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Kiss the Face of God(tt)

 

 

 

Kiss the face of God(tt)

 

Stefan Meister

 

Schnellen Schrittes verließ ich das Büro, verschloss die Haupttür und hoffte, dass der Schnee ein zügiges Durchkommen nach Hause nicht behinderte. Es war bereits 17 Uhr und heute sollte ein neuer Mieter in die Ferienwohnung im Dachgeschoss des Nachbarhauses einziehen.

Er schrieb per Mail, er hätte ein Engagement an der Dresdner Semperoper und würde die Wohnung wohl für gute zwölf Wochen, Dezember, Januar und Februar benötigen. Mir erschloss sich nicht, warum er ausgerechnet 25 km außerhalb Dresdens eine recht einsame Behausung wählte. Sicher könnte er sich hochpreisigere Unterkünfte nahe der Oper selbst, vielleicht sogar einen Aufenthalt im Hotel Kempinski am Theaterplatz Dresden, leisten.

Während ich grübelte, trat ich den Heimweg an, nicht ohne schnell ein paar Kleinigkeiten im örtlichen Discounter zu besorgen. Einen Kasten Wasser stellte ich unten in den Einkaufswagen. Frische Eier bekam ich von Oma Walli gegenüber, deren Hühner fleißig legten.

Weiter wanderten eine kleine Packung Toast, geschnittenes Vollkornbrot, ein Stück Butter, ein paar Bananen und Äpfel in den Wagen, genau wie Käse, Tee und Kakao, eine Packung Wiener. Ein Glas Aprikosenmarmelade hatte ich noch im Bestand. Ich konnte mir durchaus vorstellen, dass ein Künstler, welcher Art das Engagement auch sein mochte, dankbar sein würde, wenn zumindest eine Grundausstattung im Kühlschrank vorhanden wäre.

Da ich auch nicht wusste, was er essen mochte, man hörte ja viel über exzentrische Kunstschaffende, nahm ich einen veganen Aufstrich mit. Hungern sollte der Mann ja nun auch nicht. Ich musste selbst grinsen – Kunstschaffende - na ja, ich wusste ja nicht genau, was er an der Oper zu tun hatte.

Ich traf gegen 18.15 Uhr zu Hause ein und eilte in das Nachbarhaus, welches mir Tante Margarete vor zehn Jahren hinterlassen hatte. Als sie starb, war ich bei ihr, wie auch die vielen Wochen zuvor, um sie zu pflegen. Außer mir hatte sie keine Verwandten mehr. Meine Mutter – Gott hab sie selig – war ihre Nichte, also war ich Ihr Großneffe.

Die letzten Jahre hatte ich damit zugebracht, das Haus auf Vordermann zu bringen. Erst habe ich es entkernt und dann innen neu hochgezogen. Ich habe mich unten für einen Dauermieter und oben für eine Ferienwohnung entschieden.

Das Treppenpodest oben abfegend summte ich ein Lied. Ich mochte Musik, keine Frage, nur hatte ich selten Zeit, sie zu genießen.

Würstchen und Co. wurden in den Kühlschrank «drapiert» und ich heizte den Kamin an. Eisig war es bereits, die Atemluft erschien in kleinen Nebelwölkchen. Schnee wurde für das Wochenende angekündigt, genau wie Minusgrade. Ich hatte eine wunderbare Heizung eingebaut, doch nichts ging für mich über die knisternde Wärme eines Kaminfeuers. Diesbezüglich hatte ich keine Mühen gescheut und in einen guten Ofen investiert.

 

Schnell breitete sich behagliche Wärme aus und ich warf einen letzten Blick in alle Zimmer, ob auch alles in Ordnung war. Sicher konnte ich nicht mit einem Kempinski mithalten, doch alles war warm, sicher, gemütlich, mit Tante Margaretes Vintagemöbeln ausgestattet und sauber. Darauf legte ich großen Wert.

Gemütlichkeit!

Es nahte der erste Advent. Obwohl ich eher der Fraktion Grinch zuzuordnen war, da sich die Arbeit in der Kanzlei in der Vorweihnachtszeit mehr als stapelte, genoss ich Wärme, Kaffee und Kakao sowie die Ruhe der dunklen Abende mit einem guten Buch.

Mir erschloss sich nicht, warum sich die Menschen gerade in den besinnlichen Tagen unsinnigen Klagen hingaben und wenn es nur der Zapfen am Weihnachtsbaum war, der draußen über den Zaun ragte. Konnte man es nicht friedlich klären? Ich verdiente damit mein Geld als Anwalt und das sicher nicht schlecht, und dennoch war es nervig. Selten endeten die Tage vor zwanzig Uhr und ins Theater oder gar in die Oper schaffte ich es seit Jahren nicht mehr. Abgesehen davon verlor es ohne Begleitung von alleine seinen Charme.

Heute, an einem Freitag, bin ich, dem neuen Feriengast geschuldet, vor der Arbeit geflohen.

Die ganzen Grinche konnten bis Montag warten. Ich hatte genug von Mordgedanken gegenüber der Nachbarin, die immer die Rauchschwaden der angebrannten Backwaren aus dem offenen Fenster leitete oder vom Katzendreck, der auf der Eingangstreppe der ungeliebten Nachbarsfamilie ausgelegt wurde. Konnte man sich nicht vertragen? Miteinander reden? Ich schaffte doch auch meist, dass die Menschen sich in einem Vergleich einigten ...

Heute wollte ich für meinen Gast und auch für mich Besinnlichkeit, Kerzenschein und Mandelduft.

Nachdem ich die Wohnung gerichtet hatte, zündete ich die Scheite in meinem eigenen Kachelofen an, wärmte einen Kakao auf und genoss die Ruhe. Es hatte tatsächlich zu schneien begonnen und leise sanken die kleinen Sterne zu Boden. Sie verliehen der Welt einen zarten Mantel, ein Glitzern und es breitete sich Stille aus. Stille in der Natur und in meinem Herzen.

Ich nahm im Sessel Platz, nicht ohne noch mal zu horchen, ob mein Gast angekommen war.

Das Licht würde ich dann schon sehen, beruhigte ich mich.

Er berichtete mir in einer seiner Mails, dass er den Tag morgen mit Üben verbringen möchte und erst Sonntag gegen Mittag in der Oper erwartet wurde.

Natürlich hatte ich das Programm gecheckt, aber es war vielfältig. Ich konnte nicht zuordnen, wie alt Gottfried Menzel war, ob er zum Stab der Visagisten oder Kostümbildner oder zu den Schauspielern oder Sängern gehörte. Auch fand ich den Namen Gottfried Menzel auf keiner Besetzungsliste.

Ich würde schon herausfinden, wer hinter dem alten Namen steckte. So wie die E-Mails formuliert waren, würde ich das Alter irgendwo zwischen 30 und 60 einschätzen. Ein weiter Rahmen. Als gesetzter oder sollte ich besser sagen leicht untersetzter Mittvierziger hoffte ich vielleicht auf intelligente Gesellschaft, mit der man hier und da mal Schach oder Skat spielen oder auch in Dresden etwas trinken gehen konnte. Hier - am Ende der Welt links - war es zuweilen doch recht einsam, obwohl ich die Ruhe dem Trubel der Stadt vorzog.

Scheinwerferlicht streifte die Fenster.

Ich riss mich zusammen und beschloss, nicht hinauszustürmen. Meine Neugier im Zaume haltend, linste ich vorsichtig hinter den Gardinen aus dem Esszimmer, das ich bewusst im Dunkel gelassen hatte. Es gab einen Schlüsselkasten mit Code. Diesen hatte ich ihm mitgeteilt.

Den Rest musste Herr Menzel erledigen.

Eine dick eingepackte Gestalt mittlerer Größe schälte sich aus dem kleinen Mercedes B-Klasse. Der Wagen stand auf dem zugewiesenen Parkplatz und schien tiefschwarz. Der Mann stapfte mit einem riesigen Rucksack mühevoll die Außentreppe zur Ferienwohnung hinauf und schien sich dann erst zu erinnern, dass er den Schlüssel brauchte. Ich schmunzelte ... Ein klein wenig verpeilt, der Gute.

Er ließ den Rucksack auf dem Podest oben stehen und tapste die Stufen wieder hinunter, drehte am Schlüsselkasten herum, fluchte und pustete sich in die offenbar kalten Hände.

Nun mein Lieber, das musst du allein schaffen, dachte ich mir.

Nach einigen Versuchen hielt er triumphierend und sich umsehend den Schlüssel in die Höhe, murmelte etwas in seinen Schal und ging zurück zum Auto. Dort öffnete er die Hintertür und zerrte an irgendwas herum.

Himmelherrje ... aus dem Auto purzelte eine Art Schrankkoffer, der fast die ganze Rückbank eingenommen haben musste. Das Ding trug er niemals allein in die Ferienwohnung. Das schien ihm in diesem Moment auch bewusst zu werden. Er fluchte. Für mich allerdings durch das geschlossene Fenster fast lautlos. Lediglich das Aufstampfen und Rumhüpfen vor Kälte konnte ich erkennen.

Ich wollte mich nicht aufdrängen und wartete ab.

Er zog etwas aus der Tasche und tippte. Wenige Sekunden später gab mein Handy das Signal einer eingehenden Nachricht.

 

Wenn Sie morgen in der Nähe sind, Herr Meister, könnten Sie Bescheid geben? Ich brauche Hilfe bei meinem Koffer, ich bekomme den niemals alleine die Treppe hoch. Für heute komme ich klar. Aber Sonntag brauche ich ...

 

Die Nachricht brach ab.

Die Treppe war nicht einfach zu bewältigen, schon gar nicht mit einem Koffer, der die Ausmaße einer Kommode hatte. Da würde ich wohl mit anpacken müssen.

Also schrieb ich zurück:


Hallo Herr Menzel, ich komm gleich rüber, ich wohne nur im Nachbarhaus. Wir kriegen Ihren Koffer schon nach oben.

 

Ich beobachtete ihn weiter. Er nickte und stapfte mit einer Laptoptasche, einer Aktentasche und einer Reisetasche, die ebenfalls reichlich schwer zu sein schien, wieder hinauf.

Die Wohnung sollte warm sein. Ich wartete ein paar Minuten, bis er oben wieder auf dem Treppenabsatz erschien. Die Mütze hatte er abgesetzt und strubbeliges recht kurzes dunkles Haar stand in alle Richtungen.

Mehr konnte man auf die Entfernung nicht erkennen.

Also warf ich mich in meine Boots und die Hofjacke, die ich bei Arbeiten immer trug, und stapfte durch den Schnee nach draußen. Herr Menzel war zwischenzeitlich wieder unten und stand am Auto und zerrte an seinem Ungetüm herum.

«Warten Sie, ich fass mit an», sagte ich leise und lachte.

Er schrak dennoch zusammen. Offensichtlich hatte er ein extrem feines Gehör, was mich auf Schauspieler oder Musiker tippen ließ.

«Danke!», flüsterte er.

Er sah mich an und verdammt ... die Zeit stand still, die Luft wurde dünn, die Welt drehte sich.

Die schönsten braunen Augen mit schwarzen Wimpern, die ich je gesehen hatte.

Er war kleiner als ich, wenn auch nicht klein. Ich war mit 1,90 m und einem Bauch – nun nennen wir es stattlich. Nicht wie ein Adonis, eher rundlich. Ihn schätzte ich auf etwa 1,80 m und trotz der dicken Klamotten auf höchstens 75 kg. Ich mit meinen gut 100 kg war nicht so zart.

«Herr Meister, alles in Ordnung?», drang eine Stimme an mein Ohr, die mich gleich noch mal mit einer Gänsehaut versorgte.

«Ja ja», keuchte ich und schämte mich. Ich war 46 Jahre alt, Anwalt und sollte mich zusammenreißen.

Ich reichte ihm die Hand, welche er sofort ergriff.

«Herzlich willkommen im Dachgeschoss.»

Die Bezeichnung hatte ich aufgrund der Lage gewählt und für die Buchungsseiten brauchte das «Kind» ja einen Namen.

«Danke. Sind Sie sich sicher, dass wir das Monster in das Schlafzimmer kriegen? Sonst pack ich es um.»

Nachdem ich erneut schauderte, weil die Stimme mir durch Mark und Bein sauste, antwortete ich wenig eloquent: «Na los, packen wir es an!» Dem Lachen zu entnehmen, hatte ich es in breitestem Sächsisch rausgehauen. Na super, peinlicher ging es nicht mehr.

«Entschuldigung, ich verfalle manchmal in den Slang, der hier gewöhnlich gesprochen wird. Ich kann durchaus sehr gutes Hochdeutsch sprechen, aber ei vabibbsch und ach herrscheeejj, do is‘ mor doch rieberläppschd, kenne Se mir verzeih’n?», sagte ich diesmal ganz bewusst wieder ins Sächsische rutschend.

Er lachte laut auf. Dieses Lachen ... unfassbar.

Musiker! Das entschied ich spontan.

Ich wuchtete den Schrankkoffer hoch und gemeinsam schafften wir es, das große schwere Teil nach oben zu hieven.

«Was haben Sie denn da drin – Leichen?», rutschte mir heraus. Wieder lachte er rumpelnd aus dem Bauch heraus.

«Nein, Kostüme. Ich brauche für die verschiedenen Auftritte verschiedene

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: A.C.LoClair
Cover: Phantasmal Image
Lektorat: Uta Pfützner
Korrektorat: Uta Pfützner und A.C.LoClair
Satz: A.C.LoClair
Tag der Veröffentlichung: 19.12.2023
ISBN: 978-3-7554-6433-4

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für all jene, die den Winter genießen. Für alle, die Weihnachten lieben und für alle die, die mir am Herzen liegen.

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