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Nur die Blumen kennen die Wahrheit

Betty bog von der großen Allee in eine kleinere Seitenstraße ab und hielt an. Ein Straßenschild zeigte an, dass sie sich hier in der Baumstraße befand. Sie fuhr noch einige Meter und parkte ihr Auto. Als sie ausstieg bemerkte sie ein Parkverbotsschild, doch sie zuckte die Schultern und überquerte eilig die Straße. „Sollen sie mich doch abschleppen, ist mir jetzt auch egal.“ dachte sie und ging auf ein großes Mehrfamilienhaus zu, das sich hinter einer hohen, verwachsenen Hecke verbarg.„Das ist das Haus!“ murmelte sie als sie auf der maroden Pforte ein verbeultes Stück Blech mit der Hausnummer 26 darauf stehen sah. Sie atmete tief ein und trat mit dem Fuß gegen das Türchen, welches sich mit einem lauten Ächzen und Knarren öffnete. Auf einem verwachsenen Weg aus alten Porenbetonplatten ging sie auf das Haus zu, dann aber blieb sie ruckartig stehen und blickte sich um.

Das Haus war groß; es hatte fünf Geschosse und bot mit seiner grauen Fassade und dem an den Fenstern hervorquellenden nassen Schimmelstellen einen ungepflegten, abstoßenden Eindruck. Selbst bei unserer taffen Reporterin regte sich bei diesem Anblick ein tiefes Gefühl des Ekels und zugleich ein dumpfes Gefühl der Angst.

Es schien so tot, so leblos zu sein. Die Fenster waren geschlossen und in einigen Wohnungen hatten die Bewohner die Rolläden heruntergelassen oder die Vorhänge zugezogen. Auch der Vorgarten passte perfekt ins Bild. Er bestand größtenteils aus Schlammpfützen, Unkraut und vereinzelten Grasbüscheln und nur ein kindsgroßer, roter Gartenzwerg zwinkerte ihr freundlich zu und grüßte sie artig.

Er störte das Bild, weil er einen Hauch von Farbe und Freude an diesen trostlosen Ort brachte und Betty fragte sich, wer ihn wohl dort aufgestellt hatte und warum man ihn seither dort unbehellig stehen ließ.

Sie dachte mit Entsetzen über die Frage nach, wie ein Mensch es hier nur auf längere Dauer aushalten konnte.

Für sie war hier kein Ort des Zusammenlebens sondern vielmehr der Vorhof der Hölle. Die Zeiten ändern sich, die Menschen auch. Sie erinnerte sich an alte Werbefilme der siebziger Jahre des letzten Jahrtausends, in denen Plattenbauten wie diese als Traum der werktätigen Klasse angepriesen wurden. Heute dagegen wohnten hier nur die untersten Bevölkerungsschichten, die nur selten einer geregelten Arbeit nachgingen: Migranten, Arbeitslose, Pöbel, Junckies und sonstiges Gesocks, denen die schlechten Lebensumstände hier nichts ausmachten. Vielleicht machen sie ihnen ja doch etwas aus, schoss es Betty durch den Kopf, aber sie haben eben keine andere Wahl und müssen sich arrangieren. Dann kehrten ihre Gedanken wieder zu dem Mann zurück, der sie in den letzten Jahren, Monaten, Wochen und Tagen beschäftigt und ihr in unzähligen Nächten den Schlaf geraubt hatte.

Hier lebte er also, hier war sein Zuhause. Hier hatte er all die Jahre unbehelligt sein Unwesen getrieben, sich geprügelt und gesoffen auf Staatskosten. Obwohl alle wussten wo er wohnte, hatten sie ihn in Frieden leben lassen!

Ein heftiger Schmerz durchzuckte sie und Tränen der Wut traten aus ihren Augen.

„Ich habe dich, du Schwein, du feiger Mörder! Du sitzt in der Falle, nun gibt es kein Zurück mehr.“ Sie lachte während sie diesen Satz aussprach und trat durch die Haustür, die halb offen stand. Erschrocken hielt sie sich die Nase zu und unterdrückte einen aufsteigenden Würgereiz beim Anblick des „Foyers“, in dem haufenweise Müllsäcke herumlagen, die teilweise aufgeplatzt waren und einen widerlichen Gestank verbreiteten.

Betty torkelte auf eine schmale Treppe zu, die augenscheinlich den einzigen Zugang zu den oberen Stockwerken bildete und schleppte sich mit Beinen, die so schwer wie Blei waren, die fünf Geschosse hinauf. Bald hörte sie aus einer der Wohnungen die Schreie einer Frau, dann hörte sie aus der nächsten das Weinen eines Kindes, irgendwo grölte ein offensichtlich betrunkener Mann schmutzige Lieder. Der Fußboden war gesäumt mit zerknitterten Werbezeitschriften, die auf den oftmals zerbrochenen Fließen herumlagen und nach Urin, Nässe und verdorbenen Lebensmitteln rochen.

Die Eindrücke aus dem Inneren des Hauses komplettierten ein wenig ihren Eindruck der Verwahrlosung und des Elends im Allgemeinen, den sie bisher gewonnen hatte und dann bemerkte sie etwas, das sie etwas aufheiterte und ihre Gedanken äußerst treffend ausdrückte. Auf der Wand links von ihr hatte vermutlich einer der Hausbewohner mit rotem Lack zwei Worte angesprüht: „FUCK OF!!!“

Dem hatte sie nichts mehr hinzuzufügen, denn dieser stupide Slogan komprimierte ihre Gedanken auf das Wichtigste und beschrieb ihre Gefühle ziemlich genau. „Ja genau, Fuck of!“ schrie sie lachend und lauschte dem Echo, das von allen Seiten widerhallte.

Betty fühlte sich wie in einer fremden Welt, die sich allem widerstrebte, was eine hochentwickelte Zivilisation ausmacht. Ihr wurde schwindlig und sie musste sich am Geländer festhalten um nicht zusammenzubrechen, dann war sie endlich im obersten Stockwerk angelangt.

Niedergeschlagen und kraftlos stand sie vor seiner Tür und las den Namen auf dem Türschild. „Rolf Berger....“

Das ist das Schwein, dachte sie.

Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken und obwohl der Körper von den Anstrengungen des Treppensteigens erhitzt war, fror sie auf einmal und presste ihre Arme an ihren schlanken Körper um sich ein wenig zu erwärmen. Sie drehte sich um und warf einen Blick auf die Wohnung gegenüber, die nicht bewohnt zu sein schien. Sie hörte von dort keine Geräusche und es lag auch kein Müll vor der Türe, zudem war kein Türschild angebracht. Betty war beruhigt. Keine Bewohner, keine Zeugen, so einfach war das.

Dann nickte sie zufrieden und klingelte mehrmals an Rolfs Tür, aber niemand öffnete ihr, nichts rührte sich. Betty wurde schon nervös und wollte die ganze Sache abblasen und gerade gehen, da hörte sie schwerfällige Schritte, die sich die Treppe herauf schleppten. Begleitet wurde das dumpfe Stampfen von einem Lauten Stöhnen und Schnaufen und nach einigen Sekunden sah sie auch schon Rolf auftauchen, der mit zwei Einkaufstüten beladen auf dem Weg nach oben war. „Er war also außer Haus, sei`s drum!“ dachte sie als er auf sie zu humpelte. Er starrte die junge Reporterin verwundert und überrascht an, dann huschte plötzlich ein erkennendes Lächeln über sein Gesicht.

Nachdem er die Tüten auf dem Boden abgestellt hatte reichte er ihr die Hand und sagte: „Du bist es, Betty. Lange nicht gesehen, was macht das Reporterleben?“

Er schmunzelte und schien auf einmal sehr vergnügt zu sein, worauf sie ihn irritiert anblickte. Da wurde er rot im Gesicht erklärte hastig: „Entschuldige bitte, aber ich habe gerade daran gedacht, dass du mit deinem langen, blonden Pferdeschwanz aussiehst wie die kleine Wendy, eine Gestalt aus dem Kinderfernsehen, die auf einem Reiterhof lebt. Sei einem alten Mann bitte nicht böse und komm herein.“

Da lachte Betty und sagte: „Aber ich bin dir doch nicht böse, Rolf. Ich bin hier um mit dir zu reden über Tanja.“ Der Hass, den sie gerade eben noch gespürt hatte, war verflogen und ihre Angst vor ihm war auf einmal wie weggeblasen. Stattdessen war in ihr eine unbändige Neugierde und der journalistische Ehrgeiz. Wie lebt so ein Mensch, welche Lebensansichten hat er und wie wird er sich rechtfertigen für seine Tat? Wird er sich überhaupt rechtfertigen? Alle diese Fragen wollte sie beantwortet wissen, bevor sie zum nächsten Schritt überging – seiner Bestrafung!

„Was gibt es da noch zu reden nach all den Jahren?“ fragte Rolf und ihr schien als habe seine Stimme einen lauernden, argwöhnischen Unterton angenommen. Sie stockte kurz weil sie von der Direktheit seiner Frage überrascht war, dann antwortete sie, sie habe einen letzten Brief seiner Frau gefunden und wolle mit ihm darüber sprechen. Misstrauisch runzelte er die Brauen und sie sah die Angst in seinen Augen, dann zuckte er mit den Schultern und nickte.

„Ein Abschiedsbrief, Abschiedsbrief. Das ist neu, neu, ja.“

Er redete auf einmal fahrig vor sich hin, dann wurde seine Stimme wieder klar: „Komm doch rein und ich setze eine Kanne Tee auf. Ich habe so selten Gäste hier und noch seltener welche, die so jung und hübsch sind.“

Er kicherte wie ein Schuljunge, der gerade einen unanständigen Scherz gemacht hat, dann drehte er sich um und suchte in seiner Manteltasche verzweifelt nach dem Schlüssel. Endlich fand er ihn und streckte ihn Betty triumphierend entgegen. Mit zitternden Fingern begann er daraufhin den Schlüssel ins Schloss einzuführen und nach einigen Minuten klackte es und die Tür öffnete sich.

Mit einer einladenden Handbewegung bedeutete er ihr hereinzukommen und sie betrat etwas beklommen seine Wohnung. War es richtig gewesen ihn bezüglich des Abschiedsbriefes vorzuwarnen? Er war nicht dumm und würde seine Rückschlüsse ziehen und vielleicht eine Ahnung von dem haben, was nun geschehen würde. Vom Inneren der Wohnung war sie nach den Eindrücken von draußen sehr überrascht, denn die Zimmer waren sauber und gepflegt, es duftete angenehm und unzählige Blumen der verschiedensten Sorten standen in tönernen Töpfen herum.

An den Wänden hingen eingerahmt alte, vergilbte Bilder, in den Regalen standen vereinzelte Bücher und Pokale – alles in allem aber fand Betty die Wohnung etwas öde, weil die Möbel alt und teilweise abgenutzt waren und auch die sonstige Einrichtung und Dekoration des Zimmers aussah wie aus einer anderen Zeit. „Bei ihm ist die Zeit stehengeblieben. Wahrscheinlich ist das bei alten Leuten aber normal.“

Das waren ihre Gedankengänge als sie das Wohnzimmer betreten und ihre Jacke an einen alten, goldenen Kleiderständer gehängt hatte.

„Setz dich doch!“, bat Rolf und deutete auf einen großen Ohrensessel, der einen verblichenen orangen Überzug hatte. Sie folgte seiner Aufforderung unwillig, beinahe zögernd und sah sich das Zimmer genauer an, während Rolf in der kleinen Einbauküche nebenan Tee aufsetzte. Einige Zentimeter vor ihren Knien stand ein kitschiger Glastisch, auf dem verworrene Muster eingearbeitet waren, gegenüber von ihr stand eine alte, hellgrüne Couch, auf der kleine Kissen mit aufgestickten Blümchen lagen. An der Wand links von ihr hingen die Bilder und sie nutzte diesen unbeobachteten Moment um sie sich genauer anzusehen.

Auf mehreren Bildern sah sie eine junge Frau, die etwas kränklich und nicht besonders hübsch aussah ihre Schwester Tanja. Neben ihr war Rolf zu sehen, dessen Gesicht sich im Laufe der Zeit fast nicht verändert hatte. Die Haare waren damals etwas fülliger, den Bart hatte er sich abrasiert und die Falten im Gesicht zeigten sich jetzt, im Alter, natürlich deutlicher. Was die Reporterin aber sehr überraschte war, dass sein Erscheinungsbild, der Gesichtsausdruck, bis heute unverändert geblieben war. Sie schaute sich die nächsten Bilder an, auf denen immer wieder Tanja in den unterschiedlichsten Posen und an den verschiedensten Orten zu sehen war: Schmollend mit Sommerhut, Offene Haare mit Kleid, Zipfelmütze und Wintermantel, mit Badeanzug im Freibad.

„Er hat sie vielleicht wirklich geliebt, diese Frau. Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn sie..“

Betty war traurig, dann fiel ihre Aufmerksamkeit auf zwei kleine Polaroid Fotos, die nicht eingerahmt waren wie die anderen Bilder, sondern lediglich mit einer Reißzwecke an die Wand geheftet wurden. Die Bilder waren sehr verblichen und an den Rändern bereits vergilbt, dennoch erkannte sie genau die Kinder, die darauf zu sehen waren. Auf dem linken Foto spielte der junge Harry mit einem Spielzeug LKW unterm Weihnachtsbaum, auf dem rechten Bild hatte sich Anja als Prinzessin verkleidet und lächelte matt in die Kamera.

„Er hat noch Bilder von ihnen und das trotz allem, was er ihnen angetan hat? Entweder ist er pervers, vergesslich oder selbstgerecht. Natürlich kann es auch sein, dass er...“ Betty war schockiert über ihre Gedanken und unterdrückte sie, weil nicht sein durfte was nicht sein konnte. Krampfhaft suchte sie etwas um sich abzulenken und schaute die Blumen an, die den absoluten Blickfang in diesem Raum bildeten. Sie waren in den verschiedensten Sorten vorhanden und sahen gepflegt und ordentlich aus. Mit ihren leuchtenden Farben bildeten sie einen wunderbaren Kontrast zu der alten, biederen Wohnung und sie dachte zu Recht, dass an Rolf ein begnadeter Gärtner verloren gegangen war. Sie schaute zu ihm in die Küche und sah, wie er gerade aus einem kleinen Kochtopf dampfendes Wasser in eine alte Teekanne goss und dabei einen Großteil verschüttete. Kann das der Mensch sein, von dem Harry so oft erzählt hat, hat er sich nicht vielleicht doch getäuscht? Sie kam zu der Überzeugung, dass hier ein Irrtum ausgeschlossen war.

Sie hatte stichhaltige Beweise gesammelt und glaubte nicht, dass Harry und Anja gelogen hatten, warum auch? Dieser Mensch wird von jedem Gericht freigesprochen.

So ein freundlicher, etwas vertrottelter alter Herr, der Blumen liebt und Tee aufsetzt kann doch kein Verbrecher sein, werden die Richter denken und ihn wieder nach Hause schicken. Aber er darf so nicht davon kommen, ich darf mich von ihm nicht täuschen lassen, darf nicht in seinen Bann geraten, muss jetzt standhaft bleiben! Betty führte sich immer wieder die Gespräche mit Harry vor Augen und auch die Beweise, die sie gesammelt hatte, sah im Geist die alten Polizeiberichte vor sich und auch die Zeitungsartikel überflog sie rasch.

Und dann die Wasserleiche. „Ich habe es immer geahnt und mir nun Klarheit verschafft, er ist schuldig, ja so ist es!“, schrie sie innerlich und ihr Körper erbebte.

In diesem Moment kam Rolf aus der Küche gehumpelt und hielt in den Händen das Teeservice, stellte es auf den Tisch und inhalierte zufrieden den aufsteigenden Dampf. „Kräutertee – selbst gepflückt!“, sagte er, dann folgte er Bettys Blicken und sah zur Wand.

„Du hast immer noch die alten Bilder von ihr?“, fragte sie unschuldig und er ließ sich mit der Antwort Zeit: „Warum auch nicht? Ich habe sie geliebt, liebe sie immer noch. Ein Jammer, dass sie mir so früh genommen wurde. An dem Tag, an dem sie starb, da starb auch ein Teil von mir. Tanja war mein ein und alles, meine bessere Hälfte und ich habe wirklich oft das Gefühl, dass seit ihrem Tod nur meine schlechten Eigenschaften überlebt haben.“

„Deine Kinder habe ich schon lange nicht mehr gesehen - wie süß Harry aussieht!“

„Harry, hieß er so? Ich habe ihn seit Jahren nicht mehr gesehen, unser Kontakt ist abgebrochen seit er glaubte etwas Besseres zu sein. Unser Verhältnis war nie besonders gut, aber als sie ihn damals holten und er mich so dreist verleugnete, da ist er für mich gestorben.“

„Dennoch hast du noch ein Bild von ihm hier. Und Anja, was ist mit ihr?“

„Das Amt hat sie geholt, es war eine gemeine Intrige! Man hat sie hinausgetragen und mir nicht gesagt wohin man sie bringt, hat mir jeden Kontakt untersagt.“

Betty wurde rot vor Wut und dachte an den Polizeibericht, in dem stand er habe sie halb totgeprügelt damals und dass sie seitdem an den Rollstuhl gefesselt war.

„Meine kleine Prinzessin, sie war ihrer Mutter so ähnlich, nicht nur äußerlich!“

Aber die junge Frau hatte kein Mitleid mehr mit ihm. Sie hatte seine Masche durchschaut und war voller Hass und Wut. Und ähnlich wie in einem Teekessel, in dem sich der Dampf im Inneren angestaut hat, so musste auch Bettys Wut nun entweichen. Sie zog den Brief aus ihrer Tasche und schob ihn Rolf entgegen. Der nahm ihn ruhig in die Hand und las ihn durch, während sie ihn aufmerksam beobachtete.

„Erkläre mir, was da geschrieben steht!“ Betty weinte vor Wut und Verzweiflung. Tanja war immer schwach gewesen, gutherzig und schwach und hatte alles für ihren Mann getan. „Was gibt es da zu erklären, sie muss wohl kurz vor ihrem Tod den Verstand verloren haben!“

„Kurz bevor sie von dir ermordet wurde, willst du damit wohl sagen!“

„Unsinn, wie du weißt wurde ich vor Gericht freigesprochen weil ich erstens keinen Grund hatte sie zu töten und zweitens ein wasserdichtes Alibi vorweisen konnte.“

„Du hast es geschickt gemacht, aber Anja hat es mir erzählt, kurz bevor sie in den Tod ging. Du bist ein erbärmlicher Schuft, Rolf und hast deine ganze Familie auf dem gewissen!“

„Du irrst dich, Betty. Ich hätte ihnen niemals ein Leid antun können! Wer weiß von diesem Brief?“

„Niemand außer uns Beiden, Rolf.“

„Und was willst du jetzt tun?“, fragte er lässig.

„Ich will endlich die Wahrheit erfahren und dann werde ich dich bestrafen, weil es sonst niemand tut! Dein Leben lang hast du andere Menschen geschlagen und gequält und bist immer davon gekommen. Deine Frau hast du kaltblütig umgebracht und deine Kinder in den Selbstmord getrieben, ich weiß alles über dich, Rolf!“, log sie

„Ich werde die Öffentlichkeit informieren, den Lesern alles berichten, was du getan hast. Ich werde seitenlange Berichte schreiben über den hemmungslosen, kaltblütigen Menschen, den gewalttätigen Trinker, der sich hinter deiner biederen Fassade verbirgt!“

Rolf war aufgesprungen und bebte vor Zorn. Er zitterte jetzt noch mehr und am ganzen Körper und sein Gesicht war knallrot angelaufen.

Unfähig Worte zu finden bebten seine Lippen und allein seine Augen sprachen Bände über seinen Gemütszustand. Grünlich stechend funkelten sie Betty an und jetzt wusste sie, dass sie Recht hatte. Rolf hatte aufgehört sich zu verstellen und zeigte ihr sein wahres, furchterrregendes Ich.

„Du verfluchte Reporterschlampe, du wirst niemandem etwas erzählen! Auf einen Mord kommt es mir jetzt auch nicht mehr an. Warum ich sie getötet habe willst du wissen – weil sie eine verdammte Hure war. Ich habe sie geliebt, doch sie hat mich betrogen, wieder und wieder. Ich musste etwas tun, musste handeln. Meine Kinder dagegen waren beide jämmerliche Versager, um sie tut es mir nicht leid. Du wirst allerdings verstehen, dass ich dich nach alledem nicht mehr gehen lassen will – nur über deine Leiche, wie man so schön sagt!“

Er hatte sich einen Schürhaken gepackt und wog ihn in seinen Händen, überlegte wie er es am besten tun sollte und erschrak, als er Bettys Pistole auf sich gerichtet sah. „Du zuerst, du stirbst zuerst!“, rief sie - immer noch im Sessel sitzend - presste den Griff mit beiden Händen so fest zusammen, wie sie konnte und drückte mit beiden Fingern den Abzug durch. Ein ohrenbetäubender Knall durchdrang durchdrang den Raum und ihre Arme waren vom gewaltigen Rückstoß wie gelähmt.

Rolf stand immer noch aufrecht und Betty glaubte schon, der Schuss habe ihn verfehlt, dann aber sank der Schürhaken mitsamt seinem Arm zu Boden während der andere sich gegen den Bauch presste, aus dem ein kleiner Rinnsal aus Blut floss. Er war getroffen und wirkte angeschlagen, ungläubig schaute er auf sich herab und betrachtete das auf den Boden tropfende Blut.

„Was hast du getan, du Nutte!“, schrie er in heller Wut, doch seine Stimme war schon schwach und brüchig geworden und ging nach wenigen Sekunden in ein leises Flüstern über.

„Ich bring dich um, das wirst du mir büßen!“, krächzte er leise und Blut rann aus seinem Mund.

Unverändert saß sie auf dem Sessel und hielt immer noch die Pistole in den Händen. Es war wie im Theater wie sie ihn, der sich krümmte vor Schmerz und sie bedrohte, ohne ein Wort zu sagen anschaute und darauf wartete, was wohl als nächstes geschehen würde.

Wenn es ein Film oder eine Geschichte wäre, überlegte sie, oder ein Theaterstück, dann wäre das wohl die letzte Szene, aber er würde sich zum tragischen Höhepunkt noch einmal aufraffen und sie angreifen und es würde zu einem heroischen Kampf kommen. Vielleicht würde er auch noch eine Entschuldigung flüstern oder erzählen, wie geschickt er es gemacht hatte.

Sie war beinahe enttäuscht als nichts dergleichen geschah, als er auf die Knie sank und nur noch ein leises Brabbeln und eine Menge Blut aus seinem Mund herausquoll. Rolf war tot - mit einem Schuss erledigt! Unspektakulär und souverän hatte sie ihn getötet, nie hatte sie gedacht, das es so einfach sei einen Menschen umzubringen, dass sie überhaupt zu so etwas fähig war.

Enttäuscht war sie über die fehlende Action, die heutzutage nirgends fehlen darf und seinen leisen Tod. Er hatte kein Geständnis abgelegt, keine Brandrede gehalten, nichts war so wie sie sich es vorgestellt hatte.

Betty begann zu weinen, worüber wusste sie selbst nicht. Alles war nach Plan verlaufen. Sie war zu ihm nach Hause gegangen, hatte seine böse Seite aufgedeckt und ihn getötet, aber irgend etwas passte nicht ins Bild. Jemand weinte um ihn, sie fühlte es deutlich, jemand trauerte, bejammerte seinen gewaltsamen Tod.

Erst dachte sie, es sei noch jemand im Raum und suchte vergebens nach einem Zeugen ihrer Tat, dann beruhigte sie sich. Die Türen waren abgeschlossen und niemand war da. Dann sah sie die Blumen, die vorher noch so strahlend und vital gelacht hatten und nun welk und niedergeschlagen wirkten. Bildete sie sich das nur ein oder trauerten die Pflanzen um ihren Herrn? Sie tat ihre Gedanken als Unsinn ab. Pflanzen die trauerten gab es nicht, die Evolution hatte dergleichen noch nicht hervorgebracht.

Auf einmal wurde es der Frau schwer ums Herz und sank kraftlos zu Boden. „Was habe ich getan, was habe ich getan?“ stammelte sie leise während sie von den Blumen vorwurfsvoll angestarrt wurde.

„Ich habe einen Menschen eiskalt umgebracht und den Pflanzen den Herrn geraubt. Bin ich jetzt nicht genauso schlecht wie er, habe ich mich nicht mit ihm auf eine Stufe gestellt? Egoistisch dachte ich nur an mich und meine Rache und nicht an die unzähligen Pflanzen, die nun mit ihm sterben müssen!“

Ihr Blick galt ihren Händen, die zitternd auf ihrem Schoß lagen und der vor ihr auf dem Boden liegenden Pistole, dann wanderte er zu Rolf, der zusammen gekrümmt und leblos auf dem Boden lag – richtig, er lag einfach nur da. Seine Augen waren geöffnet und zeigten noch so etwas wie überraschten Zorn, sein Mund hingegen war fast zu einem Lächeln gekrümmt, die Hände umklammerten beide das Einschussloch in seinem Bauch. „Es ist, als würde er schlafen.“ murmelte die Reporterin und dann sah Betty, wie sie näherkamen.

Es waren tausende und abertausende und sie hatten die junge Frau umzingelt, ließen ihr keine Luft zum Atmen und bedrängten sie. Wortlos krochen sie heran, aber Betty wusste genau, was sie von ihr wollten. Schaudernd ergriff sie die Pistole und schoss mehrmals in die Masse, doch außer ein paar herumfliegenden Blüten bewirkte das nichts. Entsetzt kroch sie zur Wand zurück und presste sich dagegen, schielte um die Ecke auf die Eingangstür – verschlossen war sie immer noch, der Schlüssel war wohl in Rolfs Tasche!

Angestrengt überlegte sie was zu tun war und schrie die Blumen verzweifelt an: „Er hat es doch verdient zu sterben, der Teufel, hat es doch verdient, oder nicht?“

Eine große Sonnenblume, anscheinend die Anführerin der grünen Horden antwortete ihr und sagte: „Niemand hat einen solchen Tod verdient. Nun müssen auch wir alle sterben, hast du daran gedacht? Sterben muss jeder einmal, aber du hast etwas getan, was gotteslästerlich und frevelhaft ist. Du hast dir angemaßt ein Urteil über diesen Mensch zu fällen und über sein Ende zu bestimmen, was allein Gottes Recht ist!“ Danach lachte sie hämisch und die anderen stimmten wie in einem grässlichen Chor ein. Jetzt sah Betty einen Ausweg: Zwischen ihr und dem Fenster hatte sich eine kleine Gasse gebildet, ein Fluchtweg in die Freiheit sozusagen. Mit letzter Kraft raffte sie sich auf und sprintete auf das geschlossene Fenster zu, das von zwei großen Blumenkästen bewacht wurde. Augen zu und durch, dachte sie und rief laut: „Daran habt ihr nicht gedacht, ihr närrischen Gewächse!

Ihr Körper krachte durch die Scheibe, die in tausend Stücke zersprang.

Der eintreffenden Polizei bot sich ein seltsamer Anblick, als die junge Frau mit wild rudernden Armen und Beinen aus dem fünften Stock herunterstürzte und dabei lauthals lachte. Wie in einem Actionfilm hatte sie die Scheibe durchbrochen, aber hier war kein Fluss oder ein Rettungstuch gespannt, hier gab es nur Schlamm und vereinzelte Grasstellen.

Der Aufprall war hart und er war tödlich, ein Krankenwagen wurde gar nicht erst gerufen. Mit verzerrtem Gesichtsausdruck und gebrochenen Gliedmaßen lag Betty da, einzig ihr Pferdeschwanz wirkte unversehrt und lag schön gebettet im Schlamm.

„Sie war schon immer etwas seltsam veranlagt!“ murmelte einer der Beamten und der andere sagte: „Aber so hübsch, Martin, so hübsch!“ Er trat auf Betty zu und hob langsam die kleine Sonnenblume auf, die neben ihr lag. Behutsam legte er sie der Toten auf die Brust, nahm mit der linken Hand den Hut ab und bekreuzigte sich mit der rechten.

„So jung und so hübsch!“ sagte er.

 

 

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Tag der Veröffentlichung: 23.03.2015

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