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Kollateralschäden

 

 

Michael Haase

 

 

 

Kollateralschäden

 

Eine Erzählung

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Plünderer

Es war eine sehr dunkle Nacht, dunkler als die meisten. Der Mond lag verborgen unter einer dicken Schicht von Wolken und hüllte die Welt in tiefe Finsternis. Völlige Stille umgab das Tal und kein Geräusch war zu hören außer der ruhigen, gleichmäßigen Strömung des Flusses. Man schrieb den sechsten Dezember. Nikolaus Tag. Doch statt gespannter Erwartung und leuchtender Kinderaugen herrschten Angst, Ungewissheit und innere Unruhe bei den Menschen vor.

Jeder war mit sich selbst genug beschäftigt und dachte darüber nach, wie er am besten seine eigene Haut und die seiner Lieben retten könnte. Die Politiker hielten sich an einem sicheren Ort versteckt und sendeten über Funk Durchhalteparolen ans Volk, während dieses langsam verblutete. Aufgerieben wie Getreidekörner zwischen zwei Mahlsteinen wurden die Menschen zwischen den Einheiten der Armee und den Rebellen. Dazu trieben seit neuestem auch noch bewaffnete Banden ihr Unwesen in den verwüsteten Gebieten und stahlen den Menschen das letzte bisschen, dass sie nach dem langen Krieg noch besaßen.

Die Wirtschaftselite und viele Geschäftsleute hatten ohnehin schon das Land verlassen und soviel an Kapital herausgebracht wie ihnen möglich war. So mancher, der entkommen war, freute sich dagegen allein an der Tatsache, dass er überlebt hatte und dem Schrecken entkommen war. Aber nicht von den politischen Entscheidungen oder von reichen Geschäftsleuten handelt meine Geschichte, sondern von solchen Männern, die ich vorher lapidar als bewaffnete Banden bezeichnet habe.

In jener Nacht lagen vier solcher Männer an besagtem Fluss im Dickicht des Unterholzes und hielten sich in einer Senke verborgen. Abgehärtet wie sie waren störte sie weder die eisige Kälte, die durch den scharfen Westwind noch verstärkt wurde noch der beißende Hunger, unter dem sie seit Tagen litten. Ihre Gesichter waren fahl und der Blick war leer. Sie wirkten müde, aber die Aussicht auf reiche Beute verlieh ihnen Kraft. Gespannt starrten sie auf den Fluss und in die Richtung, in der die große, verlassene Stadt liegen musste.

Wo man sonst kleine Lichter hätte sehen können, die aus den Wohnzimmern der Menschen hinaus in die dunkle Nacht leuchteten, wo sonst riesige Leuchtreklamen die Bürger zum Kauf bestimmter Waren animierten, da war alles finster und wo man sonst Autolärm und das monotone Dröhnen des Kraftwerks vernehmen konnte, da herrschte Totenstille.

Die Stadt war von den Menschen verlassen worden, gespenstisch lag sie vor ihnen wie eine Ruine. Die Männer verspürten ein angenehmes Kribbeln im Bauch beim Gedanken an die Reichtümer und Vorräte, welche die verschreckten Bewohner zurückgelassen hatten, um schneller fliehen zu können. Die Stille und Dunkelheit kam ihnen natürlich gelegen, denn für ihr Vorhaben konnten sie keine Helligkeit, kein Licht und erst recht kein Aufsehen gebrauchen. Sie waren ganz in schwarz gekleidet und hatten sogar ihre Gesichter geteert. Auch die beiden Ruderboote, die versteckt hinter ihnen in den Büschen lagen hatten sie lackiert um sie bestmöglich an die Dunkelheit anzupassen.

Auf Räuberei und Plündern stand die Todesstrafe.

Jedem von ihnen war diese Tatsache bewusst, jeder kannte die schnell einberufenen Standgerichte, alle hatten sie schon die zur Abschreckung baumelnden Leichen gehenkter Verbrecher gesehen. Dabei war es völlig egal ob man Schmuck, Geld oder nur einen Laib Brot gestohlen hatte. Olaf, der Anführer, zündete sich eine selbstgedrehte Zigarette an, die letzte bevor es losging. Er hielt sie in der hohlen Hand um keine überflüssige Lichtquelle abzugeben und beim Rauchen machte er tiefe, lange Lungenzüge. Wer ihn dabei beobachtete der musste den Eindruck gewinnen, dass er eher aus Verbissenheit als aus Genuss rauchte. Die Anderen saßen jeder für sich in einer Ecke der Grube, schwiegen sich an und warfen sich verstohlene Blicke zu. Als sie sahen, dass er rauchte folgten sie seinem Beispiel und pafften mit düsteren Gesichtern stillschweigend vor sich hin.

Gesprochen wurde nur sehr wenig. Man verstand sich auch ohne Worte. Als Olaf seine Zigarette geraucht hatte, drückte er den Stummel im Sandboden aus und vergrub ihn Daraufhin griff er in seinen Rucksack und holte nochmals die Karte hervor, die er in den letzten Tagen so genau studiert hatte. Wieder und wieder überprüfte er die Landepunkte, sah auf seine Uhr, versuchte sich so viele Straßenzüge wie möglich einzuprägen, dann gab er es auf und faltete die zerschlissene, an vielen Stellen bräunlich verfärbte Karte wieder zusammen. Mit grimmigem Gesicht wendete er sich den anderen zu: „Los geht’s Männer, ihr wisst was zu tun ist! Nehmt alles mit was nicht niet - und nagelfest ist und ins Boot passt. Fünf Uhr seid ihr spätestens wieder hier! Verstanden?“

Die anderen nickten und machten grunzende Geräusche, die eine Zustimmung ausdrücken sollten, darauf gab Olaf ein Zeichen. Schwerfällig erhoben sich die Männer und reckten die eingeschlafenen müden Glieder, dann gingen sie zu den Booten. Schweigend schleppten je zwei Mann die unförmigen, alten Ruderboote über das sandige Ufer in die Fluten, sprangen auf und stießen sich geschickt mit den Paddeln ab. Sie mussten aufpassen, denn das Wasser war drei bis fünf Grad kalt und ein Sturz oder ein Kentern des Bootes hätten fatale Folgen gehabt. Erfrierungen und das Ende des Unternehmens wären die unvermeidliche Folge gewesen, darum hatte Olaf ihnen höchste Vorsicht geboten. Eine Weile lang fuhren die beiden Boote nebeneinander her. Im rechten Boot saßen Olaf und Peter, das linke Boot war besetzt vom alten Sigi und von Pit, dem Neuzugang der Bande.

Anfangs schaute Sigi oft zu Olaf, der mit selbstgefälliger Miene am Bug saß, in die Dunkelheit hinein spähte, während Peter alleine ruderte. Da Peter allerdings genauso muskelbepackt und sehnig wie brutal war wunderte es Sigi nicht, dass das rechte Boot dennoch genauso schnell war wie seines, in dem sie zu zweit ruderten.

In diesem Augenblick wurde ihm bewusst, wie sehr er sich vor Peter fürchtete.

Er hatte schon immer Furcht vor ihm gehabt. Aus dem Nichts gekommen hatte er sich schnell in die Gruppe eingefügt und sich seitdem niemals allzu weit von der Seite des Chefs entfernt. Man wusste wenig über ihn. Er erzählte nichts von sich und es gab auch niemanden, der etwas über ihn berichten konnte. Einzig sein mit Narben übersäter Körper und sein verstümmeltes Gesicht sprachen vom bewegten, Leid erprobten Leben, dass dieser Mann unzweifelhaft gehabt hatte.

Was das Leben doch aus dem Menschen macht, dachte der Alte und wandte sich ab. Er spähte nach vorn in die Dunkelheit, sah aber nicht viel außer einigen entfernten dunklen Flecken, die einstmals bewohnte Hochhäuser oder Bürogebäude waren. Dann wandte er sich dem neuen Kameraden zu, betrachtete ihn neugierig, um auf diese Weise zu erfahren, was für ein Mensch dieser war.

Noch hatte er nicht mit ihm gesprochen und auch sonst nichts mit ihm zu tun gehabt und konnte ihn nicht einschätzen. Durch das Betrachten seiner Gesichtszüge und Körperhaltung versuchte er die Gedanken des Jungen zu erraten. Seine unbeholfenen, fast kindlichen Bewegungen sprachen für einen unausgereiften Jüngling und der Alte zweifelte daran, ob er für die Raubzüge der Männer schon reif genug war.

In der Tat war Pit ein großer, schlanker Bursche mit dünnen Lippen und langer Nase. Er hatte noch nicht viel mitgemacht, war vom Leben verwöhnt worden und das sah man ihm an. Das Haar trug er lang und zu einem Zopf gebunden und die Hände waren feingliedrig und zart wie von einem Mädchen. Der Alte schmunzelte und dachte, der Junge wäre in einem Büro weit besser aufgehoben als hier. Und wer weiß, vielleicht wäre er ja jetzt in einem Büro wenn nicht dieser verdammte Krieg das Land mit Verwüstung und Elend überzogen hätte und selbst unbeteiligte Bürger in ihren Häusern nicht sicher waren.

Pit war anscheinend voller Ungeduld, was sich in seinen hektischen, ungelenken Bewegungen bemerkbar machte. Dort ein Nagel kauen, da ein nervöses Trommeln aufs Paddel und immerzu dieses Zucken mit dem Kopf.

Sigi hatte kein gutes Gefühl. Dieser Mensch war voller Übermut und noch viel zu grün für solch ein gefährliches Unternehmen. Eine gefährliche Kombination, das wusste der Alte nur zu gut. Er hatte viele Männer gesehen im Lauf seines langen Lebens. Er wusste was man mitbringen musste fürs Geschäft und sah auf den ersten Blick wer geeignet war und wer nicht. Natürlich hatte er sich auch schon getäuscht, doch das war nur ein oder zweimal vorgekommen. Auf jeden Fall hätte er sein gesamtes Erspartes darauf verwettet, das dieser Halbstarke zu nichts taugte.

Das war natürlich auch dem Boss bewusst und so hatte er ihn wohl wissend mit dem Alten zusammengetan. Sigi solle auf ihn aufpassen, ihn unter seine Fittiche nehmen, hatte er gesagt. Er legte eine schneller Schlagzahl ein, da er auf andere Gedanken kommen wollte.

„Aber lieber den als diesen wahnsinnigen Peter, dem Schoßhund vom Boss, der ihm vollkommen hörig ist und alles für ihn tut. Peter, der selbst vor Gewalt und Mord nicht zurückschreckt!“

Voll Entsetzen sah er im Geiste die Ereignisse der letzten Woche vor sich. Er dachte an die schreienden Bauern, Weiber und Kinder, die sich ihnen in den Weg gestellt hatten und brutal niedergemacht wurden. Und warum hatten sie es getan, was war bei der ganzen Sache herausgesprungen? Ein paar Wertsachen, etwas Verpflegung. Nicht mal ein einziges Schwein hatten sie noch gefunden, da die Armee alles konfisziert hatte.

Sigi lief ein eisiger Schauer über den Rücken. Unmerklich steuerte er ein wenig nach links um die anderen Beiden aus seinem Blickfeld zu verbannen. Die Boote waren jetzt etwa an der Flussmitte angelangt und bewegten sich an einer kleinen, mit Farnen bewachsenen Insel vorbei, auf der eine große Eiche stand, die an die zwanzig Meter hoch sein mochte und alles überragte.

Diese Eiche, welche Willenskraft, welche Stärke muss sie besitzen sich auf dieser kleinen Insel seit mehreren Jahrhunderten zu behaupten und ganz allein gegen hohe Wasser und Stürme anzukämpfen. Ich wäre gerne wie sie, doch dieser Weg ist einem armen Narren wie mir nicht beschieden. Was hab ich denn gelernt? Stehlen, rauben, erpressen, das ist meine Kunst. Aber nie habe ich einem Menschen Gewalt angetan, nie habe ich gemordet. Einerlei. Wenn sie uns schnappen, dann werden wir alle baumeln. Dann werden keine Unterschiede gemacht. Einer für alle, alle für einen, heißt es doch so schön. Wir sitzen alle in einem Boot, sagt der Boss doch immer. Heute stimmt es sogar.

Traurig dachte er an Pit, der sein Leben noch vor sich hatte und dabei war es wegzuwerfen, dann musste er wieder an den Baum denken. „Was sind wir Menschen doch für törichte Wesen. Wir denken uns gehört die Welt dabei bahnt sich dieser Fluss schon seit Urzeiten den Weg durchs Tal, thronen die Berge vor uns schon seit Anbeginn der Zeit über die Landschaft. Und selbst dieser Baum dort mag schon mehr erlebt haben als eine ganze Division unserer Soldaten.“ Plötzlich schoss ihm ein Gedanke wie ein Blitz durch den Kopf. Sigi wusste nicht wieso oder weshalb, aber in diesem Moment beschloss er sein Leben zu verändern und Gutes zu tun. „Ich muss den Jungen retten, muss ihn vor einem tragischen Schicksal bewahren, muss verhindern das er so wird wie ich!“, dachte er und versank in eine tiefe Starre. Die Ruderbewegungen führte er aber genauso akkurat aus wie vorher auch.

Pit schaute den Alten mitleidig an, wie er tief in Gedanken versunken seine langsamen, ruhigen Ruderschlägen ausführte. Mal sah er ihn traurig vor sich hin schauen, mal saß er mit leerem Blick da, dann wieder lächelte er sanft. Einmal schien er angestrengt über etwas nachzudenken und Pit hätte zu gerne gewusst was das war. Eines aber erstaunte den Jungen sehr: Die Richtung oder den Rhythmus verlor er bei seiner augenscheinlichen Zerstreuung und Verwirrung, bei allem Nachdenken niemals.

So ein altes Fossil, dachte er. Lieber wäre ich mit dem Chef gefahren, aber als Frischling darf man nun mal nicht wählerisch sein. Vielleicht ist es aber auch gar nicht so schlecht, mit dem Alten unterwegs zu sein. Auf diese Weise bin ich wenigstens mein eigener Herr und kann tun und lassen, was ich will. Und falls ich etwas finde, dann behalte ich es für mich. Wenn ich fette Beute mache, dann hau ich ab, steig aus dem Geschäft aus und mache mir ein schönes Leben. Der Beruf des Diebes ist ohnehin nichts für mich, viel zu roh und zu gefährlich. Aber die Zeiten sind hart, sie verlangen nach Taten. Heute muss man was wagen, muss skrupellos sein und darf auf nichts und niemanden Rücksicht nehmen.

Bei seinen Gedanken wurde er jäh unterbrochen, denn der Alte schlug ihm mit der Faust in die Seite und raunte ihm zu: „He du Träumer. Du sollst ordentlich rudern und nicht vom Kurs abweichen.“ Leise schmunzelnd fügte er hinzu:“Hast wohl gerade an dein Mädchen gedacht, was?“ Pit zog es vor auf diese Frage nicht zu antworten und erschrak, weil in diesem Moment mehrere Detonationen in der Nähe einschlugen. Aufgeschreckt warf er sich auf den Boden, sodass das ganze Boot schaukelte und Sigi fast herausgeschleudert wurde. Die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen kauerte Pit zusammengekrümmt auf dem nasskalten Holz des Bootes und zitterte. Dabei störten ihn weder die Kälte, noch hatte er Angst festzufrieren.

Er zählte fünf aufeinanderfolgende Einschläge in der Nähe der Stadt, dann trat augenblicklich wieder Stille ein. Nur noch das gleichmäßige Rudern des Alten und das leise Plätschern des Wassers waren zu hören. Die nun eingetretene Ruhe erschütterte ihn jedoch noch mehr wie der laute Geschützdonner und es schüttelte ihn vor Angst am ganzen Körper.

„Alles in Ordnung, Pit! Steh auf und rudere weiter, nur keine Angst. Gleich sind wir am Ziel, aber wir müssen uns beeilen!“ Warmherzig, väterlich hatte der Alte gesprochen, Pit bemerkte jedoch den drohenden Unterton in seiner Stimme. Verschämt und zugleich zornig über die eben gezeigte Schwäche stand er auf. Seine Beine versagten ihm immer noch den Dienst und auch die Arme zitterten.

„Artilleriefeuer. Mörser, schätze ich!“, sagte der Alte mit einem Lächeln im Gesicht. „Sie werden bald kommen, dann geht es erst richtig los.“ Pit war starr vor Angst doch er riss sich zusammen und nach wenigen Minuten landete das Boot am Ufer.

Der Alte ging als erster von Bord; er sprang mit einer nicht für sein Alter erstaunlichen Kraft aus dem Boot, nahm das Halteseil mit sich und bedeutete dem Jungen, ebenfalls auszusteigen. Als sie gemeinsam das Boot aufs Ufer gezogen hatten, sahen sie im Schwachen Schein ihrer Taschenlampen etwa zwanzig Meter flussaufwärts das Boot ihrer Kameraden im Sand liegen. Von Olaf und Peter war nichts zu sehen, sie waren längst auf dem Weg in Richtung Stadt.

„Zieh die Sturmhaube über!“, fuhr der Alte Pit an.

“Konzentriere dich jetzt, verdammt noch mal!“ Pit nickte und holte die Maske heraus, die er in der wärmenden Hosentasche gehabt hatte. Die anderen sind schneller gewesen, dachte Sigi und ging dann, den Jungen hinter sich herziehend voran in Richtung Stadt. Mit Erreichen festen Bodens unter den Füßen wurde Pit wieder etwas selbstbewusster und gewann an Sicherheit. Auf jeden Fall war seine Abenteuerlust und die Gier nach Beute wieder erwacht.

Seinen freien Willen hatte er jedoch längst verloren, hatte sich in allen Belangen dem Alten unterwerfen müssen. Auch wenn er ihn nicht mochte, so musste er doch dessen Erfahrung und Ruhe anerkennen. Insgeheim überlegte er die ganze Zeit was er tun würde, wenn er etwas Wertvolles finden würde.

„Wenn es ein Ring oder Diamant ist, stecke ich ihn mir in die Hose oder schlucke ihn runter. Mein eigenes Ding kann ich hier nicht drehen, bin zu unerfahren und zu furchtsam. Ich werde mich an die Fersen des Alten heften, das erscheint mir das einzig Vernünftige.“ Seine Gedanken wurden jäh unterbrochen.

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 29.03.2015
ISBN: 978-3-7396-0072-7

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