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Langsam troff die Realität ihm ins Hirn, und sein Bewußtsein kam zu dem Schluss, dass er wach sein müsse. Die Sonne war bereits aufgegangen und eine leichter Wind drang durch das geöffnete Fenster. Er trug Vogelgezwitscher, Verkehrslärm und den Geruch von unverbrauchter, morgendlicher Frische in Roland Mehlers Schlafzimmer. Das Display einer Digitaluhr warf seinem halboffenen, rechten Auge ein frech blinkendes 03:34 Uhr entgegen.
Wenig später kam er zu einem weiteren Schluss: Irgendetwas war nicht so, wie es sein sollte. In dem Moment, als er erkannte, das er schon wieder verschlafen hatte, setzte sein Herz einen Schlag aus. Er schaffte es selten so schnell von wach zu hellwach, wie jetzt gerade und hastete aus dem Bett. In letzter Zeit hatte er sich bereits einige Male verspätet und er brauchte den Job. Sein Herz schlug bis in seine Ohren.
In Gedanken sah er sich vor seinem Vorgesetzten stehen. Süffisant lächelnd, schmetterte dieser seinen Erklärungsversuch mit einer unmissverständlichen Drohung nieder: „Stromausfall, heute Nacht, ja ja. Herr Mehler, sollten Sie es in diesem Jahr noch einmal nicht schaffen ihren Arsch pünktlich auf ihren Bürostuhl zu beamen, dann können Sie sich die nächste Anreise hierhin sparen. Dafür werde ich persönlich sorgen. Habe ich mich klar genug ausgedrückt, Mehler?“

08:30:00


Armbanduhr. 30 Minuten bis Dienstbeginn. Das musste reichen. Zähneputzen geht auch auf dem Klo. Wasser ins Gesicht. Zum Kleiderschrank. Socken und Hose von gestern. Neues Hemd. Kein Frühstück. Fertig. Nochmal ins Bad. Deo vergessen. Fertig. IDCard. Spurt zur Garage.

08:35:00


Als der RFID-Chip seiner IDCard den Empfangsbereich der Garagensteuerung erreichte, verriegelte sich die Eingangstür, dann schwang das Garagentor hoch und gab den Blick auf Rolands Netcar X14-N3-Vmax frei.
Trotz des Zeitdrucks hielt er einen Moment inne und blickte verträumt auf die dunkelgraue Karosserie aus carbonverstärktem Aluminium. Makel- und fugenlos erschien die Außenhaut seines Netcar dem Betrachter, unglaublich welche Spaltmaße die heutigen Nanobots hinbekamen. Roland sah durch die Heckscheibe, wie die Rückenlehne des Fahrersitzes aus der Reinigungsposition in die Senkrechte surrte, dann bildeten sich die Umrisse einer Tür auf der linken Seite und ein Teil der Außenhülle schwang lautlos nach oben. Das PKW-Icon auf seiner IDCard wechselte vom grauen Standby-Symbol nach Grün.
Roland ging in Gedanken noch einmal den Werbetext des Verkaufsprospektes durch. X14-N3-Vmax, N3 stand für den New Network Navigator, eine Neuentwicklung im Bereich der automotiven Expertensysteme. Damit war man angeblich in seinem Netcar sicherer als jemals zuvor unterwegs. Selbst eine Nacht im Ehebett sollte damit risikoreicher sein, als eine Fahrt mit dem neuen Netcar X14-N3-Vmax. Weiterhin habe der Netcar X14-N3-Vmax aufgrund des N3 Navigators als erstes Serienmodell die Zulassung bekommen, die Expressspur aller Autobahnen off Limit zu benutzen. Ab sofort dürfe man jederzeit mit Höchstgeschwindigkeit unterwegs sein, die beim neuen Netcar exakt 435 Stundenkilometern betrüge.
„Falls man es sich leisten kann,“ vervollständigte Roland in Gedanken. Die Nutzung der Expressspur war kostenpflichtig und auch mit einem Netcar X14-N3-Vmax nahmen Luftwiderstand und Energieverbrauch mit dem Quadrat der Geschwindigkeit zu.

08:37:00


Roland blickte auf das Zifferblatt an seinem Handgelenk, dann glitt er in den Fahrersitz. Er fuhr gerne mit Vmax, genoss das kribbelnde Gefühl im Bauch wenn er sich an der Geschwindigkeit berauschte. Der Blick durch eines der Seitenfenster zeigte bei Vmax nur schemenhafte Eindrücke der Welt da draußen und ließ ihn spüren, wie rasend schnell er unterwegs wahr. In Momenten wie diesem beunruhigte es ihn nicht, dass der N3 die Kontrolle über das Fahrzeug hatte. Ein Mensch reagierte bei unvorhersehbaren Ereignissen in etwa einer Sekunde. Sein Netcar hätte bei Vmax dann bereits mehr als 120 Meter zurückgelegt, ehe dem Fahrer bewußt würde, das er zu reagieren habe.
Ein N3 hätte in dieser Zeit die Menge aller möglichen Handlungsoptionen bereits in einen Entscheidungsbaum eingetragen, hinsichtlich Sicherheit und Effizienz bewertet und das optimale Manöver bereits eingeleitet. Nicht ohne Grund verrichtete unter der Haube eines N3 ein 13 GHz Hexadekacore Septron neuester Generation, mit 1,9 Milliarden Transistoren, seinen geräuschlosen Dienst. Nur mit dem bewährten Echtzeitbetriebssystem MRATOS V7.1 dem mobile realtime automotive Operating System von Automotive Inc. war ein N3 in der Lage, den gigantischen Datenstrom der Fahrzeugsensorik, obwohl nur mit 2 Terabyte Arbeitsspeicher ausgestattet, in Echtzeit zu verarbeiten.
Der N3 sorgte dafür, dass die Induktionsspulen immer genau im energetisch günstigsten Abstand die größmögliche Feldstärke des unter dem Straßenbelag versteckten Energieschienensystems nutzten, unabhängig von Lenkbewegungen, Seitenwind, Fahrzeugeigenschwingungen, Passagierbewegungen oder Gegenverkehr. Dazu war es erforderlich, ständig partielle Differenzialgleichungen der Strömungsmechanik sowie der Festkörperphysik mithilfe aufwendiger numerischer Verfahren näherungsweise zu lösen. Ein N3 kannte zu jeder Zeit den Verformungsgrad aller Punkte der Außenhülle, sowie aller statisch relevanter Knoten der Tragkonstruktion und errechnete daraus, sowie aus dem approximierten Zustandsvektor der extrapolierten Fahrzeugsituation, die bestmögliche, zukünftige Position der Energieabnehmer.
Ganz nebenbei, wohlgemerkt. Denn ein N3 steuerte und überwachte ebenfalls das Antriebssystem, erledigte Routenplanung und Navigation, kümmerte sich um die Klimatisierung der Fahrgastzelle und kommunizierte mit den Leitstellen. Nicht zuletzt garantierte ein N3, durch verteiltes Rechnen, zusammen mit vielen anderen Network Navigator Einheiten, die Kollisionsfreiheit beim Überqueren von Kreuzungen sowie beim Abbiegen oder Spurwechseln. Die Herstellerfirma garantierte für einen N3 eine MTBF von 9.800.000 Tagen. Bei einer Systemlebensdauer von 10 Jahre ergab das eine Ausfallwahrscheinlichkeit von 0.03724%, quasi Null. Die Ausfallwahrscheinlichkeit eines menschlichen Fahrers wahr laut Automotive Inc. ungleich höher.

08:38:00


Von alldem wusste Roland Mehler natürlich nichts. Er wusste auch nichts von den Vorgängen, die sich in diesem Moment, in 150 Millionen Kilometern Entfernung, im Inneren der atomaren Fusionshölle unseres Zentralgestirns abspielten. Während Roland seinen Netcar aus der Garage manövrierte, erreichte ein Photon aus dem Inneren der Sonne den äußeren Rand der Strahlungszone. Geboren bei der Vereinigung von zwei Wasserstoffatomen, war es, wegen der ungeheuren Massedichte seiner Geburtsstätte, zehntausende von Jahren von den dichtgedrängten Teilchen des Sonnenplasmas ständig eingefangen und wieder abgestrahlt worden. Jetzt gelang ihm die Flucht in den interstellaren Raum. Durch die unzähligen Absorptionsvorgänge eines Großteils seiner Energie beraubt, ging es als Gammastrahlung auf seine letzte Reise.
Roland Mehler wusste ebenfalls nicht, welche Rolle dieses winzige Elementarteilchen, dieses unbedeutende Quantum im Partikelstrom des solaren Windes, in seinem Leben noch spielen würde.

08:38:10


Den Weg von der Garage bis zur Straße legte Roland per Handsteuerung im Schritttempo zurück, sein Netcar bezog die Energie in diesem Betriebsmodus aus einer kleinen Brennstoffzelle. Sobald die öffentliche Verkehrsfläche erreicht war, würde der N3 das Hochspannungsfeld des Straßennetzes nutzen.
Roland tippte mit dem Zeigefinger zweimal kurz auf das Touchpanel in der Mittelkonsole, damit waren Ziel und Fahrmodus festgelegt: Gelsenkirchen Schalke, Overwegstrasse, Expressspur. Das Plasmadisplay der Amaturentafel wich dem einfahrenden Lenkrad nach rechts aus, anschließend glitt es wieder geräuschlos an seinen Platz.
Das Photon hatte inzwischen, ungleich schneller, die ersten drei Millionen Kilometer seiner Reise zurückgelegt.


08:38:30


Rolands Netcar reihte sich in den morgendlichen Berufsverkehr auf dem Zubringer ein. Fast lautlos schob sich die Lawine aus Fahrzeugen mit 90 Stundenkilometern aus der Stadt. Roland, der seine Führerscheinprüfung zu einer Zeit ablegte, als Fahrzeuge noch mit fossilen Brennstoffen betrieben wurden, als an Kreuzungen noch gehalten wurde, bis Lichtzeichen das Weiterfahren erlaubten (und als Autos noch von der Straße abkamen und Menschen starben, wenn der Fahrer während der Fahrt einschlief, versuchte sein Unterbewußtsein zu relativieren), erinnerte sich an seine erste Fahrt mit dem V-Leitsystem. Jahrelang war er seinem alten BMW 09ix treu geblieben, hatte gerne den Preis für sein Festhalten an dieser nostalgische Karosse gezahlt, bis es irgendwann allzu weh tat.
Die Treibstoffpreise waren explodiert, die CO2-Besteuerung erhöhte sich beinahe monatlich und ohne Network Navigator war er gezwungen, Feldwege und Landstraßen zu benutzen. Schließlich trennte er sich schweren Herzens von seinem zuverlässigen Kameraden und erstand einen vier Jahre alten Netcar X13-N2.
Er hatte selbstverständlich klare Vorstellungen von dem, was ihn erwartete, trotzdem stellte die Realität seine Vorstellungen in den Schatten. Bereits als die Fahrertür sich mit einem trockenen Klacken verriegelte, wurde ihm damals unwohl. Statt nach Benzin, roch es wie in einem Plastikbecher, erinnerte er sich. Sein Zeigefinger hinterließ feuchte Abdrücke auf dem Steuerpanel, trotzdem rang er sich schließlich zu einer Runde auf dem inneren Stadring durch. Als das Fahrzeug sich, ohne sein Zutun, in Bewegung setzte, war er einen hektischen Moment lang versucht, das nicht vorhandene Bremspedal zu treten. Er war das röhrende Blubbern seines Sechszylinders gewohnt, ein Geräusch, das man eindringlich im Ohr und in der Magengrube verspürte, stattdessen lauschte er angespannt dem beängstigend leisen Säuseln des elektrischen Antriebssystems. Bei all dem verborgenen Hightechkram, sah er nirgendwo eine Möglichkeit, im Notfall, wenn es darauf ankam, eingreifen zu können. Das fühlte sich gar nicht gut an. Was, wenn an der nächsten Kreuzung irgendein Fahrzeug ihn übersehen wurde? Was, wenn der N2 Beschleunigung oder Verzögerung beim Abbiegevorgang nicht richtig berechnen würde? Ein Blechschaden, mindestens.
Roland erinnerte sich daran, wie er nervös die Innentemperatur runtergeregelt hatte. Wenigstens da hatte er eine Wahl. Roland wusste damals auch, dass die Zahl der Unfälle mit Verletzten oder gar Toten nach Einführung des V-Leitsystemes sprunghaft bis fast auf Null zurückgegangen war. Bei den wenigen, verbleibenden Unfällen konnte jedesmal zweifelsfrei die Ursache festgestellt werden: Entweder hatten die Unfallopfer einen nicht zugelassenen MOD-Chip verwendet, ihren Network Navigator anderweitig manipuliert um die Gebührenabrechnung für die Expressspur zu drücken, oder hatten Reparatur- und Wartungsarbeiten in einer nicht zugelassenen Werkstatt ausführen lassen. Trotz dieses Wissens standen Rolands Atmung und Herzschlag bei dieser Fahrt seinem damaligen Netcar X13 in nichts nach. Sie beschleunigten ebenfalls.
Das konnte man von unserem Photon, inzwischen 30 Millionen Kilometer von der Sonne entfernt, momentan nicht erwarten. Es hatte bereits im ersten Augenblick seiner Reise Vmax erreicht.



08:41:13


Bereits 800 Meter vor der Autobahnauffahrt hatte Rolands Network Navigator ein Bewegungsprofil aller automobilen Einheiten seiner Planzelle angefordert, gleichzeitig seine eigene Fahrtroute über einen Broadcast abgegeben. Die Planzelle, in der Roland sich gerade aufhielt, war wie alle anderen auch, quadratisch, mit einer Kantenlänge von 1200 Metern. Geschwindigkeitsvektoren sowie Routenplanung aller 3658 betroffenen Fahrzeuge wurden mithilfe numerischer Optimierungsverfahren von allen Network Navigatoren der Planzelle im Rechnerverbund gemeinsam betrachtet. Im Bruchteil einer Sekunde wurde durch massiv-parallele Algorithmen eine Lösung gefunden, die Kollisionsfreiheit garantierte und bei der die Änderung des Energieniveaus in der gesamten Planzelle ein lokales Minimum erreichte. Meistens bedeutete das eine geringe Geschwindigkeitsänderung vieler Fahrzeuge. Heute morgen hieß die Lösung: maximale Beschleunigung für Roland Mehlers Netcar.
Für Roland sah es aus, als ob sich erst im allerletzten Moment der Hauch einer Chance ergab, eine winzige Lücke im Verkehr zu nutzen und die Auffahrt Richtung Autobahn zu verlassen. Sein Netcar schoss, begleitet vom hohen Sirren der Antriebsmotoren, das vom Abrufen der maximalen Beschleunigung zeugte, nach links. Roland fand sich danach im Reigen der morgendlichen Pendler wieder und füllte die Lücke bis auf wenige Zentimeter aus.
Unser Photon hatte inzwischen 58 Millionen Kilometer zurückgelegt und wurde zu diesem Zeitpunkt ebenfalls beschleunigt. Obwohl die Masse des Merkur nur etwa ein zwanzigstel der Erdmasse betrug, reichte sein Gravitationspotential dennoch, um unser Photon den Bruchteil einer Bogensekunde von seinem Weg abzubringen. Ab sofort war es auf Kollisionskurs mit der Erde.

08:43:00


Als der Netcar einige Spurwechsel nach links vollzogen hatte, befand er sich auf der Expressspur der A3, Fahrtrichtung Oberhausen. Das Gedränge der Fahrzeuge war weniger dicht, als auf den Last- und Standardspuren. Gerade auf den Lastspuren war es sinnvoll, die Fahrzeuge – fast alle hatten einen Cw-Wert in der Größenordnung einer Garage - bei einem Abstand von nur wenigen Zentimetern, vom Windschatten ihres Vordermannes profitieren zu lassen.
Hier auf der Expressspur war weit weniger Verkehr und Rolands Netcar beschleunigte auf 350 Stundenkilometer. Er überlegte, ob er Prio-1 für diese Expressfahrt nachbuchen sollte, dadurch könnte er langsamere Fahrzeuge von der Expressstrecke nach rechts auf die Standardtrassen ordern. Das würde natürlich was Kosten. Allerdings wollte er seinem Chef keine Gelegenheit bieten, die nette Art, mit der er Mitarbeiter strammstehen ließ, an ihm zu optimieren. Roland bestätigte die Prio-1 mit Hilfe seines Kontrollpanels und der Network Navigator nahm sofort Kontakt mit den Rechnern in den Fahrzeugen vor ihm auf. Er legitimierte sich durch ein, vom zuständigen V-Leitsystemserver generiertes, elektronisches Zertifikat, als Prio-1-berechtigt und delegierte so die langsameren Verkehrsteilnehmer nach rechts.
Der Netcar beschleunigte weiter.

08:44:00


Während unser Photon die Venusbahn kreuzte, bereitete Rolands N3 den Wechsel auf die A42, Fahrtrichtung Gelsenkirchen, vor. Das Netcar bremste auf 200 Stundenkilometer ab, die dabei freiwerdende kinetische Energie wurde als elektrische Spannung in hochkapazitiven Zwischenspeichern gesichert, um gleich darauf in die Induktionsspulen des Fahrzeuges geleitet zu werden. Das Fahrzeug krallte sich damit magnetisch an das Energieschienensystem, nur so gelang es Rolands Netcar, die von der Zentrifugalbeschleunigung verursachten Kräfte in die Fahrbahn zu leiten und dem Viertelkreis, den die Expressspur am Autobahnkreuz zwischen A3 und A42 aufspannte, mit seiner augenblicklichen Geschwindigkeit zu folgen.

08:45:00


Rolands Netcar hatte die Expressspur der A42 erreicht und flog mit Vmax Richtung Gelsenkirchen über den Asphalt.

08:46:20


Unser Photon erreichte die äußeren Schichten der Erdatmosphäre. Ausgestattet mit 300 Kilo-Elektronenvolt kinetischer Energie, war es in der Lage, mühelos Moleküle zu spalten oder Elektronen aus einem Atom schlagen. Allerdings würde nur bei einem überaus unwahrscheinlichen Volltreffer die dafür erforderliche Energie auf den Kollisionspartner übertragen werden.
Diesen Volltreffer gab es 150 Kilometer weiter unten, etwa einen Meter über der Asphaltdecke der A42. In der CPU von Roland Mehlers N3 traf unser Photon auf ein Siliziumatom und übertrug einen Grossteil seiner Bewegungsergie auf eines der 4 Elektronen in dessen Außenschale. Das freigewordene Elektron nahm den Weg des geringsten Widerstandes und gelangte zum Gateanschluss eines der unzähligen Metall-Oxyd-Feldeffekttransistoren des N3.
Ein einzelnes Elektron genügte dem überaus empfindlichen, in 0.13nm Technologie gefertigten Bauteil, um das zu tun, wozu es da war: Spannung floss vom Source zum Drain. Roland Mehlers Unglück nahm seinen Lauf, weil dieser Transistor mit dem Interrupt-Signaleingang der CPU verbunden war. Beim N3 war, für Sonderfälle, ein nicht-maskierbarer Interrupt vorgesehen, der immer den sofortigen Sprung des Prozessors in die jeweilige Interruptroutine auslöste.
Der gerade eben ausgelöste Interrupt hieß RESET_SYSTEM. Für den Fall, dass ein N3 wegen Softwareupdates neu gebootet werden musste, hatten die Systemarchitekten entsprechende Vorkehrungen getroffen. RESET_SYSTEM konnte normalerweise nur durch das Betätigen eines Tasters an der Unterseite des CPU-Gehäuses ausgelöst werden. Dieser Taster war durch eine aufgeschraubte, metallene Schutzkappe vor versehentlicher Betätigung geschützt. Um ihn zu erreichen, musste außerdem die breite Steckleiste am Ende des Glasfaserkabelbaumes, der den N3 mit dem Fahrzeug verband, gelöst werden. Diese Maßnahmen stellten sicher, das der N3 nur bei Stillstand neu gestartet werden konnte.
Trotzdem trug die Interruptroutine, mit deren Ausführung der N3 in diesem Moment begann, den Namen ISR_RESET_AND_REBOOT.

08:46:21


Durch den Reset des N3 sämtlicher Steuersignale plötzlich beraubt, verhielt sich das Antriebsaggregat seiner letzten Stellwerte entsprechend und wuchtete weiterhin sein maximales Drehmoment in die Räder, während Lenkung und Bremsanlage in ihrer momentanen Position verharrten.
Für Roland Mehler war die Welt noch in Ordnung, bis er registrierte, das die linken Fahrbahnbegrenzung heute näher war als üblich. Die Induktionsspulen hatten inzwischen das Kraftfeld verlassen und lieferten keine Energie mehr. Ein Relais klickte, dann schaltete die Hauptstromversorgung automatisch zur Brennstoffzelle um. Diese war nicht in der Lage den Strombedarf des weiter auf Vollast stehenden Antriebes zu decken und der siedendheiße Elektrolyt verdampfte beinahe augenblicklich. Durch die schlagartige Volumenvergrößerung bekam die Außenhülle der Brennstoffzelle einen klaffenden Riss. Rolands Netcar berührte in diesem Moment bei 412 Stundenkilometern mit der Fahrerseite die Fahrbahnbegrenzung.
Was dann geschah, las sich am nächsten Morgen wie folgt in der Zeitung: „Gegen 08.46 Uhr befuhr der 48jährige Roland Mehler mit seinem Netcar X14-N3-Vmax den linken der fünf Fahrstreifen der Bundesautobahn 42 in Richtung Gelsenkirchen, als plötzlich aus bisher ungeklärter Ursache sein Network Navigator um 08:46:21 Uhr die Verbindung zum Netz trennte. Das Fahrzeug stieß mit unverminderter Geschwindigkeit mehrfach gegen die Mittelleitplanke, bevor es quer über alle fünf Fahrspuren schleuderte und auf den rechten Grünstreifen neben der Autobahn geriet. Es entwurzelte dort kleinere Bäume und Sträucher. Anschließend setzte das Auto auf einer hinter der Strauchreihe beginnenden Leitplanke auf, wurde ausgehoben und überschlug sich mehrfach. Der Netcar kam schließlich auf dem Dach, im Bereich des Seitenstreifens zum Stehen. Durch die beschädigte Brennstoffzelle geriet das Fahrzeug in Brand, der 48jährige konnte sich nicht aus der beschädigten Fahrgastzelle befreien und verstarb noch am Unfallort. Nur dem von der Leitstelle sofort eingeleiteten Notfallmanöver war es zu verdanken, das keine weiteren Fahrzeuge beschädigt wurden.“


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Tag der Veröffentlichung: 29.08.2011

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