ich kneife die Augen zu, denn ich will diese Zelle nicht sehen müssen. William trägt mich nach oben uns lässt mich hinter unserem Haus wieder los. Wir sind von Bäumen umzingelt, doch die Lücken im Blätterdach lassen etwas Sonne zu meiner Haut durch. Ich genieße das Gefühl, auch wenn der Wind meine Frisur zerstört. Endlich kann ich wieder tief durchatmen und ein erleichtertes Kichern kommt aus meinem Mund.
"Danke."
"Wofür denn?"
"Naia, dass ich raus darf."
"War dir das früher nicht erlaubt?"
"Nur für die Schule, aber da war ich schon lange nicht mehr. Meine Eltern haben mich schon vor der Hochzeit abgemeldet."
"Warum?"
Darf ich ihm antworten? Es wäre eine Straftat, schlechte Gedanken über meinen Vater auszusprechen. Obwohl, hat er nicht selbst gesagt, dass er mich frei gibt? Kann ich William trauen, oder wird er mich für meinen Widerwillen bestrafen?
"Ich...ich war ungehorsam. Nichts weiter."
Er tritt einen Schritt auf mich zu und ich weiche ein Stück zurück. Er kneift seine Augen zusammen und fixiert meinen Blick.
"Lügst du mich gerade an? "
"Nein!"
Seine Hand schnellt nach vorne und packt mich am Kinn. Ich kann nichts machen, er beherrscht mich. Verdammte Hochzeit, verdammtes Band. Es ist schrecklich, einen Fremden in meinem Kopf zu haben!
"Was haben dir deine Eltern angetan, Loretta? "
"Mich eingesperrt."
"Wie lange?"
"Seit meinem Geburtstag bis heute morgen."
"Was? Mit welcher Begründung?"
"Ich sagte doch schon, ich war ungehorsam."
"Was war denn so schlimm, dass du so lange gefangen gehalten wurdest?"
"Ist das dein ernst?"
"Was soll das jetzt heißen?"
Unser Gespräch hat sich in einen richtigen Streit entwickelt. Ich hab Angst vor ihm. Er ist kurz vorm Ausrasten wegen mir. Ich senke meine Lautstärke, um ihn nicht noch mehr aufzuregen.
"Erinnerst du dich an unser letztes Gespräch an meinem Geburtstag? Kurz davor haben mir meine Eltern den Kontakt mit dir verboten, aber du warst nicht abzuwimmeln. Dann bist du aufgestanden, um ihnen etwas von mir zu erzählen. Ich weiß bis heute nicht, was du von mir zu wissen glaubst, aber es hat mir Angst gemacht. Soll ich dir sagen, was mir durch den Kopf ging, als ich dich am Altar gesehen habe? Der Junge will mich nicht verpfeifen, er will mich doch lieber selbst leiden lassen. "
"Was meinst du mit leiden lassen?"
"Glaub nicht ich würde den Sinn unserer Hochzeit nicht kennen, schließlich sind wir beide Werwölfe. Vielleicht bist du ja nicht böse. Keine Ahnung warum, aber so schätze ich dich nicht ein. Trotzdem werden die Nächte weh tun. Egal wie nett du sein magst oder nicht."
Er lässt mich los und bringt wieder ein Stück mehr Abstand zwischen uns.
"Hast du deshalb solche Angst vor mir?"
Anstatt meine Antwort abzuwarten, zieht er mich aber wieder in das Haus. Im Wohnzimmer angekommen lässt er mich los, geht auf das Bücherregal zu und kommt mit einem alten Buch zurück. Es wurde schon oft gelesen, das ist eindeutig.
"Lies das und sag mir dann nochmal, wie du über mich denkst!"
Mit diesen Worten dreht er sich um und verlässt wieder das Haus. Durch das Fenster sehe ich, wie er sich in einen Wolf verwandelt und in mitten der dichten Bäume aus meinem Sichtfeld verschwindet. Ich starre auf das Buch in meinen Händen und weiß nicht recht, was ich machen soll. LIES!!!, ertönt es in meinem Kopf. Er hält die Verbindung zwischen uns immer noch aufrecht. Er könnte, wenn er wollte, den Kontakt abbrechen, doch wie ein Kontrollfreak kommt er ohne Überwachung meiner Gefühle nicht zur Ruhe. Wenigstens kann er nur Bruchstücke der Gedanken lesen und selbst zu mir schicken. Es könnte mir einen Vorsprung verschaffen, wenn ich weglaufe. Falls ich weglaufen muss. Zuerst werde ich mir aber noch seine Geschichte anhören. Ich setzte mich auf das Fensterbrett und beginne zu lesen....
25.06.1990
Geliebter Vater;
Jede Nacht überkommt es mich, ein Verlangen. Am liebsten würde ich alle Menschen um mich herum töten. Warum? Weil ich es kann. Niemand könnte mich stoppen. Wer sollte denn meine Stärke bremsen oder mich anders aufhalten? Ich bin anders. Ich liebe diese Macht - meine Macht.
29.06.1990
Lieber Vater;
Es ist unglaublich! Ich habe mich seit meinem letzten Brief unkontrolliert in einen Wolf verwandelt. Es war wie Feuer in meinem Körper, das drohte mich zu verbrennen. Keine Sorge, mir geht es gut. Sogar mehr als das. Ich werde zum Tier und es gefällt mir! Keiner außer dir kennt mein Geheimnis, es ist etwas besonderes. Das spüre ich. Sag mir, hast du auch diese Seite in dir? Genießt du es auch so wie ich?
03.07.1990
Mein Vater;
Wo bist du? Warum meldest du dich nicht? Ich brauche deinen Rat. Ich kann mich keinem außer dir anvertrauen. Habe ich dich durch meine Gedanken verstört? Wenn ja, dann tut es mir leid. Ich kann meine Gefühle aber nicht lenken. Bitte wende dich nicht von mir ab, nur weil ich mich wie ein Tier verhalte. Sich in einen Wolf zu verwandeln, ist nicht zu unterschätzen. Trotzdem habe ich noch menschliche Empfindungen, glaube mir! Antworte doch bitte!
13.07.1990
Vater!
Ich habe dir so viel Zeit gelassen, aber jetzt kann ich nicht mehr warten. Ich brauche deine Hilfe. Ich bin so verwirrt, denn ich weiß nicht mehr, was ich noch tun soll! Ich möchte keinen Unschuldigen mehr töten. Ich habe jemanden meiner Art getroffen. Er war mir nie aufgefallen, weil er sich anders verhalten kann. Was wenn die schreckliche Seite nicht von dem Wolf, sondern von mir selbst ausgeht? Offensichtlich ist es nicht nötig zu morden? Was kann ich tun. Ich weiß nicht weiter ohne dich. Bitte verstoße mich nicht. Ich bereue doch schon!
20.07.1990
Vater?
Hasst du mich? Bin ich nicht mehr dein Sohn? Habe ich deine Aufmerksamkeit nicht verdient? Ich sehe meine Fehler ein! Ich weiß nämlich des Rätsels Lösung. Ich brauche eine Ablenkung, ich brauche eine Frau. Der andere Werwolf (so nennt er unsere Art) hat es mir geraten. Er erzählte mir von einem Vergnügen, das mir im Moment noch entgeht. Es muss wirklich ein Vergnügen sein, wenn er das sagt! Auch wenn es mich für einen kurzen Moment Freude bereitete, andere in meiner Nähe leiden zu lassen um sie dann zu töten, möchte ich nicht auf größeren Spaß verzichten.
13.08.1990
Meine Anliegen scheinen dir nicht sonderlich nahe zu gehen, wenn du Antworten für unnötig hältst. Ich möchte dir nur sagen, dass ich es leid bin dir zu schreiben. Meine Gedanken scheinen dich auch so nicht zu interessieren. Dies ist der letzte Brief meinerseits.
Ich habe eine Frau gefunden. Dank meinem Freund. Er ist mir eine größere Hilfe als du, mein eigener Vater. Er erklärt mir alles. Jedes Detail über mein neues Leben. Ich habe mich verändert. Mein Alltag hat sich verändert. Meine Frau liebt mich nicht, doch das ist mir egal. Sie hält auch so zu mir und gibt mir, was ich brauche, sobald ich es brauche. Mein Freund hatte Recht, es ist ein besserer Zeitvertreib, als ein Mörder zu sein. Sie wird bald ein Kind in ihren Händen halten. Er wird sein was ich bin. Aber das dürfte dir ja bekannt sein. Ich fasse nicht, dass du mich verraten hast. Du und Mutter müssen ebenfalls Wölfe gewesen sein. Ihr vererbt mir dieses Gen und haltet es nicht für nötig, mir davon zu berichten? Es ist das Beste, was mir je passiert ist. Ich bereue meine Art und mein Verhalten nicht. Ich kann nur deinen Verrat nicht verstehen. Warum hast du es mir all die Jahre verschwiegen und mich im Dunkeln gelassen? Vor allem, als ich deine Hilfe am nötigsten brauchte. Wag es nicht, dich noch länger als mein Vater zu bezeichnen!
Ich blättere das Buch noch mal durch, das kann doch noch nicht alles gewesen sein! Briefe eines Werwolfs an seinen Vater, die mir nicht weiterhelfen. So viel wusste ich schließlich vorher auch schon. Die genauen Gedanken eines ausgewachsenen jungen Wolfs wollte ich eigentlich lieber nicht erfahren. Der Gedanke daran verursacht Gänsehaut. Der Verfasser der Briefe hatte genau die Einstellung, die ich an Werwölfen so hasse. Entweder morden oder sich eine Werwölfin zum misshandeln suchen. Der Spaß, wie der Mann ihn nannte, wollte aber keinem entgehen. Wie kann man nur so kaltherzig sein? Wir Frauen werden von ihnen nur ausgenutzt. Nur zum Vergnügen werden wir geboren. Menschliche Frauen würden den Schmerz aus den Nächten nicht überwinden können. Auch gestärkt durch die Gene eines Werwolfs muss der Sex beinahe unerträglich sein.
Was wollte mir William denn mit diesem Buch zeigen? Es bestätigt doch nur meine Ängste und Zweifel an ihm. Was hat dieses Buch denn mit uns zu tun? In welcher Verbindung steht es bitte zu ihm? Er muss es doch irgendwo her haben.
William? Komm zurück, wenn du meine Gedanken hören kannst!
Ich kann die Gedankenverbindung zu ihm spüren, jedoch nur sehr schwach. Er hat sie losgelassen. Nur meine Seite ist noch offen, was sehr ungewöhnlich ist. Bis vor Kurzem kontrollierte er mich noch, so wie mein Vater damals. William lässt mir meine Privatsphäre. Das ist so angenehm, aber jetzt doch etwas ungünstig. Ich will ihn zur Rede stellen. Es kann doch nicht wahr sein! Eigentlich wäre das meine Chance von hier zu flüchten. Warum warte ich denn auf ihn? Das Buch hat mir doch jetzt bewiesen, dass er nichts Gutes mir mir im Sinn hat, oder? Wollte er darauf hinaus? Soll das alles nur ein Spiel sein? Ein Test? Sehr schwer vorstellbar. Was muss der denn so schwer einschätzbar sein? Ich kann diese Ungewissheit nicht gebrauchen! Ich muss ihn suchen. Ich will eine Erklärung für das Ganze hier. Außerdem muss ich ihn fragen, was er schon über mich weiß. Er hat mich wegen bestimmten Gründen zu seiner Frau gemacht. Zufälle gibt es nicht in meinem Leben. Gab es nie und es wird auch nie so sein schätze ich.
Wo soll ich den meine Suche starten? Ich kann ihn nicht ausmachen, denn er hält seinen Geist verschlossen. Er ist vorhin in das Waldstück gerannt. Da werde ich wohl oder übel anfangen müssen. Vorsichtig nähere ich mich dem dichteren Teil der Bäume. William ist sehr weit weg. Er hätte mich sonst schon längst bemerken müssen. Ich weiß nicht weiter. Meine Sinne sind nicht gut genug und seine Gedanken sind noch immer abgeschirmt. Vielleicht können seine Wolfsohren meine Stimme hören.
"William?"
Keine Antwort. Auch nicht wenn ich schreie. Es nützt nichts! Ich muss auch in die Wolfsgestalt wechseln. Aber wie? Ich habe das noch nie gemacht. In der Zelle im Keller war nie genügend Platz dazu. Die erste Verwandlung ist zu schwierig, um sie alleine durchzuführen. Meine Eltern haben es mir nie gezeigt. Wie hat William das vorhin gemacht? Er rannte und sprang, damit er sich in der Luft ohne Hindernisse verwandeln konnte. Ich versuche es ihm gleich zu tun. Ich renne und springe, aber nichts passiert. Immer weiter laufe ich in den Wald. Ich werde wütend. So schwer kann das doch nicht sein. Noch ein Sprung! Wieder nichts, doch es fühlte sich anders an. Die Wut scheint geholfen zu haben. Ich probierte meine Verwandlung durch Emotionen herbeizuführen. Ein letzter Sprung und ich landete auf meinen Beinen. Auf vier Beinen. Es hat tatsächlich geklappt. Vor Freude vergesse ich, meinen Lauf zu stoppen. Ich renne und renne. Ein unglaubliches Gefühl in diesem Körper. Das Laufen löst meine schlechten Gedanken und das erste Mal seit einer langer Zeit fühle ich mich wieder besser. Der Geruch der Bäume und vom Gras kitzelt in meiner Nase und ist ein netter Gegensatz zur Zelle. Der Wind zerzaust mein hellbraunes Fell - es hat die gleiche Farbe wie meine Haare. Nett, trotzdem verschwende ich keinen weiteren Gedanken mehr daran. Der einzige Vorteil zur Hälfte ein Wolf zu sein, offenbart sich mir gerade.
Das Hochgefühl stoppt ohne die geringste Vorwarnung. Ich habe meinen Körper nicht mehr unter Kontrolle. William hat mich gefunden. Ich kann meinen Geist nicht wie er verschließen, er ist das Alpha-Tier. An ihn bin ich durch die Heirat sogar noch stärker gebunden, als früher an meinen Vater. Williams Geist öffnet sich mir kurz und er schleudert mir seine Wut entgegen. Darunter ein großer Teil Enttäuschung. Er denkt, ich laufe gerade vor ihm weg. Er versteht mich falsch, aber er ist zu aufgebracht, um die Wahrheit zu erkennen.
Unter seinem Einfluss breche ich zusammen und verwandle mich in einen Menschen zurück. Mein Kopf schmerzt wie die Hölle und ich versuche durch Berührungen meiner Hände etwas daran zu ändern. Ein dunkelbrauner Wolf rennt auf mich zu und verwandelt sich in Williams Menschenkörper. Er sieht so wütend aus! Ich bin doch nicht weggelaufen! Noch hatte ich es nicht wirklich vor, wie kann ich ihm das nur zeigen? Ein weiterer Schwall Wut strömt in meine Gedanken. Er schafft es nicht, in kompletten Sätzen zu denken, geschweige denn meine Gedanken zu verstehen. Dann muss ich es wohl mit Bildern in meinem Kopf versuchen. Ich zeige ihm meinen Weg, als ich auf der Suche nach ihm war. Wie ich nach ihm rief, aber er nicht kam.
"Glaub mir, ich wollte nicht von dir weglaufen. Im Gegenteil. Ich habe dich gesucht. William?"
"In deinen Gedanken war nichts davon zu spüren. Du hast nur an deinen Lauf gedacht."
"Ich bin von meinem Vorhaben abgelenkt worden. Das war meine erste Verwandlung."
"Haben es dir deine Eltern nie gezeigt?"
"Ich bin noch nicht lange 17. Und in dieser gesamten Zeit war ich eingesperrt."
"Wie hast du das dann alleine hinbekommen? Hast du Pläne geschmiedet? Wolltest du doch abhauen? Wag es nicht zu lügen!"
"Nein! Ich wollte dich suchen. Ich hab gesehen, wie du dich im Sprung verwandelt hast und dann hier rein gelaufen bist. Auf den Rest mit den Emotionen kam ich durch Zufall und dann war ich ein Wolf. Ich wollte wirklich nicht weg! Der Drang zu rennen, war nur zu groß. Sieh in meinen Gedanken nach, wenn du mir nicht glaubst."
Wieder beschwöre ich die Szenen vor dem Wald in meine Gedanken. Die Wut verschwindet aus seinem schönen Gesicht und er tritt nahe an mich heran. Seine Stimme klingt schon beinahe liebevoll.
"Warum hast du mich gesucht?"
"Ich habe die Briefe gelesen."
"Und? Was denkst du jetzt?"
"Ich verstehe nicht, was du mir zeigen wolltest. Es hat doch nur bestätigt, was ich dir vorhin gesagt habe. Warum ist es überhaupt wichtig für dich, dass ich sie gelesen habe? "
"Du scheinst etwas übersehen zu haben. Diese Briefe sind zu einem Buch gebunden worden. Macht man so etwas bei jedem X-beliebigen Brief? "
"Nein, aber..."
"Diese Briefe stammen von meinem Vater an meinen Großvater. "
"Selbst wenn. Was hat das mit uns zu tun?"
"Du sollst wissen aus was für einer Familie ich komme. Mein Vater ist jemand, den du fürchten solltest. Er ist genau das, wovor du Angst haben solltest und es auch hast. Die meisten anderen Werwölfe sind wie er. Mein Großvater war aber anders! Deshalb hat er auch nicht auf seine Briefe geantwortet! Mein Großvater hat ihn verstoßen, weil er zu einem Mörder wurde. Mein Großvater hasste diese Seite an sich. Er wollte nie jemanden umbringen und hat seine wenigen Morde auch bereut. Er wurde verheiratet und kam davon los, aber etwas neues plagte ihn. Er wollte seiner Frau nicht weh tun, nur damit es ihm besser ging. Er suchte Wege, um es leichter für sie zu machen. Mein Vater ist das komplette Gegenteil. Ich sollte in seine Fußstapfen treten. Sag mir eins, warum hätte ich das tun sollen?"
"Du bist ein Werwolf. Als Oberhaupt kann er dich kontrollieren."
"Das hat er mir auch gesagt. Dann bin ich weggelaufen. Auf der Flucht fand mich mein Großvater. Auch er hatte ein Band zu mir und konnte mich in seinen engeren Familienkreis aufnehmen. Er veranstaltete meine Einweihung, somit gehörte ich dann zu ihm. Mein Vater sieht mich nicht mal mehr an. Nur meine Mutter tut mir leid. Er quält sie meinetwegen. Er versucht sogar mich damit zu erpressen."
"Steht sie auf der Seite deines Vaters?"
"Sie hat keine Wahl. Aber sie versucht auch nicht etwas an ihrem Leben zu ändern. Einmal verheiratet hat man keine Wahl mehr."
"Was du nicht sagst! Warum fiel deine Wahl überhaupt auf mich? "
"Weil du nicht so bist wie meine Mutter. Du bist ein Rebell, so wie ich."
"Woher willst du das wissen?"
"An meiner Einweihung warst du sehr zurückhaltend und du sahst unglücklich aus. Meinem Großvater ist es aufgefallen und dann hat er mich auf dich angesetzt. Ich hab gesehen, wie du versucht hast, von zu Hause zu verschwinden. Ich weiß von deinen Selbstmordversuchen. Und ich habe die Selbstverachtung in deinem Blick auf deinem Geburtstag gesehen. Und dennoch strahlst du eine Stärke aus. Mein Großvater meinte du wärst die Richtige für mich."
"Darf ich ihn mal kennen lernen?"
"Er ist letzten Monat gestorben."
William spannt sich an und sein Atem geht stockender als zuvor. Er ist so nahe, dass ich eine Hand auf seinen Arm legen kann. Unter seinem Shirt kann ich die angespannten Muskeln spüren. Er sieht erst zu meiner Hand und mir dann tief in die Augen. Er ist nicht von meiner Berührung zurückgeschreckt. Die Trauer in seinem Gesicht weicht einem kleinen Lächeln.
"Du hast keine Angst mehr vor mir?"
Gute Frage! Ich weiß es selbst nicht. Ich glaube ihm. Seine Geschichte passt zu den Eindrücken, die er zuvor auf mich gemacht hat.
"Nein hab ich nicht. Steht dein Angebot eigentlich noch?"
"Du würdest dich mit mir anfreunden?"
Ich nicke und sein kleines Lächeln verwandelt sich in ein erfreutes Lachen. Seine Augen leuchten und seine Brust hebt und senkt sich leicht. Er entspannt sich und wirkt offen. So gefällt er mir. Mein Blick wandert über seine ausgeprägten Muskeln zu seinem Mund. Das Kribbeln im Bauch wird immer stärker, als ich seine Lippen sehe. Er spürt meine Gefühle, weil wir noch immer verbunden sind. Sein Lachen verschwindet und sein Gesichtsausdruck macht mir Angst. Das Braun seiner Augen grenzt schon an Schwarz. Wieder ein neuer Farbton, bei dem ich nicht sagen kann, was er bedeutet. Er weicht einige Schritte zurück und trennt unser Band. Er verwandelt sich wieder in einen Wolf und läuft aus dem Wald.
Was soll denn das jetzt? Hab ich was falsches gesagt? Oder etwas falsches gedacht? Warum lässt er mich alleine hier mitten im Wald stehen? Ich kenne doch den Rückweg nicht, wie soll ich ihn dann wieder finden? Seinen Gedanken kann ich auch nicht folgen, wenn er sie verschließt. Eine Träne tropft auf das Gras unter meinen Füßen und ist kaum mehr zu sehen. Der Tag ist vorbei und wird von Dunkelheit abgelöst.
Orientierungslos renne ich immer weiter zwischen den Bäumen umher. Der Wald wird immer dichter und jagt mir schreckliche Angst ein. Nachts sollte man sich nicht in solchen Gegenden herumtreiben, das weiß jedes kleine Kind. Meine Sinne als Wolf sind zwar besser und das mit dem Sehen bekomme ich auch ganz gut hin, aber ich bin einer falschen Fährte gefolgt. William war anscheinend schon viel in diesem Wald unterwegs und hat überall seinen Geruch hinterlassen. Meine Kräfte nehmen zunehmend stärker ab. Seit drei ganzen Tagen habe ich nichts mehr zu essen bekommen und mein Magen rebelliert. Entmutigt setze ich mich auf das kühle Moos mit dem Rücken zu einem Baum. Es wäre sinnlos, noch weiter in den Wald zu laufen. Hoffentlich wird mich William selbst finden. Noch vermisst er mich nicht, denn er hat unser Band wieder unterbrochen. Warum sucht er denn nicht nach mir? Als Freund sollte er das doch tun. Allerdings hätte er mich schon nicht alleine lassen dürfen. Er weiß doch genauso gut wie ich, dass ich mich hier nicht auskenne. Weshalb tut er mir das an? Wenn ich etwas falsch gemacht habe, dann kann er doch mit mir darüber reden. Mich stattdessen im Wald zurück zu lassen ist doch sehr feige! Mein Bauch knurrt auffordernd. Ich kann nichts gegen meinen Hunger tun, da ich nicht vorhabe, an Bäumen und Gräsern zu knabbern. Erschöpft lege ich den Kopf in den Nacken und lehne ihn an den Baum hinter mir an. William, wo bist du?
Etwas versucht mir meinen Schlaf zu nehmen. Mein ganzer Körper wird durchgeschüttelt.
"Loretta! Wach auf. Was machst du denn für Sachen? Hey! Kannst du mich hören. Loretta? Bitte wach auf!"
Vorsichtig blinzele ich, doch das Bild vor meinen Augen bleibt verschwommen. Benommen sehe ich in Williams Augen. Erleichterung huscht über sein Gesicht, dann hebt er mich hoch und läuft los. In seinen Armen fühle ich mich sicher und geborgen. Ich genieße die Wärme, die von ihm ausgeht und gebe dem Schlaf wieder nach. Ich vertraue ihm. Er ist gekommen, er hat mich gefunden. Er holt mich wieder zu sich. Er hat sich Sorgen um mich gemacht. Er ist ein Freund. Er ist mein Mann und es fühlt sich richtig so an.
Blinzelnd öffne ich meine Augen am nächsten Tag. Ich liege im Bett und durch das große Fenster mir gegenüber bestrahlt mich die aufgehende Sonne. Ich habe noch die Sachen vom Vortag an, bis auf die Schuhe versteht sich. William ist ein Gentleman, das muss man ihm lassen. Er hätte mich auch ausziehen und mich anfassen können, wäre er so ein Schwein wie die meisten anderen Wölfe. Neben mir finde ich einen Zettel.
Sag mir bitte bescheid, wenn du aufwachst. Ich bin im Wohnzimmer, weil ich dich nicht stören wollte.
Wie gesagt; Gentleman. Gehorchend sehe ich im Wohnzimmer nach ihm, kann ihn aber nicht entdecken. Beim umdrehen strömt mir ein verlockender Duft nach essen entgegen. Ich folge ihm bis zur Küche und kann mir ein kleines Lachen nicht verkneifen. William steht vor dem Herd und kocht. In einer Schürze wohl gemerkt. Peinlich berührt wirft er sie schnell in die nächste Ecke, als er mich entdeckt.
"Du bist ja schon wach!"
"Du kannst ja kochen!"
"Nein eigentlich nicht. Das sind nur Spiegeleier. Hast du Hunger?"
"Ja und wie!"
"Na dann, setz dich hin. "
Eine riesige Portion verschwindet schnell in meinem Bauch. Endlich wieder etwas warmes zu essen, tut so gut. Ich weiche seinem Blick aus und sehe mich lieber ein wenig im Raum um. Es gibt noch so einiges, das zwischen uns geklärt werden muss, aber ich traue mich nicht, diese Themen anzusprechen. Die Schürze in der Ecke sticht mir wieder ins Auge und ich lache erneut.
"Sag mal, wozu hast du eine Schürze gebraucht?"
"Ehm, ich..äh weiß nicht. Zieht man sowas beim Kochen nicht an?"
"Naia, eigentlich nur wenn man seine Kleidung dabei dreckig machen könnte. Aber egal. Danke für das Frühstück, soll ich in Zukunft lieber kochen?"
"Kannst du das denn?"
"Mir wurde alles beigebracht, was eine gute Frau wissen und können muss, keine Sorge."
Meine Stimmung sinkt leicht, wenn ich an die Erziehung meiner Eltern denke.
"Ich weiß genau was du meinst und wie du dich fühlst. Auch meine Kindheit war nicht einfach."
"So etwas in der Art sagtest du bereits, aber was genau meinst du? Klar, dein Vater verhält sich wie alle anderen Werwölfe - machtbesessen - und scheint streng zu sein. So wie meiner auch."
"Du hast probiert dir das Leben zu nehmen oder?"
"Ja. Nicht nur einmal, aber woher weißt du das überhaupt?"
"Ich habe die Tabletten in deinem Zimmer gesehen. Du hast selbst bemerkt, dass es nicht klappen kann, schätze ich. Die Reste deines Spiegels fand ich auf dem Müll. Ihr habt keine Messer in eurem Haus. Ich kenne diese Anzeichen, weil...es bei mir genauso war."
"Du hast auch schon Selbstmord begehen wollen? Warum?"
"Meine Gründe unterscheiden sich gar nicht so sehr von deinen, nur mit einem Unterschied. Du hasst unsere Existenz, weil du eine Frau bist und vor dem Angst hast, was ein Mann mit dir anstellen könnte. Ich hasse unsere Existenz, weil ich der Mann bin. Ich bin der Böse in diesem Spiel und kann es nicht wirklich ändern."
"Aber was ist mit deinem Großvater? Du hast doch gesagt, dass er Wege gefunden hat. Wege, um es seiner Frau leichter zu machen. Geht das..also ich meine..geht das bei uns nicht auch?"
"Er hat es probiert und hatte ein paar Erfolge. Manchmal hat es geklappt, manchmal aber nicht. Viele Methoden hat er gefunden. Er wollte sie nur noch richtig zusammensetzten, was ihm nicht mehr gelang. Sie haben es nicht mehr ausgehalten und dann hat er sich und meine Großmutter lieber umgebracht. Er hat es mir überlassen. Ich soll sein Werk weiterführen."
"Bin ich deshalb hier? Hast du deshalb mich gewählt. Mit mir kann man es ja machen, oder? Da hast du aber falsch gewettet!"
"Versteh das bitte nicht falsch! Loretta! Wo willst du hin?"
Schnell stehe ich auf und verlasse den Raum. Von wegen Freundschaft. Von wegen, ich bin die Richtige. Ein Versuchskaninchen bin ich, nichts weiter. Viele Tränen kullern aus meinen Augen während ich auf das Bad zulaufe. William versucht mich aufzuhalten, aber er schafft es nicht. In Gedanken schreit er wieder meinen Namen, dann knalle ich die Tür des Badezimmers zu und sperre sie ab.
"Lass mich in Ruhe!"
Ich will ihn nicht in meinem Kopf haben. Er soll das Band wieder beenden. Wenn er mir etwas zu sagen hat, soll er es auf normale Weise tun. Er scheint zu verstehen, was ich denke und löst das Band wirklich.
"Loretta, mach bitte die Tür auf!"
"Sollen die Versuche gleich anfangen oder was? "
"Natürlich nicht, ich möchte mit dir reden! Ich will es dir erklären, damit du es nicht falsch verstehst. Bitte!"
Verzweifelt hämmert er an die Tür und versucht mich zu überreden. Er greift nicht in meine Gedanken ein, das muss man ihm lassen. Ich drehe das Wasser in den Waschbecken, in der Dusche und in der Badewanne auf, um sein Flehen nicht mehr hören zu müssen. Es klappt nur teilweise, doch ihm wird die Mühe leid. Zusammengekauert in einer Ecke des Raums bin ich am Verzweifeln und ringe mit mir selbst. Er kann doch nicht von mir erwarten, dass ich mich auf seine Spielchen einlasse. Was sollen das denn bitte für Methoden sein? Ich kann mir nicht vorstellen, dass es wirklich möglich ist. Es wird weh tun, ohne Zweifel. Aber mal ehrlich, was habe ich zu verlieren? Wenn er nichts tut, werde ich auch Schmerzen haben. Ist es den Versuch wert? Oh man, ich sehe mich schon eine pro und contra Liste abrackern. Na gut, warum eigentlich nicht? Also contra: Es wird bestimmt nicht klappen, er könnte es als Hinterhalt benutzen, oder es könnte eine Falle sein - schließlich gestehe ich auf ein neues meine Abneigung zu Werwölfen. Und Pro: Vielleicht klappt es ja, ich würde so oder so mit ihm schlafen und es wäre eine Chance auf Erleichterung, er ist der schlechten Verhaltensweise unserer Artgenossen wie seinem Vater genauso abgeneigt wie ich, ich mag ihn. Um Himmels Willen, ich mag ihn tatsächlich. Wie ist das denn möglich? Seit ich klein war, habe ich mich vor meinem zukünftigen Ehemann gefürchtet und jetzt? Jetzt verkrieche ich mich vor dem nettesten Wolf, dem ich je begegnet bin im Bad, weil er meine ehelichen Pflichten auf verschonende Weise einfordern wird? Ich muss zugeben, ich bin verletzt, weil er mich ausnutzt. Er ist vielleicht ein Freund, aber er hat mich aus selbstsüchtigen Gründen geheiratet. Auweia! Ich muss ihn sprechen. Das Pro überwiegt eindeutig meinem Stolz. Leicht schwankend stehe ich auf und drehe das Wasser wieder ab. Der Schlüssel dreht sich im Schloss und ich öffne zögernd die Tür.
Keine Ahnung, was ich eigentlich erwartet habe, aber auf jeden Fall nicht das! Er sitzt an der Wand gegenüber und hat frustriert seinen Kopf auf die angewinkelten Knie gestützt. Warum hat er mich denn nicht gehört? Schläft er etwa? Vorsichtig und leise gehe ich auf ihn zu und sinke zu Boden. Er merkt auch nicht, dass ich mich neben ihn setze. Fasziniert mustere ich sein gequältes Gesicht. Er schläft tatsächlich. Wie lange war ich denn im Bad? Ein Blick aus dem Fenster zeigt mir die Dunkelheit. Hmm. Das bedeutet, ich bin den ganzen Tag im Bad gewesen, ohne dass William auch nur einen Moment verschwunden ist. Der arme muss völlig fertig sein. Wie sage ich ihm denn am besten, dass er sich keine Gedanken mehr über meinen Ausraster von vorhin machen soll? Wieder betrachte ich sein Gesicht und eine Strähne seiner Haare stört mich. Ich will sie aus seinen Augen streichen, da greift er plötzlich meine Hand und umklammert sie fest. Erschrocken sehe ich in seine schönen braunen Augen.
"Tut mir leid, das war ein Reflex. Du solltest mich lieber nicht auf diese Weise wecken."
"Was ist daran so besonders?"
"Das hat mein Vater immer gemacht, wenn er wieder eine seiner "Überraschungen" für mich hatte."
"Zum Beispiel?"
"Wenn er mich verprügeln wollte. Nicht so wichtig. Mich interessiert eigentlich viel mehr, warum du auf einmal neben mir sitzt als wäre nichts gewesen."
"Ich weiß es selbst nicht. Ich denke, ich vertraue dir mehr als gut für mich ist. Wir haben anscheinend beide eine schlimme Vergangenheit, aber ich denke, also ich meine...wenn wir zusammenhalten, dann..."
"Wird alles gut? Das kann ich dir aber nicht versprechen."
"Das ist mir bewusst. Trotzdem. Wir können es ja versuchen."
"Bist du dir sicher worauf du dich einlässt?"
"In wie fern?"
"Es gibt viele Regeln, an die wir uns halten müssen. Ich werde uns nicht erlauben können, sie zu missachten."
"Und die wären?"
"Ab nächster Woche, in der ich 21 werde, müssen wir jede Woche miteinander schlafen. Und spätestens in fünfzehn Jahren müssen wir ein Kind miteinander haben. Was das erste auch mindestens zwei Jahre lang sogar täglich zur Verpflichtung macht, denn sonst kannst du nicht schwanger werden."
"Damit werde ich wohl leben müssen. Ich also, ich äh...ich denke ich bin dir nicht ganz abgeneigt, also werden wir das wohl schon hinbekommen."
"Gut zu wissen. "
Sein Arm zieht mich etwas näher zu sich und ich lege meinen Kopf auf seine Schulter. Seine Nähe tut gut und das macht mich zuversichtlich. Wir verweilen kurz in der Umarmung und er küsst mich auf den Haaransatz, bevor er etwas beinahe unverständliches murmelt. Hörte sich an wie "ich bin dir auch nicht abgeneigt", aber vielleicht ist das auch nur Wunschdenken. Bitte was? Wunschdenken? Oh nein, da bahnt sich etwas an fürchte ich. Das kann nicht gut ausgehen. Er sieht mich ja schließlich nur als Freundin und eine Art Betthäschen. Mutter seiner Kinder. Wunschdenken? Verstand, wo bist du? Man kann doch seinem Herzen nicht die ganze Macht über den Körper geben!
"Komm mit. Du musst die letzte normale Woche noch einiges lernen. Ich denke nicht, dass deine Eltern dir genug erklärt haben. "
"Warum willst du denn schon wieder in den Keller? Ich hab da doch schon genug gesehen."
"Gesehen, aber nichts damit angefangen. Den Trainingsraum hier gibt es nicht ohne Grund, Loretta."
Welche Laus ist denn dem über die Leber gelaufen? Was ist innerhalb der letzten Minuten passiert, dass er plötzlich in einer so schlechten Stimmung ist? Er hat meinen Namen schon beinahe wie eine Beleidigung ausgesprochen.
"Wenn du was gegen meinen Namen hast, kannst du mich ja auch anders nennen."
"Was hättest du denn gern? Liebling? Schatz? Such dir was aus."
Autsch. Der Sarkasmus tut ganz schön weh. Genauso wie seine abweisende Art. Bis gerade war ich noch in seinen Armen und jetzt wird er schon beinahe beleidigend. Mir ist schon öfter aufgefallen, dass er eine kalte Seite an sich hat. Vielleicht verträgt er einfach keine Zuneigung oder es wird ihm zu viel. Oder gehe ich ihm mit meiner Art auf die Nerven? Sieht ganz so aus. Also gut, dann werde ich wohl lieber die Klappe halten. Von ihm kommen nur noch halbherzige Anweisungen und Ratschläge. Es hat keinen Sinn, wenn er so ist. Ich kann mich nicht auf das Wesentliche konzentrieren. Ich merke, wie sein Blick am Fenster hängen bleibt. Das ist es! Jedes Mal wenn er schlecht gelaunt ist, geht er raus. Ich habe ihn den ganzen Tag im Haus festgehalten, deshalb ist er so schlecht auf mich zu sprechen. Vorsichtig versuche ich, ihn darauf anzusprechen.
"William? "
"Was?"
Oh man. Genervter geht es kaum noch.
"Versteh mich bitte nicht falsch, aber vielleicht solltest du lieber mal frische Luft schnappen gehen."
"Dafür haben wir keine Zeit, ich meine..."
"Dann komme ich eben mit. Es gibt bestimmt etwas, das du mir außen auch zeigen kannst. Du bist unerträglich, wenn du schlechte Laune hast."
Das hätte ich besser weggelassen, denn er knurrt. Nicht aus Spaß, er ist wirklich wütend. Vorsichtshalber weiche ich ein paar Schritte zurück. Ein noch größerer Fehler, denn jetzt hat er sich nicht mehr unter Kontrolle. Er schreit.
"Schlechte Laune? Das ist dein Problem? Hast du keine anderen Sorgen? "
"Du brauchst deinen Auslauf, du..."
"Hör auf mir zu sagen, was gut für mich ist! Kümmer dich um deine eigenen Probleme!"
"Was meinst du? Wa..Was hast du vor? Nein! Oh nein, bitte nicht!"
Sein schmerzender Griff packt mich am Arm und zieht mich in die Zelle. Grob schubst er mich hinein und verriegelt die Tür von außen. Er hat mich einfach eingesperrt. Ohne auch nur mit einer Wimper zu zucken und über meine Ängste nachzudenken. Mit schnellen Schritten entfernt er sich von der Tür. Ich kann ihn über das Gras rennen hören und sogar die Schritte als Mensch von denen als Wolf unterscheiden. Ist das sein ernst? Er hat vor sich wie mein Vater zu benehmen? Er will mein Vertrauen nicht mehr. Unsere ganzen Gespräche sind sinnlos gewesen. Wenn er die Kontrolle verliert, vergisst er mich. Vergisst er sich selbst.
Ich fühle mich schrecklich und das aus gutem Grund. Nicht weil es hier genauso aussieht wie in der Zelle meiner Eltern: Gleicher Aufbau, als hätte William eine Kopie angefertigt. Auch nicht, weil es schlimme Erinnerungen an die letzten Monate und an meine Kindheit weckt. Der Schmerz, der mir hunderte Tränen in die Augen treibt, die auch überlaufen, gilt William. Ich habe ihm vertraut. Ich habe ihm von meiner Vergangenheit erzählt und er mir von seiner. Ich dachte, ich hätte einen Gefährten gefunden, mit dem ich gut leben kann. Einen Freund. Ich war naiv. Nie hätte ich nach unseren letzten Gesprächen geglaubt, dass er mich so bestrafen wird. Es fühlt sich an, als ob ein Teil meines Herzens zerbricht. Das erste Mal, dass ich mich jemanden öffne und er nutz es schamlos aus. Ausgerechnet er.
Verzweifelt versuche ich an der Tür zu rütteln und sie doch irgendwie auf zu bekommen. William hat leider Recht - man kann sie aber nur von außen öffnen. Schön für ihn, dass er schon vorgesorgt hat. Ich will es nicht wahr haben. Es kann nicht sein. Ich. Bin. Nicht. Wieder. Eingesperrt. Das ist einfach nicht möglich. Habe ich geträumt? Schlafe ich noch immer? Um aus dem Alptraum heraus zu kommen, hämmere ich wie eine Blöde an die Tür. Sie bewegt sich kein Stück. Der Alptraum ist echt, zumindest kann ich nicht einfach aufwachen und ihn mir von meiner Seele abschütteln. Meine Fäuste schmerzen stark vom Aufprallen der Hände an die Eisentür. Ich setze meine komplette Kraft in die Schläge und als Werwolf ist das nicht wenig. Trotzdem zwecklos. Hysterische Schreie verlassen meinen Mund und werden mit Mal zu Mal schlimmer. Nach Abschließen der aggressiven Phase, bekomme ich sogar noch mehr Panik. Meine Schreie werden lauter. So laut habe ich meine Stimme selbst noch nie gehört. Plötzlich bekomme ich Angst vor der Tür und weiche zurück. Wahnvorstellungen holen mich wieder ein. Es ist genauso wie früher. Nicht schwer, wenn alles auch genauso aussieht. Ich laufe misstrauisch auf das kleine Waschbecken zu und muss es berühren. Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob ich vielleicht doch nur träume. Oder besser gesagt, will ich nur die Hoffnung nicht aufgeben. Das kühle Metall unter meinen Fingern tötet positive Gedanken endgültig. Wimmernd ziehe ich mich in die hinterste Ecke der Zelle zurück und warte. Wie sonst auch starre ich einen Fleck an der Wand an und wieder bilde ich mir bewegende Mauern ein. Ich umschlinge meine Beine und wiege mich beruhigend selbst in einen Schlaf. Ich will diesem Ort wenigstens gedanklich entkommen, wenn auch nur für kurze Zeit.
Etwas nagt an meinem Unterbewusstsein und will mich aufwecken. Ich will aber nicht. Warum sollte ich denn meine Augen aufmachen? Damit ich wieder diesen Raum sehen muss. Sicherlich nicht! Dann wäre ich wieder das kleine hilflose Mädchen von damals. Das kann man nicht mit mir machen, auf gar keinen Fall! Ich presse meine Augen zusammen und ein erstickter Laut entrinnt meiner Kehle. Danach nehme ich ein gequältes Schluchzen war, das aber nicht von mir stammt, außerdem höre ich viele Flüche. Jemand verachtet sich zu tiefst oder seine Taten. Er ist noch weit weg, aber ich kann es hören. Er rennt. William, ohne Zweifel. Er rennt, als ginge es um sein eigenes Leben. Er kommt immer näher und flucht nochmal laut. Dann höre ich ihn schon auf den Stufen zum Keller. Das Quietschen der schweren Eisentür erklingt betörend in meinen Ohren, doch dann ist es still. Bis auf leise Schritte, die sich mir vorsichtig nähern. Er versucht, meine Reaktion abzuschätzen und scheint nicht zufrieden damit. Was hatte er denn erwartet? Dass ich ihn vor Freude und Dankbarkeit umarmen werde? Nein. Ich bleibe in meiner Starre und wage es nicht aufzusehen. Vielleicht bilde ich mir ja auch nur alles ein. Wäre schließlich nicht das erste Mal. Ich will nicht länger eingesperrt sein. Wieder zieht sich mein Körper verkrampft zusammen und ich kann einen Aufschrei nicht unterdrücken. William schnappt erschrocken nach Luft und handelt schnell. Starke Arme schieben sich unter meinen Körper und heben mich hoch. Ich werde leicht geschüttelt während er rennt. Er rennt tatsächlich, aber wohin? Ich kann mich nicht aus meiner Starre befreien, um mich von meiner Umgebung zu überzeugen. Der Schock und die Angst fressen mich noch immer innerlich auf. Ich fühle mich leer, bis auf den Schmerz in meinem Herzen. Es ist gebrochen, als William mich hinter der Eisentür zurückgelassen hat. In tausende kleine Einzelteile wurde mein Herz und das Vertrauen in ihn gesprengt. Sein Griff um meinen Körper wird fester, er muss meine Gefühle gespürt haben. Seine Bewegungen werden langsamer und er bleibt stehen. Kann ich es wagen meine Augen zu öffnen? Ich habe vermutlich keine Wahl. Ich stelle mich auf seinen Zwang ein.
"Mach bitte die Augen auf."
Nichts passiert. Er zwingt mich nicht, er hat mich nur darum gebeten. Zögernd gehorche ich und sehe .... nichts. Wo bin ich? Erneut bekomme ich schlimme Panik. Bin ich blind, oder warum kann ich nichts mehr sehen? Alles ist schwarz, aber warum?
"Loretta? Was ist los?"
"Ich kann nichts sehen. Was hast du mit mir gemacht, warum ist alles schwarz?"
"Was soll ich denn gemacht haben? Es ist Nacht, da ist es dunkel! "
"Es ist aber anders. Meine Augen passen sich nicht an die Dunkelheit an. Bitte hilf mir."
Ein leichtes Wimmern kommt durch meine Lippen. In so einer Situation war ich noch nie. Sonst konnten sich meine Augen immer an schlechte Beleuchtung anpassen. Starke Hände umschließen mein Gesicht und halten es fest. Ich kann Williams gleichmäßigen Atem auf meinem Gesicht spüren und seinen Herzschlag hören. Er beruhigt mich und meine panische Angst nimmt ein wenig ab.
"Mach die Augen kurz zu. Gut, und jetzt wieder auf. Welche Farbe haben meine Augen?"
"Sie sind ganz hell, fast schon gelb."
"Weißt du, was das bedeutet?"
"Dass du besorgt bist. Dann sind sie immer so."
"Nein. Also, doch ich bin besorgt, aber ich meine etwas anderes. Du kannst es sehen."
Es stimmt. Ich kann endlich wieder sehen. Williams Blick allerdings, würde ich mich am liebsten entziehen. Ich kann es nicht ertragen, mich in diesen Augen auf ein neues zu verlieren. Ich bin immer noch verletzt. Sehr. Seine Hilfe, wie auch immer er das gemacht hat, ändert daran nichts. Betreten sehe ich mich lieber in der Umgebung um und kann die Umrisse von Bäumen erkennen. Das erklärt den Wind, den ich auf meiner Haut gespürt habe - wir sind draußen. William stellt mich auf die Beine, als ich ihn quasi abgewiesen habe. Ich bringe noch ein weiteres Stück Abstand zwischen uns, indem ich ein paar Schritte nach hinten gehe. Verletzt sieht er mich an, auch wenn er es zu verbergen versucht. Beschämt schaut er nach unten. Seine Stimme ist eher ein Flüstern.
"Es tut mit leid. Du weißt nicht wie sehr. Ich kann es nicht in Worte fassen. Deine Schreie werde ich nie vergessen können."
"Du hast sie gehört und bist trotzdem nicht sofort da gewesen?"
"Es...es scheint schlimm, das weiß ich. Du musst wissen, dass ich bald ein vollwertiger Werwolf bin und sich meine Emotionen verstärken. Vor allem die schlechten, deshalb bin ich auch sofort ausgerastet. Das wird sich alles wieder regeln, aber momentan fällt mir Selbstkontrolle noch sehr schwer. Ich konnte deine Schreie zwar hören, habe sie aber erst später wirklich registriert. Die Wut hat meine Sinne überlagert. Es ist zwar eine Ausrede und gute Erklärung, aber es tut mir trotzdem so leid! Das hätte einfach nicht passieren dürfen. Erst recht nicht, weil du ja Recht hattest. Es stimmt. Wenn ich nicht laufe, kann ich mich nicht abreagieren. Verstehst du was ich meine?"
Das tue ich wirklich. Mir geht es danach auch immer besser. Vorsichtig nicke ich. Er sieht erleichtert aus.
"Darf ich?"
"Natürlich, aber ich muss noch etwas nachholen. Ich wollte dir vorhin im Trainingsraum das Grundprinzip der Methoden erklären."
"Das wäre?"
"Genau das hier. Abreagieren, damit meine Energie nachlässt. Kombiniert mit deiner Anwesenheit. Du wirst mir dabei zur Seite stehen müssen, sonst nützt es nichts."
"Wieso das denn?"
"Mein Großvater hat es herausgefunden. Die Kraft, die unter Tage und für gewöhnlich in mir schlummert, ist eine andere, als die in der Nacht. Die Kraft, die den Blutrausch auslöst, kann nur eine Frau mildern, wie du weißt. Wenn du mit mir trainierst, tust du genau das, nur vermindert über einen längeren Zeitraum hinweg."
"Was muss ich tun? Jetzt meine ich."
"Lauf!"
"Wie bitte?"
"Lauf weg, so schnell du kannst. Versuche mir zu entkommen. Ich werde dich einfangen. Lauf!"
Der hat leicht reden. Wohin denn? Er hat mich mitten im Wald abgesetzt und das Haus ist nicht in Sichtweite. Mein Orientierungssinn ist auch gleich Null. Seufzend renne ich los und verwandle mich im Sprung wieder in einen Wolf. Wahnsinniges Gefühl! Unbeschreiblich. Ich soll von ihm weg? Vielleicht wirklich nicht so schlecht. Ich muss nachdenken. Für einen Moment hätte ich wirklich gerne Ruhe. Das könnte sogar klappen, denn er hält sich aus meinen Gedanken raus. Mein Lauf wird schneller und ich renne verzweigt, um seinen Geruchssinn zu verwirren. Die Bäume werden immer offener und schon bald kann ich das Haus doch erkennen. Welch Wunder, ich habe es von alleine gefunden. Bis kurz vor der kleinen Veranda bleibe ich ein Wolf. Als Mensch gehe ich erst durch die Tür, damit ich das Haus betreten kann. William wird kaum auf die Idee kommen, mich hier zu suchen. Es ist so einfach, dass es schon wieder genial ist. Hier kann ich ihm perfekt für einige Zeit entfliehen. Verziehen habe ich ihm immer noch nicht, oder? Verdammt! Scheint als will mein Herz mir da einen Strich durch die Rechnung machen. Seufzend lasse ich mir ein Bad ein, damit sich meine verkrampften Muskeln etwas entspannen. Das tut so gut! Danach gehe ich zum Kleiderschrank und ziehe mir eine bequeme Jogginghose und einen einfachen Pulli heraus. Perfekt, so kann ich weiter entspannen. Protestierend knurrt mein Magen. Mein Körper geht mir heute wirklich auf die Nerven. Erst durchzucken mich Krämpfe, dann bin ich eine Weile blind, mein Herz und mein Verstand bekriegen sich und mein Bauch meldet sich auch ungebeten zu Wort. Genervt gehe ich in die Küche und suche nach etwas Essbaren. Ich entscheide mich für eine Lasagne für William und mich und suche die nötigen Zutaten dafür. Alles zusammen, halte ich Ausschau nach einer Auflaufform und einem Messer für das Gemüse. Misstrauisch schaue ich in jede Schublade, bis ich schließlich in der letzten finde, was ich brauche. Es fühlt sich schwer in meiner Hand an. So lange habe ich schon kein Messer mehr gehalten. Das Licht der Lampe wird von dem Edelstahl der Klinge reflektiert und ich kann mein Spiegelbild sehen. Ich starre das Messer wie hypnotisiert an, bis....
"Nein, nicht! "
William steht schwer schnaufend in der Tür und starrt auf die Waffe in meiner Hand.
"Und ich wundere mich noch, warum du hier her gelaufen bist. Versuchst du dich umzubringen? Das...das kannst du doch nicht tun! Kämpfe doch um dein Leben. Loretta, spinnst du? Leg endlich das Messer weg verdammt!"
Zitternd gehorche ich ihm und lege es auf die Anrichte. Sofort schlingen sich seine Arme um meinen Körper und drücken mich an ihn.
"Du kannst mich nicht alleine lassen. Nicht du auch noch. Versprichst du mir das?"
"Ich...ich kann nicht."
Zögernd löst er sich wieder aus der Umarmung und sieht mich fragend an. Ich habe in seiner Abwesenheit einen Entschluss gefasst - ich werde bei ihm bleiben. Egal, was heute Abend vorgefallen ist, ich könnte in einer viel schlimmeren Lage sein, wäre ich bei einem anderen Wolf.
"Ich habe dir gesagt, dass ich dir helfen werde. Ich wollte mich nicht umbringen, denn ich halte mein Wort und stehe dir bei."
"Aber?"
"Ich habe eine Bedingung."
"Was du willst."
Er würde alles tun, denn sein Ausraster tut ihm immer noch leid, das kann ich ihm ansehen. Und er will mich nicht verlieren. Unbewusst lässt der Gedanke daran mein Herz höher schlagen, aber das tut hier nichts zu Sache. Ich werde an meiner Bedingung fest halten. Und er wird mir heute keinen Wunsch abschlagen.
"Wenn es nicht klappt, wie wir uns das vorstellen, dann...lässt du meinen Tod zu. In zehn Jahren wirst du es sein, der mich umbringt."
"Niemals. Das kannst du einfach nicht von mir verlangen!"
Mit diesen Worten verlässt er den Raum und lässt mich stehen. Muss er denn immer weglaufen? Er sollte sich seinen Problemen lieber stellen, um sie zu lösen. Schon klar, er läuft, um besser nachdenken zu können, aber für mich fühlt es sich komisch an. Es tut nicht gut, immer wieder aufs Neue zurückgelassen zu werden. Soll ich ihn bitten, wieder zu mir zu kommen? Er blockiert unser Band. Na gut, dann muss ich eben warten. In meinen Gedanken versunken, schiebe ich das Essen in den Ofen und warte ab. Ich ertrage nach kurzer Zeit die Stille nicht länger und gehe lieber duschen. Das warme Wasser auf meiner Haut lenkt mich von der Leere in meinem Inneren ab. Wenn auch nur kurz. Das Gefühl ist mir neu. Früher war ich zwar nie glücklich oder hatte Zuneigung gespürt, aber wenn man sie erfährt und dann wieder verliert, ist es anders. Schmerzhafter. Das Piepsen des Ofens reißt mich aus meinen Gedanken. Das Essen ist fertig. So schnell wie möglich trockne ich mich ab und ziehe mir ein schönes, schlichtes und knielanges Kleid aus dem Schrank. Die Haare will ich an der Luft trocknen lassen und die Spitzen feuchten den braunen Stoff der Träger an. Seine letzte Augenfarbe. Sehr deprimierend, wenn man bedenkt, dass die Farbe der Grund für meine Wahl war. Seine Trauer steht mir. Ich verdränge den Gedanken einfach. Mir doch egal, ob ich ihn mit meiner Bedingung verletze. Warum sollte mich das stören? Warum zum Teufel tut es das? Seufzend decke ich den Tisch und schaue nach draußen. Er sitzt auf der Veranda und lehnt sich mit dem Rücken an das Geländer. Seine Augen sind geschlossen.
"William? Das Essen ist fertig."
Schwer atmet er aus. Er steht auf und kommt langsam auf mich zu.
"Steht deine Bedingung noch? Nein warte, ich kenne die Antwort schon. Na dann, guten Appetit. Ich habe keinen Hunger."
Er dreht sich von mir weg und will wieder in den Wald verschwinden, aber ich bin schneller. Meine Hand packt seinen Arm und hält ihn auf. Erschrocken erstarren wir beide in der Bewegung.
"Verlass mich bitte nicht schon wieder."
"Sagst gerade du? Wer will mich denn in zehn Jahren im Stich lassen? "
"Das ist nicht fair, das weißt du!"
"Ach ja? Seit wann ist das Leben denn gerecht? Du hast gesagt, dass du zu mir hältst."
"Das werde ich auch tun. "
"Ich kann aber nicht auf deine Bedingung eingehen. Es wird klappen, daran muss ich glauben, aber in zehn Jahren? Darauf habe ich keine Garantie."
"Ich habe doch keine Richtlinie aufgestellt. Schließlich kann ich mich doch selbst nicht in die Situation hineinversetzen. Keine Ahnung, wie ich in dieser Zeit darüber denken werde. Überzeuge mich in zehn Jahren vom Guten. Zeig mir, dass es einen Grund zum leben für mich gibt. Ich will wissen, dass alles einen Sinn hat. Die Schmerzen sollen nicht um sonst gewesen sein."
"Natürlich macht das Leben einen Sinn! Was sagst du nur für Sachen? Warum muss jeder in meinem Umfeld von allem überzeugt sein? Es macht mich wahnsinnig. Ich will leben, so angenehm wie möglich, das ist alles. Eine Frau, ein Haus und Kinder. Mehr nicht. Ist das zu viel verlangt? Ich halte mich an Regeln, ich tue nichts Verbotenes. Und trotzdem nimmt sich jeder in meinem Umfeld sein Leben. Eine Familie gibt doch einen Sinn zu leben, warum willst du diese Erfahrung nicht machen? Ich will das. Nur mit dir, verstehst du?"
"Nein. Du kannst jede haben. Warum ich? Ich teile deine Vorstellung von Glück offensichtlich nicht. Ich wollte nie Kinder haben. Nicht, wenn sie das gleiche Schicksal erwartet wie mich damals."
"Das würde nicht passieren. Wir sind anders. Rebellen, weißt du noch? "
Unzufrieden über den Verlauf unserer Diskussion wende ich meinen Blick von seinem Gesicht ab. Er redet zu gutmütig auf mich ein und manipuliert meine Gefühle. Ich werde meine Meinung nicht ändern. Das schafft keiner. Er sorgt nur dafür, dass es mir dabei schlecht geht. Immerhin habe ich ein Gewissen und ein Herz. Ich will ihn gar nicht verlassen. Ich mag ihn schon jetzt viel zu sehr, aber ich will nicht an das Leben gebunden werden. Warum verstehe ich ja selbst nicht, es ist einfach so. Ich kann es ihm nicht sagen, er darf es nicht wissen. Liebe würde uns in Schwierigkeiten bringen. Freundschaft ist schön und gut, aber man darf sich nicht zu sehr auf seine Gefühle stützen. Sie sind verräterisch, die schlimmsten Täter, die es gibt. Sie bringen keinen direkt um, aber sie treiben nach langem Quälen in den Tod. Die Liebe ist das hinterhältigste, kein Zweifel. So etwas darf ich nicht für William empfinden. Das hätte mir früher klar werden müssen. Jetzt ist es schon zu spät fürchte ich. Mein Herz ist schon seinen eigenen Weg gegangen, ohne sich mit meinem Verstand abzusprechen. Aber wann ist das denn jemals anders gewesen? William darf es nicht herausfinden. Niemals. Es würde mich nur noch mehr an ihn binden. Hoffentlich lässt er das Band verschlossen bis ich mich wieder von ihm befreit habe.
"Loretta? Bedeutet dein Schweigen, dass du aufgibst?"
Ich nicke vorsichtig, obwohl ich es nicht so meine. Ich werde mich in zehn Jahren entscheiden. Ich werde ihm nichts versprechen, denn vorher muss mein Leben noch seinen richtigen Weg finden. Das wird dauern, aber zehn Jahre müssten lang genug sein.
Mit einem Seufzen zieht mich William an seine Brust und seine starken Arme umschlingen fest meine Taille. Sein Geruch kitzelt in meiner Nase und verursacht ein Flattern in meinem Bauch. Nicht gut! Das muss aufhören. Ich fühle mich wie gespalten. Ein Teil will nicht leben und alles hinter sich lassen. Der andere Teil braucht William und freut sich über seine Nähe. Beide Teile bekämpfen sich wild in meinem Inneren. Noch sind die Seiten ausgeglichen, doch so wird es nicht bleiben. Ein Teil wird gewinnen. Während ich in den Armen meines Mannes liege, wünsche ich mir, dass es der liebende Teil sein wird. Ich kann William nicht widerstehen und mein Körper sehnt sich nach mehr. Eine gemeinsame Zukunft hat eine Chance, wäre da nicht noch meine andere Gefühlshälfte....
Zaghaft schiebe ich ihn nach einer Weile wieder von mir weg.
"Komm, sonst wird das Essen noch ganz kalt."
Er lächelt mich an und sieht wirklich glücklich aus. Er denkt jetzt, dass meine Bedingung nicht mehr steht, aber für mich persönlich bleibt sie. Es ist aber besser, wenn er nicht bescheid weiß. Auch so steht er unter enormen Druck, das muss ich nicht auch noch verstärken. Außerdem hat er vor Kurzem erst seine Großeltern verloren, da kann ich mich nicht auch noch frühzeitig verabschieden. Er ist froh, wenn ich bei ihm bleibe, also lasse ich ihn in seinem Glauben. Das alles funktioniert, wenn er unser Band nicht wieder öffnet. Nicht in Momenten wie diesen. Sonst kann er meine Gefühle spüren und das Verheimlichen wäre für die Katz.
Williams Lächeln ist so aufrichtig, es reißt mich beinahe mit. Beinahe. Er wendet sich ab und nimmt meine Hand. Dann zieht er mich zurück zum Haus und bleibt erstaunt in der Küche stehen. Als er sich umdreht, erinnert er mich an einen kleinen Jungen, der gerade seine Weihnachtsgeschenke bekommen hat. Schmunzelnd schüttel ich meinen Kopf und deute auf den Stuhl.
"Setz dich doch einfach. Auf was wartest du?"
"Darauf, das alles verschwindet. Dass dieser Traum platzt wie eine Blase und sich in Luft auflöst. Mein Großvater hat mir immer von dem Schönsten in seinem Leben erzählt. Seine Frau, die für ihn kocht und ihm zur Seite steht. Ein Leben, das man wirklich genießen kann, wenn man alles richtig macht. Jedes Mal hab ich mich gefragt, ob er übertreibt. Was daran so besonders sein soll. Aber jetzt. Es ist nicht viel, aber es fühlt sich toll an. Hier zu stehen mit dem Duft von Essen in der Luft. In meinem Haus. Mit meiner Frau."
Von Mal zu Mal wird sein Blick weicher. Zuerst war er sehr aufgeregt, aber nun kommt William langsam auf mich zu. Seine Stimme wird immer leiser und verwandelt sich schließlich in ein Flüstern.
"Mit dir. In unserem Haus."
Wir müssen wie ein verliebtes Paar aussehen, so wie er mir eine Strähne aus dem Gesicht streicht. Ich kann seinen Atem auf meinem Gesicht spüren und mein Herz rast in meiner Brust. Es fühlt sich richtig an, neben ihm zu stehen, und doch ist es falsch. Es darf nicht sein. Er liebt nicht mich, sondern ist in eine Illusion verliebt. Ein Bild, das ihn sein Großvater schon vor langer Zeit vermittelt hat. So ist es zwischen uns aber nicht. Nicht dass ich wüsste. Wir sind Werwölfe, da sind Gefühle nicht zu gebrauchen.
Eine Stille umgibt uns während wir uns tief in die Augen sehen. Zehn Jahre. Das wird reichen, um meine Antwort zu finden. Es muss einfach reichen. Ein Knurren ertönt, direkt aus seinem Magen. Die Spannung zwischen uns löst sich, weil wir beide unser Lachen nicht unterdrücken können.
"Also wenn wir noch länger warten, können wir das mit der warmen Mahlzeit endgültig vergessen. "
"Wie lang noch?"
"Fünf Tage. Das könnte knapp werden."
"Was müssen wir denn noch vorbereiten?"
"Die Ältesten müssen informiert werden, damit sie die Ringe noch weihen können."
"Ringe?"
"Die Hochzeit wird durch sie besiegelt. Sie dürfen aber erst überreicht werden, wenn ich ein vollwertiger Werwolf bin."
"Wer macht das?"
"Unsere Eltern."
"Das meinst du jetzt nicht ernst! Sag bitte, dass ich meinen Vater nicht wieder sehen muss."
"Es tut mir leid, aber wir haben keine Wahl. Sonst gestatten die Ältesten unsere Ehe nicht und wir kommen in Schwierigkeiten. Mir wäre es anders auch lieber, glaub mir."
"Wer steht noch auf der Gästeliste?"
"Keiner mehr, denn wir haben auch so schon kaum Zeit, den Ältesten und unseren Eltern einen Besuch zu erstatten. Ich hoffe, wir werden morgen und übermorgen fertig, weil wir die restlichen Tage für dein Training brauchen."
"Mein Training? Was soll das sein?"
"Du musst wissen, was dich erwartet und wie du in bestimmten Situationen reagieren musst. Ich kann dich mir nicht völlig unvorbereitet ausliefern. Erst recht, wenn schon zwei Tage nach meinem Geburtstag Vollmond ist. Da werde ich dich brauchen."
"Kann ich da etwas ausrichten? Du bist doch viel stärker."
"Es gibt zwei Wege, aber die müssen erst einmal warten. Mein Großvater hat seine Forschungen dokumentiert. Ich kenne seine Werke, du musst dir die Methoden selbst aussuchen. Es geht dabei schließlich um dich. Ich bin für alles offen und ich vertraue dir. "
Er sieht mich leicht lächelnd an, damit er seine aufmunternde Worte unterstützen kann. Seine Augen warten auf eine Reaktion von mir. Ich bringe keine zu Stande, meine Gedankengänge schweifen ab. Seine Worte sind schon fast vergessen, für den Moment zumindest. Mir liegt eine viel brennendere Frage auf der Zunge. Schon lange, aber ich habe sie nie herausbekommen.
"William, was bedeutet es, wenn deine Augen beinahe schwarz sind?"
Erschrocken zuckt er zusammen und runzelt angestrengt die Stirn. Damit hat er nicht gerechnet. Er ist blass und seine Stimme stark angespannt.
"Du kannst meine Augen nicht so gesehen haben. Das ist nicht möglich, ich war noch nicht im Blutrausch."
"Bevor du mich eingesperrt hast, waren sie so. Und..."
"Was und? "
"Gestern im Wald, kurz bevor du mich alleine gelassen hast. Wir waren uns so nahe und du konntest meine Gefühle spüren. Ich habe mich zu dir hingezogen gefühlt und dann wurden deine Gesichtszüge anders. Dein Lachen ist verschwunden, deine Augen wurden schwarz und dann bist du einfach abgehauen. Sag bitte nicht, dass meine Gefühle deinen Blutrausch verstärken. Was hast du dir gedacht, als du mich orientierungslos zurückgelassen hast?"
"Ich...weiß es nicht. Aber ich war nicht im Blutrausch, so viel steht fest. Ich muss kurz davor gewesen sein."
Ich nicke und stehe auf. Meine Gefühle bringen seine Selbstkontrolle aus der Bahn. Na super! Als hätte ich nicht schon genug Sorgen.
"Ich schlage vor, du lässt unser Band vorerst geschlossen. So weit wie möglich zumindest. Es beeinflusst dich zu sehr. Wir müssen erst herausfinden, was es damit auf sich hat."
William nickt mir gedankenverloren aber zustimmend zu. Schnell räume ich unser Geschirr weg und putze flüchtig die Arbeitsplatten der Küche. Als ich mich umdrehe, sitzt er nicht mehr auf seinem Stuhl. Verwundert sehe ich im Wohnzimmer nach ihm und tatsächlich. Er hat wieder ein altes Buch aus den Regalen gekramt. Ich will ihn nicht stören und gehe deshalb schon ins Schlafzimmer. Mein Herz beginnt zu rasen. Das Bett hält meinen Blick gefangen. Wie die erste Nacht wohl wird? Das erste Mal soll ja am meisten weh tun. Zumindest unter Menschen, da wird es bei mir kaum anders sein. Das Schlimmste ist, nicht zu wissen, was mich erwartet. Eine falsche Bewegung und sein Griff kann zu fest werden. Er kann in seinem Rausch meine Schreie nicht wahrnehmen um sich zu bremsen. Vielleicht stacheln sie ihn noch mehr an. Ich kann nicht sagen, wie es für mich sein wird. Ich kann nur hoffen, dass sich sein guter Charakter bemerkbar macht. Nur hoffen.
"So schlimm wird es schon nicht."
"Woher...?"
"Du starrst zitternd auf unser Bett. Deine Gedanken waren nicht schwer zu erraten."
In seiner Stimme schwingt ein sarkastischer und ein verletzter(??) Unterton mit. Er drückt mir ein Buch in die Hand und zieht sich im weggehen sein Shirt über den Kopf. Auch seine Hose landet in dem Wäschekorb in der Ecke, aber das bemerke ich kaum. Etwas perplex starre ich auf seine Muskeln. Wenn wir keine Werwölfe wären, würde ich mich direkt auf meinen Mann stürzen. Über seine Brust und seinen Bauch streicheln. Seine Haare verwuscheln und mich in seinen Augen verlieren. Mit einem verstärkten Griff in seinem Nacken seine Lippen auf meine pressen. Diese Gedanken schlage ich mir aber so schnell wie möglich wieder aus dem Kopf. Wir sind zwar verheiratet, aber nur weil wir Werwölfe sind. Das ist nicht zu ändern. Früh genug werde ich seine Nähe spüren. Wo habe ich mich da nur hinein geritten? Ich will mich nicht zu ihm hingezogen fühlen. Das macht uns nur Probleme. Wenn er das weiß, werden seine Augen schwarz. Dann überkommt ihn die Lust. Der Rausch. Er darf es nicht erfahren, niemals. Meine Gefühle dürfen nicht so bleiben, sonst bin ich wirklich verloren. Wenn ich Glück habe, steht in dem Buch etwas darüber. Ein Kapitel wie man sich entliebt vielleicht? Zu schön um wahr zu sein.
Das Verlangen ist gigantisch. Ich muss sie nur ansehen und in mir kommt das Bedürfnis hoch, sie an mich zu reißen. Mein Kopf brummt von dreckigen Gedanken und ich wünschte, es wäre anders. Sie tut mir leid. Was kann ich tun, um es ihr leichter zu machen? Ich bin ihr das schuldig. Sie gibt sich mir ohne Widerworte hin und verlangt nichts dafür. Ich finde das nicht fair. Ihre Schreie verfolgen mich. Ich bemerke ihre Schmerzen nicht, wenn ich in Rage bin. Aber sie sind da, das weiß ich. Ich muss meine Lust zügeln, dann wird es erträglicher. Aber wie nur? Selbst wenn ich stundenlang renne, ohne Ziel vor Augen, überkommt mich der Durst. Ich habe sogar das Gefühl, dass ich es schlimmer mache. Ich kann nur an sie denken, den ganzen Tag. Und wenn sie mir so nahe ist, vergesse ich sie? Warum ist das so? Ich mache mir schon selber Angst. Es muss einen Weg geben und ich werde ihn finden! Meine Frau hat diese Art Leben nicht verdient. Keine Frau hat das. Wenn ich nur wüsste, wo der Ursprung in meiner Kraft liegt! Dann gibt es bestimmt einen Weg, sie zu bändigen.
Der Ursprung der Kraft. Das klingt interessant, aber ich bin viel zu müde. Wer weiß, in welchem Kapitel Williams Großvater mehr herausgefunden hat. Ich werde morgen weiter lesen müssen, denn die Nacht durchzumachen wäre nicht sonderlich schlau. Die Besuche werden meine komplette Kraft in Anspruch nehmen und da darf ich keine Schwäche zeigen. Schließlich werde ich meinen Eltern begegnen. Dass das nochmal passiert, hätte ich nie erwartet. Aber ich kann Williams Entscheidung verstehen. Wenn er mit unserer Hochzeit bis zu seinem Geburtstag gewartet hätte, wäre uns nicht mehr genügend Zeit geblieben. Er sagt, ich muss noch viel lernen und ich brauche Erfahrung. Die nächsten Tage werden hart, oder sogar mehr als das. Ich spüre seine Anspannung und er ist leicht reizbar. Seiner Meinung nach, müsste ich schon längst im Bett liegen und mich ausschlafen. Trotzdem sitze ich in der Wanne und nehme ein Bad. So kann ich am besten nachdenken. Das Buch in meinen Händen wird schwer, aber ich kann nicht weiterlesen. Insgeheim machen mir die Informationen darin große Angst. Sie werden auch über meine Zukunft entscheiden und meinen Alltag. Es ist nicht nur die Geschichte vom Großvater und seiner Frau, es ist in gewisser Weise auch Williams und meine. Uns werden sich die gleichen Fragen stellen; Was müssen wir tun, wo müssen wir anfangen? Was dürfen wir nicht übersehen? Machen wir einen Fehler? Ist es möglich? Liegen wir falsch? Und wieder - Wo liegt der Ursprung? Natürlich, das Buch und die Arbeit darin schaffen uns einen Vorsprung, aber kann es bei uns überhaupt funktionieren? Wir sind nicht wie andere Paare. Wir sind Rebellen, so wie William immer so gerne sagt. Haben Rebellen nicht immer ein anders Schicksal? Kann man sie mit den "Normalen" überhaupt vergleichen? Fragen über Fragen und jede davon jagt mir einen riesen Schreck ein.
Seufzend trockne ich mich ab und wickel mir ein Handtuch um. Ganz leise gehe ich in unser Schlafzimmer und ignoriere das Bett. Lieber nicht hinsehen, ob er schon schläft. Ich ziehe mir bequeme Schlafsachen an und hänge das Handtuch an die Wand. Erst komplett angezogen, wage ich es, mich umzudrehen. Erleichtert atme ich aus. William schläft schon - friedlich und unberührt. Eine Menge Schmerzen müssen schon hinter ihm liegen und trotzdem sieht er friedlich aus. Ich beneide ihn um seinen ruhigen Schlaf. Kein Alptraum scheint ihn zu verfolgen, was mir kaum gegönnt ist.
Zögernd lege ich mich neben ihn ohne ihn aus den Augen zu lassen. Mein Körper verschwindet unter die Decke und die Wärme befördert mich schnell in einen erholsamen Schlaf.
Ich erwache früh am morgen weil mich etwas am Arm gestreift hat. Verwirrt schaue ich mich um, aber William schläft immer noch. Gerade als ich mir selbst einrede, mir die Berührung vielleicht doch nur eingebildet zu haben, zuckt William neben mir zusammen. Von wegen, ruhiger Schlaf, er führt einen inneren Kampf. Sanft packe ich seine Schulter und versuche ihn zu wecken. Eine Strähne werde ich ihm jedenfalls nicht mehr aus seinem Gesicht streifen. Dann würde er bestimmt einen Herzinfarkt bekommen.
"William? Schscht! Wach auf. Nur ein Traum."
Er keucht auf und seine Augen sind plötzlich ganz weit aufgerissen. Panisch sieht er sich im Raum und versucht seine Umgebung einzuordnen. Dann lässt er sich erleichtert zurück in sein Kissen fallen und sein Blick wandert zu mir. Schreck tritt in seine Augen.
"Warum weinst du?"
"Was?"
"Du weinst. Was ist passiert?"
Tatsächlich sind mir ein paar Tränen die Wange hinab gelaufen. Aber warum? Mir ist doch nichts passiert. Kein Traum, wie ich ihn gestern noch verflucht habe. Dann könnte ich meine Reaktion ja verstehen, aber heute? Er hat schlecht geträumt, nicht ich. Warum treibt mir das Tränen in die Augen? Vielleicht sollte ich lieber vom Thema ablenken. Wie sollte ich ihm denn erklären, dass ich weine sobald es ihm schlecht geht. Wie hört sich das denn an? Ich bin nicht verliebt in ihn! Mein Verstand lässt das nicht zu, also kann ich es ja ruhig abstreiten.
"Nein, es ist nichts. Keine Ahnung, warum ich weine. Aber was ist mit dir? Geht es dir gut?"
"Ja, ich weiß auch nicht was das gerade war. Tut mir leid, wenn ich dich wegen meinem Gezappel geweckt habe."
"Nicht weiter schlimm, aber sind deine Träume oft so schlimm?"
"Nein eigentlich nicht. Und normalerweise schlage ich auch nicht um mich wenn ich schlafe. Ich weiß nicht mal mehr, was ich überhaupt geträumt habe."
"Gut kann es kaum gewesen sein."
"Nicht wirklich. Danke, dass du mich geweckt hast."
"Keine Ursache."
Stille breitet sich aus. Seine Augen fesseln mich wieder und auch er wendet seinen Blick nicht von meinem Gesicht ab. Lange kann ich dem aber nicht standhalten und starre lieber auf die Bettdecke.
"Du hast keine Angst mehr vor mir, oder?"
"Nein, wie kommst du darauf?"
"Weil du immer meinen Blicken ausweichst. Warum tust du das dann?"
Ohoh. Was soll ich ihm sagen? Weil ich Angst hab, dass er meine Verliebtheit erkennt? Weil ich nicht will, dass er meine erröteten Wangen sieht? Weil sich jedesmal eine Stille um uns legt, die mein wild schlagendes Herz verraten könnte? Nichts davon darf er erfahren. Nichts davon will ich spüren. Er ist ein attraktiver Mann, der mich als Werwolf geheiratet hat. Zusammen liegen wir in unserem Ehebett. In knapp vier Tagen werden wir uns nahe kommen, ohne emotionalen Hintergrund. Uns erwartet ein simples Leben, das wir zusammen meistern können. Und und und. Träum weiter Verstand, das Kribbeln in meinem Bauch sagt da etwas ganz anderes. Ob es William genauso geht? - schreit mir mein Herz zu. Das tut es nicht! - erwidert mein Verstand gefühlskalt. Warum auch? Dazu gibt es keinen Grund. Schlechte Laune kommt in mir auf. Mit viel Verspätung fällt mir auf, dass William immer noch auf eine Antwort von mir wartet.
"Weil ich mich dabei nicht wohl fühle."
Der zickige Unterton in meiner Stimme lässt ihn kurz zusammenzucken. Vorsichtig nickt er zum Zeichen, dass er mich verstanden hat. Dann erhebt er sich und verschwindet ins Bad. Im weggehen kann ich noch ein paar Worte verstehen.
"Zieh dich an wenn es dir dann wieder besser geht. Ich geh schnell duschen und in einer halben Stunde müssen wir uns auf den Weg zu den Ältesten machen. Sie erwarten uns bestimmt schon."
Der zweite Teil seiner Worte lässt mich den gekränkten Part vergessen und ich springe auf. Welche Kleidung ist denn für dieses Treffen angebracht? Misstrauisch öffne ich den Kleiderschrank und sehe mich um. Bei wichtigen Terminen haben meine Eltern sonst immer im voraus den erwünschten Dress-code für mich bestimmt. Vergeblich suche ich hier nach einer Schutzfolie oder einem auffälligen Etikett. Ich höre wie nebenan das Wasser in der Dusche schon wieder abgedreht wird und greife zielstrebig in den Schrank. Eine einfache schwarze Röhrenjeans und ein dunkelbrauner Pullover mit dünnem Stoff und runden Ausschnitt sollten passen. Kombiniert mit den schwarzen Pumps im Schuhschrank wird das erwachsen genug aussehen. Meine Haare binde ich lieber zu einem Pferdeschwanz zusammen und auf der Kommode kann ich einfache Schminkutensilien entdecken. Sogar das hat er für mich gekauft. Verwundert lege ich ein wenig Make-up auf und ziehe einen feinen Lidstrich. Das muss reichen.
Etwas enttäuscht begutachte ich mich selbst im Spiegel. Trotz meinem Styling sehe ich noch kindlich aus. So wird er kaum mit mir losgehen wollen. Immerhin soll er seine Frau präsentieren und nicht seine kleine Schwester. Leicht angewidert drehe ich mich weg und sehe, wie William mich überrascht mustert.
"Was hast du gegen dein Aussehen?"
"Es wirkt so unerwachsen. So sollte man als Frau nicht wirken."
"Ach Quatsch! Rede dir nicht selbst so einen Schwachsinn ein. Glaub mir, du wirkst auf mich alles andere als kindisch. Im Gegenteil. Du bist früh erwachsen geworden durch deine Vergangenheit. Deine Augen strahlen deine Stärke aus, Loretta. Die wirst du jetzt auch brauchen."
Etwas erstaunt über seine Offenheit folge ich ihm. Er kann das ja leicht sagen. Keiner würde bei seinem Auftreten glauben, dass er kein Mann ist. Das unangenehme Gefühl in meinem Bauch, wenn ich ihn ansehe, lässt mich persönlich diese Tatsache nie übersehen. Aber nun gut, er gehört ja auch mir. In gewisser Weise.
Langsam trotte ich ihm auf den Weg zu seinem, äh unserem Auto nach. Das Klackern meiner Schuhe auf dem Boden ist das einzige Geräusch auf der Strecke. William kommt viel schneller voran als ich und hält mir die Beifahrertür mit einem Grinsen auf.
"Was ist so witzig?"
"Das letzte Mal als ich dieses Geräusch gehört habe, musste ich auf meine Großmutter warten. Sie hat sich genauso lang Zeit gelassen wie du, wenn wir uns leider auf den Weg machen mussten."
"Zuerst habe ich Angst, dass man mich nicht ernst nimmt, wenn ich zu kindlich aussehe und dann erinnere ich dich an deine Großmutter? Im ernst? Ist es zu viel verlangt, dass ich wirke wie ich bin?"
Er konzentriert sich auf die Straße, aber sein Grinsen wird nach meinen Worten trotzdem noch breiter.
"Schön, dass dich das amüsiert. "
Er lacht über die Ironie in meiner Stimme. Er weiß, dass ich ihm nicht böse bin und zieht mich noch weiter auf.
"Tut mir leid das zu sagen, aber im Grunde hast du dich selbst beleidigt. "
"Wie bitte?"
"Du hast mich falsch verstanden. Die Situation hat mich an meine Großmutter erinnert, nicht du. Aber wenn du das selbst sagst, habe ich nichts zu verlieren."
"William Chester, nimm das zurück."
Gespielt schockiert halte ich mir meine Hand an den Mund und starre ihn mit großen Augen an. Er lacht nur laut und schüttelt über mich den Kopf.
"Hättest du das jetzt in strengem Ton und mit drohendem Finger zu mir gesagt, dann..."
"Was dann?"
"Ach nichts."
Wieder lacht er. Ich kann mir die Antwort schon denken. Wie ein bockiges Kind verschränke ich meine Arme vor der Brust und starre mir finsterem Blick aus dem Fenster. Eigentlich habe ich ein erneutes Lachen oder wenigstens ein kleines Grinsen erwartet, aber sein Gesicht ist angespannt und ohne Spott. Er hält den Wagen an und räuspert sich.
"Wir sind da. Nummer eins auf der Liste wird eingeweiht. Bereit dazu?"
Ich versuche meine Nervosität herunter zu schlucken und nicke zaghaft. Wieder öffnet er mir die Tür und hilft mir aus dem Auto. Auf dem Weg zu der riesigen Villa lässt er meine Hand nicht los. An der überdimensionalen Haustür zieht er mit seinem Daumen kleine Kreise auf meinem Handrücken, damit ich mich beruhige. Selbst das Läuten der Türklingel wirkt zu aufgeblasen nach meinem Geschmack und verunsichert mich noch mehr.
"Du musst nichts tun als ein bisschen Smalltalk zu führen, während ich den Rest regle. Keine Sorge, ich bin bei dir."
Noch 4 Tage
Punkt eins
Ächzend schwingt die Tür vor uns auf und ein kleiner alter Mann im Anzug steht vor uns. Die Denkfalten auf seiner Stirn werden noch tiefer während er uns mustert. Ich habe ihn nie zuvor gesehen, doch er scheint uns zu erkennen.
"Mister Chester und seine Frau. Sie beide werden schon erwartet. Ich richte meinen Herren aus, dass sie nun angekommen sind. Folgen sie mir bitte in den Salon und haben sie Geduld. Es wird einen Moment dauern, bis die werten Herren allesamt eingetroffen sind."
Vorsichtig treten wir in das Haus ein. 'Schloss' würde es vielleicht eher treffen. Die ganze Einrichtung ist gigantisch; Verschnörkelte Geländer, polierter Boden aus edelsten Fliesen, mit echtem Gold verzierte Tapeten und ein riesiger Kronleuchter in der Mitte der Eingangshalle. Nach meinem Geschmack alles andere als angenehm und einladend - viel zu protzig und erdrückend.
Wir folgen dem Mann im Anzug nach links und erreichen einen Raum, der mit Holz und rotem Stoff abwechselnd überzogen ist. Er deutet auf eine lange Tafel und wir nehmen auf den unbequemen Stühlen platz. Nicht gerade hilfreich gegen meine Anspannung, wenn ich mich nicht wirklich willkommen fühle. Dieser Raum wirkt zu ernst, zu geschäftlich.
Weder William noch ich sagen ein Wort. Nicht einmal meine Hand hält er noch in seiner. Er ist jetzt durch und durch seriös und wirkt wie ein Profi auf dem Gebiet. Schließlich musste er die eigentliche Hochzeit auch schon organisieren. Nach zehn Minuten Schweigen ertönen hinter uns die Stimmen von zwanzig erwachsenen Werwölfen. Angelegenheiten wie diese regeln sie immer zusammen. Sie beraten sich und stimmen ab. Was, wenn sie unsere Bitte ablehnen? Sie verteilen sich auf die restlichen Stühle an dem großen Tisch und der Älteste - und somit der Hauptsprecher - führt die Verhandlung. Seine Stimme ist tief und arrogant. Sie wird keinen Widerstand dulden, das kann man ihr entnehmen. Williams Stimme klingt genauso stark und selbstsicher. Der Wortwechsel ist förmlich und scheint wie einstudiert.
"Wir haben sie bereits erwartet."
"Meine Herren. Es ist mir eine Ehre ihnen nun mit meiner Frau gegenüber zu treten. "
"Sehr erfreulich. Nun, wir kennen ihr Anliegen, aber wir müssen und an Förmlichkeiten halten. Würden sie es bitte vortragen."
"Natürlich. Mein Geburtstag steht in vier Tagen an und ich würde das Band zu meiner Frau gerne rechtmäßig durch die Ringe aus eurer Hand schließen. "
"Sie kennen die Bedingung?"
"Ja. Wir werden unsere Eltern nach unserem Gespräch sogleich aufsuchen. Sobald uns eurer Meinung nach nichts mehr im Weg steht."
"Grundsätzlich nicht, aber ich fürchte, sie werden noch auf ein Problem stoßen. Uns ist bekannt, dass ihre Großeltern, und damit ihre ersten Ansprechpersonen, verstorben sind. Sind sie sich über den Verbleib ihrer Eltern im Klaren? Es besteht nämlich das Risiko einer Abweisung. Sollte ihr Vater etwas einzuwenden haben, können wir ihrer Bitte nicht nachkommen. Wir brauchen eine eindeutige Bestätigung von ihm, auch wenn das sonst nicht üblich ist, ich weiß."
"Kein Problem, darauf war ich vorbereitet. Wie muss sie diese Bestätigung erreichen?"
"Wir haben bereits ein Formular vorbereitet. Eine Unterschrift bis morgen Abend wird genügen. Nun zum zweiten Punkt. Welche Art von Ringen wird benötigt?"
Einundzwanzig Augenpaare sind plötzlich auf mich gerichtet. Sie erwarten, dass ich antworte, aber was nur? William räuspert sich verlegen und rettet mich aus meiner Lage.
"Ihr müsst sie entschuldigen, sie ist sehr wortscheu. Eure Frage scheint sie zu überfordern."
"Vielleicht sollte ich es anders ausdrücken. Loretta, sind sie bereits von ihrer Unschuld befreit?"
Soll das ein Witz sein? Werde ich vor einem Haufen Männern über meine Intimitäten reden müssen? In Williams Blick liegt eine Entschuldigung und ich wende fassungslos meine Augen von seinen ab. Was versteht der denn unter "nur ein bisschen Smalltalk"?
Verlegen sehe ich auf die Tischplatte während meiner Antwort.
"Nein, ich bin noch nicht entjungfert worden."
"Wie steht es mit ihnen, William?"
"Ich schon."
Der Tisch spiegelt etwas und ich kann die gierigen Gesichter der Männer im Raum erkennen. Sie bewundern William. Was hat er nur für ein Glück - er hat Erfahrung und darf seine Frau als Erster und Letzter anfassen. Mir wird schlecht, denn man kann den meisten hier die dreckigen Hintergedanken und Lüste von den Augen ablesen. Ich komme mir vor wie Frischfleisch in einem Becken voller Haie. Der Älteste lässt sich aber nicht beirren, sondern wirkt sogar zufrieden.
"Dann sind sie wenigstens in dieser Hinsicht ein vorbildliches Paar, so wie unsere Gesetze das verlangen. Sobald ich die Unterschrift ihres Vaters auf dem Vertrag in der Hand halte, hindert uns nicht mehr an der Weihung der Ringe. Wir werden sie pünktlich zur Zeremonie vorbeibringen."
"Ich bin ihnen zum Dank verpflichtet."
"Sie kennen die Regeln und ich bin sicher, dass sie sie einhalten werden. Sie haben mein Vertrauen Mister Chester. Missbrauchen sie es nicht und ich entlasse sie ihrer Schuld. Ich bitte sie nun zu gehen und die restlichen Vorbereitungen zu treffen. Wir werden und bald wiedersehen."
"Sehr wohl."
Punkt zwei
Mit schnellen Schritten verlassen wir das kleine Schloss und bewegen uns auf das Auto zu.
"Warum schweigst du?"
"Du sagtest doch, dass ich wortscheu bin."
"Nimm dir das bitte nicht so zu Herzen. Du weißt, das war nicht ernst gemeint."
Nickend wende ich meine Aufmerksamkeit lieber dem Fenster zu. Wir sind auf dem Weg zu meinen Eltern. Nie wollte ich an den schlimmsten Ort meines Lebens zurückkehren. Nie.
"William? Was passiert, wenn sie etwas gegen uns haben?"
"Das wird nicht passieren. Dein Vater hat dich ja schon bereits frei gegeben, warum sollte er das jetzt ändern?"
"Stimmt. Meine Eltern wollten mich loswerden. Aber was ist mit deinen? Wie geht es weiter wenn dein Vater nicht unterschreibt? Sind wir dann doch nicht verheiratet?"
"Zum Teil schon und genau da liegt das Problem. Unsere Hochzeit wäre illegal und die Rechte an dir würden von mir zu meinem Vater überwandern. Er dürfte mir dann den Kontakt mit dir verbieten. Du musst wissen, nicht jedes Werwolfspaar heiratet mit Ringen, weil sie einander in der Familie vertrauen. Wenn mein Großvater unser Vormund wäre, bräuchten wir auch keine. Sie sind nur ein Symbol dafür, wem genau aus der Familie du rechtlich gehörst. Mein Großvater hätte dich mir ohne zu zögern überlassen und mir vertraut. Verstehst du, wo unser Problem liegt?"
"Wie können wir deinen Vater von uns überzeugen?"
"Gar nicht. Wir müssen ihm eine fette Lüge auftischen, sonst können wir das vergessen! Wie wir das genau anstellen, müssen wir heute Abend besprechen. Zuerst müssen wir deine Eltern von der Liste streichen."
"Wie kannst du das so locker angehen? "
"Es gibt hier nichts zu verlieren. Dein Vater hat nicht einmal das Recht, uns die Ringe zu verweigern. Ich denke nicht, dass sie mit uns rechnen."
William liegt in seiner Annahme komplett richtig. Meiner Mutter fallen fast die Augen aus dem Kopf, als sie uns an der Tür stehen sieht. Ihr scheint die Überraschung ziemlich unangenehm zu sein, aber sie bittet uns höflich herein. Im Inneren der Villa hat sich nichts verändert, sogar der Geruch erinnert mich schmerzlich an meine Kindheit. Auf der Tapete in der Küche sind zum Beispiel noch die Brandflecken zu erkennen, die ich aus "Versehen" verursacht habe - meine Haut brennt übrigens nicht, nur die Hitze schmerzt etwas. Angeekelt lenke ich meine Aufmerksamkeit lieber William zu, der mich aus den Augenwinkeln mustert. Er scheint meinen gequälten Blick bemerkt zu haben. Wieder nimmt er meine Hand und lässt sie auch nicht los, als meine Mutter zusammen mit meinem Vater zurück kommt. Stolz wie immer geht er auf meinen Mann zu und schüttelt seine Hand. Mich ignoriert er vorerst.
"Mister Chester. Was verschafft uns die Ehre?"
"Wir hätten eine letzte Bitte an sie, Mister Binfield. Hätten sie einen Moment Zeit?"
"Ich denke schon. Diesen Abend wäre ich auch so schon nicht mit meiner Arbeit fertig geworden. Ich werde morgen weiter machen müssen. Wie auch immer, nehmen sie doch im Salon Platz. Darf ich ihnen etwas zu trinken anbieten? Einen Whiskey zum Beispiel?"
"Sehr gerne."
Was wird denn hier gespielt? Von dieser Seite habe ich meinen Vater nie kennengelernt. Ein freundlicher Gastgeber, der seine Verlegenheit überspielt? Aber warum ist er so? Ist etwas passiert? Misstrauisch betrachte ich das Schauspiel vor mir. Die beiden Männer lachen, als ob sie sich schon lange kennen. Als hätten beide ein erfreuliches Erlebnis hinter sich, nur dass ich sie durchschaue. Ich kenne Williams wirkliche Absichten und er passt sich nur an. Er will bekommen, was ihm zusteht und er wird es erreichen. Er kann sich seine offene Art leisten, vielleicht ist sie doch nicht so aufgesetzt, wie ich zuerst angenommen habe. Mein Vater versucht aber deutlich etwas zu verbergen. Ihm liegt etwas auf der Zunge, aber er spricht es nicht aus. Er wartet auf den richtigen Moment, das kann ich ihm ansehen. Zuerst das Geschäftliche, dann kann er seine Maske wieder ablegen.
William spürt meine Anspannung und drückt zur Beruhigung meine Hand. Und dann passieren mehrere Dinge gleichzeitig; Meine Mutter zieht scharf die Luft ein, als sie es bemerkt, mein Vater hört auf, sein Glas lässig zu schwenken und starrt auch auf unsere Hände und ich bekomme Panik. Man kann sie mir förmlich im Gesicht ablesen und ein besorgtes und zwei entsetzte Augenpaare sind auf mich gerichtet.
"Sie vertraut dir, deshalb ist sie noch am Leben. Nette Taktik mein Junge, das muss ich dir lassen."
Das ist es also. Sie wundern sich, dass ich noch lebe. Natürlich, warum habe ich das nicht schon früher erkannt? Sie denken, ich wäre berechnend und leicht zu durchschauen. Das gehört der Vergangenheit an! William muss das selbe denken. Er wendet seinen Blick wieder von mir ab und Kälte tritt in seine Augen. Er lügt, aber mein Vater kann es nicht von der Wahrheit unterscheiden.
"Sie vertraut nicht mir, sondern den Strafen. Sie wird kaum noch einmal einen Selbstmordversuch wagen. Da wären wir auch bei meiner Bitte angelangt. Ich möchte unsere Hochzeit mit den Ringen besiegeln und laut den Gesetzen der Ältesten müsst ihr der Überreicher sein. "
"Das kommt überraschen, aber es wäre mir sogar eine große Freude. "
"Wie darf ich das verstehen?"
"Ich hatte es nicht immer leicht mit der Erziehung und ich freue mich, dass sie so streng mit ihr umgehen. Wie kann ich es ablehnen, wenn ausgerechnet sie mich danach fragen? Ich wäre meine Tochter mit Sicherheit für immer los."
"Ich denke, wir sind hier fertig. Die Ältesten werden ihnen die Ringe noch vor der Zeremonie in vier Tagen vorführen. Ich danke ihnen für ihre Offenheit."
Ohne weitere Worte oder Zustimmung meines Vaters zieht mich William beinahe grob hinaus und rennt schon fast zum Auto. Erst als er sitzt beruhigt er sich wieder und atmet tief durch. Geschockt starre ich ihn an.
"Tut mit leid, aber ich wollte dich da nur so schnell wie möglich rausschaffen. Sonst wärst du noch panischer geworden. Geht es dir gut?"
"Keine Ahnung. Können wir bitte zu Hause weiter reden? Ich muss etwas nachdenken."
Verständnisvoll nickt er mir zu und startet den Motor. Die Begegnung mit meinen Eltern war noch schlimmer als erwartet. Nicht nur dass grässliche Erinnerungen aufgekommen sind, ich dachte wirklich, mein Vater lehnt unser Vorhaben ab. Er kam nicht hinter meine Gefühle zu William, aber meine Mutter stand kurz davor. Sie wollte mich verraten, die Eifersucht lag in ihrem Blick. Sie hat mich damit gelöchert bis William uns geschickt herausgeredet hat. Was hätte ich nur ohne ihn gemacht? Mein Vater hätte uns für Zuneigung verspottet und wahrscheinlich verleugnet. Diese Seite hatte William nicht berücksichtigt, als er mich vor der Begegnung beruhigen wollte. Wie hätte er auch damit rechnen sollen? Noch ein Grund, sich gegen meine Gefühle zu wehren. Sie dürfen nicht sein! Niemals. Aber es ist ja noch einmal gut gegangen dank ihm.
Schweigend gehen wir nebeneinander ins Haus. Punkt zwei auf der Liste ist auch schon erledigt und ich fühle mich wirklich ein bisschen erleichtert. Immerhin werden mir meine Eltern mein Leben nicht mehr zur Hölle machen können. Nicht nur sie sind froh, dass ich endlich weg bin. Ich bin auch froh darüber, sie ganz los zu sein. Nur noch ein einziges Treffen und dann heißt es Abschied für immer.
"Sag mir bitte wie es dir geht. Du bist so still und du willst mich ja nicht in deinem Kopf haben."
"Es geht mir gut, wirklich. Ich weiß doch, dass ich ihnen nichts bedeute und sie nur ihre Pflicht getan haben. Es stört mich nicht, weil ich das gleiche für sie empfinde."
"Warum hattest du dann solche panische Angst und warst so verspannt?"
"Ich habe wirklich erwartet, dass sie mir noch eins auswischen wollten. Ich dachte, sie stellen sich uns jetzt doch in den Weg. Das wäre ihnen zuzutrauen, aber du hast es geschafft. Danke übrigens."
"Warum dankst du mir?"
"Ich bin meine Eltern los. Ich kann durch deine Hilfe ein besseres Leben führen. "
Er schmunzelt etwas über meine Worte, aber er liest auch zwischen den Zeilen. Besseres Leben bedeutet nicht unbedingt gutes Leben, meine Wortwahl ist ihm nicht entgangen. Trotzdem empfinde ich es genau so und nicht anders. Daran kann selbst er nichts ändern.
Punkt drei
"Wie gehen wir das jetzt morgen an?"
"Das frag ich mich auch schon die ganze Zeit. Wir müssen meinen Vater aus der Reserve locken."
"Du hast gesagt, dass er dich erpresst? Was genau verlangt er von dir?"
"Ich soll so werden wie er. Ich soll lernen, mich zu benehmen. Er will seinen Sklaven zurück."
"So klappt das natürlich nicht, aber vielleicht geht es ihm nicht nur darum. Könnte es nicht reichen, wenn du nur nicht so bist wie dein Großvater? In seinen Augen zumindest."
"Auf was willst du hinaus?"
"Wie wäre es, wenn wir ihm das gleiche zeigen wie meinem Vater auch. Nur etwas extremer. Du, der strenge Ehemann und ich, dir komplett untergeordnet."
"Die Sache hat nur einen Haken. Er wird mir das nicht ohne gute Beweise abkaufen. Schließlich bin ich abgehauen und habe gesagt, dass ich sein Verhalten mehr als nur missachte."
"Oft ist es am einfachsten, wenn man nicht lügt, sondern sich nur die Wahrheit so hinbiegt, wie man sie gebrauchen kann. Wenn er wissen will, warum du deine Meinung geändert hast, erzähl ihm von dem Selbstmord deines Großvaters und wie sehr er dich geprägt hat. Und ich kann sagen was ich will, er kennt mich nicht."
"Nein. Rede nur, wenn ich es dir erlaube. Mir gefällt dein Vorschlag, aber es muss wirklich überzeugend sein. Das mit den Wahrheiten verdrehen wird nicht so leicht aufgehen, wir müssen trotzdem viel dazu erfinden. In andere Rollen schlüpfen. Kannst du gut schauspielern?"
"Ich denke, ich habe den leichteren Part. Eigentlich kann ich mein Leben so spielen, wie es bei einem anderen Werwolf gelaufen wäre. Es wird wahrscheinlich schwerer, dich als den bösen Wolf zu sehen und darauf einzugehen."
"Der böse Wolf? Das ist kein Märchen Loretta! Er muss mir abkaufen, dass ich so bin, wie er es immer wollte."
"Was ist mit deiner Mutter?"
"Was soll denn schon mit ihr sein? Sie gehorcht ihm und steht auf seiner Seite. "
Na gut. Trotzdem werde ich ein Auge auf sie werfen. Meine Mutter hätte uns heute auch fast auflaufen lassen, das Risiko dürfen wir nicht noch einmal eingehen.
Morgen werde ich seine Eltern kennenlernen. Unter Menschen wäre das schon ein nervenaufreibendes Vorhaben, wie soll ich das nur meistern? Selbst wenn William dabei ist, er muss sich um sein eigenes Image kümmern. Hoffentlich geht alles gut. Ich will nicht an seinen Vater gebunden sein. Das wäre wahrscheinlich noch schlimmer als bei meinem eigenen. Ich mag es mir gar nicht vorstellen. Positiv denken Loretta, es wird gut.
"Willst du noch in den Wald?"
"Ich muss, sonst überstehe ich das morgen nicht. Kommst du mit mir?"
"Wenn ich nicht störe?"
"Dann hätte ich nicht gefragt. Außerdem können wir dabei gleich trainieren."
Seine Hand legt sich um meinen Unterarm und zieht mich mit ihm nach draußen.
"Gleiches Prinzip wie gestern. Lauf weg und ich fange dich. Tu mir aber bitte den Gefallen und renn nicht wieder zum Haus zurück. Ich gebe dir zehn Sekunden Vorsprung. Lauf."
Gesagt, getan. Warum auch nicht? Wenn es nicht um eine ernste Sache gehen würde, dann könnte ich wirklich lachen. Es macht nämlich unglaublichen Spaß. Schon als Kind war das Fangen-Spiel immer mein liebstes. So schnell wie möglich verwandle ich mich in einen Wolf und renne immer tiefer und tiefer in den Wald hinein. Ich bremse nicht ab, im Gegenteil. Williams rasende Schritte kommen näher und treiben mich an. Ich weiß, dass ich eigentlich keine Chance habe, bleibe aber weiter in Bewegung. Ich laufe in Schleifen, um ihn zu verwirren und das schafft mir Zeit. Er fällt ein Stück zurück und kann sich dadurch nur auf seinen Geruchsinn verlassen. Hinter einem Holzstapel verwandle ich mich wieder in einen Menschen zurück und halte Ausschau nach ihm. Das war vielleicht nicht meine schlauste Idee, weil ich ihn deshalb nicht mehr hören kann. Wo bleibt er? So lange kann das doch nicht dauern? Vielleicht ist er doch nicht so gut wie er meint. Ein freches Grinsen stiehlt sich auf mein Gesicht - der Gedanke daran ist einfach nur zu komisch. Selbstsicher drehe ich mich um und der Schrei aus meinem Mund ist ohrenbetäubend. William steht schon längst als Mensch hinter mir und bricht in fieses Gelächter aus.
"Seit wann stehst du da schon?"
"Viel zu lange, aber dein geschocktes Gesicht war es wert. "
Er amüsiert sich immer noch köstlich. Übertrieben gekränkt stehe ich wieder auf und klopfe meine Hose ab. Mit der Hand vor seinem Mund unterdrückt er ein erneutes Auflachen. Seine Laune hat sich erheblich gebessert und das besänftigt auch mich. Mit verschränkten Armen gehe ich auf ihn zu und dränge ihn an den Baum hinter ihm zurück. Jedenfalls so lange, bis er den Spieß umdreht. Schneller als ich reagieren kann, stoße ich mit dem Rücken an dem Baum an und nun bedrängt er mich. Ungläubig zieht er eine Augenbraue nach oben und mustert mich. In seiner Stimme schwingt ein bespaßter Unterton mit.
"Was war denn das? Wolltest du mir gerade drohen? Ich würde sagen, du machst etwas falsch. "
Er kommt näher und umfasst mit seinen Fingern meine Handgelenke und drückt sie nach unten. Mit der anderen Hand stützt er sich selbst neben meinem Kopf am Baum ab. Wie ein kleines Kind fange ich an zu quengeln und ziehe einen Schmollmund. Er lacht und sein Atem trifft mich im Gesicht. Berauscht von seinem Duft entspanne ich mich plötzlich und wieder breitet sich ein unangenehmes Kribbeln in meinem Bauch aus. Unsere Gesichter nähern sich immer weiter an, bis er mir endlich einen Kuss gibt. Auf die Nasenspitze. Auf die Nasenspitze? Auf die Nasenspitze! Egal wie man es sagt, es ist und bleibt so. Die Schmetterlinge in meinem Bauch stört es wenig, sie sind sogar noch stärker. Mein Herz würde William aber am liebsten anschreien und ihm die Meinung sagen. Soll das etwa schon alles gewesen sein? Mein Verstand meldet sich dann auch wieder zu Wort und ist erleichtert. Ein richtiger Kuss hätte mich doch nur noch mehr ins Verderben gestürzt. Ich hätte ihn bestimmt - so doof wie ich bin - einfach erwidert, und dann? Da könnte ich ihm gleich sagen, dass ich ihn...ja was eigentlich? Liebe? Nein, dafür ist es noch zu früh. Leiden kann. Genau, ich kann ihn gut leiden. Das klingt doch akzeptabel.
"Verloren."
"Bitte was?"
Verständnislos sehe ich ihn an. Was meint er mit verloren? Dass er meine Gefühle kennt? Hat er das Band geöffnet und meine Gedanken belauscht? Reichen ihm schon Bruchstücke aus, um über mein Innerstes zu urteilen? Wohl kaum, das Band ist geschlossen.
"Ich habe dich eingeholt, also hast du verloren."
"Achso. Ja. Ich äh, ich trage es mit Würde."
Oh Gott! Ich fange auch noch an zu stottern. Er sieht es aber als Sieg und grinst nur noch breiter. Dann lässt er von mir ab und verwandelt sich in einen Wolf. Ich mache ihm nach und nebeneinander laufen wir zum Haus zurück. Erschöpft lassen wir uns beinahe gleichzeitig in unser Bett fallen und ich versinke sofort in einen tiefen Schlaf.
Noch drei Tage
Ich habe mich an unser Bett gefesselt, so sehr dass ich mich nicht mehr rühren konnte. Bei Einbruch der Dämmerung habe ich ihr gesagt, dass sie sich zu mir setzten soll. Sobald meine Augen schwarz wurden, begann sie mich zu küssen. Sie hatte Angst, aber ich konnte ihr nichts tun. Ihre Nähe hat die Kraft gelindert, aber es dauerte noch länger als sonst. Sie hatte dabei höllische Angst, aber meine Stärke schwand immer mehr dahin.
"Hier steht etwas von einer erfolgreichen Methode."
"Jede ist in gewisser Weise erfolgreich gewesen. Es kommt nur darauf an, wann und wie oft man sie anwendet. Mein Großvater hat sie in die verschiedenen Tage oder Wochen der Periode seiner Frau unterteilt. "
"Wozu soll das gut gewesen sein?"
"Was du da gerade gelesen hast war nur eine Möglichkeit, wenn sie ihre Periode bekommen hat. Ich denke du wirst in dieser Zeit auch nicht richtig mit mir schlafen wollen. "
Ich lasse seine Antwort unkommentiert. Das Thema ist doch etwas peinlich.
"In dem Buch in der Hand hat er die Methoden danach geordnet. Es gibt aber noch ein paar, die mit dem Mondzyklus zu tun haben und noch seine allgemeinen Beobachtungen. "
"Wie soll ich die alle in so kurzer Zeit durchlesen?"
"Das brauchst du nicht. Es ist am einfachsten, wenn du stückweise vorgehst würde ich sagen."
Das stimmt. Aber nach welchem Prinzip soll ich mich entscheiden? Er sagt, er vertraut mir und ich soll selbst auswählen. Das werde ich mir wohl noch überlegen müssen, aber dafür habe ich noch über eine Woche Zeit. Schließlich müssen wir erst eine "normale" Nacht hinter uns haben. Das erste Mal, zumindest meins.
"Wie kommt es eigentlich, dass du ... also äh, dass du schon.."
"Dass ich schon mal mit jemandem geschlafen habe?"
Peinlich berührt nicke ich. Was muss ich auch immer so neugierig sein, aber ich würde es wirklich gerne wissen. Als er den Ältesten davon erzählt hat, war ich ehrlich gesagt erstaunt. Nie habe ich darüber nachgedacht, dass er es bereits hinter sich haben könnte. Da interessiert es mich umso mehr, wie es dazu kam.
"Es hat nichts bedeutet. Es war eher Mittel zum Zweck. Ich wusste ja, dass ich später heiraten werde und hab dann vorgesorgt. Es würde deine Schmerzen nicht lindern, wenn ich keine Ahnung von dem habe, was ich tue. Es ist etwas peinlich das zu sagen, aber ich bin zu einer Prostituierten gegangen."
"Wie alt warst du da?"
"Neunzehn. "
"Aber dann warst du ja schon ein Werwolf. Sie als Mensch muss doch..."
"Ich habe nie von einer menschlichen Prostituierten gesprochen. Vielleicht stellst du dir den Ablauf etwas falsch vor. Ich bin nicht in eine zwielichtige Gegend und hab sie an einer Straßenecke aufgegabelt. Es gibt richtige - wie soll ich sagen? - Agenturen für so etwas. Sie verdienen ihr Geld völlig legal in den Augen der Wolfs-Gesellschaft. Immerhin gibt es viele Unverheiratete unter uns. Wo sollten die denn sonst hin?"
"Sind die Frauen denn nicht verheiratet?"
"Unterschiedlich. Die einen müssen sich selbst ernähren, weil sie alleine sind. Andere werden von den Männern gezwungen. Nicht jede hat das Glück, einen reichen Wolf zu heiraten wie du."
Er lacht dreckig, aber mich stört es nicht im Geringsten. Und auch mit seiner Erklärung bin ich zufrieden. Immerhin muss ich mir keine Sorgen machen, dass er einer verflossenen Liebe hinterher trauert. Warum auch immer ich mir darüber überhaupt Gedanken mache. Seine Vergangenheit bleibt seine Vergangenheit. Ein Stich in meinem Herzen lässt mich zusammenzucken. Wer weiß, was für schöne Momente er schon mit anderen Frauen genießen konnte. Weit weg von mir. Schneller als ich es denken kann, hat eine Frage schon meinen Mund verlassen. Am liebsten würde ich mir auf die Zunge beißen.
"Gab es schon mal eine Frau in deinem Leben, die du geliebt hast?"
"Ja. Neben meiner Mutter noch eine einzige."
"Empfindest du noch etwas für sie?"
Sein Blick ist unergründlich, also deute ich es als ja. Verkrampft presse ich meine Zähne zusammen, um mein Schluchzen zu unterdrücken. Damit habe ich doch rechnen müssen. Warum macht es mir so viel aus? Hätte ich doch nur nicht gefragt! Jetzt habe ich den Schlamassel. Die Situation zwischen uns ist angespannt und keiner sagt ein Wort. Was denn auch? Mir fällt nichts ein, das meine Gefühle zu ihm nicht offen zeigen würde und er ist mit seinen Gedanken plötzlich ganz wo anders. Bei ihr? Tränen steigen mir in die Augen. Schnell drehe ich mich weg, damit er sie nicht sehen kann. Ich kann spüren, dass er meine Schritte mit den Augen verfolgt, als ich in unser Bad flüchte. Einen Blick in den Spiegel riskiere ich lieber nicht, ich steige gleich in die Dusche. Dieses Mal haben mir die Gefühle zu ihm Schmerzen verursacht, wenn auch nur seelisch. Vielleicht ist es ein guter Anfang, um ihn zu vergessen. Schließlich kann ich mir nicht mehr unbewusst Hoffnungen einreden. Er liebt eine andere. Auch wenn er mit mir verheiratet ist, sein Herz gehört mir nicht. Sobald ich meins zurück gewonnen habe, ist alles wieder gut. Damit im Hinterkopf sollte mir diese Sache mit dem "Entlieben" leichter fallen.
"Brauchst du noch lange? Wir müssen uns langsam auf den Weg machen."
"Wenn du mir nicht sagst, was ich anziehen soll, schon. "
"Am besten ein Kleid mit tiefem Ausschnitt. Schließlich bist du mein Spielzeug."
Ich lache kurz über den grimmigen Ton in seiner Stimme, aber ich komme seinem Vorschlag nach. Ich finde in der hintersten Ecke vom Kleiderschrank ein gewagt kurzes, schwarzes, weit ausgeschnittenes Kleid und ziehe es an. Ich schminke mich wie am Tag zuvor und schlüpfe wieder in die Pumps. Das Outfit passt nicht annähernd zu meinem Charakter und für den heutigen Tag ist das perfekt. Motiviert davon baue ich auf meine Fähigkeiten als Schauspielerin. Ein bisschen Parfum rundet das ganze ab und etwas zu hastig drehe ich mich um. Etwas unbeholfen stoße ich gegen William, der gerade zu mir gekommen ist. Er hält meinem Arm fest, damit ich nicht hinfalle und wir sind uns gewagt nahe. Er beugt sich noch weiter zu mir hin, schließt kurz die Augen und atmet tief ein. Lächelnd sieht er mich danach wieder an.
"Verführerisch, also genau richtig. Ich wette mit dir, dass er schon über dich nachgeforscht hat und dich so zu sehen, wird meinen Vater umhauen. "
Ein fetter Kloß in meinem Hals lässt mich nicht antworten. Er meint es zwar als Kompliment, aber trotzdem heitert es mich recht wenig auf. Betreten starre ich auf einen Punkt hinter ihm und er lässt mich seufzend los. Mit dem Kopf deutet er zur Tür und wir gehen los. Weder auf dem Weg zum Auto, noch darin während der Fahrt reden wir miteinander. Ich konzentriere mich auf die Landschaft um mich herum und nicke dabei ein bisschen ein. Als wir nach zwei Stunden durch eine kleine Siedlung fahren, bin ich wieder hellwach. Mein Gefühl trübt mich nicht, als ich denke, dass wir da sind. Vor dem größten Haus der Straße hält William den Wagen an und öffnet mir die Tür. Diesmal nimmt er nicht liebevoll meine Hand, sondern lässt mich in seinem Arm unterhaken. Ich lasse mir nichts anmerken. Vielleicht hält er mich nicht wegen unserem Gespräch auf Abstand und er ist nur schon in seiner Rolle. Na dann, Show time!
"Wen haben wir denn da? Mein verlorener Sohn kommt zu Besuch."
"Vater. Es ist lange her, ich weiß. Darf ich dir jemanden vorstellen?"
"Loretta Binfield, nehme ich an. Ach, Verzeihung. Sie tragen natürlich schon unseren Familiennamen."
Kalte blaue Augen blicken mich an und ein gekünsteltes Lächeln ist auf dem Gesicht des Mannes vor mir. Williams Vater hat auch in der Gestalt eines Menschen eine animalische Ausstrahlung und das schüchtert mich ein. Zaghaft nimmt er meine freie Hand und gibt mir einen Kuss darauf. Ich muss mich stark zusammenreißen, dass ich nicht zurückweiche. Das Lächeln auf seinem Gesicht wird breiter und aufrichtiger, als ich gehorche. Er scheint tatsächlich viel über mich nachgeforscht zu haben.
"Sie ist gut erzogen. Das wundert mich, denn ihre Eltern schienen davon nicht überzeugt."
"Du kennst ihre Eltern?"
"Ihr Vater war einer meiner Arbeitskollegen. Da hört man viele Gerüchte. Nun denn, kommt rein."
"Danke."
"Lass uns das Gespräch nicht länger umgehen! Du bist sicher nicht ohne wirklich wichtigen Grund hier mit deiner Frau."
"Warum dieser Unterton?"
"Ehrlich gesagt bin ich etwas enttäuscht von dir. Wieso war ich nicht auf der Hochzeit eingeladen?"
"Es tut mir Leid, aber ich dachte nicht, dass du kommen willst. An der Beerdigung warst du auch nicht da."
"Das sind ganz andere Umstände gewesen. Du weißt, was ich von deinem Großvater gehalten habe. Es wundert mich noch immer, dass du hier bist. Du warst auf seiner Seite."
"Dinge ändern sich. Wie könnte ich weiterhin an ihn glauben, wenn er sich umbringt vor Qual. Ich bin fast vollwertig und habe eine Frau. Das hat meine Sicht der Dinge grotesk gewandelt."
"Das freut mich zu hören. Und wahrlich, deine Frau ist ein Schmuckstück. Loretta, wie ist er denn zu dir?"
Eine Fangfrage. Normalerweise muss man in solch einer Situation schwärmen was das Zeug hält. Ich dagegen schaue William an und bitte um Erlaubnis zu sprechen. Ein Funkeln tritt in die Augen des Vaters, als er es bemerkt. Kauft er es uns ab? Ein Nicken von William gibt mir das Zeichen. Nur nichts falsches sagen!
"Er hat alle Macht über mich. Wie soll ich sagen? Seit ich bei ihm bin, weiß ich mich zu benehmen."
War das zu viel des Guten? Zu dick aufgetragen? Der abschätzende Blick vom Vater lässt mich die Luft anhalten. Er mustert uns beide und es ertönt ein erfreutes Lachen aus seinem Mund. Das scheint ein gutes Zeichen zu sein, dann William entspannt sich spürbar.
"Sie gefällt mir. Genauso wie dein offensichtlicher Sinneswandel. Es freut mich zu sehen, dass du wieder ein ehrbarer Sohn für mich bist. "
"Sehr schön zu hören. Vater, ich habe ein Pergament von den Ältesten für euch."
Wortlos nimmt er es an sich und liest es durch. Er runzelt dabei die Stirn und seine Laune verschlechtert sich leicht.
"Euer Band ist noch nicht komplett vollendet?"
"Nicht äußerlich jedenfalls. Die Ringe dienen nur als Symbol, aber sie sind auch ein Siegel. Würdest du uns bitte diese Ehre erweisen?"
"Was, wenn ich nein sage?"
"Warum solltest du?"
"Eigentlich gibt es keinen Grund, wenn man die Umstände betrachtet. Was hält mich aber trotzdem davon ab, sofort zu zustimmen?"
"Sag du es uns. Du hast mein Wort und kannst mir vertrauen."
"Kann ich das wirklich? Hat dein Großvater dir nicht auch vertraut? Was gibt mir Sicherheit William?"
"Ist meine Frau nicht Beweis genug für meine Loyalität? Durch Mutter bist du auch zu dem geworden, wer oder was du bist. Warum sollte das bei mir anders sein."
"Sie ist ein gutes Stichwort. Eine Mutter kann das Leben verändern. Ich will ein Kind von euch sehen."
"Natürlich werden wir später Kinder haben, schließlich ist das eine Verpflichtung durch die Hochzeit. Allerdings ist sie erst siebzehn. Wir brauchen noch einige Jahre Zeit."
"Darum geht es mir nicht. Zeit spielt keine Rolle, sondern die Erziehung. Mein Enkel, meine Regeln."
"Unsere Regeln."
"Wenn das so ist, dürftest du nichts einzuwenden haben, oder?"
"Nein. Natürlich nicht."
Oh Gott! Er musste gerade unser unschuldiges Kind an seinen Vater verkaufen? Er hatte keine Wahl, ob es ihm passt oder nicht. William unterdrückt seine Abscheu und sein Vater lehnt sich zufrieden in seinem Stuhl zurück. Er winkt einer Frau in der Ecke zu und sie bringt ihm seinen Stift. William hat unglaubliche Ähnlichkeit mit ihr - er hat ihre Augen. Sie sieht müde aus, aber strahlt, während sie ihren Sohn betrachtet. Stumm zeigt sie mit ihrem Mund die Bewegung für eine Begrüßung und er lächelt sie strahlend an. Der Vater unterschreibt die Bestätigung und ich juble innerlich auf. Wir haben es geschafft, wenn auch für einen sehr hohen Preis. Den Rest des Tages verbringen wir auch noch bei ihnen und dann machen wir uns auf den Rückweg.
"Bis in zwei Tagen. Ich bin seit Langem wieder stolz auf dich. "
"Gut zu wissen."
Mit diesen Worten ergreifen wir sozusagen die Flucht. Raus aus diesem Haus, weg von diesem Alptraum. Es war nicht einfach, meine große Klappe zu halten. Wie gerne hätte ich an den passenden Stellen protestiert und mich gegen die "Regeln" gewehrt. Ich hasse dieses Spiel! Nichts läuft so, wie man es erwartet. Man kann sich nicht darauf vorbereiten und es bedrängt.
"Gleich haben wir es geschafft. Nur noch die Unterschrift bei den Ältesten abgeben und wir können vorerst tief durchatmen."
"Vorerst?"
"Durch den Besuch bei deinen Eltern bist du sie vielleicht los. Bei mir ist aber das Gegenteil der Fall. Mein Vater kann uns jeder Zeit einen Besuch abstatten und das wird er. Egal was er sagt, er vertraut mir immer noch nicht."
"Aber er hat doch unterschrieben!"
"Lies den letzten Absatz auf dem Vertrag."
Wenn nötig, wird eine weitere Forderung gestellt. Wenn sie nicht eingehalten wird, darf die Rechtmäßigkeit der Ehe unter bestimmten Umständen wieder angefacht werden.
"Er darf seine Unterschrift zurückziehen? "
"'Unter bestimmten Umständen'. Das heißt, es geht vor Gericht und er muss es begründen. Wir werden ihm nicht die Gründe dafür liefern."
"Dir ist schon klar, dass wir unser Kind an ihn verkauft haben."
"Ganz so ist es nicht. Er will später nur sehen, was er in mir gesehen hat. Wir haben natürlich unsere eigenen Einflüsse, aber das muss er ja nicht wissen. "
"Du willst immer wieder eine Show vor ihm abziehen?"
"Anders geht es nicht. Tut mir leid, aber es ist der einzige Weg."
"Ich weiß. Es sollte kein Vorwurf sein, aber es macht mir nur solche Angst."
"Ich verstehe dich nur zu gut, aber was soll ich machen?"
"Mach dir keine Sorgen. Wir haben es doch geschafft, warum sollten wir uns das jetzt gleich wieder vermiesen?"
"Ja. Du warst wirklich gut heute. Er hat dir alles abgekauft. Ich bin schwer beeindruckt, ich hoffe aber, dass du mir nie etwas vorspielst."
Wenn er wieder so weit ist, dass er Witze reißen kann, ist wirklich alles besser. Meine Stimme hört sich aber trotzdem falsch an, als ich ihm antworte. Immerhin mache ich ihm ja etwas vor. Er weiß nicht, dass die Frist noch immer besteht für mich. Vielleicht werden wir nie ein Kind haben, falls es mir vorher schon zu viel wird. Heikles Thema, deshalb verbanne ich es aus meinen Gedanken. Nach einigen Anläufen schaffe ich es sogar.
"Ich weiß mich zu benehmen, wenn ich bei dir bin. Du hast alle Macht über mich."
"Wie bist du nur auf diese Worte gekommen? So viel hätte ich dir unter dem Druck nicht zugetraut, muss ich gestehen."
"Ich habe mir schon vorher ein paar Ausreden zurecht gelegt. Und in dem Moment sind mir einfach zwei auf einmal raus geplatzt. Viel musste ich ja nicht sagen, also halte dein Lob etwas zurück. Du warst viel bedeutender, aber bitte. Können wir über etwas anderes reden."
"Danke. Und zu gern ich weiter reden möchte, wir sind schon da. Komm!"
Leichtfüßig gehen wir zu dem kleinen Schloss, um das Pergament abzugeben. Der selbe Mann wie gestern öffnet uns die Tür und bittet uns ohne zu zögern hinein. Wir werden nicht in den Salon geschickt, sondern sollen in der Eingangshalle warten. Nur der Hauptsprecher empfängt uns und nimmt gleich die Unterschrift entgegen. Er schenkt uns ein freundliches Lachen und schüttelt nach kurzem Wortwechsel geschäftlich Williams Hand. Nur noch die Zeremonie in zwei Tagen und dann ist es abgeschlossen. Ein neues Leben wird für mich beginnen - nun endgültig. Ich hätte nie gedacht das zu sagen, aber es macht mir keine große Angst mehr. Der Gedanke an William an meiner Seite ist so beruhigend.
"Gehst du mit mir im Wald eine Runde laufen?"
"Wenn ich mich vorher umziehen darf?"
Grinsend beobachtet er mich wie ich die hohen Schuhe ausziehe. Ich verdrehe die Augen und gehe ins Schlafzimmer. Männer! Soll er doch mal den ganzen Tag in solchen Killer-Schuhen rumlaufen, dann weiß er, wie sich das anfühlt.
Schnell ziehe ich mir eine bequeme Jogginghose und ein einfarbiges Topp statt dem Kleid an. Ich öffne meinen Pferdeschwanz und meine Haare verbreiten einen angenehmen Duft nach meinem Shampoo, während ich durch sie mit den Fingern grob in Form bringe.
Ungeduldig erwartet mich William schon in Wolfsgestalt. Grinsend gehe ich an ihm vorbei und er beobachtet mich misstrauisch. Mit einem Finger zeige ich ihm, dass er noch kurz sitzen bleiben und die Augen schließen soll. Er gehorcht und ich fange an zu rennen. Direkt auf ihn zu. Verwirrt darüber, dass sich meine Schritte ihm nähern, öffnet er die Augen wieder. Ich ignoriere es einfach und springe über ihn drüber. Dabei verwandle ich mich auch und renne in die andere Seite vom Wald. Zu perplex von meiner Entscheidung, kann William mir erst nach einiger Zeit folgen. Dabei bin ich schon sehr weit gekommen, er wird sich diesmal anstrengen müssen, um mich einzuholen. Von meinem Erfolg beflügelt, merke ich nicht, wie er einen anderen Weg einschlägt. Er nimmt eine Abkürzung und fängt mich am Ende von dem schmalen Pfad ab. Notiz an mich selbst: nie auf 'offiziellen' Wegen laufen. Entsetzt drehe ich um und will eine andere Richtung einschlagen, doch er springt über mich und versperrt mit wieder den Weg. Erschöpft lasse ich mich auf den Boden fallen und verwandle mich zurück. Auch aus dem braunen Wolf wird wieder ein Mensch, der mir lachend seine Hand entgegen streckt. Er hilft mir auf und grinst mich an.
"Sag nichts, ich hab schon wieder verloren."
"Haushoch. Aber du wirst schneller. Wärst du nicht auf dem Pfad geblieben, hätte ich dich nicht so leicht eingeholt. Das ist gut. Für dich."
Er zwinkert mir zu und ich boxe ihm spielerisch gegen die Schulter.
"Wer zuerst am Haus ist?"
"Der Verlierer kocht das Abendessen!"
"Dann solltest du mich nicht verlieren lassen. Ich hab doch gesagt, dass ich nicht kochen kann."
"Spiegeleier würden mir schon reichen. Drei, zwei eins, Los!"
Gleichzeitig verwandeln wir uns, aber William landet nach seinem Sprung weiter vorne und somit habe ich eigentlich schon verloren. Trotzdem gebe ich nicht auf und such mir einen schnellen Weg abseits vom Pfad. Ich hab ihn aus den Augen verloren, aber auf der offenen Strecke bis zum Haus legen wir zusammen einen Endspurt hin. Als Mensch knalle ich mit dem Rücken an die Hauswand, William fängt sich über mir ab. Sein Körper ist an meinen gepresst und seine Hände stützen sich seitlich von meinem Kopf ab. Unsere Gesichter sind nur zehn Zentimeter voneinander entfernt und schwer atmend sehen wir uns in die Augen. Es wäre der perfekte Moment für einen Kuss, wären wir in einem romantischen Film. Da sind sie wieder - die unerträglichen Schmetterlinge in meinem Bauch. Sein Duft ist einfach zu berauschend und seine Nähe benebelt meine Sinne.
"Gleichzeitig würde ich sagen."
"Würde ich auch, wenn ich verloren hätte. Aber ich will mal nicht so sein und dir beim Kochen helfen."
"Du bist ganz schön frech zu mir, weißt du das?"
"Selbst Schuld. Du provozierst mich."
Er drückt sich lachend von der Wand ab und zieht mich an der Hand ins Haus.
"Auf was hast du Hunger?"
"Mir egal, Hauptsache keine Eier. Die hatte ich schon viel zu oft."
"Na gut. Wie stehst du zu Spaghetti?"
"Wir sind die besten Freunde."
Mit dieser Bemerkung machen wir uns an die Arbeit. Er stellt sich nicht dumm an, aber er ist so unbeholfen, dass ich viel zu lachen habe. Er nimmt es mir nicht übel, er lacht sogar über sich selbst. Seine gute Laune ist ansteckend und somit haben wir unseren Spaß. Beim essen holt mich die Müdigkeit ein und ich hänge schon halb schlafend über dem Teller. William beeilt sich extra mit seiner Portion und räumt für mich auf. Ich kann noch spüren, wie er mich hochhebt und ins Schlafzimmer legt. Er deckt mich liebevoll zu und legt sich daneben. Auf den Abstand zwischen uns habe ich keine Lust, weshalb ich mich zu ihm umdrehe. Ich kann sein leises Lachen spüren, als ich mich an ihn kuschle und meine Hand auf seine Brust lege. Er schiebt mich nicht weg, er lässt es zu und mit dem letzten Gedanken daran, rutsche ich komplett in das Land der Träume ab.
Noch zwei Tage
Mein Arm fühlt sich so unglaublich schwer an. Ich habe mich beim Schlafen herumgewälzt und meine Position ist gerade mehr als unangenehm. Erschöpft will ich mich umdrehen, aber etwas hält mein Handgelenk umklammert. Verwirrt schlage ich die Augen auf und schreie entsetzt. Ich bin an das Bett gefesselt? Wieso das denn?
"William? William!"
Keine Antwort. Was soll der Mist? Warum zur Hölle hält er mich im Bett gefangen und verschwindet ohne logische Erklärung? Vielleicht war er das gar nicht und ihm ist selbst etwas passiert. Eher unwahrscheinlich. Das ist zu viel des Guten, ich habe keine Lust mehr. Ich rüttle stark an den Handschellen und das Bettgestell unter mir wackelt wie verrückt. Das Metall hinterlässt Kratzer auf meiner Kaut und das macht mich noch wütender. Wie machen das denn die Verbrecher in den Krimis? Eine Nadel und schon ist das Schloss geknackt. Wo soll ich denn jetzt bitte eine herbekommen? Ist ja nicht so, dass ich im Haus danach suchen kann. Seufzend versuche ich an den Nachttisch neben dem Bett zu kommen. Schweißperlen stehen mir durch die Anstrengung auf der Stirn, aber als meine Finger das kühle Holz berühren, bin ich wieder motiviert. Meine Hand tastest sich zum Schuber und durchwühlt den Inhalt. Eine kleine Dose kommt zum Vorschein - was hat denn Vaseline hier zu suchen? Trotzdem atme ich bei dem Fund erleichtert aus. Er könnte mir auch hier raus helfen. Mit der freien Hand drehe ich den Deckel ab und schmiere die andre mit der Creme ein. Es kommt mir vor wie eine halbe Ewigkeit, bis sich die Fessel über meinen Handballen geschoben hat und ich frei bin. Aber ich habe es tatsächlich geschafft. Endlich! Nur warum musste ich mich überhaupt befreien? Wehe William hat keine gute Erklärung dafür! Er ist nicht im Bad und auch in keinem anderen Raum hier oben kann ich ihn finden. Ob er draußen ist? Ein Gefühl lässt es mich anzweifeln. Dann bleibt nur noch der Keller. Mit schlechter Laune stoße ich die Tür auf und gehe die Treppenstufen langsam herunter. Ich kann ihn hören, er ist wirklich im Trainingsraum. Er sieht mich nicht, wie ich ihn vom Türrahmen aus beobachte. Wie soll er auch mit mir rechnen - immerhin sollte ich nicht vom Bett wegkommen. Er schwitzt vom Gewichte stemmen, macht aber immer weiter. Sein Atem wird lauter ausgestoßen als ich ein kurzes Räuspern hören lasse, doch er lässt sich nicht ablenken.
"Was soll diese Aktion?"
"Du hast dich befreit."
"Das war keine Antwort auf meine Frage."
"Können wir später darüber reden? "
"Nein. Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich dein Verhalten ohne weiteren Kommentar hinnehme oder?"
Keine Antwort. Die Wut kocht in mir hoch und ich gehe auf ihn zu. Er drückt gerade die schwere Stange nach oben, doch ich halte sie fest und stemme mich dagegen. Meine Kräfte sind zwar nicht so groß wie seine, doch er ist geschwächt. Ein angestrengtes Stöhnen kommt aus seiner Kehle, dann verwandelt es sich in ein Knurren.
"Antworte mir!"
Wieder nichts. Stattdessen wird er wütend und seine Kraft steigt wieder etwas an. Er schafft es, mir entgegen zu halten und legt die Gewichte in die Halterung. Vorsichtig gehe ich ein paar Schritte nach hinten, er ist angespannt und vielleicht sauer auf mich. Immerhin habe ich mich ihm widersetzt. Hastig richtet er sich auf und in seine Augen glühen. Nur nicht vor Wut. Keine Spur, er sieht zufrieden aus. Sag mal, bin ich im falschen Film?
"Was ist nur heute los? Kannst du mir das erklären? Wenn ich etwas falsch gemacht habe, dann kannst du mir das doch sagen. Ich will wenigstens wissen, wofür ich bestraft werde."
"Das sollte keine Strafe sein. "
"Rede endlich mit mir. Bitte."
Die Wut ist dem Schock gewichen. Mein Handgelenk brennt wie die Hölle und er lächelt nur darüber. Tränen sammeln sich durch meine Verzweiflung in meinen Augen an, bis mir einige davon über die Wange laufen. Ich fühle mich wieder wie ein kleines, zerbrechliches Mädchen, nicht mehr wie die starke Frau, die William aus mir gemacht hatte. Ein Schmerz breitet sich in meiner Brust aus und ich schließe die Augen. So soll er mich nicht sehen und die Scham rötet mein Gesicht. Noch immer macht er keine Anstalten, mir zu antworten. Es verletzt mich, wenn er so mit mir umgeht. Sehr sogar, doch das kann er ja nicht wissen. Ich habe mir geschworen, ihm nichts davon zu erzählen. Meine Gefühle für ihn sollen im Verborgenen bleiben, bis sie nicht mehr so stark sind. Deshalb muss ich schnell von ihm weg. Er wird mir im Moment sowieso keine gute Begründung liefern und er hält mich auch nicht auf, als ich wieder nach oben gehe. Im Bad spritze ich mir kühles Wasser ins Gesicht, um meine Tränen zu vertreiben. Dann halte ich meinen verletzten Arm unter den Strahl. Zischend presse ich die Luft durch meine Zähne - der Schmerz wird erst noch größer, bevor er gelindert wird. In dem kleinen Schränkchen suche ich nach einem Verband, den ich mir vorsichtig umwickle. Alleine mit der linken Hand, erweist sich selbst das als Herausforderung.
"Ich mach das."
Seine Stimme lässt mich herumfahren. Sie klingt weder belustigt, noch wütend. Einfach normal, so wie sonst auch. Ich mustere sein Gesicht während seine Hände mich geschickt verarzten. Danach schenkt er mir ein aufmunterndes Lächeln, doch eine Entschuldigung kann ich darin nicht entdecken. Bereuen sieht anders aus. Wieder ein kleiner Stich in meiner Brust und meine Miene verfinstert sich. Mit dem Kopf bedeutet er mir, ihm zu folgen und gehorchend laufe ich ihm ins Wohnzimmer nach. Auf dem kleinen Schreibtisch in der Ecke liegt ein offenes Buch und er zeigt darauf. Na super. Schon wieder sollen die Forschungen seines Großvaters eine richtige Antwort ersetzen. Seufzend lese ich den kurzen Text vor mir durch.
Oh wie sie gelitten hat. Für Stunden gefangen, ohne auch nur die geringste Hilfe erwarten zu können. Was hab ich nur getan? Das Monster in mir macht mich verrückt und lässt es an ihr aus. Wie bin ich nur auf die Idee gekommen, sie zu fesseln? Hat es der Bösen Seite mehr Spaß gemacht? Es widert mich an! Ich muss lernen, mich auch bei Vollmond mehr unter Kontrolle zu halten. Wir hatten Glück, mein Blutrausch war kurz danach schon verheilt. Ein paar Stunden mehr und ich hätte sie verloren. In der freien Natur zurückgelassen, ohne auch nur ansatzweise zu wissen, was ich da tue. Wir müssen unbedingt vorsorgen. Nie wieder darf ich sie so ins offene Messer laufen lassen.
"Ich bin unberechenbar. Wenn ich die Kontrolle über mich selbst verliere, kann ich dir für nichts mehr garantieren. Mein Großvater hat in dieser Nacht seine Frau in der Wildnis zurückgelassen. Ohne Kleidung an einen Baum gefesselt. Umringt von wilden Tieren. Sie konnte sich nicht in einen Wolf verwandeln und ihre Kräfte haben sie immer weiter verlassen. Das war ihnen eine Lehre und für uns ist es auch wichtig. Du musst immer einen Fuß in der Hintertür haben. Ich darf davon nichts wissen. Du suchst dir die Methoden aus und dadurch kannst du dich vorbereiten. Sag mir nie, was du planst, sonst könnte ich dich ungewollt abhalten. Das heute Morgen war Training. Du hast einen kühlen Kopf bewart, obwohl du nicht einmal wusstest, wie dir geschieht. Es tut mir leid, dass ich dich erschreckt habe, aber ich wusste, dass du es schaffst. Du bist stark, Loretta."
"Du wusstest von der Vaseline im Schrank?"
"Wer hat sie wohl extra da rein getan? "
Ich nicke verständnisvoll. Die Begründung für seine ganze Aktion kann ich widerstandslos hinnehmen, aber trotzdem fühle ich mich nicht mehr besonders wohl in seiner Nähe. Immer wieder gibt er mir neue Gründe, sich gegen die Gefühle für ihn zu wehren. Ich unterdrücke ein Schluchzen und William runzelt die Stirn über den distanzierten Klang meiner Stimme.
"Hast du heute schon etwas gegessen?"
"Nein. Ich wollte vor dem Training keine Kraft sammeln, um sie danach gleich wieder abbauen zu müssen."
"Dann mach ich uns jetzt was. "
Eine unangenehme Stille legt sich über uns. Man hört nur das Kratzen der Gabeln auf unseren Tellern. Mein Kopf dröhnt und Williams Verzweiflung ist klar zu spüren. Er will wissen, was in mir vorgeht. Sein fragender Blick durchlöchert mich beinahe. Mein Gesicht lässt aber keine Regung mehr zu. Wieder hat er mein Vertrauen missbraucht. Der Zweck dafür ist zwar verständlich und er hat sich entschuldigt, aber es ändert nichts daran, dass ich mich verraten fühle. Wie werde ich wohl morgen aufwachen? Im Wald? Unten in der Zelle? Ich weiß, es ist nicht fair, so über ihn zu denken. Dennoch lassen sich die Zweifel nicht vertreiben.
Wir sind beide satt und ich stehe auf, um das Geschirr abzuwaschen. Williams Griff um meinen Arm hält mich jedoch davon ab. Erstaunt sehe ich ihm in die Augen und entdecke einen tiefen Schmerz darin verborgen.
"Ich kann es nicht ertragen, wenn du mich hasst. "
"Das tue ich nicht."
"Und trotzdem strafst du mich mit Schweigen? Es tut mir leid, wirklich. Aber es war nötig, damit du auch an dich selbst glaubst. Mir war klar, dass du dich befreien kannst und trotzdem habe ich mich über dermaßen gefreut, als du vorhin aufgetaucht bist."
"Es ist in Ordnung. Ich bin dir nicht böse."
"Was ist es dann? Da spukt etwas durch deinen Kopf und treibt einen Keil zwischen uns. "
"Gib mir einfach ein bisschen Zeit, OK?"
Langsam nickt er. Wie gerne hätte ich mich um seinen Hals geworfen, aber er hat in gewisser Weise Recht. Da steht wirklich etwas zwischen uns. Meine Gefühle für ihn, seine Liebe zu einer anderen Frau. Darauf werde ich ihn wohl kaum ansprechen. Am besten ist es, wenn wir leben wir geplant - Training am Tag, gemeinsame Nächte.
"Was steht heute noch an?"
"Der Wald. Du kennst ihn noch nicht gut genug."
"Wozu muss ich ihn denn kennen?"
"Nicht alle Methoden finden im Haus statt und bei Vollmond solltest du dich dort auf gar keinen Fall aufhalten. Der Wald wird dir Zuflucht bieten. Kommst du?"
Ich schlucke erst geräuschvoll, gehe ihm dann aber nach. Über uns am freien Himmel ziehen sich einige Wolken zu einer dichten, grauen Decke zusammen. Nicht mehr lange und ein gewaltiger Sturm kommt auf. Misstrauisch beobachte ich die Sonne, wie sie nur noch vereinzelte Strahlen zu uns durch die Wolken schicken kann.
"Es wird bald regnen."
"Ich liebe Regen. Es ist, als ob er einfach sämtliche Schmerzen wegspült. Seelische zumindest."
"Warum so tiefgründig?"
"Mir war danach."
Mehr sagt er nicht dazu. Verwundert schüttle ich den Kopf und setze zu einem Sprint an. Noch bevor ich loslaufen kann, stoppt William mich aber.
"Nicht als Wolf. Erst auf dem Rückweg, damit du die Umgebung auf verschiedene Arten wahrnimmst."
"Wenn du meinst. Wo entlang?"
"Den kleinen Pfad auf der Hinterseite kennst du bereits. Den Platz bei den Holzstapeln auch. Erinnerst du dich noch an das kleine Feld, zu dem ich dich nach meinem Ausraster gebracht habe? Du bist selbst nur den Rückweg gelaufen. Versuch doch mal als Mensch das Feld wieder zu finden."
Etwas verunsichert schaue ich ihn an und er zieht eine Augenbraue nach oben. Ein leises Schnauben aus meiner Kehle bringt ihn zum grinsen und stachelt mich an. Ich schließe die Augen, damit ich mich besser konzentrieren kann. Ich erinnere mich an die Umgebung des Feldes zurück und suche geistig nach besonderen Merkmalen auf dem Weg dort hin. Einige gefällte Bäume, entwurzelte Riesen und darunter ein Baum mit weißem Stamm. Die vereinzelte Birke sticht heraus und ich bezweifle, dass es mehrere davon in diesem Teil des Waldes gibt. Suchend lasse ich meinen Blick über den Waldrand gleiten und halte Ausschau nach ihr. Gesucht, gefunden. Selbstbewusst gehe ich auf sie zu und werde von William verfolgt. Er hält sich dezent aus meiner Suche raus und spart sich ein Kommentar dazu. Meine Hand fährt über die aufgeraute Rinde und erneut schließe ich die Augen. Der nächste Teil des Weges ist schwerer zu finden. Ich kann mich kaum noch erinnern und öffne deshalb meine Augen wieder. Vielleicht kommt mir ja etwas bekannt vor. Nicht wirklich. Trotzdem hat sich die Aufmerksamkeit gelohnt. Ich kann noch die alten Fußspuren erkennen, lasse mir aber nichts anmerken. Zielbewusst folge ich ihnen und finde tatsächlich das kleine Feld verborgen im Wald wieder. Lachend drehe ich mich um und sehe in Williams reserviertes Gesicht.
"Respekt. Das ging schneller, als ich gedacht habe. Wie konntest du es so einfach wieder finden?"
"Zuerst die Birke. Die ist nicht natürlich hier gewachsen oder?"
"Nein, die habe ich extra anpflanzen lassen."
"Wusste ich's doch! "
"Pluspunkt für dein Gedächtnis, aber wie hast du den Rest geschafft?"
"Betriebsgeheimnis. "
Er kneift die Augen zusammen, hakt aber nicht weiter nach. Belustigt schüttelt er den Kopf.
"Na schön. Wenigstens bist du wieder die Alte."
Ich quittiere seine Aussage mit einem genervten Augenrollen. Er soll mir meine plötzliche gute Laune nicht wieder kaputt machen.
"Wohin nun?"
Über mir ertönt ein tiefes Grollen. Erst jetzt fällt mir auf, dass es auf einem freien Stück eigentlich heller sein müsste, als unter dem dichten Blätterdach der Bäume. Die ersten dicken Tropfen perlen von meiner Haut ab und kalte Schauer jagen mir über den Rücken. Ein eisiger Gegenwind kommt auf und treibt mir Tränen in die Augen. Auch William scheint ein bisschen zu frieren. Er stößt einen kurzen Fluch aus, als ein greller Blitz den Himmel erhellt und sieht dann zu mir.
"Gehen wir lieber ins Haus zurück. Das sieht nicht gut aus."
Ohne zu protestieren, schaut er mir bei der Verwandlung zu und macht es mir nach. Rasend schnell wird der Regen stärker und der Sturm wilder. Der Wind nagt an meiner Ausdauer, aber schlappmachen werde ich sicher nicht. Dafür bin ich zu stolz. Vereinzelte Hagelkörner treffen auf der restlichen freien Strecke zum Haus auf mein Fell und verfangen sich darin. Na toll! An der Veranda angekommen, verwandle ich mich zurück und schüttle das geeiste Wasser so schnell wie möglich von mir - als Mensch ist schließlich kein schützendes Fell über meiner empfindlichen Haut. Tropfnass gehe ich ins Haus, wo William schon mit einem Handtuch auf mich wartet. Dankend nehme ich es entgegen und wickle es um meine Haare. Seufzend sehe ich an mir herunter. Die Kleidung klebt an meinem Körper und macht sie beinahe durchsichtig. Instinktiv wandert mein Blick zu William. Man kann deutlich seine Muskeln erkennen und ich muss der Versuchung widerstehen, meine Hand danach auszustrecken. Schnell verscheuche ich den Gedanken und muss über mich selbst lachen. Wie weit war ich denn bitte gesunken? Ich klinge wie ein Hormongesteuerter Teenager, der sich in den Mädchenschwarm verkuckt hat. So bin ich doch nicht. So ist das alles hier nicht. Wir sind erwachsen. Wir sind sogar verheiratet. Habe ich nicht sogar ein Recht darauf, so zu denken? Ist es nicht normal? Warum fühlt es sich dann falsch an. Warum zum Teufel wehrt sich mein Verstand so gegen meinen Körper? Immer wieder diese Fragen. Irgendwann werde ich noch platzen. Eine warme Hand an meiner Wange reißt mich aus meinen Gedanken.
"Erde an Loretta. Kannst du mich hören?"
"Ja, tut mir leid. Was hast du gesagt?"
"Geh duschen. Das warme Wasser wird dir gut tun. Aber mach nicht zu lange, mich hat es auch ganz schön erwischt."
"Du magst doch Regen."
Mit der Bemerkung drehe ich ihm den Rücken zu, sein kleines Schmunzeln ist mir aber nicht entgangen. Zufrieden lege ich die nasse Kleidung am Badewannenrand ab und steige in die Dusche. Das warme Wasser im Nacken entspannt meine Muskeln und ich kann wieder tief durchatmen. Erst als ich nach dem Shampoo greife, fällt mir der Verband um mein Handgelenk auf. Erinnerungen an den Morgen kommen auf und treiben mir ein paar Tränen in die Augen. Die Wassertropfen spülen sie von meinem Gesicht und Williams Worte kommen mir in den Sinn. "Regen spült die Schmerzen weg. Seelische zumindest." Es stimmt wirklich. William wird nicht bemerken, dass ich geweint habe. Somit kann er mich auch nicht darauf ansprechen. Was will ich mehr? Mein Herz protestiert, aber ich ignoriere es. Das ist das Beste.
In ein Handtuch gewickelt gehe ich ins Schlafzimmer und öffne den Schrank. Williams Duft schlägt mir entgegen und überwältigt mich. Meine Nackenhaare stellen sich auf und unbewusst sauge ich den Geruch in mich auf. Immer noch berauscht ziehe ich mich gedankenverloren an und lege den feuchten Verband ab. Die Wunde sieht schon besser aus, aber sie schmerzt weiterhin. Als ich eine Hand auf meiner Schulter spüre, wende ich meine Aufmerksamkeit dem Spiegelbild von William zu. Er steht hinter mir und mustert mich besorgt. Schüchtern lächle ich ihn an.
"Hast du eine Salbe oder so da?"
"Im Bad irgendwo glaub ich. Bei dem Verbandszeug."
Ich werfe ihm noch einen dankbaren Blick zu und gehe zurück ins Bad. Auch dort riecht es nach ihm. Kopfschüttelnd gehe ich zu dem Verbandskasten und kann wirklich eine Wundsalbe finden. Sie kühlt und lindert somit das Brennen und ich seufze erleichtert auf.
"Soll ich dir wieder beim Verband helfen?"
"Ja bitte."
Ohne zu zögern nimmt er meine Hand und legt genauso geschickt wie am Morgen den Verband darum.
"Es tut mir immer noch leid."
"Das muss es nicht."
Um meine Worte zu unterstützen, lege ich die frei Hand an seine Wange und er schließt kurz zufrieden seine Augen. Mein Herz hämmert in meiner Brust, doch dann greift er nach der Hand und zieht sie von seinem Gesicht. Meine beiden Hände lässt er nun unachtsam los und drückt sich dann an mir vorbei zur Tür. Er will weg von mir. Er flüchtet. Es fühlt sich an wie ein Schlag in die Magengrube. Ich habe ihm verziehen, das war doch, was er wollte. Ich soll ihn nicht dafür hassen. Und trotzdem hält er auch keine Zuneigung aus. Jede einzelne Berührung von ihm brennt auf meiner Haut nach und statt einem wohligen Kribbeln wie sonst, entsteht eine qualvolle Erinnerung. Wenn er mich nicht will, werde ich mich von ihm fernhalten müssen. Basta. Kein Kontakt, keine Schmerzen für mich.
Draußen tobt der Sturm ohne Pause bis spät in die Nacht. Mich kümmert es aber wenig, denn das Geräusch der fallenden Regentropfen beruhigt mich ungemein. Ich lasse die frische Suppe auf dem Herd stehen und nehme mir einen Teller. Alleine sitze ich am Tisch und wärme mich von Innen auf. William hat sich in den Trainingsraum verzogen. Er geht mir offensichtlich aus dem Weg.
Nach dem Essen setze ich mich vor den Kamin und starre für lange Zeit in das Feuer. Der Wind pfeift um das Haus, aber das knisternde Feuer und die Funken lenken mich davon ab. Mit einem Buch des Großvaters mache ich es mir in der Ecke bequem.
Wir haben verschiedene Rhythmen ausprobiert. Es ist aber egal, wie oft in der Woche wir miteinander schlafen. Hauptsache meine Kraft kann sich in jeder unterschiedlichen Phase ihres Monatszyklus entladen. Die Hormone spielen eine große Rolle. Ich komme der Sache mit dem Ursprung immer näher. Es ist nur so schwer zu beurteilen. Jeder Tag ist anders. Wie kombiniert man am besten die einzelnen Versuche und ihre Erfolge mit den Mondphasen und der Periode der Frau? Es gleicht der Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Beinahe aussichtslos, aber ich werde noch nicht aufgeben. Es soll nicht umsonst gewesen sein.
Letztendlich hat er doch aufgegeben. Ist es aussichtslos geworden? Klammert sich William nur an Wahnvorstellungen? Hoffentlich nicht. Ein loser Zettel am Ende vom Buch sticht mir ins Auge. Vorsichtig ziehe ich ihn heraus und lese mir die Worte durch.
Ich habe meinen Enkel gefunden. Die Nachricht von seinem Verschwinden hat mich beruhigt und ich habe mich gleich auf die Suche gemacht. Er war völlig aufgelöst und ausgehungert. Ein Tag später und er hätte seine Flucht nicht überlebt. Ich bin trotzdem froh, dass er geflohen ist und ich ihn zu mir nehmen und ihn versorgen kann. Die Erziehung meines eigenen Sohnes scheint komplett misslungen zu sein. William hatte am ganzen Körper blaue Flecken und Prellungen. Die können nur von seinem Vater stammen. Unglaubliche Schuldgefühle nagen an mir, weil ich ihm nicht schon früher geholfen habe, aber was hätte ich tun sollen? Mein Sohn hatte alle Rechte auf ihn erwirkt. Jetzt kann ich aber handeln und das werde ich tun. Die Vorbereitungen für Williams Einführung sind schon im Gange. Danach wird er zu mir gehören. Er will es so. Seit meinem Vorschlag kann er sich nichts Besseres mehr vorstellen. Wir verstehen uns prima. Und auch meine Frau hat ihn sofort ins Herz geschlossen. Er ist gut und in ihm steckt nicht das Geringste von seinem Vater. In unserer Familie scheint der Charakter geradezu immer eine Generation zu überspringen. So ist mein Sohn wie mein Vater und mein Enkel ähnelt mir. Hoffentlich trifft das später nicht auch auf Williams Kinder zu. Das würde ihm das Herz brechen.
Das würde es wirklich. Nicht nur ihm. Die Vorstellung ist grausam. Mit der richtigen Erziehung könnten wir dem vielleicht entgegen wirken, wenn da nicht die Bedingung von Williams Vater wäre. Ob er es gewusst hat oder zumindest genauso denkt? Dann wäre seine Bedingung nicht wahllos gefällt worden, sondern mit einem miesen Hintergedanken. Zutrauen würde ich es ihm.
Meine Lider werden langsam schwer und ich schleppe mich ins Schlafzimmer zum Bett. Eigentlich will ich heute lieber nicht neben William schlafen. Wie aufs Stichwort läuft er verschwitzt an der Tür vorbei und marschiert ins Bad. Er hat mich keines Blickes gewürdigt und kindisch wie ich bin, nehme ich mein Kissen vom Bett und gehe zurück ins Wohnzimmer. Dort lasse ich mich erschöpft auf das Sofa fallen und finde schnell Schlaf.
Ich renne, immer schneller werden meine Schritte. Fliehen muss ich, so gut wie es geht. Eine Wurzel bringt mich zum stolpern. Mein Fuß tut dadurch weh und ich kann nicht mehr aufstehen. Mit weit aufgerissenen Augen muss ich mit ansehen, wie meine Eltern immer näher kommen. Mein Vater reißt mich hoch und sein Griff um meinen Arm ist zu stark. Er bricht mir die Knochen und es macht ihm Spaß. Er darf es nicht, doch davon lässt er sich nicht abhalten. Ich bin alleine, niemand kann mir helfen. Meine Mutter ist ein untätiger Zuschauer. Auch sie genießt meine Schmerzen zu sehen. Beide lachen teuflisch, doch plötzlich stoppt es. Ich kann einen Schatten erkennen - hinter mir kommt ein Mann auf uns zu. Sofort lässt mein Vater von mir ab, als er in dem Mann William erkennt. Zusammen mit meiner Mutter rennt er weg und ich will mich bei meinem Retter bedanken. Ich drehe mich um und bekomme stattdessen aber größere Angst als zuvor. Nicht William steht vor mir, sondern sein Vater. Seine Hand schnellt nach vorne und hält meinen Hals in einem festen Würgegriff. Ich kann nichts tun, hilflos hänge ich in der Luft. Ich will schreien, aber zu wenig Luft ist in meinen Lungen. Ich ersticke, mein Tod naht. Die Hoffnung auf baldige Erlösung macht mir Mut und ich beruhige mich. Als ob er meine Gedanken gelesen hätte, werde ich seinen starken Griff los und falle zu Boden. Durch den Aufprall breche ich mir auch mein Bein und ich liege wehrlos am Boden, unfähig mich zu bewegen. Ich blicke in das Gesicht meines Peinigers. Ein hässliches Lachen ertönt von ihm als er seinen Fuß hebt, um mich zu zertrampeln. Ein Schmerz nach dem anderen durchzuckt meinen Körper und ich wünsche mir nichts mehr, als zu sterben. Trotzdem schwindet mein Bewusstsein nicht. Mein Körper leidet und schickt mich in die Hölle. Es wird nie enden. Wieder ein Tritt und ich kann einen schmerzerfüllten Schrei nicht unterdrücken.
"Loretta! Wach doch endlich auf. Bitte!"
Starke Hände rütteln an meinen Schultern und lösen die Schmerzen von mir. Ein letzter Schrei kommt über meine Lippen und verwandelt sich in ein leises Wimmern. William zieht mich in seine Arme und streicht mir beruhigend über den Rücken.
"Alles ist gut. Das war nur ein Traum. Geht es wieder?"
Forschend sieht er mir ins Gesicht und wartet auf eine Reaktion. Seine Augen sind ganz hell. Zaghaft nicke ich als Antwort auf seine Frage und wische mir die Tränen aus dem Augenwinkel. Es war nur ein Traum. Ein schrecklicher Alptraum. So schrecklich, dass ich mich sogar daran erinnern kann. So schrecklich, dass ich im Schlaf geschrien habe. Normalerweise bin ich wie gelähmt wenn ich träume. Vorsichtig streicht William mir eine Strähne aus dem Gesicht und gähnt kurz.
"Danke, dass du mich geweckt hast. Es ist alles in Ordnung, du kannst wieder schlafen gehen."
"Warum schläfst du auf dem Sofa?"
"Ich...ich dachte nicht, dass du mich bei dir haben willst."
"Wie kommst du denn..."
Noch bevor er den Satz vollenden kann, halte ich ihm den Mund zu. Ich will die Frage nicht hören.
"Es war nur zu deutlich, William. Aber es ist gut so, wie es ist. "
"Nein! So sollst du nicht denken. Ich will nicht, dass wir getrennt schlafen. Wirklich nicht. Du musst da etwas falsch verstanden haben."
Er redet sich raus, aber das ist mir im Moment egal. Ich bin einfach fertig mit den Nerven und will mich nicht mit ihm streiten. Er weiß, dass etwas zwischen uns steht und ich weiß das auch. Darüber diskutieren, werde ich nicht noch länger mit ihm. Ich tue so, als wäre ich von seiner Antwort überzeugt und gehe mit ihm ins Schlafzimmer. Wir legen uns nebeneinander, aber ich rutsche so weit auf meine Seite wie möglich und drehe ihm den Rücken zu. Ich kann ein tiefes Seufzen von ihm hören. Was hat er denn erwartet? Dass ich mich an ihn kuschle so wie gestern? Da hat er sich aber geschnitten. Wieso sollte ich überhaupt? Er hat doch schon nicht ausgehalten, dass ich über seine Backe gestreichelt habe. Schläfrig lausche ich seinen Atemzügen, die einen trägen Rhythmus einnehmen, der auch mich in den Schlaf zwingt. Kein Alptraum in seiner Anwesenheit. Welch Ironie.
Noch ein Tag
Seufzend drehe ich mich im Bett herum und sinke wieder tief in mein Kissen. Etwas kitzelt mich in meiner Nase. Fühlt sich an wie eine Feder. Vorsichtig öffne ich erst ein Auge und dann das andere. Keine Feder in Sicht. Was war das dann? Misstrauisch drehe ich mich um und zucke kurz erschrocken zusammen. William steht neben dem Bett und grinst mich an. In der einen Hand tatsächlich eine Feder, in der anderen eine kleine Schachtel. Wortlos hält er sie mir hin.
"Was ist das?"
"Sieh selbst nach."
Misstrauisch nehme ich die samtene Schachtel entgegen und öffne den kleinen Deckel. Darin sind zwei Ringe in ein weiches Polster gesteckt. Geschockt halte ich die Luft an. Sie sind verdammt schön und passen perfekt zu uns. Schlicht und elegant, aber trotzdem mit einem eigenen Stil. Wie kommt es, dass dieser Mann so viel Geschmack hat?
"WOW."
"Gefallen sie dir?"
"Und wie. Aber woher hast du die jetzt? Ich dachte, die Ältesten wollten sie erst heute Abend mit unseren Eltern vorbeibringen."
Ein kleines Lächeln umspielt seine Lippen. Er deutet zum Fenster. Die Sonne strahlt mir entgegen und geht gerade unter.
"Du hast mich den ganzen Tag schlafen lassen? Wieso? Ich dachte, wir müssen noch so viel erledigen?"
"Das gestern hat schon gereicht. Du hast auch noch in den Büchern gelesen, damit hast du genug getan. Ich habe die Feier heute vorbereitet und jetzt müssen wir uns nur noch umziehen. Wir dürfen unsere Gäste dann wohl doch nicht zu lange warten lassen."
"Ach, uns was ziehen wir an?"
"Ich leg es dir raus. Du willst bestimmt noch duschen, oder?"
Er verwirrt mich immer mehr. Schnell wasche ich mich und föhne meine Haare. Im Handtuch schleiche ich mich zurück ins Schlafzimmer, wo ein wunderschönes Abendkleid auf mich wartet. Fasziniert streiche ich über den dunkelgrünen Stoff und lasse ihn durch meine Finger gleiten. Ein Blick auf die Uhr erschreckt mich aber - in einer halben Stunde muss ich komplett fertig sein. Rasch schlüpfe ich in das Kleid und ziehe den Reißverschluss an der Seite zu. Es sitzt wie angegossen und wirkt verspielt und doch erwachsen. Es passt zu mir. Ich greife noch nach einer Kette auf der Kommode und lege sie mir um. Dann mache ich mich an meinen Haaren zu schaffen. Geschickt stecke ich sie mir locker nach oben, ohne viel Zeit zu verlieren. In der Eile, muss ein dezentes Make-up ausreichen und so trete ich meinem Mann entgegen. Angespannt wartet er schon auf mich. Er greift nach meiner Hand und wir treten vor unsere Gäste. Ein Raunen geht durch die Menge und alle Blicke sind auf mich gerichtet. In zwei Stunden wird die Zeremonie stattfinden - um Punkt Mitternacht werden die Ringe übergeben. Jetzt heißt es warten und die Werwölfe um mich herum ertragen. Zur Beruhigung drückt William kurz meine Hand. Heute hat er anscheinend keine Berührungsängste. Er strahlt reines Selbstvertrauen aus und das ist gut so. Er ist der Mann, ich bin unterwürfig. Das muss hier jeder denken. Das wird ein Spaß.
"Herzlich Willkommen. Es ist mir eine Ehre."
Statt der Sitzecke mit der Couch steht im Wohnzimmer eine gedeckte Tafel und in der Küche ein großes Buffet. Es gibt zwar keine Hochzeitstorte oder einen Geburtstagskuchen für William, dafür aber einen abgesonderten Teller mit drei kleinen Fleischstücken. Verwundert beobachte ich, wie die Ältesten und auch meine Eltern davor halt machen, die Augen für einen Moment schließen und sich alles, bis auf dieses Fleisch nehmen. William bemerkt meine Verwirrung und formt mit dem Mund ein "Später". Er scheint zu bereuen, mich nicht doch früher geweckt zu haben. Wahrscheinlich hat er mich und mein Wissen überschätzt, doch jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt für eine Nachhilfestunde. Genau wie er lasse ich den Teller aus den Augen und nehme mir einfach zu essen, was ich will. Dabei werde ich von unseren Eltern gründlich gemustert, was mich richtig nervös macht. Es ist, als würden sie auf einen Fehler warten, schon beinahe hoffen. William versucht so weit wie möglich den Druck von mir zu nehmen und zieht mich an die Tafel ins Wohnzimmer zurück. Neben ihm an der Kopfseite soll ich mich setzen, damit mich alle im Blick haben. So etwas spricht man nicht aus, aber so läuft das ab. Es werden kaum Worte gewechselt bis ein Mann vom Cateringservice den Wein an die Gäste verteilt. Von da an lockert sich die Stimmung etwas auf und unsere Väter tauschen sich über die Arbeit aus. Ich blende die Stimmen um mich herum aus so weit es geht, aber als sie William direkt ansprechen, werde ich hellhörig.
"Wie kommst du mit den Unterlagen zurecht, mein Junge?"
"Ich kam noch nicht weit, aber sie sehen nicht schlecht aus. Vielleicht wird das noch etwas mit dem Deal."
"Was bedeutet dieser Deal denn für die Firma? Ich konnte an der letzten Besprechung leider nicht teilnehmen."
"Die Ware muss so schnell, aber auch sicher wie möglich über die Grenze. Das Zollamt macht dabei Schwierigkeiten und die Transportkosten schlagen ganz schön drauf. Wir müssen unseren Preis also in der Produktion senken, sonst verfällt die Abmachung."
"Na schön. Du wirst das wohl angemessen regeln. "
Mein Vater nickte ihm zustimmend zu.
"Darin habe ich auch vollstes Vertrauen. Er wurde von der Gruppe nicht umsonst zum Abteilungsleiter gewählt."
Damit ist das Thema abgehakt. Für alle außer mich. Nie habe ich mir Gedanken über Williams Arbeit gemacht. Dass er in der gleichen Firma arbeiten könnte wie unsere Väter, kommt daher noch überraschender. Aber klar, wie sollte er sich sonst diesen Luxus leisten können? Geld wächst schließlich nicht auf Bäumen. Und die Firma ist die einzige weit und breit, bei der man gegen gute Bezahlung noch von zu Hause aus arbeiten kann. Anders geht es für uns nicht. Ein Seufzen kann ich leider nicht zurück halten und plötzlich wenden sich alle Gesichter wieder mir zu. Entschuldigend sehe ich William an, der die Stirn runzelt. Er überlegt, wie er angemessen für diese Situation reagieren kann und braucht dafür ziemlich lange. Zu unserem Glück räuspert sich der Sprecher der Ältesten, damit er zu Wort kommen kann.
"Im Namen von uns allen möchte ich mich für das Essen und den Wein bedanken. Es war köstlich, Mister Chester. Sie haben die Ringe und wir haben die Bestätigung ihrer Eltern. Wir werden uns jetzt zurückziehen, damit sie in ihrem Familienkreis das Ritual abhalten können. Ich wünsche noch einen schönen Abend."
Viele Hände werden geschüttelt bis schließlich die Tür hinter den Ältesten ins Schloss fällt. Die Uhr zeigt elf Uhr an. Verwundert ziehe ich deshalb eine Augenbraue nach oben. Welches Ritual dauert schon über eine Stunde?
"Loretta, mein Kind, komm zu mir."
Widerwillig und mit leisen Schritten gehe ich auf meinen Vater zu, der mich in seine Arme schließt. Das erste Mal. Ich nehme die Umarmung aber nicht an. Das wäre ja noch schöner! Außerdem wirkt es wie ein Test. Eigentlich gehöre ich meinem Vater nicht mehr und er hat kein Recht, mich anzufassen. Wie zur Bestätigung kann ich Williams Anspannung in meinem Rücken spüren, doch er merkt meine abweisende Haltung. Genauso wie mein Vater, der sich schon nach kurzer Zeit selbstgefällig Abstand zwischen uns bringt. Er lächelt.
"Du machst mich stolz. Endlich zeigst du mir, was ich an dir als meine Tochter habe. Diese Familie tut dir gut und bringt dir Disziplin bei. "
Keine Ahnung, was ich darauf antworten könnte. Aber das ist egal, weil William mir zuvor kommt.
"Es freut mich, dieses Band über unsere Freundschaft legen zu können. Einen größeren Zuspruch von Vertrauen gibt es nicht. "
"Wohl wahr. "
Jedem von uns wird ein Glas mit Champagner in die Hand gedrückt uns es wird angestoßen. Sogar wir Frauen dürfen davon trinken, wenn auch nur mit ausdrücklicher Erlaubnis unserer Männer. Meine Mutter hat mich jede Sekunde im Blick. Wahrscheinlich ein Auftrag meines Vaters. Jeden Fehler melden, den ich mache. Nur halte ich meine Maske erfolgreich aufrecht, doch ich muss mich dafür schwer zusammen reißen. Erst recht als mich Williams Mutter schüchtern anlächelt. Sie meint es ernst, das ist sicher. Auch erwartet sie keine Antwort von mir, sie kennt ja meine Lage. Das Glänzen in ihren Augen lässt nicht nach, während sie ihren Sohn betrachtet. Voller Stolz sieht sie zu ihm auf. In ihr kann ich die Mutter entdecken, die ein Kind braucht. Kein wunder, dass William sie auch wirklich liebt.
Eine Hand auf meiner Schulter holt mich aus meinen Gedanken zurück. Ich werde in die Küche geführt, direkt vor den seltsamen Teller mit dem Fleisch. Daneben liegt ein Messer, das an der Klinke verziert ist. Es sieht wichtig aus. In einem Halbkreis stehen wir zu sechst davor, keiner sagt ein Wort. Die Augen meiner Eltern sind geschlossen, das wurde ihnen von Williams Vater angewiesen. Dieser greift nach dem Messer und hält es gegen das Licht. Gebannt starren wir darauf, die Verzierung glänzt im Licht. Doch plötzlich schneidet sich der Mann in den Arm und lässt Blut auf eines der kleinen Fleischstücke tropfen. Bei dem Arm seiner Frau macht er das gleiche und er hält ihre Wunde über ein anders Stück. Zum Schluss wird mir das Messer in die Hand gedrückt und es wiegt schwer darin. Die Belastung lässt auch nicht nach, als William mir aufmunternd zunickt. Ich soll also mein Blut auf das letzte Stück auf dem Teller geben. Mir zitternden Fingern streiche ich mit der Klinge über meine empfindliche Haut und hinterlasse einen tiefen Kratzer. Nur mit Mühe kann ich widerstehen, mir meine gesamte Pulsader aufzuschneiden und einen Mordversuch zu starten. Auch wenn ich William unterstützen möchte, so ist die Gelegenheit sehr naheliegend. Ich gebe dem Drang nicht nach und kann sehen, wie mein Mann sich entspannt. Er kennt mich schon so gut, dass er weiß, was in mir vorgeht. Er reicht uns etwas zum Verbinden der Wunden und hält den Teller in unsere Mitte. Meine Eltern dürfen die Augen öffnen und mein Vater richtet seine Haltung, als er meinen Erfolg sieht. Nur schwer kann ich meinen Würgereiz unterdrücken, als William alle drei in Blut getränkten Fleischstücke isst. Das musste er mir aber später noch erklären.
Mit Freude schlossen ihn meine Eltern in die Arme und William erwidert das zu meiner Verwunderung auch noch. Irgendetwas geht doch hier nicht mit rechten Dingen zu! Dieses Ritual scheint so abnormal zu sein, wie nichts anderes auf der Welt. Ich kann mir kaum vorstellen, dass es wirklich so Gang und Gebe ist, das Blut von verbundenen Wölfen in sich aufzunehmen. Ich verstehe die Welt nicht mehr und schüttle frustriert den Kopf. Was hilft es mir, daran noch länger auch nur einen Gedanken zu verschwenden? Ich wende William meine Aufmerksamkeit zu und mustere ihn besorgt. Er atmet schwer und es kommt mir so vor, als würde es ihm richtig schlecht gehen. Er ringt mit sich selbst und trägt einen inneren Kampf aus. Ich kann aber nichts tun. Er steht in Mitten unserer Eltern und seine Mutter versperrt mir den Weg. Und selbst wenn ich ihn erreichen könnte, ich wüsste nicht, was zu tun ist. Wie kann ich ihm nur helfen? Überhaupt nicht. Meine Hände ziehen verkrampf an meinem Kleid und ballen sich zu Fäusten um den Stoff herum. Ich will nicht, dass mein Mann unter Schmerzen leidet. Genau in diesem Moment schießt sein Kopf nach oben und seine Augen suchen nach mir. Eine tiefe Schwärze durchlöchert mich beinahe. Aus den Augenwinkeln erkenne ich das selbstgefällige Grinsen meines Vaters. Er weiß anscheinend, was hier passiert. Alle wissen, was los ist, außer mir. Die Ahnungslosigkeit verunsichert mich total. Lauernd kommt William auf mich zu. Als wäre er in Wolfsgestalt während er seine Beute mit geschickten Bewegungen einfangen will. Ein großer Dank an meine Selbstbeherrschung, durch die ich trotz der möglichen Gefahr ruhig stehen bleiben kann. Auch mit seiner Hand an meiner Wange bleibe ich regungslos. Er hält meinen Blick mit seinem ganz fest. Kein Ausweg für mich. Wie in Trance stehen wir uns gegenüber und ich kann beobachten, wie seine Augen nach und nach wieder heller werden. Beim üblichen Farbton angekommen, blinzelt William, als würde er gerade aus einem Traum erwachen. Die Stimmung um uns herum steigt. Sein Vater klopft ihm mit Stolz mit der Handfläche auf den Rücken.
"Glückwunsch mein Sohn. Du hast es geschafft. Jetzt bist du vollwertig und bekommst deine Frau für dich. Allister, ich bitte dich zuerst."
Mein Vater trat hervor und zog eine kleine Schachtel aus seiner Tasche. Er klappte den Deckel auf und nahm den größeren Ring heraus. Er steckte ihn William an den Finger und seine Worte klangen wie eine Formel.
"Mit dem Ring der Verherrlichung übergebe ich ihnen nun meine Tochter bedingungslos und löse sie aus meinem Teil der Blutlinie."
Williams Vater streckt mir seine Hand entgegen und ohne die geringste Vorwarnung wird auch mir ein Ring angesteckt.
"Der Ring der Unterwerfung wird dich auf immer an meinen Sohn binden und dich ihm verpflichten. Die beiden Ringe ergeben zusammen eins und besiegeln euer Gelübde."
Ein heißer Schauer lief durch meinen Körper und William schien es dabei nicht anders zu gehen. Er sah mich an und in seinen Augen lag etwas wie Sehnsucht. Ich runzelte verwundert die Stirn, denn er schien es selbst nicht zu verstehen. Er. Wo er doch so gut auf das alles hier vorbereitet gewesen ist.
Die Uhr schlägt halb eins und befreit alle Anwesenden von der bedrückenden Stille. Wir bringen unsere Eltern noch zur Tür und ich will mich schon verabschieden, da werde ich von meiner Mutter überrascht. Statt mir ein schönes Leben und viel Glück zu wünschen, ist sie vollkommen hasserfüllt und wirft mir heimlich ein paar Beleidigungen an den Kopf.
"Ich bin froh, dass du ab jetzt nicht mehr zu diesem Teil der Familie gehörst. Du warst das schlimmste Kind, das man je haben könnte und es grenzt an ein Wunder, dass du noch nicht weich geprügelt bist. Du wirst schon noch sehen, wie hart das Leben wirklich noch sein kann, du Kind. Du hast nicht die geringste Ahnung, was dich in der Nacht erwartet. Ich gebe dir nicht einmal ein Jahr, bis du daran vergehst."
Sämtliche Farbe ist bei ihren Worten aus meinem Gesicht gewichen und ich bringe keinen Ton mehr heraus, als mein Vater vor mir steht.
"Na sieh mal einer an. Da versinkt schon jemand im neuen Leben. Hoffentlich behältst du diese Disziplin bei, denn auch wenn unsere Bindung bis auf weiteres gelöst ist, habe ich immer noch einen Ruf zu verlieren."
Mit den harten Worten meiner Erzeuger, wie ich sie nur noch nennen kann, drehten sich die beiden Weg und liefen die Einfahrt ohne einen Blick zurück auf das Auto zu. Es ist kein Verlust für mich, sondern eine Erleichterung. Und trotzdem haben beide Ansprachen einen tiefen Schmerz in mir ausgelöst. Keiner von ihnen hat ein Recht auf mich, aber sie werden mich auch so beobachten. Zumindest mein Vater über Williams Stelle in der Firma. So bin ich also doch nicht so frei, wie ich zunächst gehofft habe. Ein Stück von dem Druck wird bleiben. Nur mit Mühe halte ich die Tränen zurück.
Das Gespräch zwischen William und dessen Eltern habe ich verpasst, doch genau rechtzeitig wende ich meine Aufmerksamkeit dem Mann vor mir zu. Er nimmt meine Hand und führt sie schon wie bei unserer ersten Begegnung an seinen Mund. Ich zucke weder zurück, noch lasse ich eine Regung in meinem Gesicht meinen Ekel ihm gegenüber offenbaren. Zufrieden lässt er meine Hand los und tritt einen Schritt zurück.
"Ich hoffe, ich werde diese Entscheidung nicht bereuen. Deine Erziehung alleine in Wills Händen zu lassen, Loretta, war nicht leicht mit mir zu vereinbaren. Nach allem was ich in der Firma über dich gehört habe zumindest. Und ich sage euch. Den Vertrag werde ich nie vergessen."
So macht er auf dem Absatz kehrt und verlässt die Veranda über den gleichen Weg wie die anderen. Er bekommt deshalb nicht mit, wie mir Williams Mutter einen Kuss auf die Stirn haucht.
"Du bist ein gutes Mädchen, das kann ich spüren. Lass meinen Jungen nicht im Stich und alles wird irgendwie seinen Weg finden. "
Mit schnellen Schritten holt sie zu ihrem Mann auf, um ihn nicht zu verärgern. Verwundert betrachte ich die kleine Frau. Sie ist warmherzig wie ich keine Wölfin vor ihr erlebt habe. Die meisten sind verbittert und haben ihre Gefühle im Lauf der Zeit verloren. Ich mache da niemanden einen Vorwurf. Ein anderer Mann als William und auch ich wäre am Ende.
Ein Räuspern hinter mir löst mich zwar aus meinen Gedanken, stachelt mein Temperament aber auch an. Das war kein Laut aus Höflichkeit von William, sondern er klang sehr unbarmherzig. Herausfordernd ziehe ich eine Augenbraue nach oben und blicke meinem Mann in sein angespanntes Gesicht.
"Wir sollten rein gehen. Die Küche muss noch aufgeräumt werden."
Leise laufe ich ihm nach und greife mir sofort das Geschirr für den Abwasch.
"Loretta?"
"Ja?"
"Sieh mich an."
"Was ist denn los?"
Vorsichtig drehe ich mich zu ihm um und erstarre in der Bewegung, als er mir das Geschirrtuch aus der Hand nimmt. Er hängt es über eine Stuhllehne und hebt dann mein Kinn an.
"Das trocknet auch so bis morgen. Wir sollten jetzt lieber schlafen gehen."
Mit der anderen Hand streicht er mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und steckt sie hinter mein Ohr. Da ich von seinem Atem benebelt nur nicken kann, zieht er mich am Arm in unser gemeinsames Schlafzimmer. Mein Herz rast und der Blick, den er mir zuwirft, schmälert meine Aufregung nicht gerade.
"Ich versuche, so vorsichtig wie möglich zu sein. Aber so kurz nach dem Übertritt in den neuen Lebensabschnitt hab ich mich recht wenig unter Kontrolle. Es tut mir leid, wenn..."
Ich halte ihm den Mund mit dem Zeige- und Mittelfinger zu. Ich kenne doch unsere Lage genauso gut wie er. So oft wie wir darüber gesprochen haben.
"Du hast mich geheiratet. Nimm dir jetzt, was du brauchst."
"Es tut mir leid."
Er hat nur geflüstert, neigt seinen Kopf zu mir hinunter. Sein rechter Arm liegt um meine Taille, den anderen stützt er an meiner Hüfte ab. Ich unterdrücke ein Schaudern, als seine Lippen auf meine Treffen. Bevor ich den Moment genießen kann, drängt William schon zu sehr. Mit viel Kraftaufwand löse ich mich kurz von ihm und werde in ein Schwarz gehüllt. Dass er so schnell die Kontrolle verlieren würde, hätte ich nicht erwartet. Aber so war es nun mal. Grimmig zieht er mich an seine Brust zurück und drängt ein Knie zwischen meine Beine. Ich bin ihm ausgeliefert, wehre mich aber nicht dagegen. Er hat ein Recht auf das hier. Ein Recht auf mich und meinen Körper. Ich schließe meine Augen und gebe mich dem Wolf in meinem Mann hin.
Ein Scheppern löst mich aus meinem seichten Schlaf. Ich versuche es zu ignorieren, bleibe aber wach. Leicht genervt über mich selbst, drehe ich mich auf die Seite und bereue das sofort. Schmerzen in meinem Unterleib lodern wie Flammen auf und treiben mir Tränen in die Augen. So vorsichtig wie möglich drehe ich mich wieder in meine alte Position zurück, doch es hilft nichts. Die Schmerzen sind immer noch da und nagen an meiner Selbstbeherrschung. Nur mit viel Mühe kann ich einen Schrei unterdrücken. Ein leises Wimmern presst sich aber zwischen meinen Lippen hervor und ich kann hören, wie William erschrocken die Luft anhält. Mit großen Schritten eilt er aus der Küche zu mir und sieht nach dem Rechten. Ich kann nicht einmal genießen, dass er nur mit einer lockeren Hose bekleidet vor mir steht, weil das Stechen in meinem Bauch unerträglich wird. Das kann doch nicht normal sein! Ein kleines Aufstöhnen lässt sich nicht vermeiden. Es leitet meinen Mann zu mir, er streicht mir die Haare aus dem Gesicht und wischt mit einem feuchten Lappen den Schweiß aus meiner Stirn. Beschämt weicht er meinem Blick aus, aber ich kann sehen, wie hell seine Augen sind. Er soll sich doch keine Sorgen machen. Wir wussten doch beide, dass es mir weh tun würde.
Ich konzentriere mich auf meine Atmung und flache sie ab. Das lindert die Krämpfe und ich wage es, mich aufzurichten. Will hilft mir auf dem Weg zum Bad, dort angekommen, drücke ich ihn aber von mir weg.
"Gib mir ein paar Minuten. Dann mache ich uns was zu essen."
"Du brauchst nicht zu.."
"Bitte. Ich pack das schon, aber ich brauche auch einen Moment für mich."
Er nickt, auch wenn es ihm nicht gefällt. Bevor er geht, schnappt er sich noch sein Hemd vom Rand der Badewanne und streift es sich über. Mit den Augen verfolge ich jede einzelne seiner Bewegungen und schüttle über mich selbst den Kopf. Ich weiß ja, wie die Nacht mit ihm war. Da brauche ich mich nicht danach zu sehnen. Dass er so schnell die Kontrolle verlieren würde, hat uns beide überrascht. Aber so ist es nun mal passiert. Nichts zu ändern. Nur beim nächsten Mal besser zu machen. Bei dem Gedanken fällt mir das Buch vom Großvater ein. Eines davon muss doch noch im Bad liegen, oder etwa nicht? Da spielt mir meine Erinnerung wohl einen Streich. Seufzend gehe ich zur Toilette und erschrecke wegen dem Blut in meiner Hose. Habe ich etwa meine Tage? Die schnelle Rechnung in meinem Kopf verneint. Na gut, das erklärt, warum die Schmerzen so stark sind. Eine blutende Wunde war eben doch ein Stück schlimmer. Ich steige in die Dusche, um das getrocknete Blut und den Schweiß von mir zu waschen. Das Gefühl von Sauberkeit habe ich so nötig, um nicht komplett durchzudrehen. Wenn man sich in seinem eigenen Körper nicht wohl fühlt, steht man vor einem Problem. Und genau das will ich beseitigen.
In ein Handtuch gewickelt stehe ich vor dem großen Spiegel und mustere mich selbst. Die verknoteten Haare zerstören das Bild und ich greife nach einem Kamm. Wie in einer Art Trance beobachte ich meine eigenen Bewegungen ganz genau. Vorsichtig, aber doch zielsicher gesetzt. Ich bin sogar zufrieden mit mir selbst, was mich wundert. Noch nie konnte ich mich mit mir selbst abfinden. Immer gab es etwas zu bemängeln. Das muss an meinen Eltern gelegen haben, an ihrem Druck. Bei William blühe ich also auf und werde stark.
"Es ist schön, dich wieder lächeln zu sehen."
Erschrocken fahre ich herum. Wills Blick ist klar und aufrichtig.
"Seit wann stehst du da schon?"
"Lange genug, um in Versuchung zu geraten."
"Versuchung?"
"Dich aufzuwecken. Du hast ausgesehen, wie aus einer andern Welt in meine reinkopiert. Ich konnte meine Klappe einfach nicht halten."
Er lächelt entschuldigend. Dass ihm so etwas schon leid tat zeugt von seiner Gutmütigkeit.
"Ich zieh mich noch schnell an und komme gleich, in Ordnung?"
Ich muss meinen Kopf leicht in den Nacken legen, damit ich ihm, so dicht angenähert, noch in die Augen sehen kann. Statt einer Antwort gibt er mir einen Kuss auf die Stirn und macht den Weg aus dem Raum frei. Zügig laufe ich zum Kleiderschrank und werfe das Handtuch auf den Boden hinter mich. Etwas bequemes sollte reichen für den Tag, immerhin steht ja auch kein Besuch an. Also ziehe ich eine Leggins und ein übergroßes Shirt aus dem Schrank, ohne genauer darauf zu achten. Die Nassen Haare tropfen noch und ich will mir das Handtuch vom Boden schnappen. Als ich mich aber danach bücke, durchfährt mich wieder dieser Schmerz im Bauch und ich sinke auf die Knie. Der Schmerzensschrei hallt durch die Räume, nicht lange und William steht mir zur Seite und hilft mir auf. Ohne mit der Wimper zu zucken, nimmt er mich auf seine Arme und trägt mich in die Küche. Dort setzt er mich auf dem Küchentisch ab und fängt an, in einer Schublade zu kramen. Er zieht eine kleine Plastiktüte heraus, in der sich eine kleine Schachtel befindet. Schmerztabletten. Er war also in der Apotheke und hat welche für mich besorgt. Auf die Idee hätte ich selbst auch kommen können. Dankend spüle ich eine Tablette mit Wasser hinunter und lehne mich an die Brust meines Mannes. Er steht vor mir, schlingt die Arme um mich.
"Es tut mir so leid."
"Das muss es nicht. Du kannst auch nichts dafür."
"Natürlich kann ich etwas dafür. Ich hab dir riesige Schmerzen zugefügt, weil ich bin, was ich bin."
"Und ich bin dafür geschaffen worden, um dir über diese Zeit hinweg zu helfen und um dir zu geben, was du brauchst. Lieber dir als irgendwem anders."
Er sucht in meinen Augen nach einem Haken, wird aber nichts als die Wahrheit hinter meinen Worten erkennen können.
"Dieses Schmerzmittel ist echt stark. Die Wirkung beginnt schon jetzt."
"Sehr gut. Dann hat es sich wenigstens gelohnt, dass ich sie illegal besorgt hab."
"Bitte was?"
"Die Firma transportiert Medikamente von A nach B, die bei uns aber nicht erlaubt sind. Ich hab mir welche davon besorgt."
"Die Firma hat Dreck am Stecken?"
Er lacht.
"Was glaubst du denn? Kann man so viel Geld in einem normalen, legalen Job verdienen? In unserer Welt ist alles anders."
Unsere Welt. Die Welt der Wölfe. Ich gehöre nicht gerne dazu, aber man wird dort hineingeboren. Dann muss man sich auch an deren Regeln halten und die Wölfe machen sich ihre eigenen Gesetze. Eigene Richtlinien, eigene Verbände, eigene Ränge, eigene Rituale. Das erinnert mich an das Ritual mit dem blutigem Fleisch. Er wollte mir das noch erklären.
"Wozu war das Ritual mit dem Blut gestern gut?"
"Wie kommst du denn jetzt da drauf?"
"Nicht der Rede wert, aber ich hätte trotzdem gerne eine Antwort."
"Das war ähnlich, wie die Ringübergabe. Du wurdest von deiner Familie gelöst und an meine Gebunden. Und ich hab das Blut, das in mir fließt, von meinen Eltern aufgenommen. So wie deines, weil wir jetzt ebenfalls ein Blutsband haben. Reine Symbolik. Das macht man so, weil ich jetzt vollwertig und ein eigenständiger Wolf bin. Es ist eine Erinnerung an bestehende Verbindungen. Außerdem hat mein Vater darauf bestanden, weil er unsere Ehe von seinem Befehl gelöst hat. Es war ein zusätzlicher Preis, dass ich dich für mich alleine habe."
Seine Stimme klingt verbittert. Er denkt an unser ungeborenes Kind, das er verlieren könnte. Falls es eines geben wird. Den Gedanken halte ich schnell zurück. Er lauscht zwar seit unserer Abmachung nicht mehr, aber er könnte es jederzeit aus Versehen tun. Ich hoffe, dass er bei den Schmerzen nicht in meinem Kopf war. Das würde seiner Seele so sehr schaden.
"So, ich sag das jetzt ein letztes Mal. Das Frühstück wird gleich serviert."
Mit diesem Spruch stehe ich vom Tisch auf und marschiere zum Kühlschrank. Die Schmerzen sind vergessen und eine bessere Laune ist im Anflug.
"Du kannst echt gut kochen, hab ich dir das schon mal gesagt?"
"Das sind doch nur Rühreier."
"Trotzdem."
"Na dann, danke."
"Außerdem hat mir noch nie jemand Rotwein zum Frühstück serviert."
"Mir hat das schon immer geschmeckt. Auch wenn ich immer bestraft wurde, wenn ich an den Alkoholschrank meines Vaters bin, aber das nahm ich gerne in Kauf."
"Mutig, mutig. "
Wir lachen sehr ausgelassen. Da war vielleicht das ein oder andere Gläschen zu viel im Spiel und zusammen mit den Tabletten war das auch nicht meine schlauste Idee, aber wir haben unseren Spaß. William hat sich aber besser zusammengerissen als ich und behält einen kühlen Kopf.
"Tut mir leid, das jetzt sagen zu müssen, aber ich habe keine Wahl. Training steht an."
Er ignoriert mein Stöhnen und lässt sich nichts anmerken. Im Gegenteil. Er setzt einen strengen Blick auf, bei dem ich Vorsicht walten lasse. Er könnte jederzeit die Kontrolle über sich verlieren, wenn er noch nicht an seine Vollwertigkeit gewöhnt ist. So scheint die Sache in diesem Moment auch abzulaufen. Seine gute Laune ist wie weggeblasen und gleicht nun einer dunklen Maske. Ich schlucke meine Nervosität hinunter und räume den Esstisch ab. Er bleibt sitzen und schaut mir zu.
"Hmpf. Du könntest mir auch helfen."
Ein letztes Mal wische ich mit dem nassen Lappen über die Theke und drehe mich dann um. Als ich gegen Williams harte Brust stoße, weiche ich lieber ein Stück zurück.
"Was hast du gesagt?"
"Nichts."
"Das hat sich aber nicht nach nichts angehört."
Seine Haltung ist ganz steif und aufrecht. Er hat losgelassen, das sehe ich an seinem Blick. Er versucht nicht einmal, seine Kontrolle zu behalten. Das Training ist nicht später, sondern wir sind schon mitten drin. Die Erkenntnis hilft mir über die Angst hinweg. Er übt mit mir, damit ich, wenn er mal wirklich die Kontrolle verliert, eine Routine habe.
"Lauf."
Lauf! Schreit es in mir. Ohne einen Blick zurück, stürme ich hinaus und lasse das Haus hinter mir. Immer weiter, immer tiefer in den Wald hinein. Als Wolf fremden Gerüchen folgend. Ich umgehe Spuren, die er bereits gelaufen ist, damit auch er sich in unerforschtes Gebiet begeben muss. Sonst hätte er einen Vorteil. Als ich auf einen meiner eigenen alten Pfade stoße, folge ich ihm eine Zeit lang und zweige dann aber doch ab. Vielleicht folgt er in der falschen Richtung. Für einen kurzen Moment muss ich das dichte Unterholz verlassen und auf freiem Feld laufen, um in das nächste Waldstück zu gelangen. So kann ich das Haus komplett umrunden. Hinter mir raschelt es. Er ist mir also schon jetzt auf den Fersen. Das ist nicht gut, aber schneller machen kann ich nicht. Dann würde ich meine komplette Kondition für einen einzigen Sprint aufgeben. Ruckartig bleibe ich stehen. Der schwarze Wolf rauscht an mir vorbei und schlägt seine Krallen in den Boden. Mit wildem Blick dreht er sich zu mir um. Er verwandelt sich zurück, doch er ist nackt. Ohne einen einzigen Fetzen Kleidung am Körper.
"Verwandle dich. Ich will dich nicht zwingen müssen."
Ich gehorche ihm, denn ihn in dieser Verfassung in meinem Kopf zu haben, wäre nicht hilfreich. Er ruft mich zu sich und legt seine Hand an meine rechte Wange. Ich schmiege mich hinein, um ihm meine Unterwerfung zu zeigen. Das hatte ich in den Büchern gelesen. Wenn die Frau die Liebkosungen des wilden Wolfes erwidert, wird er ruhig. Solange er es zulässt und in keinen Rausch verfällt. Es stimmt also. Ich lasse ihn gewähren. Mich berühren. Ich schließe die Augen und konzentriere mich auf das Kribbeln, das seine Hand auf meiner nackten Haut auslöst. Das Blut rauscht in meinen Ohren, mir wird schwindlig von meinen eigenen Gefühlen. Ich sehne mich nach ihm. Ich will meinen Mann und verstehe es nicht. Das erste Mal tat so weh und doch will ich es wieder. Das Verlangen gibt mir Stärke zurück. Vielleicht ist es auch seine Absicht. Was auch immer, das ist Nebensache. Ich sammle meine Kräfte und nehme Anlauf. Der Spurt zum Haus zurück kostet mich viel, aber ich komme vor William an. Er lässt mich gewinnen. Er plant etwas, aber das tue ich auch. Es ist gut für mich, dass er sich Zeit lässt. Dann kann ich nämlich ein Buch suchen und eine schnelle Methode finden. Hektisch schlage ich einfach irgendeine Seite auf und wähle das erste, was mir ins Auge sticht. Fesseln um seine Hände. Ich spähe aus dem Fenster. Er ist noch weit vom Haus entfernt und wird noch einen Augenblick brauchen, bis er da ist. Die Lücke nutze ich und verstecke ein Seil unter meinem Kopfkissen. Dann renne ich in die Küche und setze die Weinflasche an meine Lippen. Der Alkohol wird ein paar Schmerzen betäuben. Schritte auf der Veranda. Ich gehe ins Schlafzimmer. Spüre seine Nähe hinter mir, sein heißer Atem kitzelt in meinem Nacken. Ich ziehe mir das T-Shirt über den Kopf und werfe es auf den Stuhl am Schminktisch. Auch aus meiner Hose steige ich und drehe mich zu dem Wolf um. Meine Arme lege ich um seinen Nacken, mit den Lippen streiche ich an seinem Kinn entlang. Sein Duft in meiner Nase lässt mich fast vergessen, dass ich die Fesseln noch um seine Hände legen muss. Ich löse meine Umarmung wieder und greife nach seinen Armen, die er locker hängen lässt. Ich führe seine Finger zu meiner nackten Brust und werfe ihn damit aus der Bahn. Rückwärts bewege ich mich auf das Bett zu und setze mich darauf, als die Kante in meine Kniekehlen stößt. Er folgt mir in die Mitte der Matratze, denkt, ich gebe mich ihm völlig hin, weil ich mich vor ihm ausbreite. Er merkt nicht, dass meine Hand, die unter das Kissen wandert, nach dem Seil greift. Das Seil, mit der vorbereiteten Schlaufe. In einem unachtsamen Moment von ihm, greife ich mir die Hände auf meinen Brüsten und binde ihm den Strick um. Noch bevor er reagieren kann, ist er an den Bettpfosten gebunden. Er könnte sich mit seiner Kraft locker befreien, doch ich lenke ihn ab. Es soll ein Spiel für ihn sein. Ein Spiel, das seine Lust steigert. Ihn anstachelt. Seine Energie ist schwächer, umso intensiver das Spiel wirkt. So weit in der Theorie. Ich hoffe inständig, dass es klappt und versuche meine Stimme so verführerisch wie möglich klingen zu lassen.
"Nimm mich."
Der heißere Unterton lässt ihn tatsächlich aufhorchen. Zur Bestätigung drücke ich die Beine auseinander und lege meine Lippen auf seine. Den Bewegungen werfe ich mich entgegen, um nicht zu verspannen. Es hilft. Es lindert. Die Schmerzen werden erträglicher. Aber sie bleiben stark. Führen mich am nächsten Morgen wieder an den Rande der Verzweiflung. Ich wage es nicht, mich auch nur einen Zentimeter von der Stelle zu bewegen, als sich die glühend heißen Sonnenstrahlen in meine Haut brennen. Ich sollte mir angewöhnen, nachts die Vorhänge zu schließen. Aber das ist jetzt auch schon egal. Fakt ist, ich liege im Bett und mache keinen Mucks. Noch spüre ich nicht das Geringste, aber ich lege es auch nicht darauf an. Erst als William mich auf mein Haar küsst, öffne ich die Augen. Er sieht so erholt aus und das macht mich glücklich. Meine Mundwinkel wandern ein Stückchen nach oben.
"Guten Morgen."
"Wie geht es dir heute?"
"Keine Ahnung."
"Was?"
"Naia, ich hab bis jetzt ganz still gehalten, also weiß ich es nicht. Noch ist alles gut. Bis auf die Sonne. Könntest du..."
Noch bevor ich aussprechen kann, was mir vorschwebt, ist er schon auf dem Weg. Erleichtert atme ich aus, als sich der Raum abdunkelt.
"Danke."
Er schüttelt abwehrend die Hände und schließt kurz die Augen. Ihm liegt etwas auf dem Herzen.
"Es ist schon spät geworden und ich muss noch trainieren. Es tut mir leid, dass..."
"Ah stopp! Hör bitte auf, dich dauernd zu entschuldigen. Alles ist in Ordnung so wie es ist. An welche Art Training hast du gedacht?"
"Also eigentlich ist es eher für dich als für mich. Morgen ist Vollmond und wir müssen uns darauf vorbereiten. Schaffst du es in den Keller?"
Probeweise strecke ich mich erst unter der Bettdecke und ignoriere das leichte Ziehen zwischen den Beinen. Am Vortag war es schlimmer. Davon motiviert steige ich aus dem Bett und stütze mich an der Kommode mit beiden Händen ab, während ich mich aufrichte. Erleichterung breitet sich in mir aus.
"Alles klar. Wir können gehen. "
Mit kleinen Schritten tapse ich voraus und halte mich bei der Treppe am Geländer fest. Ich übertreibe eigentlich ein bisschen, aber Vorsicht ist besser als Nachsicht. Seit mir mal jemand den Spruch gesagt hat, halte ich ihn mir bei jeder Gelegenheit vor. So auch hier. In William löst es allerdings einige Bedenken aus und er glaubt meiner Kraft nicht. Er schnappt sich noch die Schmerztabletten von der Küchenablage und folgt mir dann in den Keller. Unten angekommen übernimmt er die Führung.
"Wenn der Vollmond am höchsten steht, wird es für mich auf alle Fälle kein Halten mehr geben. Wie weit zuvor und wie lange das andauert, kann ich nicht sagen. Deshalb musst du mich früh genug einsperren und weit genug von der Zelle weg, wenn es so weit ist."
"Wieso soll ich dich alleine lassen?"
"Ich werde nicht alleine bleiben, das ist das Problem. In den letzten Nächten habe ich die Kontrolle verloren und konnte mich nicht mehr steuern. Aber ich besaß noch ein Fünkchen Verstand. In der Vollmondnacht, während ich mich im vollständigen Blutrausch befinde, ist alles weg. Ich werde zum Tier. Mordgedanken und Lust sind alles. Je nach dem, was ich bekommen kann."
"Worauf willst du hinaus? Ich soll mich aus dem Staub machen und dir ein Opfer da lassen?"
"Nein. Das reizt den Wolf nicht. Du sollst nur weit weg von der Zelle. Denn unser Gedankenband wird wieder geöffnet sein und ich werde dich zu mir zwingen. Du wirst die Zelle aufsperren müssen. Und deshalb sollst du von hier weg. Denn dann brauchst du länger für den Weg und ich werde meine Wut schon an der Tür auslassen. Das ist das Spiel, der grobe Ablauf. Es dient zu deinem Schutz, auch wenn dieser nicht lange anhalten wird, aber es ist besser als nichts."
"Was ist, wenn ich zu weit laufe?"
"Das kannst du nicht. Keine Entfernung ist zu weit."
"Aber vor ein paar Tagen hast du das doch gesagt."
"Vor ein paar Tagen habe ich auch nicht dein Blut auf rohem Fleisch gegessen. Vor ein paar Tagen waren wir auch noch nicht körperlich vereint. Du bist ein Teil von mir, den ich spüren kann. Deshalb werde ich bei Vollmond auch nur dich wollen und keine andere. "
Es versetzt mir einen Stich, wenn er sich so ausdrückt. Bei Vollmond will er nur mich. Aber in jeder normalen Nacht bedeutet das nicht viel. Zu gerne steigere ich mich da hinein. Dass er eine andere liebt und er an mich gebunden ist.
"Entschuldige, ich wollte dir keine Angst machen."
Verwirrt schaue ich zu ihm auf. Welche Angst?
"Hab ich nicht. Ich war nur in Gedanken versunken."
"Loretta, ich muss etwas mit dir besprechen. Aber ich weiß nicht, ob es dir unangenehm wird, darüber zu reden."
"Um was geht es?"
"Gestern. Im Wald und zu Hause."
Ich merke, wie mir das Blut in die Wangen schießt. Ein bisschen beschämt wende ich mein Gesicht ab.
"Nein, nein. Sag, was dir dazu einfällt."
"Du hast gemerkt, dass ich meine Selbstkontrolle absichtlich gelockert habe, oder?"
Ich nicke leicht.
"Du hast richtig gehandelt. Zunächst, als du weg gelaufen bist. Und auch, als du dich auf mich eingelassen hast. Ich muss gestehen. Ich war einen Augenblick in deinem Kopf und habe die Lust in dir wahrgenommen. Deshalb hab ich mir auch Zeit gelassen, während du zum Haus gesprintet bist. Aber dass du dich mir so hingibst, hatte auch ich nicht erwartet."
Mein Herz pocht wild in meiner Brust. Alleine seine Worte lösen ein Kribbeln in mir aus. Was ist nur mit mir los?
"Mit dir ist nichts los."
Verwirrt sehe ich ihm in die Augen.
"Ich kann es nicht lassen. Du strahlst so einen erregten Duft aus und ich muss wissen, warum. Mein Instinkt handelt noch, bevor ich denken kann. Du benebelst meine Sinne."
Wie eine Bestätigung überrollt mich ein Schaudern. Unser Band ist offen und ich kann seine Gefühle erkennen. Sie ähneln meinen so sehr. Und trotzdem sind wir beide beherrscht. Trotzdem halten wir uns zurück. William ist mit seiner Ansprache nicht fertig.
"Es freut mich, dass du deine Angst vor mir verloren hast. Dass du auf mich eingehst. Aber bitte. Bitte tu morgen nichts unüberlegtes. Du musst mir gehorchen, denn jede Kleinigkeit wird den Wolf anstacheln. Lass mit dir machen, was ich verlange. Mehr nicht. Forderst du mich auf, dich zu nehmen, so wie gestern, wird es kein Halten mehr geben. "
Jetzt wird er rot. Eine Kleinigkeit, über die ich schmunzeln muss. Sein Blick ist starr auf einen Punkt hinter mir gerichtet. Mit den Fingerspitzen wende ich sein Gesicht aber meinem zu. Nur mein Flüstern ist zu hören. Und sein stockender Atem.
"Ich werde es mir merken. "
Er verwuschelt mir die Haare und geht dann ein Stück rückwärts von mir weg. Das Band trennt sich wieder, als er sich umdreht. Plötzlich fühle ich mich so leer. Das Band muss getrennt sein, sonst könnte er noch etwas falsches hören, aber trotzdem fühlt es sich komisch an. Wir sind miteinander verbunden und doch nicht wirklich. Das lässt sich im Inneren nicht so leicht vereinbaren.
"Du machst es mir nicht gerade einfach, auf deine Gedanken zu verzichten, wenn du immer so schweigsam und verträumt vor mir sitzt. "
Entschuldigend trifft mein Blick sein amüsiertes Lächeln. Amüsiert mit einem Hauch Frust.
"Lass uns einfach weiter machen. Was muss ich noch wissen?"
"Wie man die Tür richtig verriegelt. Siehst du die verschiedenen Hebel? Die müssen alle in die gleiche Richtung zeigen. Wenn du einen vergisst, ist die Tür zwar zu, aber nicht fest genug. Probier mal."
Er geht ein paar Schritte zurück und verwandelt sich, während er in die Zelle läuft. Zweifelnd sehe ich ihn an, er deutet mit der Schnauze auf die Tür. Ich soll ihn einsperren. Ein kurzes Zögern kann ich nicht lassen, doch ich gehorche. Mit einem lauten Knall fliegt die Tür ins Schloss. Ich drücke alle Hebel nach unten, bis zu einem leisen Klicken im Metall. Von drinnen ist ein Kratzen, ein Schnauben und ein Winseln zu hören. Dann Williams Stimme. Er versucht noch in Menschengestalt, etwas auszurichten und seufzt.
"Perfekt. Das nenn ich dicht. Lässt du mich bitte wieder raus?"
Ich muss grinsen. Mein Mann sitzt in der Falle. Ich könnte ihn auch einfach da drinnen lassen. Aber er würde sicher einen Weg finden, sich zu befreien. Und wenn er mich einfach nur zwingt, mich zu unterwerfen. Na gut, ich sollte den Gedanken daran lieber lassen. Ich würde ihn nur verärgern und hätte nichts davon. Das Grinsen bleibt aber in meinem Gesicht kleben und bringt William zum lachen, als er wieder vor mir steht.
"Wie läuft das, wenn du mich zu dir rufen willst im Rausch? Musst du da in Gedanken nach mir suchen, oder findest du mich, sobald du unser Band öffnen willst."
"Die Verbindung besteht sofort, aber das heißt nicht, dass ich weiß, wo du bist. Ich kann nur Bruchstücke deiner Gedanken wahrnehmen. Oder deine Gefühle. Aber ich sehe nicht mit deinen Augen oder so etwas. Warum, was hast du vor?"
"Ich hab überlegt, ob es sich lohnt, einen bestimmten Platz zu suchen. Dann wüsste ich schon, wo ich morgen hinlaufen soll, aber das hat sich damit erledigt."
"Ja. Lauf einfach so weit du kannst. Wenn der Mond ganz hell aufleuchtet, bleib aber stehen. Sonst hast du keine Kraft für den Rückweg mehr. Oder besser gesagt, dann würdest du die Nacht nicht ertragen, wenn du bei mir bist. Hat der Alkohol gestern eigentlich geholfen?"
"Nicht direkt. Er hat meine Hemmungen weggespült. Ich glaube nicht, dass ich sonst nach dir verlangt hätte."
"Oh gut, jetzt habe ich etwas, das ich mir merken sollte."
Für sein dreckiges Grinsen boxe ich ihn spielerisch gegen die Schulter. Er will noch etwas sagen, doch mein Magen knurrt laut. Genervt verdrehe ich die Augen.
"Mein Bauch muss aber auch immer etwas zu melden haben."
Lachend gehen wir die Treppe wieder nach oben. Die Sonne steht sehr tief am Himmel. Dass es so spät ist, hätte ich nicht erwartet.
"Wie lange waren wir denn bitte da unten?"
"Nicht so lange. Du hast nur sehr viel Schlaf nachgeholt. Das ist gut. Du brauchst deine Kräfte. Was auch ein Grund ist, warum wir heute nicht miteinander schlafen."
"Und was ist sonst noch ein Grund?"
"Ich werde trainieren. Mit dir. "
"Wie soll ich mich denn beim Training ausruhen?"
"Wir gehen laufen. Oder ich, besser gesagt. Du suchst dir eine Stelle im Wald, die du für passend hältst und ruhst dich dort aus. Ich werde dir eine Stunde später folgen. Der Vorsprung wird dir locker ausreichen und ich habe zu tun. Bis ich deine Fährte aufnehmen kann, hat der Wind schon einiges gelindert, so wie das hier stürmt."
"Sag mal. Wann planst du das alles?"
"Das sind nur Ideen von meinem Großvater. Die kam mir heute einfach so in den Sinn, als ich den Wetterbericht gesehen habe. Und mir war auch klar, dass ich heute nicht schlafen darf. Sonst sammle ich nur zu viel Kraft an."
"Wir werden ja sehen, wie das dann in der Praxis funktioniert."
Auf dem Absatz mache ich kehrt und wende mich meiner Küche zu. Mein Revier. Williams Blick klebt an meinem Rücken, als ich die Äpfel in Stücke schneide und die restlichen Zutaten für den Auflauf zusammenrühre. Bis er fertig ist und wir gegessen haben, sagt keiner von uns auch nur ein einziges Wort. Eine Gabel fällt achtlos auf einen Teller.
"So. Ich halte das nicht mehr aus. Sag bitte einfach irgendwas."
Kurz erschrocken über seinen kleinen Ausraster, bringe ich nichts zustande. Ein nervöses Kichern löst die Stille, die sich erneut ausbreitet. Will stimmt mit ein.
"Du hättest dich sehen sollen. Wie du die Gabel hingeknallt hast. Ein Schrei nach Aufmerksamkeit. Du hättest auch mit der Faust auf den Tisch schlagen können."
Nur mit Mühe bringe ich die Worte zwischen meinen Lachkrämpfen heraus. Der Mann am Tisch mustert mich besorgt.
"Ich kann nicht. Aufhören. Zu lachen. Mein Bauch. Au. Er tut weh."
Wieder wird er von meinem Lachen angesteckt. Ich benehme mich so kindisch und er weiß auch nicht recht, was er machen soll. Ich wüsste es in seiner Lage auch nicht. Oh, das ist mir so peinlich. Aber ich lache immer weiter. Es verebbt nicht. Es ist, als ob jedes einzelne unterdrückte Lachen aus mir hervorsprudelt und sich nicht mehr zurückhalten lässt. So ein Mist. Der Moment ist unpassend, ich mache William nervös. Ich zwinge mich, daran und an nichts anderes zu denken, und das hilft. Der Ernst der Lage erstickt die Krämpfe. Ich stehe vom Tisch auf, um ihn abzuräumen. Bevor ich aus dem Raum verschwinde, drehe ich mich noch mal kurz zu William um.
"Tut mir leid, das war keine Absicht. Kommt nicht wieder vor."
Dann mache ich mich aus dem Staub und lasse meinen Mann sprachlos zurück. Er bereut bestimmt, dass er die Stille gebrochen hat. Wer will schon erleben, dass die Frau sich dermaßen gehen lässt? Ich zwicke mich selbst in den Arm. Vielleicht war das ja nur ein schlechter Traum. Ein Scherz. Aber nein. Ich stehe wirklich hier vor dem Spiegel und kann mich selbst nicht mehr ansehen. Die Blamage klebt an mir. Natürlich war es nur ein Lachen. Ein lautes, ausgiebiges Gelächter. Aber ihm war es unangenehm. Ich bin Schuld, dass er sich nicht wohl gefühlt hat. Als Frau eines Werwolfs ist das mit das schlimmste, was passieren kann. So denkt man in unserer Gesellschaft. Ich weiß das, er weiß das, wir beide wissen es. Das ist auch der Grund, warum er mir nicht folgt. Er bleibt in der Küche sitzen und denkt darüber nach.
Hinter mir im Spiegel blitzt etwas auf. Verwirrt drehe ich mich zu dem Gegenstand um. Eine Tasche mit einer Metallschnalle. Sie hat das Licht der Deckenlampe reflektiert. In der Tasche ist eine Decke und eine kleine Plane. Schnell verstehe ich den Sinn dahinter. Ich soll sie mit in den Wald nehmen, damit ich es bequemer habe. Am Griff trage ich sie zu William in die Küche.
"Du hast sie gefunden. Meinst du, du packst das jetzt, oder brauchst du noch etwas?"
Ich werfe einen kurzen Blick an mir herab. Und aus dem Fenster.
"Eine Jacke. Der Wind wird stärker."
Er greift neben sich und hält mir schon eine Strickweste vor die Nase.
"Das dachte ich mir schon."
Dankend ziehe ich mir die Weste über und kuschle mich in den weichen Stoff.
"Und jetzt, lauf."
Er schiebt mich zur Tür. Von draußen strömt mir schon ein kalter Luftzug entgegen, meine Haare wehen im Wind. Ich sauge die verschiedenen Gerüche auf, die mir entgegen kommen und renne los. Erst am Waldrand bleibe ich kurz stehen und lege den Rucksack ab. Mit ein bisschen Anlauf wechsle ich in meine Wolfsgestalt und packe die Tasche mit meinem Maul. Sie behindert ein bisschen beim Laufen, doch das ist erst einmal egal. Ich kämpfe immer weiter gegen den Wind an, der stark an meinen Kräften und an meiner Ausdauer nagt. Wenn das so weiter geht, werde ich nicht genug voran kommen. Ich entscheide mich schnell dafür, von meinem ursprünglichen Pfad abzuweichen und zwischen den ganz dichten Bäumen mehr Schutz zu suchen. Mein Fell verfängt sich in den Dornen der Büsche und hinterlässt neben der Duftspur auch noch sichtbare Hinweise. Nicht gut. So wird er mich noch leichter finden. Noch während ich überlege, wie ich mich nun am besten verhalte, stehe ich vor einer Sackgasse. Eine dichte Wand von Büschen direkt vor mir, nur mit einem dünnen Spalt darunter. Ich habe nicht viel Zeit zum überlegen und entscheide mich für das einzig plausible. Umkehren kommt nicht in Frage, also verwandle ich mich wieder in einen Menschen und lege mich auf den Bauch. Mit den Händen voran quetsche ich mich durch den Spalt und ignoriere die schmerzenden Stacheln in meinem Rücken. Auf der anderen Seite sind auch nur Bäume, nur nicht mehr so dicht aneinander gereiht. Nachdem ich den Rucksack durch den Spalt gezogen habe, sehe ich mir die Umgebung noch etwas genauer an. Das war genau die richtige Entscheidung. William scheint noch nie selbst hier gewesen zu sein, ich bezweifle auch, dass er überhaupt von diesem Ort weiß. Die Baumkronen lassen nur wenig Licht durch, die Blätter rascheln bedrohlich über mir. Ich beschließe, hier mein Lager aufzubauen und suche mir große Äste zusammen, die, an einen breiten Baum gelehnt und mit der Plane aus dem Rucksack darüber befestigt, einen guten Schutz bieten. Zufrieden betrachte ich mein Werk, doch etwas fehlt. Es ist zu offensichtlich, dass ich hier bin. Mit letzter Kraft sammle ich weitere Äste und Zweige, die ich in den Spalt im Boden stecken kann. Erst als er ganz ausgefüllt ist, nehme ich mir die Decke aus dem Rucksack und lege mich in mein Versteck. Während ich dem Pfeifen des Windes und dem Rascheln der Blätter lausche, drifte ich in einen seichten Schlaf ab.
Etwas ist anders. Das sind nicht die Geräusche der geballten Natur dort draußen. Ein Schnüffeln. Es ist William. Er ist der Fährte bis hier hingefolgt und steht nun vor den selben Sträuchern wie ich. Nur dass für ihn der Weg wirklich endet. Ich versuche so gut wie möglich zu lauschen, der Wind übertönt aber einiges. Schritte entfernen sich von der Schutzmauer, die uns trennt. Denkt er, ich hätte an dieser Stelle umgekehrt? Es wirkt so. Ich verkneife mir mein Lachen, das würde ihn nur wieder anlocken. Aber ich komme unter der Plane hervor und achte genau auf die Bäume um mich herum. William ist fort, doch er könnte jederzeit von einer anderen Seite ankommen und mich von hinten überraschen. Das soll nicht passieren. Das Versteck ist viel zu gut dafür und ich möchte mir die Option offen halten, wenn ich mal wieder von ihm weg muss. Eifrig packe ich meine Sachen wieder in den Rucksack und mache mich erneut auf den Weg. Man könnte es als leichtsinnig bezeichnen, dass ich jetzt noch im Wald herumirre und William direkt in die Arme laufe, doch ich halte es sogar für schlau. Er muss ja nicht wissen, dass ich ihm mit Absicht entgegentrete. Dass ich ein Geheimnis um mein Versteck machen möchte. Für später kann es durchaus nützlich sein und theoretisch hätte er mich auch so schon längst finden müssen. Er weiß doch genauso gut wie ich, dass ich nicht weit von ihm entfernt bin.
Mit dieser Einstellung kämpfe ich mich weiter durch das Unterholz und versuche irgendwie einen Bogen einzuschlagen und das dichte Gestrüpp zu umgehen. Tatsächlich renne ich dabei gegen Williams Oberkörper, der in der Dunkelheit kaum von einem massiven Baum zu unterscheiden war. Er zuckt nicht einmal zusammen, als ich einen spitzen Schrei ausstoße.
"Wie hast du mich hier gefunden?"
"Du läufst in Windrichtung. Das hat meinen Weg zu dir enorm verkürzt. Wobei ich nicht verstehe, warum du unterwegs bist."
"Wenn ich nicht zu lange an einem Ort bleibe, sondern mal wechsle, dann findest du mich nicht so leicht. Das hab ich zumindest gedacht, aber du warst mir ja schon zu nahe auf der Spur. Ich hätte früher aufwachen müssen."
Er schließt mich in seine Arme, sein Griff ist sehr fest.
"Ich habe mehr als fünf Stunden nach dir gesucht. Das war für unser Training lange genug. Bist du noch müde?"
"Ja, schon. Aber ich könnte jetzt nicht mehr schlafen. Bis zum Haus wird es wohl noch gehen."
Misstrauisch hebt er mein Kinn an und zwingt mich, ihm in die Augen zu sehen.
"Was hast du?"
Es stimmt, mich belastet etwas. Aber ich kann ihm wohl kaum gestehen, dass ich ihn angelogen habe. Schon wieder. Zum Schutz unserer Beziehung muss ich das anscheinend dauernd tun. Ich umgehe seine Frage so weit wie möglich.
"Können wir bitte zurück? Ernsthaft. Ich brauche eine heiße Dusche."
Ein Lächeln umspielt seine Lippen. Meine Antwort stellt ihn zwar nicht zufrieden, aber dennoch etwas glücklicher. Das muss vorerst reichen.
Der Marsch nach Hause zieht sich in die Länge. Mal als Menschen, mal als Wölfe, müssen wir uns durch die Bäume schlängeln. Ein nervenaufreibendes Spiel. Erst als das kleine rote Dach zwischen den Baumkronen hervorspitzt, hellt sich meine Stimmung wieder auf. Das letzte Stück renne ich ohne Pause und verbrate meine letzten Kräfte. Völlig erschöpf lasse ich mich auf einen Küchenstuhl fallen und strecke die Beine von mir. Schwer atmend steht William im Türrahmen.
"Du wirst immer schneller. Innerhalb so kurzer Zeit wirklich kaum zu fassen."
Ich zucke mit den Schultern. Es ist doch umso besser, wenn ich schneller laufen kann. Das gleicht das sonstige Kräftemessen zwischen und wenigstens ein bisschen aus.
"Aber du hättest dich nicht so verausgaben sollen. Wie willst du jetzt noch alleine in die Dusche kommen und dein wohl verdientes Bad kriegen?"
Das Grinsen in seinem Gesicht wird noch breiter.
"Oh nein."
"Doch!"
Noch bevor ich aufstehen kann, greift er unter meine Beine und wirft mich über seine Schulter. Große Schritte führen ihn ins Badezimmer, er ignoriert meine Fäuste, die auf seinen Rücken trommeln. Als er in der Duschkabine das Wasser aufgedreht hat, stellt er mich mit einem Ruck unter dem kalten Strahl ab. Entsetzt kreische ich auf und schubse ihn vor mir aus dem Weg. Mir ist egal, dass ich eine riesige Pfütze auf dem Boden hinterlasse. Wills Lachen macht mich nur wütend. Das ist doch wirklich zu kindisch. Auf eine solche Wasserschlacht habe ich nun wirklich keine Lust. Ein leises Knurren entweicht meiner Kehle. Abgelöst von einem schwachen Zittern, das meinen Körper erschüttert. Sowohl wegen der Kälte, als auch wegen der unterdrückten Wut. Ich habe kein Recht, wegen den Taten meines Mannes auszurasten und das stachelt den Rebell in mir nur weiter an. Wieder strömen kalte Schauer über meinen Rücken. William verstummt, kein Spott umgibt uns nun mehr. Vorsichtig tritt er auf mich zu und legt die Hände beiderseits auf meine Schultern. Mein Körper bebt als er mir den durchnässten Stoff von der Haut entfernt. Ich verstehe nicht, wieso er dabei so dicht bei mir steht. Er nähert sich mir an, sein Atem streicht sanft über meine Lippen. Seine Finger malen federleichte Muster auf meine Haut. Sein Körper strahlt so viel Wärme aus, dass ich mich am liebsten gegen ihn gelehnt hätte. Aber angesichts der Tatsache, dass ich nackt vor ihm stehe, ist das keine so gute Idee. Ohne eine weitere Absprache, dreht er das Wasser wieder auf, überprüft die Temperatur, gibt mir einen flüchtigen Kuss auf die Stirn und verlässt dann den Raum. Perplex bleibe ich lange stehen, ohne mich von der Stelle zu bewegen. Mein Bauch ist voller Schmetterlinge, jeder einzelne davon trommelt schmerzhaft mit den Flügeln. Und trotzdem versetzt es mir einen Stich, dass ihm mein Körper keinen weiteren Anreiz gegeben hat.
"Was tust du denn? Du wolltest doch...wieso weinst du?"
Geschockt bleibt er in der Tür stehen, als er bemerkt, dass ich mich nicht vom Fleck gerührt habe. Die Tränen wischt er kurz darauf mit einem Daumen fort.
"Es tut mir leid, wenn ich dich verletzt habe. Aber würdest du mir bitte sagen, was genau mit dir los ist gerade?"
Ich bringe kein Wort heraus, was vielleicht besser so ist. Ich hätte auch so nicht gewusst, was ich ihm antworten soll. Seine Augen werden von Sekunde zu Sekunde heller. Er macht sich echte Sorgen.
"Wieso ist es wichtig, was ich tue?"
"Was soll das heißen? Du stehst nackt im kalten Bad, zitterst am ganzen Körper und weinst, während du doch eigentlich eine angenehme Dusche nehmen könntest. Erzähl mir nicht, dass das normal ist. Es gleicht eher einem Schockzustand. Hast du Angst? Wovor?"
"Du..."
"Vor mir? Hätte ich dich nicht ausziehen dürfen? Ich wollte dich nicht bedrängen. Ich dachte nur, dass es nichts ausmacht, wenn wir doch eh schon miteinander geschlafen haben. Es fällt mir ziemlich schwer, mich dafür zu entschuldigen."
"Nein. Es ist nicht, wie du denkst. Ich bin nur...verwirrt."
"Weswegen denn?"
"Ich verbrenne beinahe, wenn du so nahe an mir stehst und dich lässt es kalt, wenn ich nackt bin."
Ihm klappt der Mund auf, als er sieht, wie rot ich werde.
"Das ist der Vollmond. Er hat auch einen Einfluss auf die Wölfinnen. Nur weiß das kaum jemand, wenn die Frauen sich von den Schmerzen ablenken lassen. Es ist normal, dass dich meine Anwesenheit erregt. Ich dachte nur, dass dir das klar ist. Mein Großvater hat es aufgeschrieben."
"Die Stelle muss ich wohl überlesen haben."
Ich zwinge mich zu einem Lächeln. Es erklärt zwar einiges, wenn die Mondphasen auch mich als Frau beeinflussen, aber die Erklärung für sein Verhalten bleibt im Dunkeln. Ob es wohl daran liegt, dass er eine andere liebt? Dass ich ihn nicht reize? Ich weiß nicht, wer ihm den Kopf verdreht hat und ich weiß auch nicht, warum er mich an ihrer Stelle ausgewählt hat. Der Gedanke, mit ihr verglichen zu werden, setzt mir mehr zu als es sollte. Vielleicht ist der Mond Schuld, vielleicht auch meine Eifersucht, ich dränge mich jedenfalls an William vorbei und stelle mich unter die Dusche. Mit geschlossenen Augen achte ich darauf, wie sich das Wasser an meiner Haut hinunterschlängelt.
"Loretta?"
Zunächst spannt sich mein Körper bei dem Klang seiner Stimme an, doch als ich seinen glasigen Blick sehe, der an mir herabwandert, wird mir plötzlich ganz heiß. Ich sollte mich doch eigentlich schonen und meine Kräfte für die Flucht bewahren. Und trotzdem schreit mein Körper danach, eine neue Methode auszuprobieren, nur damit mein Verlangen gestillt werden kann. Ob das Wasser wirklich ablenket, wie der Großvater vermutet hat? Ich will es probieren, meine Hände fahren unter Wills Shirt und ziehen es ihm über die Schultern.
Ich erinnere mich nicht, wie und wann er seine Hose verloren hat. Ich verzehre mich nur an dem Gefühl jeder seiner Berührungen auf meinem Körper. Unser Kuss, in den ich so viel Gefühl gelegt habe. Wie seine Augen sich wieder verdunkelten und er mich mit dem Rücken gegen die Wand drückte. Während ich meine Beine um seine Hüften schlang, um ich abzustützen, wanderte meine Hand zum Wasserhahn. Ich verstellte die Temperatur und sah mit an, wie der Mann sich unter den heißen und kalten Strömen wandte. Es lenkte ihn tatsächlich so weit ab, dass er mir kaum Schmerzen zufügte. Er drang ehrlich gesagt auch nicht sonderlich oft in mich und das war gut so. Sonst wäre ich zu abgelenkt gewesen.
Ein letzter Schrei aus meinem Mund und dann ist es vorbei. Er zeiht sich zurück und greift nach einem Handtuch. Sein Rücken ist gerötet und zeigt ein paar Kratzspuren meiner Fingernägel. Vorsichtig streiche ich darüber.
"Entschuldige."
"Nicht schlimm, das wir bald verheilen. Aber du solltest dir etwas anziehen. Sonst erkältest du dich noch."
Es klingt eher so, als würde ihn an meiner entblößten Haut etwas ganz anderes stören. Trotzdem komme ich seiner Bitte nach und schnappe mir den Bademantel vom Rand der Wanne. William geht schon einmal ins Schlafzimmer vor, während ich in der Schublade wühle. Erst als ich gefunden habe, was ich wollte, folge ich ihm. Er hat mir den Rücken zugewandt und sucht sich ein dunkelblaues Hemd passend zu seiner schwarzen Hose, die er trägt, heraus. Als er es gerade zuknöpfen möchte, erwache ich aus meiner Starre.
"Warte."
Verwirrt hält er in seiner Bewegung inne. Er will mich sogar zurückweisen, als ich ihm das Hemd wieder vom Rücken streife. Erst als ich ihm die Tube mit der Heilsalbe vor die Nase halte, versteht er mein Vorhaben.
"Die hat bei meinem Handgelenk geholfen, also wird sie das bei dir auch tun. Darf ich?"
So vorsichtig wie möglich reibe ich die Salbe auf die Wunden. Ich will nicht glauben, dass meine Hände ihm Schmerzen zugefügt haben und ehrlich gesagt bin ich verwundert. Das hätte ihn reizen müssen. Oder auch verärgern.
"Wie kommt es, dass du dich trotz meinem Angriff hier so gut beherrschen konntest?"
"Ich bin erschöpft. Und außerdem war es ein Fehler, dass wir miteinander geschlafen haben. Das war gegen meinen Plan, den ich dir eigentlich gut genug erklärt haben müsste."
Er schnaubt wütend, reißt mir sein Hemd aus den Fingern und verschwindet. Es war ein Fehler. Schmeichelhaft. So sehr, dass ich mich in den Schlaf weine. Auch wenn es mir nichts bedeuten sollte, seine Worte tun weh. Brennen in meinem Herzen. Mission 'Gefühle loswerden' ist gescheitert und muss am nächsten Tag wohl oder übel neu versucht werden.
Ein ungewöhnliches Klingeln weckt mich plötzlich auf. Was ist das für ein nerviges Geräusch? Verwirrt sehe ich mich im Raum um, bis mein Blick auf einen kleinen Wecker fällt. Keine Ahnung, seit wann der hier steht. Ich habe ihn jedenfalls nicht gestellt. Offensichtlich wollte William, dass ich um sieben Uhr morgens wach bin. Verstört durch das Piepsen, schlage ich etwas zu fest auf den kleinen Plastikknopf der Uhr. Sie fällt vom Schränkchen herunter und schlägt mit einem kurzen Knall auf dem Boden auf. Seufzend schlage ich die Bettdecke zurück und strecke meine Glieder. Als ich die Einzelteile des Weckers schließlich aufsammle, kommt mir ein kleiner Zettel zwischen die Finger. Kurz bevor ich ihn mit dem restlichen Müll entsorgen kann, sticht mir mein Name ins Auge. Das ist ein Brief an mich von William. Meine Hand faltet das Papier vorsichtig auseinander und zittert dabei ein wenig. Warum, ist mir selbst nicht klar.
Guten Morgen Schlafmütze. Es tut mir leid, dass ich dir das nicht persönlich sage, aber irgendwie dient es ja zu deinem Schutz. Ich bin bereits in der Zelle, wenn du das hier liest. Du musst nichts weiter tun, als sie so zu verschließen, wie ich dir das gestern gezeigt habe und dann kann es losgehen. Auf dem Tisch in der Küche liegt wieder ein Rucksack. Schnapp ihn dir, bevor du aus dem Haus gehst. In der vordersten Tasche ist der Hausschlüssel, damit du die Tür hinter dir absperren kannst. Alles andere habe ich bereits von außen verriegelt. Lauf so weit du kannst, bis der Vollmond seinen höchsten Punkt erreicht hat. Schlage dein Lager an einer passenden Stelle auf und warte ab. Du wirst es spüren, sobald ich dich zu mir rufe. Kämpfe nicht dagegen an, konzentriere dich nur genau auf meine Worte und blende alles andere um dich herum aus. Unsere Bindung wird dich zu mir zwingen und die Wölfin in dir wird sich nach mir sehnen. Mehr, als wir beide wahrscheinlich jemals verstehen werden. Flüchte und komme zurück. Vertrau mir.
Ich beeile mich sehr, während ich mir wetterfeste Kleidung anziehe und seine Anweisungen befolge. Ohne einen Blick in das Innere der Zelle zu werfen, sperre ich sie ab. Ich glaube kaum, dass ich den Anblick ertragen hätte. William war schon am Abend zuvor sehr ausgemergelt, damit er seine Kraft nicht nährt. Ach jetzt wird er sich kaum gestärkt haben.
Mit zittrigen Händen drehe ich den Schlüssel um und packe ihn wieder ein. Das verschlossene Haus wirkt wie eine Bedrohung, als ich es hinter mit lasse und mir meinen Weg durch das Dickicht der Wälder kämpfe. Erst als die Mittagssonne selbst durch das Laub auf meinen Wolfspelz brennt, mache ich eine kurze Verschnaufpause. Innerhalb zwei Minuten leere ich zwei ganze Wasserflaschen und mache mich über meinen Proviant her. Ich kann mich kaum noch überwinden, weiter zu laufen und lege mich erschöpft ins Gras. Meine Augen fallen zu, mein Kopf neigt sich auf die Seite und ich bin in einen tiefen Schlaf gesunken.
Das hat man nun davon. Einmal zur Ruhe gesetzt und schon gewinnt die Müdigkeit die Oberhand. Wie eine Wahnsinnige irre ich zwischen Baumriesen und Sträuchern hindurch, um möglichst viel Raum zwischen William und mich zu bringen. Der Mond steht schon fast ganz oben und mir wird klar, dass der Abstand nicht reicht. Ich werde trotzdem noch weiter laufen müssen. Immerhin habe ich den halben Tag verschlafen. Meine Muskeln ziehen schmerzhaft, meine Lunge brennt wegen der eisigen Nachtluft. Immer weiter tragen mich meine Beine, ich kämpfe gegen meinen inneren Schweinehund an. So lange, bis der körperliche Widerstand von der Sperre meines Herzens abgelöst wird. Wie eine Marionette werde ich gezwungen, in meiner Bewegung stillzuhalten. Das Band ist geöffnet, William ist in meiner Selbstkontrolle. Heiße und kalte Schauer laufen abwechselnd meinen Rücken hinab. Die Luft dringt stoßweise in meinen Mund. Bilder von unseren gemeinsamen Nächten blitzen auf. Die Dusche, sein heißer Atem in meinem Nacken. Urplötzlich will ich zu ihm, will bei ihm sein. Seine Nähe spüren, noch mehr als zuvor. Es ist nicht einmal eine Sekunde vergangen, da hab ich mich schon umgedreht und befinde mich auf den direkten Weg zu ihm.
"Lauf meine Süße, lauf schnell zu mir."
Seine tiefe Stimme hallt in meinem Kopf nach, sorgt dafür, dass ich noch schneller zu ihm gezwungen werde. Warum er plötzlich in ganzen Sätzen durch unser Band mit mir kommunizieren kann, weiß ich nicht. Ehrlich gesagt ist es mir auch egal. Es fühlt sich an, als würde ich gleich meine Beine verlieren, so sehr hetze ich. Innerhalb einer neuen Rekordzeit, die mir trotzdem vorkam wie eine halbe Ewigkeit, bin ich am Haus. Williams Zwang lässt mich nicht einmal in Ruhe meinen Schlüssel suchen. Wie von Geisterhand gesteuert, greife ich den nächst gelegenen Stein und zerbreche damit die Fensterscheibe. Viel zu hastig klettere ich durch den Rahmen und schneide mich dabei an den Scherben. Aus Kratzern an meinen Unterarmen und meinen Händen quellen einzelne Bluttropfen und laufen in Rinnsalen meine Haut entlang. Aber auch das ist mir völlig egal. Mir geht es nur um das Eine. Sehr schlampig. Mit großen Schritten renne ich durch das Haus auf direktem Weg in den Keller. Sein Knurren dringt selbst durch die dicke Metalltür. Er will, dass ich sie öffne. Sofort. Ohne lange zu überlegen, mache ich, was er mir sagt. Die einzelnen Riegel rattern, mit Wucht reiße ich dir Tür auf. Es ist auf einmal ganz still. William steht direkt in der Schwelle. Er greift nach meinem Arm, zieht mich an sich, schnüffelt an meinem Hals. Sein Atem kitzelt in meinem Nacken und ich presse mich an ihn. Ich brauche seine Nähe, doch er stößt mich zurück. Seine schwarzen Augen fixieren mich. Ich bin seine Beute. Es ist nicht wie in den anderen Nächten. Er hat nicht einfach nur die Kontrolle verloren. Nein, er durchlebt das Tier in sich. Ohne meine Nähe und sein Bedürfnis, seine Lust auszuleben, wäre er sicher nicht in Menschengestalt. So erbarmungslos wie heute war er noch nie gewesen. Vorsicht und Zärtlichkeiten kann ich vergeblich suchen. Ich weiß nicht, warum meine Instinkte mir gesagt haben, dass ich das will. Es ist nur schmerzhaft.
Diesmal wache ich zuerst auf. William schläft noch tief und fest neben mir im Bett. Seine Haare sind zerwühlt, doch ansonsten sieht man ihm die letzte Nacht nicht wirklich an. Was man von unserem Haus nicht gerade behaupten kann. Nachdem ich mich dazu entschlossen habe, eine kurze Runde zu drehen, stechen mir viele zerbrochenen Gegenstände auf dem Boden ins Auge. Er hatte sie während unserer Verfolgungsjagd quer durch die Zimmer von den Schränken und Ablagen gefegt, um mich noch weiter zu hetzen. Es würde ewig dauern, das Chaos in einen angenehmen Zustand zurück zu versetzen. Bevor ich mich dieser Herausforderung stellen kann, nehme ich eine kalte Dusche. Frisch abgebraust und ermutigt, ziehe ich mir ein Sommerkleidchen an, ohne in den Spiegel zu sehen. William rührt sich keinen Zentimeter, als ich vor dem Kleiderschrank stehe. Er sammelt noch immer seine Kräfte.
Meiner Arbeit gehe ich zuerst in der Küche nach. Die Luft dort ist stickig, weshalb ich die kleine Seitentür für frische Luft öffne. Mit einem Besen kehre ich die Glasscherben auf einen Haufen, nur um dann enttäuscht festzustellen, dass kein Müllbeutel zu finden ist. Schulterzuckend widme ich mich dem gestürzten Besteckkasten in der Ecke und dem verschütteten Rotwein auf dem Tisch. Auch der Rest des Hauses ist schneller wieder in seinen Ursprungszustand zurückversetzt, als ich erwartet habe. In der hintersten Ecke der Abstellkammer kann ich dann sogar doch einen Müllsack finden. Mit den Fingerspitzen hebe ich die Scherben vorsichtig auf und lasse sie in dem blauen Plastik verschwinden. Als sich aber die Spitzen schwarzer Lackschuhe in mein Sichtfeld schieben und ein tiefes Räuspern erklingt, zucke ich zusammen und ein Stück Glas bohrt sich tief in meine Hand. Der Schmerz ist aber schnell vergessen, sobald der Mann vor mir Gestalt annimmt.
"Oh, das tut mir leid. Ich wollte dich nicht erschrecken."
"Schon gut. Setzen Sie sich doch. Was kann ich für Sie tun?"
Ich stelle keine weiteren Fragen, wie Williams Vater in das Haus gekommen ist und warum er sich so angeschlichen hat. Das würde zu sehr seine Aufmerksamkeit erregen.
"Ich bin nur hier, um nach dem Rechten zu sehen. Die letzten Tage müssten sehr anstrengend gewesen sein."
Er spielt auf den Vollmond an und die Qualen, denen sich jede Werwölfin unterwirft. Eine Falle. Ich gehe nicht darauf ein.
"Entschuldigung, aber mir ist es nicht gestattet, ohne William ein Gespräch zu führen. Möchten Sie im Salon auf ihn warten?"
Der Mann kneift die Augen zusammen und mustert mich durch die Schlitze. Das selbstgefällige Grinsen wird noch breiter.
"Wenn du mir dort einen Martini servierst, mit dem ich mir die Zeit vertreiben kann."
Ein einfacher Knicks reicht aus, um seinen Befehl zu bestätigen. Dabei presse ich meine blutende Hand gegen meinen Bauch. Es stellt sich als schwierig heraus, mit nur einer Hand das gewünschte Getränk in ein Glas zu schütten, doch es gelingt mir. Schüchtern reiche ich es dem Vater und mache mich auf den Weg zu meinem Mann. Dieser ist bereits wach und knöpft sich gerade sein Hemd zu.
"Guten Morgen."
Der Klang meiner Stimme ist auch gegenüber William streng gewählt, denn der Vater lauscht sicherlich. Davon irritiert, neigt er seinen Kopf zu mir und das Blut an meiner Hand fällt ihm auf. Erschrocken läuft er auf mich zu, seine Augen werden bei jedem Schritt heller.
"Loretta, was hast du..."
So schnell ich kann, lege ich ihm meine gesunde Hand auf den Mund. Noch verwirrter als zuvor, mustert er mich. Ich lasse mich dadurch nicht aus meiner Rolle bringen.
"Dein Vater erwartet dich im Salon."
Seine Augenbrauen rücken zusammen als er begreift. Vorsichtig ziehe ich meine Hand zurück und mache den Weg für ihn frei. William wirft noch einen letzten Blick auf meine Hand und nickt in Richtung Bad. Dann strafft er seine Schultern und geht aus dem Raum.
Im Bad liegen ein paar Verbände bereit. William scheint mit Verletzungen gerechnet zu haben. Oder hat er selbst welche? Nur grob wickle ich meine Wunde ein, ohne die Scherbe zu entfernen. Alleine hätte ich es nicht einmal geschafft, wenn ich es darauf anlege. Außerdem will ich mich beeilen, immerhin haben wir einen Gast.
Die Männer hören auf zu reden als ich in den Raum komme und blicken mir erwartungsvoll entgegen.
"Tia mein Sohn. Du weißt jetzt bescheid und deiner schönen Frau wirst du sicher selbst davon berichten. Ich möchte mich nicht lange aufhalten."
"Wie du meinst."
Der Vater nickt, schlägt seinem Sohn zum Abschied gegen die Schulter und tritt mir gegenüber.
"Und du, Rotkäppchen, solltest besser auf das Haus aufpassen. Wir wollen doch nicht, dass der große, böse Wolf plötzlich in eurer Wohnung steht."
Er lächelt mich verschmitzt an und macht auf dem Absatz kehrt. Ohne ein weiteres Wort ist er verschwunden. Verwirrt drehe ich mich zu William um.
"Rotkäppchen?"
"Hast du heut schon mal in den Spiegel gesehen?"
Mit zusammengekniffenen Augen laufe ich ins Bad zurück. Ich weiche aber sofort einen Schritt zurück, als ich mich selber sehe. Meine Stirn ist komplett blutverschmiert, genauso wie mein Kleid. Der Verband um meine Hand wird nicht mehr lange halten, denn der weiße Stoff ist mittlerweile ebenfalls rot getränkt. Panisch zerre ich an meiner Kleidung und versuche geistlos den Schmutz von mir zu weisen.
"Loretta."
Seine tiefe Stimme löst mich aus meiner starren Haltung. Er legt seine rechte Hand an meine Schläfe und zwingt mich dadurch, ihm in die Augen zu sehen.
"Bleib ruhig. Das bekommen wir schon wieder hin."
Vorsichtig wickelt er den Verband ab und wirft ihn in den Mülleimer, ohne mit der Wimper zu zucken. Blut scheint ihm nichts auszumachen. Als er den Wasserhahn aufdreht, begreife ich zunächst sein Vorhaben nicht, doch er greift unter meinen Handrücken und führt die Fläche auf den Strahl zu. Mit zusammengebissenen Zähnen kann ich einen Schmerzensschrei unterdrücken. So schnell wie das Stechen in meiner Haut gekommen war, ist es auch wieder verschwunden. Entspannt schmiege ich mich an Williams Seite. Er lächelt sogar, während er die Scherbe aus der Wunde zieht.
"Da haben wir den Übeltäter. Willst du ihm noch etwas sagen bevor er in den Müll wandert?"
Ein erhobenes Kinn ist meine Antwort. Dann muss ich über uns lachen. Ich liebe es, wenn wir uns wie kleine Kinder benehmen. Einfach weil wir es das erste mal so richtig können. William stimmt in mein Lachen mit ein. Fest schlingt er einen neune Verband um meine Hand.
"Fehlt nur noch ein Trostpflaster. Aber wir haben keine Lutscher hier."
"Wie wäre es mit einmal pusten, damit der Schmerz vergeht?"
Sachte hebt er meine Hand an seinen Mund, bläst kurz gegen den Schmerz an und drückt noch einen Kuss auf meine Finger.
"Genug gescherzt. Wie geht es dir?"
Am liebsten hätte ich genickt und wäre ihm um den Hals gefallen. Das wäre aber eher kontraproduktiv und er würde sich noch mehr Sorgen machen. Woher sollte er denn Erscheinungen von Blutverlust und Verliebtheit unterscheiden können? Von mir selber genervt, schüttle ich den Kopf. William deutet das als Antwort auf seine Frage.
"Nicht? Hast du noch mehr Verletzungen? Dreh dich mal bitte."
Bevor ich ihm erklären kann, dass ich das nicht so gemeint habe, untersucht er schon meinen ganzen Körper.
"Macht dir der Bluterguss am Rücken Probleme?"
"Ich habe einen Bluterguss am Rücken?"
"Einen ziemlich großen sogar. Aber er scheint dich nicht zu beeinflussen."
"Nein, mir geht es wirklich gut. Ich bin einfach nur etwas benebelt. Dein Vater hat mich beinahe zu Tode erschreckt. Er stand plötzlich vor mir. Deshalb habe ich mich auch verletzt."
"Du solltest wirklich aufpassen, wenn du Türen offen stehen lässt. Er könnte jetzt öfter unangekündigt vorbeikommen."
"Was hat er denn gewollt?"
"Offiziell oder als Hintergedanken?"
Ich zucke mit den Schultern.
"Er hat einen neuen Kunden hier in der Nähe und muss diesem oft privat einen Besuch abstatten. Da dachte er sich, er könne einfach mal hier reinschneien und uns kontrollieren. Wie es hier so nach letzter Nacht aussieht zum Beispiel. Ob du dich auch wirklich gefügt hast."
Unglaublich. Mehr fällt mir darauf nicht ein.
"Er ist zufrieden mit dem, was er gesehen hat. Du gefällst ihm."
"Trotzdem wird er die Überraschungsbesuche nicht lassen, oder?"
"Ich bin derjenige, der ihm nicht gefällt. Mit dir hat er nie schlechte Erfahrungen gemacht und er stempelt die Geschichten deines Vaters als unglaubwürdig ab. Bevor du verheiratet warst, hat man ja auch nichts gehört. Von mir schon. Ich stand sogar in der Zeitung."
Fragend sehe ich ihn an.
"Ich hab ein Feuer gelegt, als mir kein anderer Weg mehr eingefallen ist, mich zu töten. Jeder, der meinen Vater damals kannte, wusste wer für den Brand verantwortlich war."
"Hätte das denn klappen können?"
"Es ist schmerzvoller als mit menschlichen Genen, aber durchaus effektiv. Man trocknet sich quasi schneller aus, als das Blut heilen kann."
Gedankenverloren starrt er aus dem Fenster. Er erinnert sich an die Zeit zurück.
"Wie lange warst du in den Flammen?"
"Sagen wir so; fünf Sekunden länger und mein Herz hätte die Belastung nicht mehr ertragen können. Dann wäre der Blutkreislauf stehen geblieben und damit auch die Heilung. Ich erspare dir jedes weitere Detail. Probiere es lieber nicht aus. Ich wünsche keinem solche Schmerzen. Nicht einmal meinem Vater und auf gar keinem Fall dir."
Nur mit Mühen kann ich den Kloß in meiner Kehle runterschlucken. Bedrückt senke ich den Blick und entdecke ein paar Blutstropfen am Boden. Noch mehr zum Reinigen. Ich nehme einen eh schon dreckigen Lappen von der Ablage und wische das Blut von den Fließen. Der abgenutzte Stoff landet im Wäschekorb, der schon fast überquillt. William sieht mir dabei zu, wie ich die Wäsche darin auf verschiedenen Haufen sortiere. Die Buntwäsche füllt die Maschine nicht ganz aus, doch ich will sie nicht wieder herausnehmen.
"Hast du noch etwas im Schlafzimmer?"
Ohne eine Antwort zu geben, verlässt er den Raum. Ich frage nicht, was seine strenge Miene zu bedeuten hat. Als er wieder vor mir steht, hält er mir ein Kleiderbündel entgegen.
"Das ist doch alles sauber."
"Ich denke aber, dass du nach einer Dusche nicht nackt herumlaufen willst."
Erst jetzt begreife ich, was er mir sagen will. Mein Kleid ist bunt. Zumindest war es bunt, jetzt ist es nur noch rot."
Etwas unbeholfen mit der verbundenen Hand, ziehe ich mir den Stoff über den Kopf. Ich lasse mir nicht anmerken, dass mich Williams Blick auf meinem Körper nervös macht. Ohne weiter Zeit zu verlieren, steige ich zum zweiten Mal heute in die Dusche.
Immer wieder färbt sich das Wasser unter mir rosa. So viel Blut kann ich doch nicht an mir kleben haben, oder? Erschrocken zucke ich zusammen. William hat an der Tür zur Dusche geklopft.
"Darf ich?"
Erst nicke ich, um dann zu merken, dass er das ja nicht sehen kann.
"Ja."
Ich drehe mich nicht um, als sich die Tür öffnet. Auch nicht, als sie sich wieder schließt und ich die Wärme des Wolfes hinter mir spüren kann. Er streicht über mein Rückgrat, bringt meinen Körper zum Beben. Ich genieße den Kontrast vom kalten Wasser und seinem heißen Atem in meinem Nacken.
"Du blutest."
"Das weißt du doch."
"Nein, das meine ich nicht. Deine Periode."
Daher kommt also das leichte Ziehen in meinem Unterleib. Ich hatte keinen weiteren Gedanken daran verschwendet, weil ich es als leichten Schmerz von letzter Nacht abgestempelt habe. Wenn die Regelblutung der Grund für den Schmerz ist, habe ich den Vollmond tatsächlich unbeschadet überstanden. Stolz drehe ich mich zu William um.
"Du hast also keine bleibenden Schäden verursacht gestern. Mir tut nichts weh."
Seine Mundwinkel heben sich leicht, wo ich ihm so entgegenstrahle. Ich komme mir unbesiegbar vor. In der schlimmsten Nacht des Monats ist mir nichts passiert. Der Abend war die Hölle, aber darauf ist ein völlig befreiender Tag gefolgt. Von dem überraschenden Besuch mal abgesehen.
"Begreifst du nicht? Ich habe keine Angst mehr. Der Vollmond beeinträchtigt uns nur wenn er erscheint. An keinem anderen Tag. Das schließt viele Tage aus, an denen wir die Methoden ausfeilen müssen."
Er legt eine Hand an meine Wange. Ich schmiege meinen Kopf hinein, doch er zieht sie zurück bevor ich richtig genießen kann.
"Was auch immer du dir erhoffst, Loretta, wir werden nie ein normales Leben führen können."
Seine Worte treffen mich wie ein Peitschenhieb.
"Das ist mir klar. Ich..."
"Lass gut sein. Du hasst Werwölfe und wirst es immer tun. Dieser Erfolg, den du grade verspürst, bringt dich näher an die Menschlichkeit. Genieße es, solange du noch kannst. Die Realität wird dich schnell einholen."
"Das hat sie bereits."
Ich brauche ihn nicht anzusehen, um zu wissen, dass er meine gemurmelten Worte genau verstanden hat. Vielleicht hat er Recht. Ich will möglichst menschlich sein. Aber das finde ich nicht falsch. Menschlich sein heißt doch nicht, dass ich mich dem Leben als Werwolfs entsage. Als ob ich das könnte. Und er macht mir einen Vorwurf, obwohl es ihm genauso geht. Warum machen wir denn dieses Experiment, warum hat er mich denn geheiratet? Weil er den menschlichen Teil seines Wesens bewahren will. Den Teil, der ihm sein Aussehen gibt. Den Teil, den unsere Väter kaum noch besitzen. Es scheint mir, als hätte William für heute vergessen, wie man kämpft.
Er sagt kein Wort mehr und sieht mich nicht einmal mehr an. Stattdessen ist sein Blick starr auf das Wasser gerichtet, das gerade seinen Weg entlang der Wand der Dusche und deren Wanne in den Abfluss wandert. Ich weiß nicht einmal, warum er zu mir herein gestiegen ist.
"Was machst du eigentlich hier? Deine Kleidung weicht doch durch."
"Ich wollte nach dir sehen. Du stehst schon eine halbe Ewigkeit hier drinnen, ohne auch nur einen Mucks zu machen. Ich hatte ein mulmiges Gefühl."
"Was hast du denn erwartet?"
"Keine Ahnung. Ist es denn falsch, dass ich nach dir sehen wollte?"
"Nein, natürlich nicht."
Wieder schweigen wir uns gegenseitig an. Vorsichtig dreht William sich von mir weg und steigt aus der Dusche. Ich habe schon erwartet, dass er einfach verschwindet, doch er stellt einen Fuß in die Tür und hält mir erwartungsvoll ein Handtuch hin. Wie benebelt drehe ich das Wasser ab und setze einen Fuß nach dem anderen auf den kalten Fußboden. Genauso wickle ich meine nasse Haut in das große Badetuch und dränge mich an William vorbei zum Schränkchen. Er benutzt das kleine Handtuch, um die Stellen auf seinem Hemd trocken zu bekommen, die der Wasserstrahl durchtränkt hat. Dann nehme ich mir eben ein weiteres vom Stapel und trockne meine Haare grob ab. William ist vor mir fertig und lässt mich alleine. Die Gelegenheit nutze ich, um mich selber fertig zu machen und mich auf meine Periode einzustellen. In einer Schublade im Schrank hat er mehrere Schachteln Tampons deponiert. Mein Mann scheint nicht wirklich einschätzen zu können, wie schnell die in etwa verbraucht werden. Leicht muss ich schmunzeln, der Vorrat wird wenigstens vier Jahre reichen. Das Lächeln vergeht mir sofort, denn meine Gedanken führen mich in eine komplett neue Richtung. Vielleicht hat er sich doch etwas dabei gedacht, vielleicht geht er davon aus, dass ich in vier Jahren keine Tampons brauche. Er erwartet schließlich, dass ich ihm ein Kind schenke. Entsetzt blicke ich der Frau im Spiegel entgegen, die mich anstarrt. Auf solche Ideen kann auch nur ich kommen. So weit plant nicht einmal er voraus und auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, ist absolut sinnlos. Viel mehr interessiert mich der Grund für sein Verhalten hier und jetzt. Warum ist er so kalt und distanziert? Warum hat die letzte Nacht kein befreiendes Gefühl auf ihn?
Vorsichtig gehe ich auf William zu, der gerade in einer Decke gewickelt auf dem Sofa sitzt. Ich kann nicht sehen, was er in den Händen hält, weil er mir den Rücken zugewandt hat. Die rechte Hand lege ich auf seine Schulter, doch er rührt sich nicht. Schwer schlucke ich und ziehe mich zurück. In der Küche finde ich eine nützliche Beschäftigung, während ich mich gleichzeitig über meinen Mann ärgere. Als ich fertig bin, fasse ich mir ein Herz. Mit all meinem Mut suche ich erneut seine Nähe. Er weiß genau, dass ich im Türrahmen stehe und auf ihn warte. Trotzdem bewegt er sich keinen Schritt von selbst.
"Das Essen steht auf dem Tisch. Wenn du nicht aufstehst, musst du es später kalt genießen."
Ruckartig erhebt er sich. Ein Schauer gleitet über seinen Körper. Wie eine Furie dreht er sich zu mir herum. Seine Stimme ist so laut, dass ich glaube, mein Trommelfell würde platzen.
"Weißt du wie egal mir ein kaltes Essen ist? Oder warmes Essen? Oder Essen allgemein? Ich ertrage das nicht mehr! Du hast doch keine Ahnung wie ich mich fühle!"
Immer weiter kommt er auf mich zu. Bedrohlich, aufgewühlt und von Wut zerfressen. Er drängt mich in die Ecke neben dem Kamin.
"Umso mehr Sekunden dieser Tag zählt, desto mehr hasse ich ihn. Hörst du? Verstehst du? Natürlich verstehst du nicht, wie solltest du auch?"
Hilflos muss ich dabei zusehen, wir er den Bilderrahmen in seinen Händen direkt neben meinem Kopf gegen die Wand schlägt. Das Glas darin zersplittert und legt das Foto darin frei. Er lässt die Bruchteile des Rahmens auf den Boden fallen und mustert das Bild zwischen seinen Händen ein letztes Mal. Eigentlich macht mir seine Demonstration hier höllische Angst, doch ich will der Sache auf den Grund gehen.
"Zeig mir das Foto."
Er dreht seine Hand leicht weg und macht mir die Sicht frei. Ein glücklicher Mann und eine zärtliche Frau sind darauf zu sehen. Er hat seinen Arm um ihre Taille geschwungen und sie lehnt im Gegenzug ihren Kopf an seine Schulter an. Trotz der Liebe, die offensichtlich zwischen den beiden herrscht, ziehen sich tiefe Sorgenfalten über die Stirn des Mannes.
"Deine Großeltern?"
Stumm nickt er.
"Ein schönes Bild. Sie sehen so warmherzig aus."
"Sahen ist der richtige Ausdruck. Sie sahen warmherzig aus, bis es sie innerlich zerrissen hat."
Ich zucke zusammen, als William das Bild in kleine Teile zerfetzt und mir die Reste vor die Füße wirft.
Unbeholfen sammle ich die Stücke ein und verstaue sie in er kleinen Schachtel. Ich bringe es nicht übers Herz, das Bild in den Müll zu werfen. William wird seine Tat sicher noch bereuen. Wobei das die Gründe für sein Handeln nicht gerade erklärt. Als ich die Schachtel zurück ins Regal stelle, sticht mir der Titel eines Buches ins Auge. "Der Einfluss der Frau" zieht mich in seinen Bann. Eigentlich sollte ich erst das andere Buch des Großvaters fertig lesen, bevor ich mich an das nächste wage, aber ich hoffe auf eine ganz bestimmte Antwort darin. Bin ich Schuld an Williams schlechter Laune?
Evelyn ist mein Fels in der Brandung. Ohne sie, würde ich ständig die Kontrolle verlieren oder nie zur Besinnung kommen. Ohne ihr Lachen würde meines für immer verstummen. Ihr Wohl liegt mir mehr am Herzen, als mein eigenes. Ich will ihr nicht wehtun. Umso vorsichtiger ich versuche, mit ihr umzugehen, desto mehr Schmerzen scheint sie wegen mir zu haben...
Die nächsten Seiten überblättere ich flüchtig. Die tiefe Liebe des Mannes zu seiner Frau ist zwar beeindruckend, jedoch in meiner Situation nicht hilfreich. Wie sehr ein Wolf seine Gefährtin braucht, ist mir auch so schon klar. In der Hälfte des Buches angekommen, gebe ich die Hoffnung schon beinahe auf. Doch dann stolpere ich über eine bedeutende Passage.
Es ist, als hätten unsere Rollen getauscht. Während sie völlig gelassen ist, solange sie ihre Regelblutung hat, scheine ich beinahe durchzudrehen. Meine schlechte Laune muss wirklich unerträglich sein, denn sie geht mir sogar aus dem Weg. Stimmungsschwankungen der Frau während der Periode, sind durchaus verständlich. Warum aber spielen meine Gefühle verrückt? Warum kocht das Blut in mir, sobald ich ihren Duft in der Nase spüre? Der Duft der Abweisung. Ich will es mir eigentlich nicht eingestehen, aber dieser Duft benebelt meine Sinne. Bei Vollmond sind wir beide erregt, bei Neumond erleben wir die ruhigste Nacht des Monats, das ist verständlich. Dass die Fruchtbarkeit der Frau aber auch einen Einfluss auf die Beherrschung der Wölfe hat, ist sicher nur denen bewusst, die sich darum kümmern. Also keinem. Die Woche der körperlichen Entsagung quält mein Wesen. Das Monster in mir erwacht und würde am liebsten wieder Morde begehen. Ich kann ihr das nicht sagen, denn das würde ihre schöne Seele zerstören. Nach noch mehr Nähe kann ich nicht verlangen, darf ich nicht verlangen. Sie erträgt doch schon so viel.
Perplex lese ich mir die Zeilen mehrmals durch. Seit William mein Blut gesehen hat, weist er mich zurück. Geht es ihm wie seinem Vorfahren? Hat er deshalb auf meine Freude so kalt reagiert? Die Periode macht mich auf eine gewisse Weise mit den Menschen verbunden. Ihn trennt sie noch weiter davon. Wie ein Peitschenhieb trifft mich die Erkenntnis. Er leidet, er fühlt sich allein. Tränen sammeln sich in seinen Augenwinkeln, als er in dem Essen vor sich stochert und ab und zu einen Bissen davon herunterschluckt. Lange halte ich es nicht aus, bis ich aus dem Schatten trete. Überrascht dreht er sein Gesicht auf die Seite und wischt sich über die Augen. Er will nicht, dass ich ihn weinen sehe. Neben seinem Stuhl gehe ich in die Hocke und will sein Gesicht zu mir drehen. Er steht aber auf und will weglaufen.
"Ich weiß, dass mein Duft dich abschreckt und anzieht zugleich. Wenn auch auf zwei verschiedene Weisen, aber das ist egal. Du kannst nach Nähe verlangen, so viel du davon brauchst."
Er hält mitten in der Bewegung inne. Ich nutze die Gelegenheit, um nach seiner Hand zu greifen und ihn mir nach zu ziehen. Missmutig folgt er mir ins Schlafzimmer, denn er scheint mich falsch zu verstehen. Sex hatte ich mit Nähe heute sicher nicht gemeint. Das merkt auch er, weil ich keine Anstalten mache, zum Bett zu gehen. Verwundert sieht er mir dabei zu, wie ich einen Flakon vom Schminktisch nehme und mir einen Spritzer auf mein Handgelenk sprühe. Dieser Duft hat ihm neulich so gut gefallen und das Parfum könnte meinen Duft etwas überdecken. Prüfend halte ich ihm meinen Arm unter die Nase. Genüsslich nimmt er den Geruch in sich auf. Beruhigt kann ich aufhören, den guten Geruchsinn von Werwölfen zu verfluchen. Stattdessen reibe ich mir auch den Hals mit dem künstlichen Duftstoffen ein und stelle mich offen vor William hin.
"Du bist nie alleine mit deinen Sorgen. Wozu hast du mich denn sonst geheiratet."
Meinem aufmunternden Lächeln schwingt ein glückliches Strahlen entgegen. Will schlingt seine starken Arme um meinen Körper und drückt mich fest an sich. Sein Atem kitzelt in meinem Nacken.
"Durch dich weiß ich, dass mein Großvater mich nicht einfach so zurückgelassen hat. Ohne ihn hätte ich niemals diese bezaubernde Frau in meinen Armen gefunden."
Leicht hebt er mich hoch und dreht sich mit mir im Kreis. Er setzt mich ab und drückt mir einen Kuss auf die Stirn. Wie ausgewechselt steht er vor mir. Warum kann die Welt nicht immer so zu mir sein?
Die nächsten Wochen passiert nicht sonderlich viel Nennenswertes. Morgens wenn ich aufwache ist William fort. Die Arbeit verlangt viel von ihm ab, vor allem wenn er danach noch mit mir eine Runde im Wald dreht. Oft versucht er von zu Hause aus zu arbeiten, doch dabei darf ich ihn auf keinen Fall stören. Den Fehler hatte ich einmal begangen und werde ich nie wieder machen. Solange ich alleine bin, lese ich die Bücher im Wohnzimmer nacheinander durch. Die Geschichten des Großvaters habe ich alle in mir aufgesogen, das einzige Tagebuch der Großmutter dient zu meiner Inspiration. Evelyn war eine unglaubliche Frau. Ich wäre gern so aufrichtig und liebevoll wie sie. Immer wenn ich eine ihrer Textstellen vor mir liegen habe, bereue ich die Lügen, mit denen ich meinen eigenen Mann strafe. Um diese Schuld von mir zu weisen, habe ich mein eigenes Tagebuch begonnen. Darin wird ganz ordentlich zusammengefasst, was ich die letzte Zeit so erlebt habe. Von den kleinen Experimenten in den Nächten mit William, über die wahnsinnige Lust in der mittleren Phase meiner Periode, den erholsamen Neumondnächten, in denen ich aber leider alleine war, und auch die weniger schönen Besuche meines Schwiegervaters. Erst gestern hat sich dieser für einige Tage bei uns einquartiert. Ausgerechnet für die Tage vor der Vollmondphase, was unsere Vorbereitungen dafür immens einschränkt. William ist kaum zu Hause und wenn doch, sitzt er in seinem Arbeitszimmer. In dieser Zeit gesellt sich sein Vater zu ihm, um über die Firma zu sprechen, aber ansonsten lauert der Mann mir auf. Es ist fast so wie in meinem alten Heim. Ich kann nichts tun, ohne in der Angst vor Bestrafung zu leben. Innerhalb der ersten drei Stunden musste mich William viermal vor den Augen seines Vaters schlagen, um nicht dessen Misstrauen zu erwecken. Ich lasse alles über mich ergehen.
Nachdenklich klappe ich das kleine Büchlein zu und verstaue es in meiner Unterwäsche. Dort würde William nicht nachsehen und sein Vater hat in unserem Schlafzimmer nichts zu suchen. Eigentlich. Wo er überall seine Finger hat wenn ich nicht hinsehe, will ich lieber gar nicht wissen. Es ist Zeit für meine Morgenroutine. Duschen, anziehen, Betten machen, kochen, putzen und die Bedienste der Männer spielen, bis es wieder Abend wird. Seufzend mache ich mich auf den Weg ins Bad und stoße dabei gegen Wills Brust.
"Entschuldige. Ich wusste nicht, dass du noch da bist."
Er beugt sich zu mir herab und drückt mir einen wunderbar zärtlichen Kuss auf die Lippen. Fragend sehe ich ihn an.
"Mein Vater ist ein paar Stunden bei seinem Kunden und ich kann für eine Stunde die Arbeit jemand anderem zuweisen."
"Wir sind allein?"
"Ja. Ich brauch eine Pause von dem allem hier und mein Vater hat auch seine Pflichten...also ja. Wie gesagt."
Er lächelt mich an, was ich strahlend erwidern kann. Unsere Bindung hat sich in den letzten Wochen sehr verstärkt. Obwohl er mich auch unbewusst vernachlässigt hat, doch das kann ich ihm einfach nicht übel nehmen. Ich stelle mich auf die Zehenspitzen und drücke meine Lippen wieder gegen seine. Viel zu schnell löst er sich von mir. Seine dunklen Augen zeigen mir, dass er sich gerade noch beherrschen kann, nicht einfach so über mich herzufallen. Er riecht gut, was die Schmetterlinge in meinem Bauch auch merken. Wild trommeln sie mit ihren Flügeln gegen mein Inneres.
"Du kannst dich für diesen Vollmond schlecht auspowern mit deinem Vater in unserer Nähe. Wieso hast du ihm erlaubt, so lange bei uns zu bleiben?"
"Er hat nicht wirklich gefragt, du kennst ihn doch. Was sollte ich ihm denn erzählen? Am Samstag wird er seine eigene Frau brauchen, also kannst du mich ohne sein Wissen wieder einsperren. Heute werde ich eben nicht schlafen gehen und mich mit meiner Arbeit beschäftigen. Das zerrt auch an meinen Kräften."
"Aber es ist nicht das gleiche, weil es nicht an der Kraft des Wolfes zerrt."
"Ich weiß."
Bedrückt mustert er auf unsere ineinander gelegten Hände. Wieder erwachen die Schmetterlinge zum Leben.
"Komm mit. In einer Stunde lässt sich viel anstellen."
An seinem Arm ziehe ich ihn in die Küche und lege ein Geschirrtuch als Augenbinde um seinen Kopf. Zum Test stelle ich die übliche Frage, ziehe dabei aber Grimassen, die ihn sonst zum Lachen bringen.
"Wie viele Finger halte ich hoch?"
"Drei?"
"Und jetzt?"
"Zwei?"
"Und jetzt?"
"Vier?"
"Okay, du hast keinen Schimmer, was ich wirklich mache."
Lachend schiebe ich ihn zum Kühlschrank und drehe ihn von mir weg. Leise schleiche ich mich zum Küchentisch und positioniere mich breitbeinig. Meine Kleidung habe ich auf dem Weg dahin verloren.
"Bin ja mal gespannt, wie du ohne deine Augen zurecht...Hey! Wie hast du es so schnell hergeschafft?"
"Der Geruch, den du verströmst, leitet mich auch ohne Sehkraft."
"Das werden wir ja sehen."
Ich schiebe einen Stuhl in seinen Weg, springe vom Tisch und renne weg. Beim Laufen reiße ich noch andere Hindernisse um und werfe sie ihm vor seine Füße. Mittlerweile knurrt er, das Spiel funktioniert also doch. Erst im Wohnzimmer packt er meinen Knöchel und bringt mich zum stolpern. Rückwärts robbe ich von ihm weg und ziehe mich auf das Sofa. Sein Gewicht landet auf mir und drückt mich in die Kissen. Es wäre sinnlos, jetzt noch weiter vor ihm flüchten zu wollen. Lieber öffne ich den Knopf seiner Hose und schiebe ihm die Jeans von den Hüften. Kaum eine Sekunde später füllt er mich aus. Stöhnend kralle ich mich in seinen Rücken. Er tut mir weh, aber ich kann es aushalten. Nach einem weiteren festen Stoß nimmt er die Augenbinde ab und wirft sie in die Ecke. Ein erneuter harter Stoß folgt, diesmal sieht er mir dabei in die Augen. Das war zu fest. Ein lauter Schrei aus meiner Kehle reißt ihn aus seiner Trance, das Schwarz in seinen Augen hellt auf. Sein Gesicht verzieht sich zu einer Grimasse, als er die Tränen in meinen Augen sieht. Vorsichtig zieht er sich aus mir zurück.
"Es tut mir leid."
Nach einem tiefen Atemzug kann ich wieder ein Lächeln über meine Lippen huschen lassen.
"Mach dir keine Sorgen. Es war nicht schlimm, ich war nur nicht mehr vorbereitet, nachdem du die Augenbinde abgenommen hast. Meine Schuld."
"Ja ich...empfand es als Schande, deinen Körper nicht zu würdigen."
"Was meinst du?"
"Als Frau hast du wirklich viele Reize, denen ich mich nicht so gerne entziehe."
"Ach ja?"
Grinsend fahre ich mit der rechten Hand seine Brust entlang und genieße tatsächlich, wie seine Augen umso dunkler werden, je tiefer ich gleite. Kurz vor der absoluten Dunkelheit drehe ich mich um und husche ins Bad. Ohne nach hinten zu blicken, kann ich spüren, dass er mir folgt.
"Ich hatte vor zu duschen, was ist mit dir? Du kannst dich ja hier hinstellen und warten, bis ich fertig bin."
Frech wende ich mich ab und greife nach der Seife. Wasserperlen ringen um einen Platz auf meiner Haut und gleiten an mir herab. William steht brav hinter mir und versucht sich zu kontrollieren. Eine unserer liebsten Methoden. Das Trainieren der Selbstkontrolle. Dieses Mal bin ich aber wirklich hinterhältig. Langsam, sodass er jede meiner Bewegungen genau verfolgen kann, reibe ich mich mit dem Schaum ein. Auf mein genießerisches Seufzen antwortet William mit einem erregten Knurren. Ich lehne den Kopf nach hinten und strecke ihm meine Brüste entgegen, während das Wasser seine Bahnen über meine Haut zieht. Noch ein Grollen ertönt aus seiner Brust. Meine Brustwarzen werden fest. Als er mich berührt, schießt ein Ziehen aus dem Unterleib durch meinen gesamten Körper. Jetzt ist die Lust auf meiner Seite. Ich will noch mehr spüren, ich will, dass er mich mit seinen Berührungen verbrennt. Mit seiner letzten Kraft schafft er es aber, zu widerstehen. Das lange Training macht sich ausbezahlt, auch wenn ich heute im ersten Moment wirklich etwas enttäuscht bin. Im zweiten Moment ist es aber gut, dass William sich zurückgezogen hat. Sein Vater ist zurück. Leise fluchend trocknet er sich ab und wirft auch mir ein Handtuch entgegen. Gerade rechtzeitig kann ich damit die nötigsten Stellen bedecken. Mein Schwiegervater tritt ohne Scheu zu uns ins Bad und redet mit William, als wäre es das Normalste der Welt.
"Ich habe einen neuen Auftrag für dich an Land gezogen."
"Das ist zwar nett gemeint, aber ich muss noch genug Zeug aufarbeiten, das die letzten Monate liegen geblieben ist."
"Tatsächlich? Das scheint aber nicht so wichtig zu sein, wenn du dich bis gerade eben noch mit deiner Frau vergnügt hast. Ich kann eure Erregung riechen."
"Jeder braucht mal fünf Minuten Pause. Lass uns in mein Büro gehen, dann können wir alles besprechen. Ich komme gleich nach."
Mit einem anzüglichen Grinsen verlässt er den Raum und lässt mich mit William zurück.
"Räum das Chaos in der Wohnung auf, aber sei gefälligst leise dabei. Ich will nicht gestört werden."
Der strenge Tonfall ist nur gespielt. In Wirklichkeit blickt mich Will ganz liebevoll an, mein liebstes Braun durchzieht seine Iris. Mit einem Zwinkern läuft er seinem Vater nach. Komplett angezogen versteht sich. Auch ich suche mir eine neue Kleidung aus dem Schrank, um nicht halb nackt durch das Haus zu laufen. Der unerwünschte Gast könnte mich sehen.
Ich habe noch nicht einmal geschafft, die Hälfte das Hauses einigermaßen wieder in Ordnung zu bringen, da werde ich schon aufgehalten.
"Du hast da was vergessen."
Misstrauisch drehe ich mich um. Williams Vater hält den BH hoch, den ich vor einer guten Stunde noch getragen hatte. Die Küche habe ich noch nicht gesäubert und gerade hasse ich mich dafür. Wieso konnte ich nicht dort anfangen? Jetzt war es jedenfalls zu spät. Ich greife nach meiner Unterwäsche, doch er hebt seinen Arm hoch. Dadurch trete ich aus Versehen näher an ihn heran und zaubere damit ein freches Grinsen auf das Gesicht vor mir. Er spielt mit mir und hat genau diese Position beabsichtigt. Ich kann nicht mehr weg, weil er seinen Arm um meine Taille legt und mich an sich zieht. Ihm ist klar, dass ich William wegen seiner Anweisung vorhin nicht stören darf. Also muss ich die fremden Hände an meinem Körper über mich ergehen lassen.
"Ich wusste von Anfang an, dass du einem Mann große Freude bereiten kannst."
Sein warmer Atem widert mich an.
"Und so wie es hier aussieht, fügst du dich meinem Sohn ganz brav. Zu blöd nur, dass ich euch vorhin stören musste. Ich habe meine Aktentasche vergessen. Hol sie her."
Er löst seinen Arm von mir und wartet, bis ich ihm die Tasche aus dem Gästezimmer hole. Ich unterdrücke auf dem Weg dort hin ein Würgen. Es ist nichts passiert, aber er stand kurz davor, mich an persönlicheren Stellen zu berühren. Die Gier in seinem Blick war kaum zu übersehen. Offensichtlich vermisst er seine Frau. Zumindest was sie ihm geben kann.
"Hier. Als Belohnung."
Unfreundlich wirft er mir den BH direkt ins Gesicht und verschwindet durch die Haustür. Nicht ohne einen letzten Kommentar versteht sich.
"Ich bin jetzt für exakt vier Stunden unterwegs. Treibt es nicht zu wild, sonst hält das euer Haus nicht mehr lange durch."
Lachend macht er sich aus dem Staub. Sein Humor ist abstoßend, löst in mir wieder einen Würgereiz aus. Ich stehe bewegungslos in unserem Hausflur, bis das Brummen des Autos sich in der ferne verliert.
"Was ist los?"
Hellbraune Augen mustern mich.
"Nichts. Dein Vater hat seine Akten geholt und ist für vier Stunden weg. Hat er zumindest behauptet."
"Aber deshalb stehst du doch wohl kaum regungslos mit Unterwäsche in der Hand hier herum, oder?"
"Es ist wirklich nichts. Ich bin nur...müde. Das ist alles."
"Ich glaube ich weiß, wie ich dich wieder wach bekomme."
Will zieht mich an seinen Oberkörper und wandert mit seinem Mund an meinem Hals entlang. Am liebsten würde ich die Liebkosung genießen, doch ich werde immer wieder an eine andere, unangenehme Nähe erinnert. Ein Schaudern fährt durch meinen Körper. William hält mich ein Stück auf Abstand und sieht mir in die Augen.
"Ich hasse es, wenn du mich anlügst. Hat er dir was getan? Du riechst nach ihm."
Ein Schluchzen aus meiner Kehle. Vorsichtig schüttle ich den Kopf.
"Nein. Aber ich habe damit gerechnet, weil er mir so nahe war. Die Begierde in seinen Augen und sein Atem auf meiner Haut...ich...mir wird schlecht."
"Was hast du gemacht?"
"Was hätte ich denn machen sollen? Er hat mich festgehalten!"
"Und wie hast du darauf reagiert?"
"Ich hab ihn machen lassen, was sonst. Ich hatte Angst, dass er in meine Gedanken eingreift und sich die Infos holt, die ihn nie erreichen sollten. Dann könnten wir gleich zu ihm hingehen und ihm die Wahrheit über unsere Ehe sagen."
"Er kann nicht an deine Gedanken. Selbst ich als dein Ehemann könnte nur Bruchstücke hören und deine Gefühle herauslesen. Das Band zu meinem Vater ist lange nicht stark genug dafür. Aber du hast trotzdem alles richtig gemacht."
"Meinst du, er vertraut uns jetzt?"
"Bestimmt nicht. Er traut keinem außer sich selbst. Er weiß nur, wie er seine Untergebenen beeinflussen kann. Das hast du ja gerade am eigenen Leib gespürt."
"Er macht mir Angst."
Und dann brachen sie aus mir hervor. Die Tränen, die ich seit der Anwesenheit des Vaters so zurückgehalten habe. William nimmt mich in den Arm und gibt mir einen Kuss auf den Haaransatz.
"Ich beschütze dich vor ihm so gut ich kann. Vertrau mir."
"Ich hab dich so vermisst."
Seine Umarmung wird fester, intensiver.
"Ich dich auch, meine Kleine. Wein doch nicht. Bald werde ich mich wieder richtig um dich kümmern."
"Aber du musst doch arbeiten."
"Das stimmt. Aber in ein paar Wochen ist wieder eine lange Pause. In der Hauptsaison steht nun einmal viel an, erst Recht wenn man sich mitten darin einfach mal nicht mehr kümmert."
"Na gut."
Ich löse mich von ihm und wische mit dem Handrücken die Tränen fort. Mit einem Kuss auf die Wange schicke ich ihn wieder an die Arbeit. Umso schneller er beginnt, desto früher ist er auch fertig. Auch ich gehe meinen Pflichten nach. Mir war nicht klar, wie lange man für die Beseitigung eines Chaos brauchen würde, dass innerhalb zehn Minuten entstand. Unglaublich. Als das Haus glänzt, die Wäsche in der Maschine langsam sauber wird und das Essen auf dem Tisch steht und herrlich duftet, rufe ich William zu mir. Mit zerzaustem Haar tritt er hinter mich.
"Eigentlich bin ich fertig, aber dein Vater ist noch nicht zurück. Willst du schon einmal essen, oder auf ihn warten?"
"Wie lange noch?"
"Eine halbe Stunde. Ungefähr zumindest."
Will beißt sich auf die Unterlippe während er nachdenkt.
"Für einen Lauf ist das zu wenig Zeit. Dann werde ich wohl doch noch den Vertrag fertig machen und erst später essen. Aber vorher will ich, dass du mit mir kommst."
Verwirrt folge ich ihm in unser Schlafzimmer. Vor dem Kleiderschrank bleibt er stehen und zieht ein Kleid heraus. Falls man das so nennen kann. Es gleicht eher einem Negligé.
"Seit wann haben wir den Dessous in dem Schrank hängen?"
"Seit ich die letzte Woche, kurz vor dem Besuch meines Vaters reingehängt habe. Ich dachte, das reizt und schwächt den Wolf vor dem Vollmond gleichzeitig."
"Und was soll ich jetzt damit?"
"Zieh das bitte heute Abend an, wenn ich aus meinem Büro zurück bin. Wenn mein Vater schläft, kann er uns schlecht belauschen."
"Ich werde sicher nicht mit dir schlafen, wenn dein Vater in der Nähe ist. Auch wenn er schläft."
"Dann hab ich ja noch einen Grund mehr, das Monster in mir zu kontrollieren."
Jetzt verstehe ich. Eine ähnliche Aktion wie in der Dusche. Aber ob das wirklich hilft? Es wird sich zeigen. Nachdenklich lasse ich den seidenen Stoff zwischen meinen Fingern gleiten.
Es ist jetzt zehn Uhr abends. William spricht noch ein paar letzte Worte mit seinem Vater, bevor sie beide zu Bett gehen. Eigentlich ist mir das Lauschen verboten, doch ich muss ja wissen, wann ich mich umziehen soll. Jetzt scheint ein guter Zeitpunkt zu sein. Ich schlüpfe in den dünnen Stoff und verstaue meine normale Kleidung in dem Korb in der Ecke. Den verführerischen Duft des Parfums lasse ich auch nicht aus. Etwas nervös platziere ich mich auf dem Bett und warte ab. Lange sollte es doch nicht mehr dauern, bis er zu mir kommt. Denke ich zumindest. Dass sich der Vater schon längst in sein Zimmer zurückgezogen hat, ist mir klar. Aber wo bleibt William? Den Rest des Gesprächs habe ich nicht mit angehört. Ich habe jetzt die Wahl, nach ihm zu sehen, oder noch weiter wartend liegen zu bleiben. Seufzend entscheide ich mich für das Zweite. In Dessous will ich sicher nicht durch das Haus laufen. Was wenn der Vater noch herumschleicht oder zufällig meinen Weg kreuzt? Und umziehen möchte ich mich nicht noch mal. Also lege ich meinen Kopf auf das Kissen und blicke erwartungsvoll der Tür entgegen. Nichts rührt sich.
Im Halbschlaf merke ich, wie mich plötzlich etwas warmes, weiches umhüllt und sich das Bett neben mir senkt. Was genau los ist, weiß ich nicht. Meine müden Augen zu öffnen erscheint mir im Moment wie das Schwerste der Welt.
Wie so oft werde ich von den Sonnenstrahlen auf meiner Haut geweckt. Verwirrt streife ich die Decke von meinen Beinen. Ich habe mich nicht selber zugedeckt. Schließlich bin ich wohl oder übel eingeschlafen, während ich vergeblich auf William gewartet habe. Neben mir ertönt ein ganz leises Schnarchen. Ich rüttle leicht an Williams Schulter. Er öffnet eines seiner Augen und schaut mich missmutig an.
"Du hast doch gesagt, dass du nicht schlafen willst. Da dachte ich..."
"Da dachtest du, du könntest mir vorschreiben, wann und wie lange ich schlafen darf. Verstehe."
Sein harter Ton verletzt mich. So war das natürlich nicht gemeint. Frustriert erhebe ich mich und hole mir anständige Sachen aus dem Schrank. In dieser Unterwäsche will ich nicht länger stecken. Völlig egal, ob William mir gerade einen faszinierten Blick zuwirft oder nicht. Diese Chance hat er sich gerade eben verspielt. Wütend knalle ich die Tür zu und laufe mit Morgenmantel aus dem Raum. Es sieht ihm nicht ähnlich, sich nicht an unseren Plan zu halten. Er hat eine der wenigen Chancen sausen lassen, sich auf die heutige Nacht vorzubereiten. Immerhin geht es dabei um meinen Schutz, der jetzt wankt. Um nicht noch mehr Unheil anzurichten, will ich mich schonen. Meine Kräfte werde ich noch brauchen.
Ungeduldig trommle ich mit meinen Fingern auf den Küchentisch. Jede Bewegung auf dem Ziffernblatt der Uhr macht mir Angst. Die Zeit wird knapp. Erst um halb neun am Abend hat mein Schwiegervater seine Koffer gepackt und ist auf dem Weg nach Hause. Seine grässlichen gelben Augen sind bei jedem Schritt zu seinem Auto dunkler geworden. Ich bin froh, als ich seinen Koffer verstaut habe und in das Haus zurückkehren kann. Der Mond steht schon hoch am Himmel. Vorsichtig drücke ich die Haustür auf und schließe hinter mir ab. Die Dielen knarren unter meinen Schritten. Auch als ich still stehe, geben sie leise Töne von sich. Ein Schatten hüllt mich ein. Plötzlich werde ich gegen die Wand hinter mir gepresst. Williams massiver Körper erzwingt meine Unterwerfung. Dann schubst er mich auf den Boden. Mit dem Kopf zuerst lande ich auf dem harten Untergrund und mir wird schwummrig. Noch bevor ich reagieren kann, wirft der Mann sich auf mich. Er erdrückt mich beinahe unter seinem Gewicht, doch das ist ihm egal. Er behandelt mich, als wäre ich unzerstörbar. Er tritt mich, zerrt an mir, hilft mir auf und zwingt mich wieder auf die Knie. In so einer Rage habe ich ihn noch nie erlebt. Dass jemand zu solchen Qualen fähig wäre, hätte ich mir nie in meinen schlimmsten Träumen vorgestellt. Geschweige denn, dass mein eigener Mann so handeln könnte. Mein panisches Kreischen hilft nicht gegen den Schmerz, den er mir zufügt. Eine Vergewaltigung ist ein Witz dagegen. Nach zwei Stunden werde ich bewusstlos.
In einen Autounfall war ich zwar noch nie verwickelt, aber so muss es sich ungefähr anfühlen, wenn man von einem Lastwagen überfahren wurde. Meine Arme und Beine brennen wie Feuer, jedes meiner Gelenke tut mir weh. Mein Rücken fühlt sich an, als würde ein Messer darin stecken, vielleicht sogar mehrere. In meinem Mund schmeckt es nach Blut und mein Schädel pocht wie verrückt. Spärlich kann ich mich an den gestrigen Abend erinnern. Wo bin ich überhaupt? Vorsichtig öffne ich erst ein Auge und als ich merke, dass wenigstens das nicht weh tut, öffne ich das zweite dazu. Schlafzimmer. Im Bett. Es ist Tag, allerdings nicht mehr lange. Die Sonne geht gerade unter. Leicht wage ich es, meinen Kopf weiter zu dem Fenster zu drehen und sehe William. Er hat mir den Rücken zugewandt und stützt seinen Kopf auf den linken Arm, den er an die Wand drückt. Ich will mich aufrichten, doch dabei durchzuckt mich wieder ein grober Schmerz. Wills rechte Hand ballt sich zu einer Faust und er wendet seinen Kopf in meine Richtung. Als er merkt, dass ich wach bin, weiten sich seine Augen kurz. Dann stößt er sich von der Wand ab und klettert zu mir ins Bett.
"Wieso weinst du, William?"
"Deine Schmerzen sind so stark."
"Das macht keinen Sinn. Was hat das mit dir zu tun?"
"Ich kann sie spüren. Alle. Ich weiß wie es dir geht also versuch erst gar nicht, wieder die Tapfere zu spielen. Ich kenn dich doch."
Er ist in meinem Kopf und fühlt meinen Schmerz.
"Wisch die Tränen weg und bleib aus meinen Gedanken, wenn du sie nicht erträgst."
Das klang etwas zu hart. Sein Gesicht verzieht sich zu einer gefühlslosen Maske und er steht auf. Auch von unserem Band zieht er sich zurück.
"Tut mir leid. Ich hätte dich nicht so ankeifen sollen."
"Oh Bitte. Fang du jetzt nicht an, dich zu entschuldigen. Sonst werde ich noch wahnsinnig. Du hast alles Recht, auf mich sauer zu sein. Was machst du da?"
Vorsichtig versuche ich, meine Beine aus dem Bett zu heben, um die Füße auf den Boden zu setzen. Mein Mann schreitet mir aber dazwischen. Er drückt mich zurück in die Kissen und sieht mir streng in die Augen.
"Du schonst dich jetzt. Ich werde dir dein Frühstück ans Bett bringen."
"Aber ich..."
"Nichts aber!"
Mit einem Kuss auf meiner Stirn als Abschied ist er schon aus der Tür verschwunden. Langsam lehne ich mich nach hinten, darauf bedacht, mir nicht wieder weh zu tun. Schneller als erwartet kehrt mein Mann mit einem vollen Tablett zurück. Er stellt es auf das kleine Tischchen neben mir und setzt sich auf die Bettkante. Ohne dass ich auch nur einen Ton von mir geben muss, reicht er mir das Glas mit dem Orangensaft. Das leere Gefäß nimmt er mir wieder ab und drückt mir einen Teller und eine Gabel in die Hand.
"Du weißt, dass ich nicht mehr als das kochen kann. Jetzt wird es wahrscheinlich noch scheußlicher schmecken, weil die Eier mittlerweile kalt geworden sind. Ich wusste nicht, dass du so lange schlafen würdest."
Eine weitere Botschaft schwingt in seinen Worten mit, jedoch kann ich sie nicht komplett entschlüsseln.
"Hast du noch was vor?"
Ein leichtes Lächeln huscht über sein Gesicht. Vielleicht hätte ich das Essen erst schlucken sollen, bevor ich spreche. Meine Manieren lassen zu Wünschen übrig, seit ich für mein falsches Benehmen nicht mehr bestraft werde. Beschämt halte ich mir die Hand vor den Mund.
"Iss. Du musst wieder zu Kräften kommen. Das ist das Wichtigste."
Den letzten Teil deute ich als Antwort auf meine Frage. Und trotzdem werde ich das Gefühl nicht los, dass William eigentlich etwas Besseres zu tun hat, statt mir Gesellschaft zu leisten. Er will es bestimmt nur aus Mitleid nicht sagen. Mein Eindruck verstärkt sich noch, als sich seine Augen ständig zur Uhr wenden. Wie lange er mir wohl etwas vorspielen würde? Extra langsam beiße ich von dem roten Apfel ab und kaue genüsslich vor mich hin. Tatsächlich spannt sich William noch mehr an, sagt aber nichts.
"Wie lange willst du hier noch auf heißen Kohlen sitzen? Sag schon, was so wichtig ist, dass du es kaum noch erwarten kannst."
"Merkt man mir das so stark an?"
Diese Frage lasse ich unkommentiert. Die Antwort ist ja wohl offensichtlich. Hätte ich denn sonst nachgehakt?
"Tut mir leid. Ich muss noch einmal in die Firma. Keine Ahnung, wie lange das dauert."
"Ist das dein Ernst? An einem Sonntag?"
"Ich hab die Unterlagen für das Meeting morgen und auf die können die Chefs nicht verzichten. Wenn ich die nicht abgebe, kostet mich das meinen Job."
"Na dann dürftest du doch gleich zurück sein, oder?"
Sein Blick zerstört alle meine Hoffnungen.
"Was denn noch?"
"Ich glaube kaum, dass du mich die nächsten Tage sonderlich oft zu Gesicht bekommen wirst."
"Aber wie sollen wir dann zusammen trainieren?"
"Naia. Du hast doch sowieso bald deine Tage und ich kann da nicht sonderlich viel ausrichten. Außerdem kennst du doch meine Laune in der Zeit..."
"Wie passend."
Meine Stimme trieft gerade so vor Sarkasmus. Er hatte sich das ja schon genau überlegt.
"Bitte Loretta, was soll ich denn machen?"
"Nichts. Schon gut. Du gehst in die Firma und lässt mich alleine hier. Hat ja die letzten Monate auch ganz gut funktioniert, wie man mir ansieht."
"Loretta."
"Lass gut sein. Ich will jetzt duschen. Kannst du mir bitte ins Bad helfen? Danach komme ich schon alleine zurecht."
Entschlossen schlage ich die Decke zurück und stütze mich auf Williams Arm. Eigentlich gefällt es mir nicht, auf seine Hilfe angewiesen zu sein, aber ohne Unterstützung würde ich keine zehn Schritte aushalten. Sobald ich stabiler auf meinen Beinen stehe, kann ich mich selber im Gleichgewicht halten. Der Schmerz wird erträglicher. Im Bad angekommen drehe ich mich um.
"Ist noch was?"
"Ich finde, dass du ziemlich undankbar bist."
Bevor er noch mehr sagen kann, knalle ich ihm die Zimmertür vor der Nase zu. Undankbar? Ich fühle mich, als sei ich gestern Abend in Stücke gerissen und heute morgen schlecht zusammengesetzt worden. Soll ich ihm für dieses Gefühl die Füße Küssen? Ich drehe das Wasser auf und ziehe mir vorsichtig die Kleidung vom Körper. Sollte ich William dankbar dafür sein, dass er sich im Nachhinein um mich gekümmert hat? Mich anziehen und mir Essen machen ist auch nett gewesen. Nur weil ich das nicht extra betone, bin ich undankbar? Das Wasser sollte mittlerweile warm sein und ich steige in die Dusche. Ohne vorher getestet zu haben, stelle ich mich unter den Strahl. Mein lauter Aufschrei hallt durch die Wände. So schnell ich kann, greife ich nach dem Wasserhahn. Der Druck des Wassers auf meinem Rücken hätte ein Todesstoß sein können. Knapp kann ich mich am Bewusstsein halten. Die Schmerzen drohen mich zu übermannen. Dafür soll ich ihm dankbar sein? Er hätte es verhindern können, oder zumindest mildern. Als er seine Arbeit mir vorgezogen hat, war es besiegelt. Mein Mann ist ein Werwolf wie jeder andere, egal wie sehr wir versuchen, dem entgegen zu schreiten. Hoffnungslosigkeit durchzieht mich. Zehn Jahre wollte ich aushalten und schon nach knapp zehn Monaten verlässt mich mein Mut.
Mit zusammengebissenen Zähnen kann ich mich wieder aufrappeln. Vorsichtig nehme ich den Duschkopf in die Hand und brause meine Haut sachte ab. Ab und zu vermischt sich das Wasser mit einer Träne, bis die Quelle versiegt ist. Meine Haltung richtet sich, das Kinn ist nach oben gestreckt. Fertig angezogen sitze ich im Wohnzimmer vor dem Kamin. Das Haus ist von Oben bis Unten aufgeräumt, so weit man das zumindest in der dunklen Nacht erkennen kann. Das Feuer hat meine Augen in seinen Bann gezogen, trotzdem kann ich Williams Nähe wahrnehmen. Seine Schlüssel klappern im Schloss, seine Schritte führen ihn direkt nach seiner Ankunft in sein Arbeitszimmer. Wohin auch sonst? Unzufrieden wende ich meine Aufmerksamkeit von ihm ab und verliere mich lieber wieder im Schein der Flammen. Sie schlingen sich um das Holz, verzehren es vollkommen. Das Holz knistert, als ob es nach Hilfe rufen würde, aber gegen die Macht des Feuers kann es nichts ausrichten. Der Stärkere gewinnt.
Eine Hand an meiner Wange weckt mich aus meiner Trance. Erschrocken weiche ich zurück.
"Du solltest schlafen gehen."
"Ich könnte jetzt kein Auge zumachen. Dafür habe ich mich den ganzen Tag über zu lange ausgeruht."
"Wie du meinst. Ich wollte jedenfalls in..."
"In dein Arbeitszimmer, schon klar. Soll ich dir Kaffee machen?"
"Nein. Ich will in den Wald. Schaffst du es, mich zu begleiten?"
"Oh. Ich denke...weiß nicht. Ich kann es ja probieren."
Ganz langsam erhöhe ich mein Tempo. Die Angst, sofort wieder von höllischen Schmerzen heimgesucht zu werden, ist zu groß. William scheint etwas genervt davon zu sein, dass er sich selbst auf meine Geschwindigkeit bremsen muss. Wahrscheinlich hätte er mich lieber nicht gefragt, ob ich ihn begleiten möchte. Frustriert bleibe ich stehen und warte, bis William auch seinen Lauf stoppt.
"Das war vermutlich keine so gute Idee. Ich bin dir nur ein Klotz am Bein. Du hast mehr vom Abend, wenn du alleine unterwegs bist."
Ohne auf seine Antwort zu warten, gehe ich wieder auf unser Haus zu. Ich kann mich gerade noch so auf den Beinen halten, als er plötzlich in meinem Weg steht und ich gegen ihn stoße.
"Hab ich was Falsches gesagt?"
"Nein, aber ich wollte dich jetzt nicht einfach so gehen lassen."
"Was ist denn dabei, wenn ich alleine zum Haus zurück gehe?"
"Du sollst dabei nicht schlecht von dir selber denken. Ich weiß, dass ich nicht gerade einen herzlichen Eindruck auf dich mache. Das tut mir leid. Es ist diese Phase, dein extrem abweisender Duft, der mich in Wolfsgestalt noch mehr von dir trennt. Ob ich will, oder nicht."
"Dann werde ich wohl wieder das Parfum benutzen müssen."
Er schmunzelt.
"Trotzdem hätte ich dich vorhin nicht so anschreien dürfen."
"Schon in Ordnung. Du hast eben viel zu tun und ich bin dir keine sonderliche Hilfe. Vielleicht bin ich ja tatsächlich undankbar. Du bemühst dich um unsere Zukunft, während ich..."
Meine Stimme versagt an dieser Stelle. Gut so. Ansonsten hätte ich sogar noch etwas gesagt, das mein gut behütetes Geheimnis ans Licht bringt. Wenn er in dieser Stimmung erfährt, dass mein eigenes Todesurteil noch immer nicht vom Tisch ist, könnte er völlig die Nerven verlieren.
"Was machen wir nur?"
"Ich will mich nicht streiten"
"Ich mich doch auch nicht. Ich weiß nur einfach nicht, wo mir momentan der Kopf steht. So schlimm wie in diesem Jahr war es noch nie in der Firma."
"Du brauchst mir nicht von deiner Arbeit erzählen. Du befasst dich schon lange genug damit, um dann auch noch in der Freizeit darüber zu reden. Ich lass dir jetzt deine Ruhe und probiere, doch schon schlafen zu gehen."
"Mach das."
Ein Kuss auf die Stirn und schon ist er verschwunden. Ehrlich gesagt bin ich ein bisschen stolz auf mich, dass ich mein Ego zurückgestellt und ihm den letzten Vollmond verziehen habe. Auch wenn das für William nur ein kleiner Trost ist. Mein Glücksgefühl schwindet ziemlich schnell auf dem Weg nach Hause. Erst als ich im Bett liege und die helle Farbe der Decke betrachte, kann ich aufatmen. Geschafft. Der vergangene Tag war merkwürdig. Hoffentlich spielt bald wieder eine andere Musik.
In einer Hand halte ich das Buch, mit der anderen krame ich im Kleiderschrank. Als ich den seidenen Stoff zwischen meinen Fingern spüre, ziehe ich das Kleidchen zwischen den anderen Sachen hervor.
"Da bist du ja."
Fasziniert streiche ich über die angenähte Spitze an den Rändern. William wird das wohl kaum gekauft haben, um mich darin dann nicht zu Gesicht zu bekommen. Entschlossen höre ich damit auf, auf meiner Unterlippe zu kauen und ziehe mir zum zweiten Mal das Negligé an. Weil ich mir dabei aber doch etwas komisch vorkomme, ziehe ich noch eine weite Hose und eine Weste drüber.
Mit einem leichten Lächeln decke ich den Tisch und hole das Essen aus dem Ofen. Als ich mich an dem Topf leicht verbrenne, kann ich ein leises Fluchen nicht unterdrücken. Zwei muskulöse Arme schlingen sich von hinten um mich.
"Das riecht gut."
"Na wenigstens etwas. Ich hab mir gerade höllisch weh getan."
"Ich hab nicht von dem Essen gesprochen."
Sein Mund wandert von meinem Ohr herab zu meiner Schulter. Leicht neige ich den Kopf auf die andere Seite und genieße seine Berührungen. Wie hatte ich das vermisst. Ein Glück, dass ich meine Periode hinter mir habe und mein Mann mich wieder richtig ansieht. Kaum zu glauben, aber seine Nähe hat mir wahnsinnig gefehlt. Am liebsten hätte ich mich noch ewig so verwöhnen lassen, aber er drückt sich von mir weg. Als ich mich umdrehe, stellt er gerade den Topf auf den Tisch und setzt sich auf einen Stuhl daneben. Er benebelt mich schon so, dass er mir sogar Gegenstände aus der Hand nehmen kann, ohne dass ich es bemerke. Verwirrt setze ich mich ihm gegenüber.
"Das war wie immer köstlich."
"Aber?"
"Nichts aber. Ist einfach so. Sag mal, wieso bist du so warm angezogen?"
"Mir ist kalt. Sieh mich nicht so fragend an, ist einfach so."
"Hm. Zu schade."
"Wie meinst du das?"
"Ich hatte eigentlich eine Überraschung für dich, aber wie es aussieht, werde ich sie dir doch erst morgen geben."
"Was für eine Überraschung?"
"Wenn ich dir das sage, wirst du hinterher wohl kaum überrascht sein, oder?"
"Ich kann ja so tun als ob."
"Nein, schon zu spät. Du bekommst dein Geschenk morgen."
"Ein Geschenk also. Wofür? Sag's mir. Bitte."
"Kommt nicht in Frage. Ich hab schon viel zu viel verraten."
"Und wenn ich dir im Gegenzug sage, warum ich das wirklich anhabe?"
"Du hast mich angelogen?"
"Lenk nicht ab."
Gekonnt gehe ich auf seine gespielt beleidigte Art nicht ein. Was er kann, kann ich schon lange.
"Ich muss noch schnell etwas aus dem Wohnzimmer holen und dann kann ich es dir zeigen. Geh am besten ins Schlafzimmer."
Das verwirrt ihn, genau wie ich es wollte. Trotzdem geht er meiner Anweisung nach und verlässt den Raum. Grinsend räume ich noch den Tisch ab und laufe nur zum Schein ins Wohnzimmer. Dort lege ich meine Kleidung ab und lege sie über die Lehne des Sofas. Ein Blick an mir herab genügt, schon schleiche ich mich leichtfüßig zu William. Kurz vor der Tür fahre ich mir mit den Händen durch die Haare und versuche einen verführerischen Blick aufzusetzen. Der nächste Schritt ins Schlafzimmer zeigt mir allerdings, dass ich zu lange gebraucht habe. William liegt auf dem Bett. Schlafend. Mit dem Buch in der Hand, das ich vorhin noch als Ratgeber benutzt habe. So viel zum Thema Liebesromane und Verführungskünste. Wenn der Mann schläft, helfen mir die besten Dessous auch nicht mehr. Vorsichtig nehme ich ihm das Buch weg und stelle mit Erschrecken fest, dass er es genau an der richtigen Stelle aufgeschlagen hat. Hab ich die etwa offen gelassen? Mit der linken Hand fasse ich mir an die Stirn. Ich bin so eine Idiotin. Jetzt weiß ich auch, warum William so ein dämliches Grinsen auf seinem Gesicht hat. Wahrscheinlich schwirren gerade tausend schöne Frauen in Reizwäsche um ihn herum, während die echte ihm beim Schlafen zusieht.
"Hmpf. War wohl nichts."
Ich sollte aufhören, ständig mit mir selbst zu reden. Tat ich doch sonst auch nicht. Von mir selbst verwirrt schüttle ich den Kopf und lege mich ebenfalls ins Bett. Das Licht ist bereits aus, die Vorhänge sind seit heute Mittag schon zugezogen. Schließlich fallen auch meine Augenlider zu und ich sinke in einen tiefen Schlaf.
Die Hand an meinem Hintern reißt mich aus meinem wilden, bunten Traum. Der Sinn hinter den Farben ist aber sofort vergessen, als die Hand sich weiter nach oben bewegt. Sachte streicht sie an meiner Seite hinauf und kehrt an meiner Schulter um. Dort wird sie von Williams Mund abgelöst, der sich langsam einen Weg zu meinem Hals vorarbeitet. Er kitzelt mich dabei ein wenig und ich kann ein leichtes Kichern nicht unterdrücken.
"Auch schon wach?"
"Musst du gerade sagen. Wer von uns beiden ist gestern einfach so eingeschlafen?"
"Ist ein Argument."
Lachend erhebt er sich, um sich dann aber nur noch mehr über mich zu lehnen. Seine Arme sind beiderseits von meinem Kopf abgestützt, damit sein Gewicht nicht auf mir liegt.
"Guten Morgen, meine Süße. Alles Gute zum Geburtstag."
Bevor ich etwas erwidern kann, drückt er seine Lippen auf meine. Geburtstag? Meiner? Heute? Tatsächlich geht meine Rechnung auf. Wie konnte ich meinen eigenen Geburtstag vergessen?
"Du wirkst überrascht. Hast du das etwa vergessen?"
Als ich nicke, lacht er wieder. Seine Laune heute ist grandios, während ich mich gerade etwas unwohl fühle. Dieses Datum hat mir bis jetzt nichts als Leid gebracht. Will ich das denn überhaupt würdigen? In drei Tagen ist Neumond, den würde ich gerne ausgiebig genießen. Aber heute feiern? Lieber nicht. William ist mir aber offensichtlich schon zuvor gekommen.
"Komm mit."
Er zieht mich aus dem Bett und auch noch weiter hinter sich her. An der Haustür angekommen, bleibt er aber abrupt stehen und kehrt um. Den ganzen Weg zurück zum Schlafzimmer trotte ich ihm nach. Dort wirft er mir einen dicken Pulli und eine Hose zu.
"Wir wollen doch nicht, dass du frierst."
Die Anspielung auf gestern konnte er sich nicht verkneifen, doch ich nehme es ihm nicht übel. Wie könnte ich auch?
Fertig angezogen folge ich ihm wieder zur Tür und warte gespannt auf die Überraschung. Zu meinem Verwundern ist es gar nichts, das ich mir extra draußen anschauen soll. Er holt nur ein Paket von der Veranda.
"Was hast du vor?"
"Wenn du das aufmachst und etwas siehst, das dir gefällt, darfst du es behalten."
Eine interessante Umschreibung für 'Hier ist ein Geschenk für dich. Ich hoffe es gefällt dir'. Gespannt schneide ich die Schleife vom Deckel und mache den Karton auf. Mehrere kleinere Tütchen sind darin verstaut. Eines nach dem anderen öffne ich und komme aus dem Staunen gar nicht mehr heraus.
"Du bist verrückt."
"Nein. Nur eigennützig. Dieses Kleid hier sollst du heute tragen. Mein Vater hat sich angekündigt und er wird nicht sonderlich gut auf mich zu sprechen sein. Wenn er diesen weiten Ausschnitt sieht, dazu deinen langen Beine, die in diesen Schuhen ausgezeichnet betont werden, und wenn er deinen Duft vermischt mit diesem Parfum in der Nase hat, wird er seinen Ärger bestimmt gleich vergessen. Hoffe ich zumindest."
"Und was ist mit der Kette?"
"Die ist das eigentliche Geschenk."
Das feine Metall liegt in meiner Handfläche und funkelt im Licht. Die kleinen Steinchen glitzern wie Diamanten. Es wäre William zuzutrauen, dass das sogar welche sind. Er nimmt mir die Kette aus der Hand und legt sie mir an. Den Blumenförmigen Anhänger schiebe ich selbst in die Mitte, dann lasse ich ihn unter dem Pullover verschwinden.
"Danke."
"Keine Ursache."
"Und warum konntest du mir das nicht gestern schon geben?"
"Erstens hattest du gestern nicht Geburtstag und zweitens wollte ich nicht, dass dir in dem kurzen Kleid kalt wird."
Er zwinkert mir zu und drückt mir eben dieses Kleid in die Hand.
"Wann muss ich mich denn umziehen?"
"Jetzt. Ich geh duschen."
Im Gehen knöpft er sich sein Hemd auf, dreht sich aber noch einmal zu mir herum.
"Bevor ich es vergesse, die Schuhe sind nur geliehen und dir vielleicht ein bisschen zu klein. Die musst du natürlich nicht länger ertragen als nötig."
"Von wem leihst du dir denn Schuhe aus?"
"Eine...gute Freundin hat eine Boutique. Oder meinst du, ich hätte dir alle Kleider in deinem Schrank alleine ausgesucht?"
"Da hab ich nicht drüber nachgedacht."
Viel mehr verwirrt mich, dass er so gestockt hat, als er die Freundin erwähnt hat. Ein Stich durchdringt mein Herz. Ob das die Frau ist, die er liebt? In letzter Zeit habe ich kaum einen Gedanken an meine Rivalin verschwendet, doch jetzt durchströmt mich wieder diese Eifersucht. Und ein Stückchen Trauer. Warum hat er sich nur an mich gebunden, wenn sein Herz einer anderen gehört? Er spielt mit meinen Gefühlen und weiß es wahrscheinlich nicht einmal.
Wir sitzen alle vor dem viel zu reichlichen Essen, das William bei dem Catering bestellt hat. Sein Vater, seine Mutter, mein Mann und ich. So viel Aufwand und nur mein Geburtstag soll dafür der Anlass sein. Ich zweifle. Irgend etwas anderes muss hinter diesem Anlass stecken. Doch solange sich William und sein Vater angeregt über die Arbeit unterhalten, darf ich nicht stören. Still kaue ich auf dem Brokkoli herum, den ich mit meiner Gabel aus dem Buttergemüse gefischt habe. Das Essen schmeckt gut, doch ich kann es nicht wirklich genießen. Auch wenn mir Williams Mutter ein aufmunterndes Lächeln schenkt. Sie merkt, dass ich mich nicht wohl fühle. Doch uns wurde nicht erlaubt, ein Gespräch zu führen. Unsere Männer könnten sich schließlich davon gestört fühlen. Ich hänge meinen Gedanken nach, um nicht bloß blöd auf meinen Teller zu starren, da werde ich angerempelt. Überrascht lasse ich die Gabel auf das teure Porzellan fallen und kann dem tadelnden Blick vom Vater nicht entgehen. Er schüttelt den Kopf.
„Also nein, William. Ich bin besseres von deiner Gattin gewöhnt.“
„Wem sagst du das. Sie lässt nach in letzter Zeit.“
Ich schlucke schwer. Was sollte das? Erst stößt er mich im vorbeigehen an und dann darf ich auch noch den Ärger dafür einstecken. Ich muss mir auf die Zunge beißen, um meinem Groll nicht versehentlich vor seinen Eltern Luft zu machen.
„Wir sollten ins Büro wechseln und unser Gespräch dort fortsetzen. Da können wir zumindest ungestört reden. Loretta, kümmere du dich um den Abwasch.“
Ich nicke und senke den Blick. Langsam erhebe ich mich vom Stuhl. Ganz vorsichtig, darauf bedacht, dass der Saum meines Kleids nicht versehentlich zu weit nach oben rutscht. Es war knapper, als es zunächst ausgesehen hat. Freiwillig hätte ich mir das nie angezogen, aber mein Mann wird schon wissen, was er damit bezweckt. Auf seine Erklärung bin ich jedenfalls gespannt.
Als die beiden hinter der Tür des Arbeitszimmers verschwinden, kommt mir die Mutter zur Hilfe. Sie greift nach den Tellern und trägt sie mir voraus in die Küche. Leise bewegt sie sich fort und lächelt mich an. Sie ist nett. Ob sie wohl weiß, was der Grund für dieses große Treffen ist? Unbedeutende Geburtstage werden sonst doch auch nicht mit einem teuren Essen gefeiert. Zumindest nicht dort, wo ich meine Kindheit verbracht habe. Ich greife nach der Weinflasche, die von den beiden Männern fast geleert worden ist und will sie zusammen mit den Gläsern in die Spüle stellen. Doch als Williams Mutter mir mit dem abgeräumten Tablett aus der Küche wieder entgegenkommt, habe ich sie nicht kommen sehen. Der Wein aus dem Glas ergießt sich über mein gesamtes Kleid und klebt den Stoff an mich. Das Glas fällt zu Boden und zerbricht in tausend kleine Scherben. Ein Fluch kommt über meine Lippen, auch wenn das in Anwesenheit meiner Mutter ihr Herz gebrochen hätte. Ich kniete mich auf den Boden, um die Scherben aufzuklauben und ignoriere die schweren Schritte, die aus dem Arbeitszimmer auf mich zukommen. Ich sehe nicht auf, als sich Williams schwere Hand auf meine Schulter legt, doch er zwingt mich in einem harten Griff dazu, mich vor ihm zu erheben. Seine Handfläche landet in meinem Gesicht und ich kann die Tränen nicht unterdrücken. Auch wenn ich sehen kann, dass seine Augenfarbe ein ganzes Stück aufhellt, so behält er seine skrupellose Maske auf.
„Verzeiht mir Vater, aber ich würde Euch gerne den Anblick meiner ungeschickten Frau ab jetzt ersparen. Könnten wir unser Gespräch vielleicht morgen in der Firma zu Ende führen?“
„Was hast du denn mit ihr vor?“
„Zuerst soll sie aus diesem Kleid schlüpfen und es waschen. Mit der Hand. Es war teuer. Sie soll zusehen, dass kein Weingeruch mehr daran klebt. Und sie kann den Boden wischen. Wenn sie noch etwas kaputt machen sollte, werde ich mir deinen Vorschlag von vorhin vielleicht noch einmal ernsthaft durch den Kopf gehen lassen.“
„Das solltest du wirklich tun. Dann lass dich nicht aufhalten.“
Provokativ steht der Mann vor mir uns mustert mich abfällig. Drei Augenpaare sind auf mich gerichtet. Williams Mutter wirft mir einen entschuldigenden Blick zu. Sie weiß genauso gut wie ich, dass sie an unserem Zusammenprall ebenso Schuld trägt und ich nicht alleine dafür verantwortlich bin.
„Also, Loretta? Du hast deinen Mann gehört.“
Ich will umkehren und im Schlafzimmer neue Kleidung holen, da werde ich am Arm gepackt. Die Pranke, die ich so sehr hasse, hat sich um mein Handgelenk geheftet.
„Dein Mann hat nichts von weglaufen gesagt.“
Hilfe suchend wende ich meinen Blick zu William.
„Darf ich mich im Schlafzimmer umziehen?“
Bevor mir mein eigener Mann antworten kann, schneidet ihm sein Vater ins Wort.
„Willst du den Boden dort etwa auch mit Wein einsauen? Du brauchst dich doch vor deinem Gatten nicht genieren, wenn du dich entkleiden sollst. Und vor mir auch nicht.“
Er entblößt eine perfekt gepflegte Zahnreihe, als er mich schelmisch anlächelt. Mir wird schlecht. Ein Kloß steckt in meinem Hals. Zitternd, unter den Blicken aller Anwesenden, lasse ich meine Hand zu dem seitlichen Reißverschluss wandern, der das Kleid an meinem Körper hält. Es kostet mich viel Überwindung, den Stoff vor Wills Vater auf den Boden sinken zu lassen und nur noch im Höschen bekleidet vor den Werwolfsmännern zu stehen. Ich wünsche mir in diesem Moment so sehr, dass ich mich doch für einen BH entschieden hätte, doch nun ist es zu spät. Um mich vor den gierigen, dunklen Blicken des Vaters zu schützen, halte ich mir meine Arme vor die Brust. Er greift danach und zerrt sie weg. Ich soll mich im Kreis drehen und folge seiner Handbewegung gehorsam. Unter seiner Musterung vergehe ich beinahe. Am liebsten würde ich die Flucht ergreifen und nie wieder umkehren. Mein Herz pocht wild.
„Du solltest dir meinen Vorschlag nicht nur vielleicht durch den Kopf gehen lassen, mein Sohn. Sie ist zu einem Schmuckstück geworden.“
Er will mich näher an sich ziehen, doch endlich geht William dazwischen.
„Sie ist immer noch meine Frau.“
Ein Knurren schwingt in seiner Stimme mit und ich bin ihm dankbar für seinen bedrohlichen Blick. Denn nun lässt sein Erzeuger endlich die Finger von mir und tritt die Heimreise an. Ohne, dass seine Frau zu Wort kommt, nimmt er sie mit sich und verabschiedet sich knapp von uns.
„Ich meine es ernst, William.“
„Das weiß ich.“
Er ist verschwunden. Ohne mich zu bewegen, lausche ich dem Motorgeräusch des Autos in der Auffahrt und kann mich bei dem verklingenden Brummen etwas beruhigen. Die Eltern entfernen sich. Wir sind wieder alleine. Ein Schluchzen bahnt sich seinen Weg durch meine Kehle. Fester schlinge ich die Arme vor meiner Brust zusammen, als William mich ansieht. Er will zu einer Entschuldigung ansetzen, doch auch ich lasse ihn nicht ausreden.
„Lass es. Ich will das nicht hören. Soll ich ab jetzt immer nackt im Haus herumlaufen, wenn dein Vater hier auftaucht? Soll ich mich vielleicht noch Musik hinterlegen, wenn ich einen Tanz aufführe? Oder meinen Körper um eine Stange wickeln, damit sich unser Gast auch pudelwohl bei uns fühlt? Soll ich…“
Weiter komme ich nicht, denn Williams Hand landet erneut auf meiner Wange. Der Klang des harten Schlags hallt durch die kahlen Wände. Entsetzt sehe ich ihn an. Als ob ich mir nicht sicher wäre, dass er das gerade wirklich getan hat, taste ich mir mein Gesicht ab. Er sieht nur halb so schuldbewusst drein, wie ich es von ihm erwarte. Erneut bahnen sich meine Tränen ihren Weg an die Oberfläche. Diesmal kann ich sie jedoch nicht zurückhallten. Meine Unterlippe zittert, als ich meinen Gefühlen freien Lauf lasse. William zieht mich in seine Arme und legt seine Hand schützend an meinen Hinterkopf. Mein Gesicht landet an seiner Schulter und ich wehre mich nicht gegen seine Nähe. Auch wenn ich ihn am liebsten anschreien würde und meine komplette Anspannung an ihm auslassen würde, reiße ich mich zusammen. Es stört mich nicht, dass ich nackt bin. Es stört mich nicht, dass ich seine Erregung an meinem Bauch gepresst spüren kann. Aber es stört mich, dass ich mich ihm nicht entgegen setze.
„Warum tust du das?“
„Ich weiß nicht. Vielleicht drehe ich langsam einfach nur durch.“
Er lässt von mir ab und hält mich auf einer Armlänge Abstand.
„Es tut mir leid, Loretta. Ich hätte dich nicht schlagen dürfen.“
Ich übergehe seinen reuevollen Blick und schlucke meine Tränen hinunter.
„Was wollte dein Vater von mir? Von welchem Vorschlag hat er gesprochen?“
„Ich würde das lieber nicht heute mit dir besprechen. Ehrlich gesagt würde ich das ganze Thema einfach abhaken. Es ist widerlich. Und ich würde nicht zulassen, dass er dich dazu drängt.“
„Willst du mir nicht einmal sagen, worum es geht.“
Er legt seine Hand unter mein Kinn und zwingt mich, ihm in die Augen zu sehen.
„Nein.“
Unter seinen plötzlich verdunkelten Augen zucke ich zusammen. Er lässt mich los und marschiert in die Küche. Ohne mich erneut anzusehen, kehrt er die Scherben mit dem gerade besorgten Besen auf und beseitigt mein Chaos.
„Du musst das nicht machen. Bestimmt hast du noch etwas im Büro zu tun.“
Er ignoriert mich.
„William. Ich kann das selber weg machen. Du musst nicht…“
Erneut unterbricht er mich mitten im Satz. Er knallt die Handschaufel auf den Boden und kehrt aus seiner Hocke in eine aufrechte Position zurück.
„Kannst du bitte aufhören, mich bevormunden zu wollen. Du bist nicht mein Vater. Ich weiß selber, was ich zu tun und zu lassen habe.“
Er baut sich vor mir auf und hebt die Hand, als ich den Mund öffne. Erschrocken fahre ich zurück und weiche ihm aus. Ohne daran zu denken, mich ihm eigentlich unterwerfen zu müssen, flüchte ich ins Bad und schließe die Tür hinter mir ab. Ich will nicht schon wieder geschlagen werden. Die Angst wütet bis in meine Knochen und ich halte den Atem an. Seine Schritte nähern sich meinem Rückzugsort. Er soll mich in Ruhe lassen. Ich habe nichts Schlimmes getan.
„Bitte William. Ich hab Angst.“
Ohne etwas auf meine Worte zu reagieren, drückt er die Klinke. Er rüttelt an dem Holz, als er merkt, dass ich abgeschlossen habe.
„Mach auf.“
Anders als erwartet klingt seine Stimme weder wütend, noch genervt. Im Gegenteil. Doch ich traue mich trotzdem nicht, den letzten Schutzwall zwischen uns aufzugeben.
„Bitte.“
Ich gehe auf die Tür zu und lasse meine Hand auf dem Schlüssel liegen. Noch habe ich ihn nicht gedreht und es kostet mich Überwindung, die ich nicht habe. Ich lasse meine Stirn gegen das kalte Holz fallen. Einzelne Tränen stehlen sich aus meinen Augenwinkeln. Ich kann spüren, wie sich in mir langsam etwas regt. Ich merke, wie etwas von der anderen Seite gegen das Holz kratzt. Ganz leise. Ein Gefühl von Verzweiflung überkommt mich. Angst. Selbsthass. Abscheu. Trauer. Sie stammen nicht von mir. Erst spät registriere ich, dass William wohl unsere innere Verbindung aufgenommen haben muss. Eine weitere Welle von tiefem Bedauern durchzuckt mein Herz und ich halte es nicht mehr aus. Ohne zu zögern drehe ich den Schlüssel, reiße die Tür auf und werfe mich in seine Arme. Er zittert. Ich lasse meine Finger zwischen seine Haare gleiten und atme seinen Duft tief ein. Einen Kuss nach dem anderen hauche ich auf seinen Nacken. Ich will, dass es ihm besser geht. Egal wie viel Angst ich zuvor noch vor ihm hatte. Ich kann ihn nicht leiden sehen. Meine Lippen wandern weiter an seinem Kinn entlang und ich schiebe eine meiner Hände weiter nach unten an seinem Körper entlang. Zart schiebe ich meine Fingerspitzen unter seinen Pullover und spüre die krausen Härchen unter meiner Haut. Seufzend atmet er aus und lässt meine Liebkosung über sich ergehen. Ich kraule seinen Nacken und schiebe meine Hand weiter unter sein Oberteil. Seine Muskeln sind bis zum Zerreißen gespannt und ich löse mich leicht von ihm. Ohne einen Ton zu sagen, sehe ich ihm eindringlich in die Augen. Ich greife nach seiner Hand und ziehe ihn mit mir ins Bad. Er protestiert nicht, als ich ihm die Kleidung vom Leib streife.
„Zieh die Strümpfe aus.“
Ich lege so viel Fürsorge in meine Worte wie möglich, während ich mich über den Beckenrand beuge und das Wasser der Badewanne aufdrehe. Er gehorcht mir uns sieht dabei zu, wie ich die Tür abschließe und Badeöl in das heiße Wasser kippe. Der fruchtige Duft von Erdbeere und Apfel breitet sich um uns herum aus, als sich der Schaum in der Wanne immer weiter nach oben bewegt. Ich binde mir meine Haare in einem unordentlichen Pferdeschwanz zusammen und streife mir meine Unterhose von der Hüfte.
„Komm her.“
Ich breite die Arme aus und nicke William zu. Er kaut auf seiner Unterlippe herum und ich kann mir ein kleines Schmunzeln nicht verkneifen. Er folgt meiner stummen Aufforderung und setzt sich in das frisch eingelassene Bad. Ich folge ihm und schwinge meine Beine geschickt über den Rand. Ohne auf einen möglichen Protest zu achten, setze ich mich auf seinen Schoß und kuschle mich an ihn. Mit den Zehenspitzen drehe ich den Wasserhahn am anderen Ende des Beckens zu und widme mich dann wieder Williams Hals. Ganz zart knabbere ich an seiner Haut und entlocke ihm ein leises Stöhnen. In meinem Bauch flattern die Schmetterlinge und ich überlege, ob ich mein Vorhaben tatsächlich umsetzen soll. Doch noch bevor ich mein Bein über seine Hüfte schwingen kann, presst er mich näher an seinen Oberkörper.
„Du bist unglaublich.“
Wie in Trance streicht er mir meine Haarsträhne aus dem Gesicht, die sich wohl aus meinem Zopf gestohlen hat. Ich genieße seine Nähe und kann ein leises, genüssliches Gurren nicht unterdrücken, als seine Hand um meinen Brustansatz kreist. Seine Augen verdunkeln sich zunehmend, als ich mein Stöhnen nicht zurückhalte.
„William. Wir müssen nicht über das reden, was dich heute so fertig macht. Es ist mir zwar ein Rätsel, was genau zwischen dir und deinem Vater vorgefallen ist, dass du sogar in seiner Abwesenheit keine Kontrolle mehr über dich hast. Aber ich weiß, dass du mir niemals ernsthaft weh tun willst. Ich will nicht, dass du dir Selbstvorwürfe machst und dich mit Hass herumquälst. In Ordnung?“
„Du bist unglaublich.“
In seiner Stimme schwingt ein Hauch Faszination mit, als er seine Aussage von vorhin wiederholt. Ich kann ein Grinsen nicht unterdrücken und fühle mich nun bereit dazu, den nächsten Schritt zu wagen. Ein Keuchen entringt seiner Kehle, als ich mich auf sein Geschlecht setze und er sich unerwartet tief in mein Fleisch bohrt. Ich will seine Überraschung weiter an die Spitze treiben und bewege mich langsam auf ihn. Ohne jegliche Erfahrung in dieser Position zu haben, stelle ich mich vermutlich etwas ungeschickt an, doch es reicht, um seine Iris schwärzen zu sehen. Er packt mich mit seinen großen Händen beiderseits an den Hüften und treibt mich mit festen Stößen weiter vorwärts. Das Wasser um uns schwappt aus der Wanne, doch das ist egal. Noch nie hat sich sein Kontrollverlust so gut angefühlt und ich wollte mehr. Ich drängte mich näher an ihn, wollte ihn tiefer spüren. Niemals hätte ich geglaubt, dass ich ihn genießen könnte. Dass er meine Lust weiter antreiben kann. Und als er sich mit einem lauten Stöhnen in mir kommt, bricht die Welt um mich herum zusammen. Erschöpft lasse ich mich auf seine Brust fallen und atme schwer aus. Besitzergreifend schlingt William seine Arme um mich und streicht mir sanft über den Rücken. Eine Weile sagen wir nichts, doch dann scheint seine Neugier langsam zu siegen.
„Loretta?“
„Hm.“
Mehr bringe ich nicht hervor und er lacht leise. Unbeschwert. Ich kann ein Lächeln nicht unterdrücken.
„Kann es sein, dass du gerade einen Orgasmus hattest?“
„Schon möglich?“
Er schiebt seine Hand unter mein Kinn und hebt meinen Kopf an. Er streicht mir über die vor Scham erröteten Wangen.
„Das muss dir doch nicht peinlich sein. Im Gegenteil. Du hast keine Vorstellung davon, wie sehr du mein Männerego gerade in die Höhe getrieben hast. Und mein Wolfsego. Und mein Ehemannego.“
„Sonst noch was?“
Herausfordernd sehe ich ihn an. Er haucht mir einen Kuss auf die Lippen und hebt sein Becken so an, dass er aus mir hinaus gleitet. Ein erneuter Kuss wird mir entgegengehaucht.
„Ehrlich gesagt schon. Ich bin froh, dich geheiratet zu haben. Du an meiner Seite bist das Beste was mir je passieren konnte. Ich…“
Ich bremse seinen Redeschwall mit einem weiteren Kuss. Wärmstes Braun strahlt mir entgegen, als er den Mund erneut zu einer Antwort öffnet. Diesmal funkt ihm aber der Klingelton seines Handys dazwischen. Genervt greift er nach seiner Hose, die am Boden vor der Wanne liegt und kramt es aus seiner Hosentasche hervor.
„Ich will es nur kurz abschalten. Wo ist das blöde Ding? Ah hier. Ich…oh.“
Sein Daumen schwebt über der Taste mit dem roten Telefonhörer, um den Störenfried wegzudrücken. Doch er hält in seiner Bewegung inne, als er den Namen des Anrufers erkennt. Ohne darauf zu achten, dass er mich in eine äußerst unbequeme Lage befördert, springt er beinahe fluchtartig aus dem Wasser und krallt sich ein Handtuch von der Ablage. Er nimmt den Anruf nun ohne weiteres Zögern an und trocknet sich mit der freien Hand einigermaßen ab. Ohne einen Blick an mich zu verschwenden, verlässt er das Badezimmer und lässt mich mit einem unguten Gefühl in der Wanne sitzen. Wer ist Hanna und warum lässt er mich wegen ihr sitzen?
Ich bemühe mich sehr, sein Telefonat nicht zu belauschen und lasse das Wasser in der Wanne durch meine Finger hindurch gleiten. Die Wärme prickelt auf meiner Haut und erinnert mich daran, was wir kaum zehn Minuten zuvor gemeinsam darin erlebt haben. Ich kann ein leises Seufzen nicht unterdrücken und bin über mich selbst verärgert. Ich wollte schon längst damit aufgehört haben, mir Sorgen zu machen. Vor allem aber will ich mich nicht abserviert fühlen. Alleine. Im Bad. Während er mit einer anderen Frau spricht. Erneut seufze ich.
In dem Entschluss, mich nicht so gehen zu lassen, steige auch ich aus der Wanne. Mit schnellen Griffen habe ich mich abgetrocknet und bin in ein Handtuch gehüllt. Ich lasse das Wasser ab und sehe dem Schaum zu, wie er in die Tiefe gezogen wird. Mit einem Lappen wische ich den überschwemmten Boden ab. Solange ich etwas tun kann, dringen Williams Worte nicht so leicht zu mir vor. Ich will sein Lachen nicht hören. Auch wenn er glücklich klingt. Ohne mich. Frustriert lasse ich den Lappen sinken und erhebe mich von den kalten Fließen. Auch wenn ich versucht habe, über den Rest der Pfütze hinweg zu steigen, kann ich nicht ganz verhindern, dass ich nasse Fußabdrücke auf dem Weg zum Schlafzimmer hinterlasse. Dort angekommen ziehe ich die Tür hinter mir zu und hänge das Handtuch an einen Haken. Nackt stehe ich vor dem großen Kleiderschrank und suche mir etwas möglichste Bequemes zum Anziehen heraus. Ich will schlafen. Völlig egal, wie spät es eigentlich gerade ist. Ich will meine Ruhe. Von allem.
Als es an der Tür klopft, schrecke ich aus meinem Schlaf hoch. Ich weiß zunächst nicht recht, wo genau ich bin und wie spät es ist, doch diese Sorgen sind schnell vergessen. Eine schwarzhaarige Frau steckt ihren Kopf durch den Spalt und lächelt mich nett an.
„Darf ich hereinkommen?“
Ohne zu wissen, wen ich da gerade vor mir habe, nicke ich unbeholfen. William ist nicht zu sehen. Die Frau reagiert auf meine Kopfbewegung mit einem breiterem Lächeln und schiebt sich ganz durch die Tür. Sie ist groß, rundlich gebaut, aber nicht dick. Nachdem sie die Tür hinter sich abgeschlossen hat, kann ich ihr Gesicht genauer mustern. Sie ist deutlich älter als ich. Ein paar Falten schmücken bereits ihre Haut und in ihre Augen glänzen quasi vor Lebenserfahrung. Ihr Blick schweift kurz über die Einrichtung des Schlafzimmer, als sie weitere Schritte auf mich zugeht. Unbeholfen ziehe ich die Decke an mein Kinn, um mich weiter dahinter verstecken zu können. Warum ich das mache, weiß ich selbst nicht genau. Ohne zu fragen, nimmt die Fremde an der Bettkante neben mir Platz und streckt mir die Hand hin.
„Hallo Loretta, ich bin Hanna.“
„Sie kennen meinen Namen?“
Was für eine dumme Frage. Ich beiße mir auf die Zunge, doch sie quittiert meine Nervosität mit einem Nicken.
„Wollen wir nicht du zueinander sagen?“
„Aber ich kenne Sie doch gar nicht?“
„Hat William mich etwa nie erwähnt?“
Ich schüttle den Kopf.
„Sie haben vorhin angerufen, oder?“
„Ja das stimmt. Ich wollte nicht einfach unangekündigt hereinplatzen. Aber ich sollte es deinem Mann tatsächlich übel nehmen, dass er mich mit keinem Wort erwähnt hat. Auch wenn unsere Freundschaft etwas kompliziert ist.“
Langsam werde ich hellhörig.
„Was heißt ‚kompliziert’?“
„Dass wir uns nicht regelmäßig sehen, geschweige denn ständig plaudern. Da gab es Zeiten mit Funkstille über Monate hinweg. Aber dennoch. Ein bisschen beleidigt bin ich ja schon, wenn er über mich schweigt.“
Ich übergehe ihr Augenzwinkern und nehme endlich die Hand an, die sich mir noch immer hinhält.
„Dann lernen wir uns eben so kennen. Was verleiht mir die Ehre, Sie…ich meine, dich in unserem Haus begrüßen zu dürfen?“
Ihr Lächeln gerät leicht aus den Fugen, als sie ihre Haltung richtet und sich gerade hinsetzt. Unruhig rutsche auch ich an der Bettkante nach oben. Ich will nicht, dass sie auf mich herabschaut.
„Weißt du, ich bin nicht ganz freiwillig hier. Und es hat auch enorme Überzeugungskraft gekostet, dass William mich zu dir gelassen hat.“
Fragend folgt mein Blick ihren Händen, die sie abwehrend hebt. Dieses Gespräch entwickelt sich offenbar in eine Richtung, die Hanna nicht so angenehm ist.
„Na dann scheint eure Beziehung tatsächlich besonders zu sein. Wenn er nachgibt.“
„Ich fürchte, das sollte er dir lieber selber erklären und ich weiß auch, dass er nicht begeistert darüber sein wird, dass ich solche Anspielungen gemacht habe. Aber ich will ehrlich mit dir sein. Jetzt, wo ich vor dir sitze, bereue ich meine Überredungsarbeit immer weniger. Du hast ein Recht darauf, zu erfahren, in welche Rolle dich dein Schwiegervater drängen will.“
Überrascht verliere ich kurz die Kontrolle über meinen Gesichtsausdruck. Mein Mund klappt auf und meine Stirn steht in Falten.
„Wenn du nicht gleich zum Punkt kommst, drehe ich noch durch.“
„Entschuldige. Es fällt mir nur nicht so leicht, dich ins kalte Wasser zu werfen. Aber gut. Du weißt, dass nicht alle Frauen in unseren Kreisen nur im Haushalt arbeiten, oder?“
Ich nicke.
„Manche putzen in fremden Haushalten, andere kümmern sich Tagsüber um den Nachwuchs anderer Werwölfe und wieder andere prostituieren sich.“
„Und weiter?“
„Loretta. Dein Schwiegervater hat William ins Gewissen reden wollen. Dass du nicht zu Hause versauern sollst und er dich hier versteckt hält. Er will deinem Mann einreden, dich an einen Freier zu verkaufen. Damit auch du Geld bringst.“
Ich kann nicht antworten. Ihr Geständnis schnürt mir die Luft ab.
„Der Alte ist sogar so weit gegangen, dass er mich angerufen hat. Ich sollte William einimpfen, wie toll das Leben als Wolfsnutte sein kann. Dass es sogar Spaß macht.“
„Du bist eine Prostituierte?“
Mein Mund ist schneller als mein Kopf. Beschämt schießt mir eine seichte Röte in die Wangen, doch Hanna scheint sich nicht zu ärgern.
„Das bin ich. Ich schäme mich nicht dafür. Irgendwie muss ich mir ja meinen Laden finanzieren, ohne meinem Mann auf die Tasche zu fallen.“
Und so fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Sie ist die Frau. Die Wölfin, von der er sich die Schuhe ausgeliehen hat. Die gute Freundin, bei der er sich die modische Beratung für meine Kleider holt. Die Prostituierte, bei der er seine Unschuld verloren hat. Und ich bin mir sicher, dass Hanna auch die Konkurrentin ist, über die ich mir seit unserer Hochzeit den Kopf zerbreche. Die Wölfin, an die mein Mann sein Herz verloren hat. Eifersucht kocht in mir hoch. Sie ist schön. Nett. Und ich hasse sie dafür. Von eine auf die andere Sekunde sehe ich sie mit anderen Gefühlen. Jedes ihrer Merkmale ist perfekt. Ihre Augen, ihre Lachfältchen, ihre Stimme, ihre Haare. Kein Wunder, dass William sich in sie verliebt hat. Sie seufzt.
„Es tut mir leid, Loretta. Ich wünsche dir von ganzem Herzen, dass du nicht dazu gezwungen wirst. Ich tue es freiwillig. Manchmal kann es sogar Spaß machen. Aber unter Druck leiden die meisten meiner Kolleginnen. Rede mit William. Er wird es verstehen. Ich habe es ihm bereits gesagt und er scheint auch nicht ganz abgeneigt zu sein, seinem Vater zu widersprechen.“
„Du hast dich für mich eingesetzt?“
„Natürlich. Will redet in so guten Tönen von dir. Ich möchte nicht, dass er dich verliert. Er hat einen Glanz in seinen Augen, wenn er von dir redet, für den jede Frau sterben würde. Und ich kann es ihm nicht verübeln.“
Sie legt eine Handfläche an meine Wange und streicht leicht über meine Haut.
„Er ist so gutherzig wie fast kein anderer Wolf außer ihm. Pass auf dich auf. Er würde daran zerbrechen, wenn er noch einen Menschen verliert, den er liebt.“
Sie erhebt sich vom Bett und macht sich auf den Weg zur Tür. Verwundert sehe ich ihr dabei zu, wie sie die Klinke durchdrückt und sich durch den Spalt schiebt. Vergessen ist die erste Eifersucht. Hanna ist eine gute Freundin. Ich hoffe, dass ich sie wieder sehen kann. Wie vom Blitz getroffen, springe ich vom Bett auf und lasse die Decke achtlos am Boden liegen. Ich sprinte ihr durch die Tür hinter her und halte sie am Arm fest.
„Warte. Ich möchte mich bei dir bedanken. Willst du morgen Abend zum Essen vorbeikommen?“
„Das ist lieb, aber ich kann nicht. Mein Mann erwartet mich zu Neumond zu Hause. Ein andermal würde ich aber gerne vorbeikommen. William hat ja meine Nummer, er soll sich einfach melden.“
„Gerne. Du bist hier jederzeit willkommen.“
Sie lächelt mich an und verschwindet auf schnellstem Wege durch die Haustür. Fasziniert sehe ich ihr hinterher und lausche ihren leichten Schritten, die sich sachte in der Ferne verlieren. Es wundert mich ein bisschen, dass sie sich nicht von William verabschiedet hat, doch ich stelle ihren fluchtartigen Aufbruch nicht weiter in Frage. Als sich eine Hand von hinten auf meine Schulter legt, fahre ich erschrocken zusammen.
„Warum starrst du auf die Tür?“
William klingt verunsichert. Langsam drehe ich mich zu ihm herum.
„Hanna ist schon wieder weg. Hättest du dich nicht von ihr verabschieden wollen?“
„Das haben wir schon getan, bevor sie zu dir ins Zimmer ist.“
Ich nicke, doch eigentlich hat mich seine Antwort nicht wirklich interessiert. Ganz andere Gedanken brennen mir auf der Zunge. Bevor ich sie richtig ordnen kann, platzt mein Mann mir dazwischen.
„Hör zu. Ich wollte dich mit dem Thema nicht belasten. Ich habe meinem Vater bereits gesagt, dass ich dich nur für mich möchte.“
„Ich weiß.“
„Du weißt?“
„Ja. So viel habe ich beim Essen vorhin schon mitbekommen.“
Seine Augenbrauen schießen nach oben.
„Und warum bist du dann so komisch?“
„Ich bin doch nicht komisch.“
„Bitte Loretta, schließ mich nicht aus deinem Leben aus.“
Ein frustriertes Schnauben entweicht meiner Nase.
„Du solltest dir mal selbst zuhören. Du klärst nie mit mir ab, wenn dein Vater etwas von mir will. Du besprichst keine deiner Sorgen mit mir. Du versuchst grundsätzlich, mich aus allen deinen Angelegenheiten raus zu halten. Und von deiner besten Freundin hab ich bis heute auch noch nie was gehört.“
Ich versuche, ihm einen Spiegel vorzuhalten, doch er schüttelt nur abwehrend den Kopf.
„Das stimmt nicht. Ich hab dir nie verschwiegen, dass ich deine Kleidung bei einer Freundin besorge. Nur weil ich dir ihren Namen nicht gesagt habe, heißt das nicht, dass…“
„Du hast mit ihr geschlafen.“
Ich konnte ihn einfach nicht ausreden lassen und nun starrt er mich mit offenem Mund an. Wie in Trance schließt er ihn wieder und überlegt sich eine passende Antwort.
„Na und?“
Es fühlt sich an, als würde mein Herz in tausende Stücke zerbrechen. Seine Gleichgültigkeit treibt mir die Tränen in die Augen und ich kann sie nicht zurückhalten.
„Loretta.“
Besorgt und überrascht streckt er die Hand nach mir aus, doch ich weiche zurück.
„Sie ist die Frau, die du liebst. Ich hab immer geahnt, dass ich ihr niemals das Wasser reichen könnte und heute hat sich mein Verdacht bestätigt.“
Ohne ihm Zeit zu lassen, auf meinen Gefühlsausbruch angemessen zu reagieren, renne ich aus dem Haus. Der Schmerz treibt meine müden Beine immer weiter in den Wald. Ich merke gar nicht, dass ich in meine Wolfsgestalt gewechselt bin, doch es dauert nicht lange, da treffen meine festen Pfoten auf den harten Untergrund. Ich will weg. Ohne einen Blick zurück schlage ich mich durch das dichte Unterholz. Er ist mir auf den Versen. Auch wenn ich weiß, dass ich ihn niemals schlagen kann, laufe ich weiter. Dabei ist es egal, dass meine Muskeln protestieren und meine Kehle austrocknet. Es ist anders, als unsere vorherigen Wettrennen. Es geht nicht einfach nur um Spaß. Ich will mich ihm nicht stellen müssen und das Wissen, dass ich diesem Enden nicht einfach ausweichen kann, treibt mich vorwärts. Immer tiefer krallen sich meine Pfoten in das Moos. Ich weiche den Bäumen aus, die sich mit in den Weg stellen und versuche, möglichst wenige Dornen an mein Fell zu lassen. Doch eine unbedachte Bewegung raubt mir das Gleichgewicht. Eine übersehene Wurzel und schon macht mein gesamter Körper Bekanntschaft mit dem Boden. Der Adrenalinschub ebbt schnell ab und so durchzucken die Schmerzen blitzartig meinen ganzen Arm. Ohne lange darüber nachzudenken, verwandle ich mich in einen Menschen zurück und lehne mich mit dem Rücken an einen Baumstamm. Die Nässe der Rinde dringt durch mein dünnes Shirt leicht zu meiner Haut durch und treibt ein Schaudern über meinen Körper. Williams schwarze Mähne ist nicht mehr weit von mir entfernt. Ein Wimmern kommt über meine Lippen. Ich kann meinen Arm nicht mehr bewegen. Sein Tempo verlangsamt sich und er lässt sich neben mir in Menschengestalt auf die Knie fallen. Ohne zu Zögern nimmt er mein Gesicht in seine Hände und sieht mir tief in die Augen. Eine Ernsthaftigkeit liegt darin, die ich nicht leugnen kann. Egal, was er mir zu sagen hat. Ich weiß, dass ich es nicht anzweifeln werde können.
„Du kannst mir nicht einfach solche Vorwürfe ins Gesicht knallen und dann weglaufen, bevor ich dir deine schlechten Gedanken ausreden kann.“
Er drückt mir einen Kuss auf die Stirn. Ganz vorsichtig, um mir nicht weh zu tun. Ich bin mir nicht sicher, ob er registriert hat, dass ich verletzt bin.
„Ich hätte es damals wissen müssen, als ich dir eine so schlechte Antwort auf deine Frage gegeben habe. Du weißt schon. Als du wissen wolltest, ob ich schon einmal richtig geliebt habe. Wenn ich gewusst hätte, wie dich meine Antwort quält, hätte ich mich besser ausgedrückt. ‚Neben meiner Mutter nur noch eine andere’. Das war so dumm von mir. Ja, ich habe mit Hanna geschlafen, aber damals war es nur rein geschäftlich. Es war eine einmalige Sache. Ohne innige Gefühle. Wir haben uns angefreundet, mehr nicht.“
Ich sehe in seine Augen und kann ihm nicht widersprechen. Ein Glanz liegt darin. Ob Hanna richtig liegt? Glänzen sie nur so, wenn er mich ansieht? Sie hat gesagt, dass er mich als geliebten Menschen nicht verlieren kann.
„Loretta. Ich hab nicht gelogen, als ich dir eine so verschlüsselte Antwort gegeben habe.“
Er streicht mir eine Haarsträhne hinters Ohr. Sein Gesicht ist mir ganz nahe. Ich kann seinen Atem auf meiner Wange spüren und vergesse so langsam den Schmerz in meinem Arm, als sein Körper mich langsam zwischen sich und dem Baumstamm einengt.
„Als ich dich an deinem Geburtstag nicht in Ruhe gelassen habe, hattest du etwas in deinem Blick. Neben der Angst vor deinem Vater warst du auch genervt von mir. Ich habe dir angesehen, wie versucht du warst, deinen Eltern zu widersprechen und ein offenes Gespräch mit mir zu beginnen. Von Anfang an wusste ich, dass du nicht einfach nur die Tochter deines Vaters bist. Du warst anders. Du bist anders. Ich habe dich nicht geheiratet, weil mein Großvater es wollte. Nicht nur zumindest. Ich hab dich geheiratet, weil ich die Hoffnung an die Liebe nicht aufgeben wollte.“
Mein Herz pocht in meiner Brust. Ich habe bereit verstanden, was er mir sagen will, doch ich kann noch immer nicht atmen. Ich will, dass er es sagt. Wild kralle ich meine unverletzte Hand in sein Haar und ziehe sein Gesicht noch näher an meines. Unsere Lippen berühren sich fast.
„Komm zum Punkt, William. Ich will es hören.“
„Ich liebe dich, Loretta. Alles würde ich für dich tun.“
Als sich unsere Lippen sanft berühren, kann ich eine Fülle an Emotionen spüren, die sich in mir breit machen. Zuneigung, Erleichterung, Befreiung, Liebe, Leidenschaft. Meine und seine. Ich frage mich in diesem Moment ernsthaft, wie ich jemals verlangen konnte, dass er unser Band trennt. Wie ich von ihm weglaufen konnte, ohne diese Verbundenheit zu spüren. Ich vertiefe den Kuss und seufze an seinen Lippen. Etwas enttäuscht muss ich feststellen, dass er sich langsam wieder von mir löst. Doch an seinen Augen erkenne ich, dass er mich nicht zurückweist. Er braucht Abstand, um nicht über mich herzufallen. Seine Hand sucht nach meiner, doch bei der Berührung kann ich einen kurzen Schmerzenslaut nicht unterdrücken.
„Hab ich dir weh getan?“
„Ja. Ich meine, nein. Nicht direkt. Ich bin vorhin gestolpert und hab mich an meinem Arm verletzt.“
„Lass mal sehen.“
Ganz behutsam streicht er über meine gerötete Haut. Nicht mehr lange und mein Gelenk wird anschwellen. Ich seufze.
„Tut dir sonst noch etwas weh?“
Ich schüttle den Kopf, folge Williams Bewegung und stehe ebenfalls auf. Mit langsamen Schritten machen wir uns auf den Weg zurück zu unserem Haus. Er führt mich durch das Baumlabyrinth und passt auf, dass ich mich nicht weiter an Sträuchern und anderen Hindernissen um mich herum verletze. Es fühlt sich gut an, ihn in meiner Nähe zu haben und unsere Verbindung zu spüren. Seine Gefühle sind ehrlich und treu. Niemals möchte ich sie mehr missen.
Als ich aufwache, sitzt er nicht mehr an meiner Bettkante. Die Vorhänge sind zwar noch geschlossen, doch ich kann erkennen, dass die Sonne gerade untergeht. Etwas benommen tapse ich aus dem Schlafzimmer auf direktem Wege in Wills Arme.
„Vorsicht, Dornröschen. Nicht wieder den Arm verletzen.“
Verwirrt blinzle ich zu ihm hoch. Recht spät verstehe ich, was er mir sagen will. Mein Blick wandert zu dem Verband um mein Handgelenk. Kein Gips. Vorsichtig drehe ich meine Hand und atme erleichtert aus. Es tut nicht mehr weh.
„Die Schmerzmittel scheinen sehr gut angeschlagen zu haben. Du hast fast den ganzen Tag verschlafen, ohne gequält aufzuwachen.“
Ganz sanft nimmt er meine Hand und wickelt den Verband ab. Die Schwellung ist bereits abgeheilt, die Rötungen sind noch nicht ganz verschwunden. Er haucht einen Kuss auf den Fleck. Sein Haar ist nass und sein Hemd unordentlich geknöpft. Er kommt offenbar gerade aus der Dusche und ich will es ihm gleich tun. Er lacht heiser, als ich in einer krummen Linie ins Bad laufe und fast gegen den Türrahmen stoße. Dieses Schmerzmittel hat es echt in sich.
Lange stehe ich unter dem kühlen Wasserstrahl und genieße, wie mir die Temperatur langsam wieder Leben einhaucht. Ich wache auf aus meiner trüben Wahrnehmung. Als ich den Hahn zudrehe, kann ich William in der Küche werkeln hören. Ein Kribbeln schießt in meinen Bauch. Hunderte von Schmetterlingen haben sich angesammelt und ich muss aufpassen, dass mir nicht versehentlich einer entwischt. Hektisch trockne ich mich ab und kämme mir meine wilde Mähne. Ich will hübsch aussehen. Für ihn. Als ich aus dem Bad trete, um mich ins Schlafzimmer zu schleichen, strömt mir ein warmer Duft von Essen entgegen. Herrlich. Er kocht für mich. Und er scheint sich wirklich Mühe zu geben. Leise ziehe ich die Tür hinter mir ins Schloss und reiße den Kleiderschrank auf. Jetzt heißt es wählen mit Bedacht.
Ein letztes Mal sehe ich in den Spiegel und betrachte das bodenlange, rosa Kleid, für das ich mich entschieden habe. Die Locken verdecken die Spaghettiträger, die den Stoff in Position halten. Meine neue Kette schmückt meinen Hals, der zuvor einen Spritzer aus dem Parfumflakon genossen hat. Ich fühle mich schön und freue mich darauf, William so unter die Augen zu treten. Als ich die Tür hinter mir schließe, kann ich von draußen kein Leuchten entdecken. Neumond. Ich fühle mich unbeschwert, als ich mich barfuß in die Küche tapse. Ein Scheppern tönt mir entgegen und ich kann ein leises Kichern nicht unterdrücken. William hat sich wieder die Schürze umgehängt und fuchtelt gerade mit der Hand in der Luft. Er scheint sich an dem heißen Blech verbrannt zu haben. Er reißt sich den Küchenhandschuh mit dem Loch am Daumen von der Hand und knallt ihn fluchend auf den Boden. Ohne mich zuvor erkenntlich zu machen, greife ich von hinten an ihm vorbei und halte seine Finger unter den kalten Wasserstrahl im Spülbecken. Er dreht sich nicht um, doch er lehnt sich leicht zurück und drückt sich damit ein wenig an meinen Körper. Sanft stelle ich das Wasser wieder ab und puste über den Daumen. Ich spüre seinen Blick auf mir, doch ich merke recht schnell, dass das nicht an meiner Geste liegt. Seine Augen sind geweitet während seine Aufmerksamkeit immer weiter an mir herab und wieder hinauf gleitet. Es kribbelt. Meine Stimme ist so leise, dass meine Worte eher wie ein Flüstern klingen.
„Kann ich dir etwas helfen?“
„Ich wollte uns eigentlich etwas kochen und dir eine Freude machen. Aber ich bezweifle langsam, dass der Herd und ich noch Freunde werden können.“
Ich streiche ihm über die Wange und begutachte sein Werk. Tiefkühlpizza. Der Rand etwas verkohlt, aber sie sieht noch essbar aus. Ein Schmunzeln legt sich auf meine Lippen.
„Ist doch alles halb so wild. Das verbrannte kann man ja einfach wegkratzen und dann schmeckt das wie vom echten Italiener.“
„Weißt du. Andere Männer schubsen ihre Frauen durch das Haus. Bei mir grenzt es an Körperverletzung, wenn ich freiwillig mal einen Finger rühren will.“
Lachend hauche ich ihm einen Kuss auf die Wange und greife mit dem Geschirrtuch um die Hand gewickelt nach dem Backblech. Ich schiebe die Pizza auf eine Holzplatte, um den Teig in gerechte Stücke zu teilen.
„Du bist nicht wie andere Männer.“
Ein Schnauben ertönt aus seiner Kehle, als er sich kapitulierend auf einen Stuhl setzt und mich den Rest erledigen lässt. Ich schiebe ihm gleich zwei Stücke auf einmal auf den Teller, nehme mir selbst eines und setze mich ihm gegenüber an den Tisch. Schweigend essen wir, doch ich kann mir ein innerliches, selbstgefälliges Kichern nicht verkneifen. Er kann die Augen nicht von mir lassen.
Etwas frustriert beobachtet er mich dabei, als ich die letzten Reste des viel zu hart gebackenen Pizzarands in den Müll verfrachte und den Tisch von den letzten Krümeln befreie.
„Wie geht es deiner Hand?“
„Wenn ich nicht dabei gewesen wäre, würde ich gar nicht mehr glauben, dass ich gestern hingefallen bin.“
Ist es wirklich schon gestern gewesen? Die Zeit ist wie im Flug vergangen, seit William mir das Schmerzmittel eingeflößt hat. Er lacht nicht über meinen flachen Witz.
„Würdest du dann mit mir laufen gehen?“
Schwer atmet er aus. Ich sehe an mir herunter. In diesem Kleid mit Sicherheit nicht.
„Eigentlich…“
Er steht hastig auf. Sein Stuhl kippt nach hinten um, als er auf mich zuhechtet und mich an die Wand drängt. Seine Augen fixieren mich wie eine Kobra ihr Opfer hypnotisiert.
„Will?“
„Gott, Loretta. Du kannst nicht einfach in diese Küche marschieren und mich mit diesen unschuldigen Rehaugen ansehen. Und dann auch noch dieses Kleid mit Rückenausschnitt. Ich wusste, dass ich diesen Kauf bereuen würde. Verrate mir mal, wie ich mich zurückhalten soll, wie ich dir widerstehen soll, wenn du dich so kleidest.“
Seine Worten enden in einem tiefen Grollen. Seine Augen sind dunkel, doch noch lange nicht schwarz. Ich nehme sein Gesicht zwischen meine Hände und hauche ihm einen Kuss auf die Lippen. Vorsichtig. Ich will nicht, dass er die Kontrolle schneller verliert, als es mir lieb ist.
„Ich bin gestern nicht dazu gekommen, dir etwas zu sagen. Ich bin mir nicht sicher, was mich ausgerechnet heute dazu treibt, doch ich kann nicht mehr. Ich will mich nicht mehr zurückhalten. Und es wäre dir gegenüber nicht gerecht. Vermutlich ist der Neumond daran schuld, dass ich mich so befreit fühle. Vielleicht bist es aber auch einfach nur du. William. Sieh mich an. Ich liebe dich.“
Tief atmet er aus. Ich will ihn in einen tieferen Kuss verwickeln, doch er lehnt sich ein Stück zurück, sodass ich ihn nicht erreichen kann.
„Das weiß ich doch, Liebes.“
Sein Blick wird weicher, als er mich intensiv mustert. Mein Mund steht offen.
„Bitte?“
„Du bist echt süß, wenn du verwirrt bist. Aber ernsthaft. Du hättest dir selbst in die Augen sehen sollen, als ich, wenn auch nur indirekt, Hanna erwähnt hab. Und als du gestern weggelaufen bist, war es noch offensichtlicher. Unsere Verbindung funktioniert übrigens beidseitig. Wenn du spüren kannst, was bei mir los ist, kann ich das bei dir auch. Und ich muss sagen, mir gefällt, was ich fühle.“
Ich schlucke den Kloß in meinem Hals herunter. Noch immer bringe ich kein Wort heraus.
„Tut mir leid, wenn ich das so sage, aber wir sind nicht in einem Film, wo sich die Hauptpersonen ewig gegenseitig hinterher rennen und keiner dem anderen sagen kann, was wirklich Sache ist.“
„Bist du dir da sicher? Wir sind fast ein Jahr verheiratet und ich hab es heute erst über die Lippen gebracht.“
„Eine Zwangsheirat zählt nicht. Und du hast mir außerdem immer wieder gezeigt, dass du mich nicht hasst.“
Ein inniger Kuss unterbricht unsere Unterhaltung. Doch viel zu schnell löst er sich wieder von mir. Seine Stirn lehnt an meiner. Seine Augen strahlen mich an.
„Hanna hatte recht. Für dieses Strahlen in deinen Augen würde jede andere Frau über Leichen gehen.“
„Du riechst so gut.“
Sein Körper drängt sich noch näher an meinen. Seine Hände sind überall. Ich kann ein Stöhnen nicht unterdrücken.
„Wenn du nicht willst, dass ich über dich herfalle, solltest du ganz dringend etwas anderes anziehen und dir dieses Parfum abwaschen.“
„Vielleicht ist das ja Absicht.“
Mit großen Augen schaut er mich an. Meine Hand wandert tiefer und öffnet einen Knopf nach dem anderen von seinem Hemd. Auch wenn ich es nicht für möglich gehalten hätte, presst er mich noch enger an sich. Die Schmetterlinge in meinem Bauch schwirren im Kreis.
Bedrückt wische ich mir den Schweiß von der Stirn. Ich kann nicht mehr. Das Ziehen in meinem Unterleib nimmt mir den letzten Rest meiner Nerven. Erneut überzieht sich meine Haut mit einer Gänsehaut. Ich mache mich auf den nächsten Schwung bereit und muss nicht lange warten. Ich hasse den Geschmack auf meiner Zunge, das mein Erbrochenes hinterlässt. Mit zitternden Knien erhebe ich mich von den Fließen. Mich am Waschbecken abstützend mustere ich mein Spiegelbild. Blass bin ich geworden. Mein Haar ist glanzlos. Tiefe Augenringe umranden meinen müden Blick. Hoffentlich würde William bald nach Hause kommen. Ich will nicht, dass er mir aus dem Weg geht. Doch seit es zwischen uns nicht mehr so ist wie vor drei Jahren, kann er mich nicht mehr ansehen. Schmerzen durchzucken mein Herz. Wir haben uns geliebt. Eine Träne rinnt aus meinem Augenwinkel.
Ich sitze auf der Veranda, als er sein Auto in der Einfahrt parkt. Beschämt weicht er meinem Blick aus.
„Es ist wieder so weit.“
„Ich weiß.“
Zittrig erhebe ich mich von der Holztreppe und stehe ihm gegenüber.
„Du weißt, dass ich das nicht tun will.“
„Ich weiß.“
„Ich liebe dich, Loretta.“
Wieder kann ich die Tränen nicht unterdrücken. Ich senke den Blick und lasse meine Hand auf seine warme Brust sinken.
„Ich dich auch, William. Wirklich. Aber du weißt, wie es mir geht. Ich kann deine Großeltern immer mehr verstehen.“
Er nickt. Seine Augen haben im letzten Jahr kaum noch braun ausgesehen. Immer wieder dieses elendige Gelb.
„Du bist mein Leben. Aber mit jedem Tag, mit jedem Mal, wenn ich dir wieder weh tue, zerbricht etwas in mir. Ich kann mich einfach nicht mehr kontrollieren, egal was ich versuche.“
„Liebling.“
„Ich kann nicht mit ansehen, wie du unter meinen Händen zerbrichst. Ich kann es nicht ertragen, dich zu zerstören. Uns zu zerstören.“
„William, hör auf damit.“
Er zieht mich in eine leichte Umarmung, doch er traut sich nicht wirklich, mich anzufassen. Er hält mich in seinen Armen, als ob ich jede Sekunde zu Staub zerfallen könnte.
„Hast du darüber nachgedacht.“
Er löst sich von mir und hält mich auf einer Armlänge Abstand.
„Wir hatten einen Traum. Wir wollten etwas verändern und uns selbst etwas beweisen. Vor allem ich. Aber irgendwann ist es so weit. Irgendwann gebe auch ich die Hoffnung auf.“
Unser Haus ist nicht verschlossen, während wir in den Wald gehen. Er hat die Tasche geschultert und führt mich zu der Lichtung, die sein Großvater angelegt hat. Langsam, aber zielsicher. Seine Hand drückt meine, doch diese Geste beseitigt meine Verzweiflung kaum.
„Hast du Hanna gesagt, dass es mir leid tut?“
„Sie wollte es mir mit allen Mitteln ausreden. Aber sie wusste so gut wie wir, dass sie schon mit dem ersten Wort verloren hatte. Ich glaube sogar, dass sie sich ein Stück weit selbst Schuld an unserem Unglück nimmt. Weil ihr Körper den Wolf in mir nur weiter anfeuert, dich zu missbrauchen. Es ist ein Teufelskreis.“
„Ich will nicht mehr darüber reden, William.“
Schweigend laufen wir den Rest des Weges. Es herrscht eine Spannung zwischen uns, die sich seit viel zu vielen Monaten nicht mehr gelegt hat. Ich liebe William, doch es ist ein Fehler. Die Liebe ist kein wunderschöner Schmetterling. Die Liebe ist wie ein Biene. Das Kribbeln im Bauch zu Anfang ist gleich, doch irgendwann holt die Realität die Glücksgefühle ein. Irgendwann sticht sie zu und tut dir weh. Sie tut mir weh. Unsere Gefühle haben uns von den Füßen gerissen.
Ich bin nicht auf dem Weg zur Lichtung, um an eine Märchengeschichte mit Happy Ending zu denken. William hält meine Hand nicht in seinem Griff, damit er mich nicht verliert. Er zieht mich auf den Boden und fordert mich auf, mich auf das Moos zu setzen. Feuchtigkeit dringt an meine Haut, doch das ist egal. Ich werde es nicht mehr lange spüren.
„Ich hätte nie gedacht, dass es einmal so weit kommt.“
„Ich auch nicht.“
Lange sehen wir uns an.
„Du bist das Beste, was mir je passiert ist. Und alles in meinem Herzen schreit danach, dieses Messer zu vergraben und dich für immer bei mir zu halten. Aber ich kann dir dieses Leben nicht länger antun. Ich kann deine Schreie nicht länger hören. Aber ich kann auch nicht ohne dich leben. Ich liebe dich. Und ich wünschte, wir wären Menschen. Ich wünschte, wir hätten ein normales Leben führen können.“
Ich drücke ihm einen Kuss auf den Mund und atme tief durch. Zwischen uns ist alles gesagt, als sich seine Klinge längs über beide meine Unterarme schneidet. Benommen von dem ersten Blutverlust lege ich mich ins Gras. Ich sehe aus den Augenwinkeln, wie William sich überwindet und auch tief in seine eigene Haut schneidet. Er legt sich neben mich und greift nach meiner Hand. Ich sehe ihm in die Augen und hauche ihm einen letzten Kuss auf die Lippen. Sein Atem wird schwächer. Mir wird schwindlig. Die Sonne geht unter. Es ist vorbei.
Hallo meine Lieben,
bestimmt wundert sich der ein oder andere, ob das tatsächlich mein Ernst ist. Mich für dieses Ende zu entscheiden und das so plötzlich. Aus heiterem Himmel kam dieser Zeitsprung. Ja, ich war bei klarem Verstand, als ich die Szene so platziert habe.
Die Erklärung: Für mich ist Werwolfstochter, nachdem ich mit dem Kopf zeitweilig in anderen Geschichten gesteckt habe, eher eine Schreibübung gewesen. Es war nie der Plan, dieses Buch jemals in den Verkauf zu geben. Ich habe aufgeschrieben, was sich für mich um diese Handlung gerankt hat und wollte an dem Ende festhalten. Ich habe schon mehrmals die Rückmeldung bekommen, dass es manchen Lesern zu schnell ging und es wirkt, als hätte ich keine Lust mehr zum Schreiben gehabt. Wenn ich ehrlich bin...Blödsinn!! Ich liebe es, meine Gedanken und meine Charaktere aufs Blatt zu bringen. Die Geschichte der beiden war für mich aber beendet. Da gab es kein Material mehr, das ich hier verwenden wollte. Natürlich hätte ich noch mit ein paar Kapiteln schonender zu diesem Ende hinführen können, doch ich hab für mich entschieden, dass es soweit ist. Vielmehr sogar, dass ich soweit bin.
Im Laufe meiner Schreibezeit hat sich mein Stil verändert. Wer das Buch von vorne bis hinten ohne allzu lange Unterbrechung gelesen hat, hat das sicher schon bemerkt. Immer wieder hab ich eine Pause bei meinem anderen Buch eingelegt und mich der Fantasiegeschichte zugewandt. Ich hab meine Szenen aufs Papier gebracht, mit den Worten gespielt, experimentiert, mich selbst getestet und dabei meine Art, Geschichten zu schreiben, ausgearbeitet.
Und dann kam der Zeitpunkt, an dem ich für mich selber gesagt habe: Ich bin so weit. Klar, man lernt nie aus und ich werde auch weiterhin von Buch zu Buch an mir arbeiten, aber es kam der Moment, an dem ich dachte: jetzt kann ich von vorne anfangen. Eine Geschichte aufziehen und mein Erlerntes herauslassen.
Werwolfstochter war zu diesem Zeitpunkt nicht ganz fertig, doch ich wollte die Geschichte natürlich nicht unbeendet stehen lassen. Ich hatte von Anfang an vor, das Buch mit einem traurigen Ende abzuschließen und zu dieser Entscheidung stehe ich. Dass ich dabei manche von den Füßen gerissen habe, tut mir leid.
Wenn ich etwas schreibe, dann mit Leidenschaft. Für mich wären halbherzige, gezwungene Kapitel als Überbrückung einfach keine Alternative gewesen.
Mit diesem Ende bin ich zufrieden. Ihr, meine werten Leser, wisst, wie die Geschichte ausgeht. Das ist für mich die Hauptsache.
Ich bin froh über jede Rückmeldung, die ich bisher bekommen habe und vielleicht noch bekommen werde. Und unglaublich dankbar. An Motivationskünstlern mangelt es in den Reihen meiner Leser wirklich nicht. Vielen, vielen Dank!! <3
Eure Kerstin
Texte: Alle Texte aus der Hand von black.humour
Bildmaterialien: Gestaltet von black.humour
Tag der Veröffentlichung: 07.03.2012
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Es hat mir eine Freude gemacht, mein Werk mit euch zu teilen und bin dankbar für jeden lieben Kommentar und jedes Herzchen, das mich motiviert hat, immer weiter zu schreiben. Meine Leser sind toll. Danke!!