1
Es regnet. Schon wieder. Ich bin noch nicht richtig wach, als diese Gedanken durch meinen Kopf wandern. Einen Kopf, der sich anfühlt, als wäre er mit Nebel gefüllt. Verdammte Schlaftabletten.
„Damit solltest du aufhören, Tamara“, murmele ich. „Das ist auf Dauer nicht gesund.“ Erschöpft schließe ich die Augen. Diese Selbstgespräche strengen mich an. Sogar das Schlafen strengt an. Mit einem Seufzer drehe ich mich auf die Seite. Nur noch fünf Minuten.
Der Regen trommelt noch immer leise an die Fensterscheibe, als ich das nächste Mal aufwache. Ich muss aufstehen. Ohne große Begeisterung lasse ich es zu, dass sich der Gedanke in meinem Dämmerzustand auflöst. Aber es hilft nichts, irgendwann muss ich diesen Tag beginnen.
Mit halb geschlossenen Augen taste ich mich ins Badezimmer vor. Dort vermeide ich den Blick in den Spiegel, denn ich ahne, wie ich aussehe. Stattdessen klatsche ich mir jede Menge kaltes Wasser ins Gesicht. Das vertreibt normalerweise die weiße Schwerelosigkeit, die sich in meinem Gehirn festgesetzt hat. Seit zwei Wochen schon finde ich ohne die harmlos aussehenden kleinen Pillen nachts keine Ruhe mehr. Wenn das so weitergeht, verwandele ich mich noch in einen Pharmajunkie.
Aber damit ist jetzt Schluss! Gestern Abend, als ich noch klar denken konnte, habe ich beschlossen, den ständigen Streitereien zwischen meinem zukünftigen Ehemann Ron und meiner Mutter ein Ende zu bereiten. Es wird Zeit, dass die beiden anfangen, sich wie erwachsene Menschen zu benehmen. Noch ist mir schleierhaft, wie ich das erreichen soll. Seit unsere Hochzeit näher rückt, wird die Stimmung zwischen den beiden immer angespannter. Wenn ich nicht damit beschäftigt bin, die aufgeregten Gemüter zu beruhigen, vertreibe ich mir die Zeit damit, mich zu ärgern. Darüber, dass es keinen der beiden Streithähne interessiert, wie ich mir den schönsten Tag meines Lebens vorstelle. Der droht allmählich zu meinem schlimmsten Albtraum zu werden! Und nur deshalb kann ich seit Wochen nicht mehr schlafen.
Meine Gedanken werden von der Türklingel unterbrochen, die ich gekonnt ignoriere. Es ist mir egal, wer draußen steht. Schließlich bin ich weder geschminkt noch richtig angezogen. An die Unordnung, die im ganzen Haus herrscht, will ich gar nicht denken. Ron ist seit gestern auf Geschäftsreise, was regelmäßig dazu führt, dass das Chaos mit beängstigender Geschwindigkeit einzieht. Ich weiß nicht, wie es kommt, aber kaum ist er weg, verwandeln sich sämtliche Räume in ein Schlachtfeld, übersät mit meinen Habseligkeiten.
Wieder durchschneidet das melodische Klingeln, das für diese Tageszeit eindeutig zu laut ist, meine wirren Gedankengänge. Das kann nur ein Verrückter sein! Irgendwann wird er merken, dass niemand zu Hause ist. Entschlossen greife ich zum Make-up, beginne gerade damit, mein Gesicht in eine makellose Maske zu verwandeln, als an die Tür gehämmert wird. Langsam nervt der ungebetene Besucher. Bevor ich mit einem Knall die Badezimmertür zuschlagen kann, um endlich Ruhe zu haben, schallen folgenschwere Worte zu mir herauf: „Öffnen Sie die Tür. Hier ist die Polizei!“
Die Polizei? Meine Hand erstarrt in ihrer Bewegung. Das kann nichts Gutes bedeuten. Hoffentlich ist Ron nichts zugestoßen oder meiner Mutter … Oder sind sie wegen mir da? Der Gedanke legt sich wie ein dunkler Schatten auf meine Seele. Vielleicht sollte ich besser so tun, als sei ich nicht zu Hause. Es ist zwar lange her, seit ich Probleme mit der Polizei hatte, aber es breitet sich noch immer ein mulmiges Gefühl in meinem Magen aus, sobald ich einen Beamten auch nur von Weitem sehe. „Öffnen Sie bitte!“
Mist. Denen scheint es ernst zu sein. Zögernd setze ich mich in Bewegung. Eines ist sicher: Um diese Tageszeit kann es sich nur um schlechte Nachrichten handeln.
„Augenblick, ich komme ja schon“, rufe ich, um zu verhindern, dass sie in ihrem Eifer die Eingangstür demolieren. Innerlich fluche ich, während ich die Treppe hinabeile. Hätten die nicht ein paar Minuten später kommen können? Wenigstens so, dass ich statt eines löchrigen T-Shirts und einer Jogginghose etwas halbwegs Anständiges angehabt hätte?
Unten angekommen, mache ich mich an den vielen Riegeln und Schlössern zu schaffen, die an unserer Haustür angebracht sind. Endlich. Das letzte Schloss ist geöffnet.
Ohne nachzudenken, reiße ich die Tür auf.
Prompt zerfetzt der schrille Ton der Alarmanlage mein Trommelfell.
„Verflixt!“
Hastig tippe ich den Code ein, der dem Lärm ein Ende setzt.
„Tut mir leid, das passiert mir ständig.“ Mit einem entschuldigenden Lächeln auf den Lippen drehe ich mich zu den Polizisten um. Allein der Anblick ihrer Uniformen reicht aus, um mein Herz zu einem rasenden Tanz in meiner Brust zu inspirieren.
„Frau Krämer?“, fragt derjenige der beiden Beamten, der etwas älter zu sein scheint. Mit seinem weißen Rauschebart sieht er aus wie ein Weihnachtsmann, der sich in der Jahreszeit geirrt hat.
„Noch nicht“, will ich gerade erwidern, aber dazu komme ich nicht, denn der Mann redet schon weiter.
„Wir haben einen Notruf erhalten.“
„Einen Notruf?“
„Ja, in unserer Zentrale ging ein Anruf ein. Jemand, der seinen Namen nicht genannt hat, hat einen Einbruch in Ihrem Haus gemeldet.“
„Ein Einbrecher?“ Ich klinge wie sein Echo. Es dauert einen Moment, bis ich den Sinn seiner Worte verstanden habe. Und dann werde ich richtig sauer. Welcher Idiot hat die Polizei angerufen? Für solche Scherze bin ich nicht zu haben, vor allem nicht, wenn ich dann am frühen Morgen ungeschminkt zwei Polizeibeamten gegenüberstehe. Wobei ungeschminkt zu sein um Klassen besser wäre, als mein derzeitiger Zustand: Wenn ich mich recht erinnere, hatte ich gerade damit begonnen, eine Hälfte meines Gesichtes mit Make-up zu bedecken, während die andere noch immer in ihrem fahlen, unausgeschlafenen Glanz erstrahlt. Vom Anblick meiner Haare ganz zu schweigen.
„Hier ist kein Einbrecher“, entgegne ich. „Glauben Sie mir. Wenn es jemand versucht hätte, wüsste ich es. Dieses Haus ist besser geschützt als ein Hochsicherheitstrakt, das haben Sie ja gerade bemerkt.“ Mit einem matten Lächeln zeige ich zu dem Nummernpad, das ich eben attackiert habe.
„Wäre es nicht besser, wenn wir selbst kurz nach dem Rechten sehen würden?“
Nur über meine Leiche.
„Nein, das ist nicht nötig. Wirklich nicht. Mein Mann hat unser Haus mit den modernsten Sicherheitsvorkehrungen ausstatten lassen. Hier kommt niemand herein, ohne dass wir es merken. Da hat sich jemand einen Scherz erlaubt. Vielen Dank für Ihre Mühe. Ich weiß das zu schätzen.“
„Dann ist es ja gut. Tut mir leid, dass wir Sie gestört haben.“ Der Polizist sieht mich zweifelnd an, aber ich rühre mich nicht von der Stelle. Die Zwei lasse ich nur dann herein, wenn sie einen Durchsuchungsbefehl haben. Anscheinend sieht man mir die Entschlossenheit an, denn nach einigen Sekunden tippt er sich an die Mütze und dreht sich um.
Sie sind weg! Mit einem lauten Seufzer schließe ich die Tür und lehne mich mit dem Rücken an die Wand. Mein Herzschlag beruhigt sich. Nähert sich einem Tempo, das man fast als normal bezeichnen könnte.
Vor einigen Jahren hatte ich ziemlich oft Probleme mit der Polizei. Damals war ich politisch aktiv und habe mich für Umweltschutz, eine gerechtere Schulpolitik und die Dritte Welt engagiert. Aber das brachte mir nichts als Ärger mit den Gesetzeshütern und meinem Vater ein. Wie ein Gedankenblitz sehe ich diese eine vorübergehende Verhaftung wieder vor mir, die damals für ziemlich viel Wirbel in den Medien gesorgt hat.
Das für sich allein genommen wäre nicht so schlimm gewesen. Wirklich übel war, dass meine Mitstreiter mit einem Mal begannen, mich wie eine Außenseiterin zu behandeln, nachdem sie durch die Medienberichterstattung herausfanden, wie wohlhabend meine Eltern sind. Plötzlich war ich das reiche Mädchen, das sich aus Langeweile politisch engagiert.
Dabei war es nicht das erste Mal in meinem Leben, dass ich mit dieser Meinung konfrontiert wurde. Schon in der Schule lehnten mich Klassenkameraden nur deshalb ab, weil meine Familie Geld hat. Ich dachte allerdings, ich hätte im Laufe der Jahre gelernt, mit solchen Vorurteilen umzugehen.
Und dann war da noch mein Vater, auf dessen Reaktion auf meine Verhaftung ich nicht vorbereitet war. Dabei hätte ich es wissen müssen. Mit einem Ruck stoße ich mich von der Wand ab, versuche alle Gedanken an ihn aus meinem Kopf zu vertreiben. Noch immer fühlt sich sein damaliges Verhalten wie ein Verrat an.
Kaffee! Ich brauche unbedingt Koffein, um den unglücklichen Start in diesen Tag zu korrigieren. Mit diesem Gedanken setze ich mich in Bewegung und gehe den langen Flur entlang, Richtung Küche.
Leider komme ich nicht mehr dazu, meine Absicht in die Tat umzusetzen, denn an der Esstheke, die die Küche vom Wohnraum abtrennt, sitzt jemand.
Mit einem erschreckten Ausruf bleibe ich stehen, als ich den Fremden sehe. Wer ist das? Und vor allem, was hat er hier zu suchen?
Der Eindringling beachtet mich nicht, was nicht weiter verwunderlich ist, denn er scheint zu schlafen. Sein Kopf liegt in einer seltsamen Position auf der glatt polierten Oberfläche der Theke. Und dann ist da noch etwas …
Ein dunkler Fleck, der sich deutlich auf seinem hellen Jackett abzeichnet. Ich kenne diese rostrote Farbe, versuche trotzdem, eine plausible Erklärung dafür zu finden. Vielleicht hat er an einer schmutzigen Wand gelehnt und nicht gemerkt, dass er das Kleidungsstück besser in die Wäsche tun sollte. Vielleicht … ist er tot?
Er sieht aus, als sei er tot. Sehr tot.
Ich mache einen zögerlichen Schritt auf den Mann zu.
„Geht es Ihnen nicht gut?“ Meine leisen Worte verlassen nur zaghaft meine Lippen; er hat sie bestimmt nicht gehört. Mit einem Räuspern versuche ich es noch einmal. „Hallo? Sind Sie wach?“
Blöde Frage. Ich habe noch nie einen Menschen gesehen, der weniger wach aussah. Um nicht zu sagen, noch lebloser. Dann bemerke ich sein Auge. Es blickt starr geradeaus an die Decke, so als sei da oben etwas Faszinierendes zu sehen. So faszinierend, dass er seinen Blick nicht davon losreißen kann.
Schweißtropfen treten auf meine Stirn. Kalter Schweiß. Mein Herz fängt an zu rasen, und ich merke, wie ich zu hyperventilieren anfange, denn eines ist klar: Meine erste Vermutung war richtig. Der Fremde, der irgendwie in unser Haus eingedrungen ist, ist nicht nur tot. Nein, das traf ihn unfreiwillig. Es sei denn, er hätte selbst ein kreisrundes Loch in die Rückseite seines Jacketts geschnitten. Ein Jackett, das voll Blut ist.
In dem Versuch, mich zu beruhigen, schließe ich die Augen. Probiere einige tiefe Atemzüge. Keine Chance. Ich bin froh, dass ich es überhaupt schaffe, Luft in meine Lungen zu zwängen. Ich muss die Polizei anrufen. Genau! Nachdem ich damals nicht wegen Körperverletzung eingebuchtet wurde, schaffe ich es dieses Mal vielleicht, wegen Mordes ins Gefängnis zu kommen.
Allein der Gedanke an ein Verhör führt dazu, dass meine Beine wegknicken wie dürres Laub. Ich kann das nicht! Ich kann nicht die Polizei anrufen! Du musst, rufe ich mich zur Ordnung. Was soll ich auch sonst tun?
Nach einer Weile habe ich mich soweit beruhigt, um aufstehen und zu dem Telefon, das auf einem Tischchen im Flur steht, wanken zu können. Ich will gerade die Notrufnummer eintippen, als die Worte, die ich zu dem Polizisten gesagt habe, mir durch den Kopf schießen: „Hier kommt niemand herein, ohne dass wir es merken. Dieses Haus ist besser gesichert als ein Hochsicherheitstrakt.“
Meine Hand, die noch immer den Telefonhörer hält, sinkt nach unten. Wenn ich jetzt die Polizei anrufe, werden sie denken, ich sei es gewesen.
2
Vielleicht habe ich mich getäuscht! Möglicherweise war es eine Halluzination, hervorgerufen von den Schlaftabletten. Ich muss an die ellenlange Liste der Nebenwirkungen denken, die auf dem Beipackzettel stehen und die ich nicht gelesen habe. Jede Wette, dass Wahnvorstellungen zu den gelisteten Übeln zählen, die einen heimsuchen können, wenn man das Zeug über längere Zeit schluckt. Genau. Das wird es sein.
Ich hätte nicht gedacht, dass ich mich so darüber freuen kann, unter psychischen Störungen zu leiden. Mit neuem Mut eile ich den Flur entlang. Kann es kaum erwarten, dieses Missverständnis aus der Welt zu räumen. Das hätte ich mir gleich denken können. Nie wieder nehme ich eine Schlaftablette. Nie …
Verflixt! Noch immer sitzt dieser Fremde, der so blöd war, sich umbringen zu lassen, auf dem Barhocker.
„Was verdammt noch mal soll ich jetzt tun?“, brülle ich den Toten an. Aber der antwortet mir nicht.
Mit einem Mal wird mir schwindlig. Mit einem Stöhnen lasse ich mich zu Boden sinken. Irgendwie fehlt mir die Kraft, aufzustehen und das zu tun, was ich tun muss. Die Polizei rufen, erklären, warum ich so tat, als sei alles in Ordnung. Ich konnte ja nicht ahnen, dass tatsächlich jemand in das Haus eingedrungen ist. Die Alarmanlage war eingeschaltet! Das weiß ich genau. Schließlich musste ich sie deaktivieren, bevor ich die Tür öffnete.
Also hat jemand das Haus betreten und wieder verlassen, der den Code kennt. Und es gibt nur drei Menschen, die ihn kennen, Ron, meine Mutter und ich.
Ron … oder ich! Einer von uns beiden hat einen Mord begangen, und ich bin mir ziemlich sicher, ich war es nicht. Was nur eine Möglichkeit offenlässt: Ron. Oder meine Mutter hat sich verplappert. Nein. Ausgeschlossen. Meine Mutter mag gesprächig sein, aber den Code würde sie niemals verraten.
Ich schüttele den Kopf, versuche, diese Gedanken zu vertreiben. Ron ist zu einem Mord genauso wenig fähig wie ich oder meine Mutter. Es muss eine andere Erklärung für all das geben.
Kenne ich diesen Mann überhaupt? Bisher habe ich den Fremden nur aus ein, zwei Metern Entfernung betrachtet. Bin automatisch davon ausgegangen, dass ich nicht weiß, wer er ist. Aber was, wenn das nicht stimmt? Er liegt mit dem Gesicht auf der Theke, es ist also nicht klar zu erkennen.
Vorsichtig setze ich einen Fuß vor den anderen. Taste mich an den Toten heran. Ein Schauer läuft meinen Rücken hinab. Ich habe noch nie zuvor einen toten Menschen gesehen.
Leiser jetzt, denn ich bin ihm schon sehr nahe.
Noch leiser. Ich halte die Luft an. Er ist tot, er kann mir nichts mehr tun. Trotzdem fürchte ich mich.
Noch näher.
Noch ein bisschen … Und dann stehe ich direkt vor ihm, kann erkennen, dass er blaue Augen hat. Ein schönes, dunkles Blau, das einen ungewöhnlichen Kontrast zu den schwarzen Haaren bildet. Der Mund ist leicht geöffnet, so als hätte er noch etwas sagen wollen.
Ich habe diesen Menschen noch nie zuvor in meinem Leben gesehen.
Wie hat nur all das geschehen können, ohne dass ich etwas bemerkte?
„Was soll ich nur tun?“ Dieses Mal flüstere ich die Worte. Ich schüttele ratlos den Kopf und trete den Rückzug an. Gehe langsam nach hinten, ohne die Augen von dem Toten abzuwenden. So als bestünde die Möglichkeit, dass er sich plötzlich doch noch bewegt. Sich auf mich stürzt, wie man das immer in den Horrorfilmen sieht. Nein. Nicht mit mir. So blöd bin ich nicht, jemandem den Rücken zuzuwenden, der ermordet auf meinem Barhocker sitzt.
Als mir ein Gedanke kommt, der alles noch schlimmer macht, fährt mir der Schreck wie eine Faust in die Magengrube.
Was, wenn der Mörder noch im Haus ist? Darauf wartet, mich auch noch umzubringen? Ich muss schlucken. Spüre, wie Säure in meiner Kehle hochsteigt.
Es reicht! Wütend schließe ich die Augen, versuche mich auf das Atmen zu konzentrieren. Dieses Zittern muss aufhören, und ich habe keine Lust, mich zu übergeben. Einatmen, ausatmen. Einatmen … Ist gar nicht so schwer. Tue ich schließlich schon mein ganzes Leben lang. Einatmen, ausatmen.
3
Mit einem lauten Krachen schlägt die Tür des Gästezimmers an die Wand, um dann mit voller Wucht wieder zurückzuschwingen. „Au.“ Mein wütender Ausruf wird von einem lauten Knall begleitet. Verblüfft starre ich die Pistole, die ich mir aus Rons Nachttisch geholt habe, an. Das Ding ist geladen. Und entsichert!
Wie kann Ron nur so unverantwortlich sein, eine Waffe zu haben, die jederzeit losgehen kann?
„Verdammter Idiot.“
Mit einer Grimasse reibe ich meinen Arm, der noch immer schmerzt. Dort, wo die Tür ihn getroffen hat, bildet sich ein blauer Fleck. Dann wandern meine Augen nach unten, zu meinen Füßen, auf die Stelle, wohin die Pistole jetzt zeigt. Mist! Wenn ich nicht aufpasse, schieße ich mir noch die Zehen ab. Keine Ahnung, wie man das Ding wieder sichert. Also nehme ich sie lieber hoch. Halte sie so, dass ich höchstens die Decke durchlöchern kann, und betrete das Zimmer. Langsam.
Meine Augen suchen den Raum ab. Verharren kurz, als sie das Loch sehen, dass ich in die Wand geschossen habe. Vielleicht sollte ich da besser ein Bild drüberhängen. Dann schaue ich unter dem Bett nach, in den Schränken. Überall dort, wo sich jemand verstecken könnte. Nichts. Außer dem Loch in der Wand ist alles genauso, wie es sein sollte.
Eine halbe Stunde später ist klar, dass sich außer mir und dem Toten niemand in dem Haus aufhält. Nicht einmal ein Liliputaner hätte meiner Gründlichkeit entgehen können. Nach dem kleinen Zwischenfall mit der Pistole war ich vorsichtiger, habe die anderen Türen zwar aufgestoßen, aber auf die Lara Croft Imitation verzichtet. Der Keller war am schlimmsten. Dort gibt es nicht nur etliche dunkle Ecken, sondern auch jede Menge Spinnen.
Mit einem tiefen Atemzug lehne ich mich an die Wand in der Diele, schließe erschöpft die Augen. Jetzt weiß ich wenigstens, dass der Mörder nicht mehr im Haus ist. Allerdings bleibt damit eine andere Frage offen: Wer hat die Polizei gerufen, und vor allem, warum?
Der Gedanke kriecht wie ein kalter Schauer durch meinen Kopf. Aber das ist noch nicht alles. Eine andere Idee folgt ihm. Was, wenn Rons Pistole die Tatwaffe ist?
Oh Gott! Das ganze verdammte Ding ist mit meinen Fingerabdrücken übersät.
Es wird Zeit aufzuhören, wie ein kopfloses Huhn durch die Gegend zu rennen.
In Gedanken versuche ich mich erneut an einer Liste. Denn ich muss dieses Chaos endlich in den Griff bekommen.
Also … Warum ist es eine gute Idee, die Polizei zu rufen? Weil es das ist, was man macht, wenn man eine Leiche findet. Ein paar Minuten lang sitze ich da und zermartere mir das Hirn nach weiteren Argumenten.
Gut, dann also contra: Es ist keine gute Idee, die Polizei anzurufen, weil:
Ich ahnte nicht, dass ein Fremder in unserem Haus war, als die Beamten vor meiner Tür standen und ich ihnen sagte, ich sei allein im Haus.
Ich habe keine Ahnung, wie dieser Mann in unser Haus gelangen konnte.
Ich nicht weiß, wer für den Tod meines ungebetenen Besuchers verantwortlich ist.
Okay, vielleicht ist es noch zu früh, um die Polizei mit diesem Problem zu konfrontieren.
4
Missmutig stapfe ich durch das nasse Gras in die hintere Ecke unseres Grundstücks. Ich habe eine Weile gebraucht, um mich zu beruhigen. Um mich wieder aufzurappeln, anstatt an die Wand gekauert auf dem Boden zu sitzen und mir die Seele aus dem Leib zu zittern.
Immerhin habe ich die Zeit genutzt, um einen Entschluss zu fassen. Es ist keine Entscheidung, für die ich viel Begeisterung aufbringe. Sie wird eher von den Worten Ich muss total verrückt sein begleitet. Andererseits fällt mir keine bessere Lösung für mein Problem ein. Und so kommt es, dass ich in der dampfigen Schwüle, die den sommerlichen Nieselregen abgelöst hat, unser riesiges Anwesen durchquere.
Schneller, als mir lieb ist, bin ich in dem Teil des Gartens angekommen, der von alten, knorrigen Bäumen dominiert wird. Eine Trauerweide, die ihre Äste tief auf den Boden hängen lässt, sorgt für eine melancholische Atmosphäre; eigentlich wie auf einem Friedhof.
Jetzt muss ich nur noch den … Toten hierher bringen. Bei dem Gedanken wird mir schlecht. Aber ich habe keine andere Wahl. Obwohl ich mein Hirn nach Auswegen zermartert habe, steht eines fest: Wenn ich die Polizei informiere, bin ich mit Sicherheit ihre Hauptverdächtige.
Am liebsten hätte ich mich ein paar Tage mit diesem Problem herumgeschlagen, um mich so lange wie möglich vor einer Entscheidung zu drücken. Aber in diesem Fall muss ich schnell handeln. Was, wenn meine Mutter plötzlich feststellt, dass sie mich vermisst und mir einen Besuch abstattet? Oder eine meiner Freundinnen.
Nein. Das muss sofort erledigt werden, auch wenn ich nicht weiß, wie ich das schaffen soll.
Vielleicht sollte ich doch die Polizei …? Vor meinem inneren Auge läuft eine kurze eindringliche Bilderserie ab. Wie ich in Handschellen abgeführt werde und im Präsidium zu erklären versuche, warum auf der Pistole meine Fingerabdrücke sind.
Ron, der mich besorgt und verzweifelt ansieht, und sagt: „Tamara wäre niemals fähig, einen Menschen zu töten. Niemals!“ Mein Vater in einem Fernsehinterview, wie er bedauernd feststellt, bei der Erziehung seiner Tochter versagt zu haben. Genau wie damals …
Die Erinnerung lässt ein altbekanntes Gefühl in mir hochsteigen: Entschlossenheit. Ich werde nicht zum zweiten Mal in meinem Leben für eine Straftat verantwortlich gemacht werden, die ich nicht begangen habe.
Wie so oft folgt diesem Entschluss sofort der Zweifel. Ich muss verrückt sein. Vollkommen verrückt.
Nachdem ich mich vergewissert habe, dass ich diese absurde Idee umsetzen könnte, falls es nicht eine bessere Lösung gibt, die mir bald einfallen wird, kehre ich ins Haus zurück. Es kann ja nicht schaden, so zu tun, als würde ich den Fremden im Garten vergraben. Das Planen der nächsten Schritte hilft mir dabei, meine Angst einzudämmen. Ich zittere nicht mehr so schlimm wie vorher, habe ein gewisses Maß an Ruhe gefunden. Nicht viel, aber immerhin genug, um nicht heulend in einer Ecke zu sitzen.
Ein wenig gelassener beschließe ich, die Schlösser auswechseln zu lassen. Gerade als ich nach dem Hörer greife, um einen Handwerker anzurufen, zerreißt ein Schrillen die Stille. Mein Herz macht einen Satz.
„Es war nur das Telefon. Das verdammte, blöde Telefon“, sage ich laut, um das rasende Herzklopfen in meiner Brust zu beruhigen. Mist! Ich kann meine Zeit nicht mit belanglosen Telefonaten verschwenden. Trotzdem nehme ich das Gespräch entgegen, als ich die Nummer im Display sehe. Meine Mutter.
„Tamara. Warum rufst du mich nicht zurück? Ich wollte dir Bescheid sagen, dass ich ganz wundervolle Vorhänge entdeckt habe. Ich bringe dir nachher ein paar Stoffmuster vorbei“, ertönt ihre Stimme, kaum dass ich „Hallo“ gemurmelt habe.
Nachher? Wann nachher?
Hastig versuche ich, diese Idee im Keim zu ersticken: „Du kannst heute nicht vorbeikommen!“
„Aber warum denn nicht? Ich bin schon auf dem Weg.“
„Du bist schon auf dem Weg?“ Ich muss mich zusammenreißen, um nicht in den Hörer zu brüllen. „Das geht nicht. Ich bin schon so gut wie weg. Ich habe den ganzen Tag Termine. Morgen kannst du kommen oder übermorgen“, oder nächste Woche, setze ich in Gedanken hinzu.
„Das ist doch kein Problem, Schatz. Ich schaue nur schnell bei dir vorbei, um zu sehen, ob die Stoffe passen. Da musst du ja nicht dabei sein.“
„Nein!“
„Was ist denn heute los mit dir?“
„Ich … Ich bin etwas im Stress. Unsere Putzfrau kommt gleich, später muss ich mit dem Caterer das Menü besprechen, und der Innenausstatter will, dass ich mir irgendwelche italienische Fliesen ansehe.“ Die Liste könnte ich endlos fortsetzen, aber so langsam geht mir der Atem aus.
„Es ist ohnehin besser, wenn ich bei diesen Gesprächen dabei bin“, stellt meine Mutter fest.
Verdammter Mist. Verzweifelt suche ich nach einer Erklärung, die meine Mutter davon abhält, mir bei diesen wichtigen Verhandlungen hilfreich zur Seite zu stehen. Andererseits habe ich gestern Abend beschlossen, mir nichts mehr gefallen zu lassen, also werde ich sie mit der Wahrheit konfrontieren. Sie muss sich in Zukunft aus meinem Leben heraushalten, wenn es um solche Entscheidungen und meine Hochzeit geht. Und dann wäre da noch die Leiche, die sie auf keinen Fall entdecken darf …
„Lieber nicht. Das ist wirklich furchtbar nett von dir, aber ich habe zwischendrin einen Frisörtermin und muss danach kurz bei Nigel vorbei. Er will, dass ich bei ihm in der Galerie anfange, sobald wir aus den Flitterwochen zurück sind.“ Immerhin. Das war doch schon ein Anfang. Wenigstens habe ich NEIN gesagt … irgendwie.
„Also gut. Wenn du meinst.“ Wie immer schafft sie es, in diesen wenigen Worten jede Menge Emotionen mitschwingen zu lassen. Ich kann sie förmlich vor mir sehen, wie sie mir mit strafendem Blick zu verstehen gibt, dass ich gerade dabei bin, einen riesigen Fehler zu begehen. Und dieses Mal hat sie sogar recht.
Meine Mutter beendet das Gespräch wie üblich abrupt, ohne sich mit Abschiedsfloskeln aufzuhalten. Mit einem tiefen Seufzer lasse ich mich auf die Couch sinken. Noch mal Glück gehabt. Wenn sie erst einmal auf dem Weg zu mir ist, gibt es kaum etwas, was sie von ihrem Vorhaben abbringen kann. Trotzdem muss ich unbedingt die Leiche aus dem Haus schaffen, bevor meine Mutter es sich anders überlegt und doch noch vorbeikommt. Aber erst muss ich den Schlosser anrufen. Ich will neue Schlösser, und zwar heute noch.
„Verdammt, verdammt, verdammt!” Das ausgiebige Fluchen ist das Einzige, was mich in dieser Situation ein wenig von meiner Anspannung befreit.
„Wo ist das verflixte Ding?“ Mit einem verzweifelten Blick suche ich die Garage ab. Die Abdeckplane des Swimmingpools lässt sich nirgends finden. Kein Wunder, Ron hat sie irgendwo verstaut. Stunden später – so kommt es mir zumindest vor – fällt mein Blick auf ein ordentlich zusammengelegtes blaues Paket, das in der hintersten Ecke eines Regals liegt.
Die Plane ist schon ziemlich zerschlissen, weshalb wir sie wegwerfen wollten. Jetzt habe ich die perfekte Verwendung dafür gefunden. Niemand wird sie vermissen, sondern denken, sie sei auf dem Sperrmüll gelandet, nicht ahnend, dass eine Leiche darin vermodert, während das Plastik wahrscheinlich in hundert Jahren biologisch noch nicht abgebaut sein wird.
Egal. Ich bin heute nicht in der Stimmung, mich um Umweltverschmutzung zu sorgen. Stattdessen ziehe ich ein Paar Gartenhandschuhe an und zerre das Teil aus der Garage hervor, schleife es über die Terrasse ins Haus und zur Esstheke. Dorthin, wo der Tote noch immer auf seinem Barhocker sitzt.
Okay. Ein tiefer Atemzug. Dann noch einer. Er ist schon tot. Ich tue ihm nicht weh. Am besten kippe ich ihn vom Hocker auf die Plane. Genau.
Mit einem dumpfen Schlag fällt er auf das Plastik. Mir dreht sich der Magen um und ich übergebe mich, aber nicht auf den weißen Teppich, sondern in den großen Blumenkübel, der direkt neben mir steht. Es dauert ziemlich lange, bis ich keine Sternchen mehr sehe. Fast bedauere ich, dass ich weitermachen kann. Irgendwie war es angenehmer, hilflos herumzustehen, denn das hat mich davor bewahrt, etwas tun zu müssen.
Jetzt aber muss ich ihn in den Garten bringen. Obwohl ich weiß, dass mir nichts anderes übrig bleibt, kann ich mich nicht dazu motivieren, diese Absicht in die Tat umzusetzen. Erst nach langem innerlichem Zureden ziehe ich eine Hälfte der Plane über den reglosen Körper. Das ist besser, denn jetzt ist er unter der Abdeckung nur noch zu erahnen und starrt mich nicht mehr anklagend an. Dann fasse ich die Abdeckung an einer Ecke, die so weit wie möglich von dem darauf liegenden Körper entfernt ist, und schleife das Ganze hinter mir her.
Ist das schwer. Ich schwitze, als wäre ich in der Sauna gewesen. Dabei bin ich noch nicht einmal über die Terrasse hinausgekommen.
Keuchend bleibe ich stehen und wische mir den Schweiß ab. Und dann weiter. Noch mindestens hundert Meter. Wenn ich in diesem Tempo weitermache, brauche ich dafür den ganzen Tag.
Und dann höre ich es. Schon wieder.
Die Türklingel.
Scheiße. Scheiße. Scheiße. Wenn das noch mal die Polizei ist, kann ich mir gleich lebenslänglich geben lassen.
5
Die Leiche muss weg. Zumindest so weit, dass sie von der Terrasse aus nicht mehr zu sehen ist. Ich komme mir vor wie ein chinesischer Kuli. Jetzt weiß ich, wie es sich anfühlt, fette Touristen in einer Rikscha durch die Gegend zu kutschieren.
Wieder das Klingeln. Verdammt. Fünf Meter noch. Plötzlich ein Geräusch, das mir eine Gänsehaut über den Rücken jagt.
Die Türschlösser öffnen sich. Eines nach dem anderen. Da unser Eingang wie Fort Knox gesichert ist, dringen die Geräusche bis hier auf die Terrasse. Das kann nur meine Mutter sein.
Zwei Meter noch.
Der große Balken, der quer über der Tür liegt, quietscht. Den sollte Ron schon seit über einem Jahr ölen.
Eineinhalb Meter.
Jetzt fehlt nur noch das obere Schloss. Das Geräusch ist eigentlich zu leise, um es zu hören. Ich könnte schwören, dass ich das leise Klicken trotzdem wahrgenommen habe. Jetzt ist sie drin.
Ein Meter.
Mit einem heftigen Ruck zerre ich die Plane die letzten Zentimeter um die Ecke. Lasse das Ende los und sprinte ins Haus. Fast schlitternd komme ich vor meiner Mutter zum Stehen. Diese mustert mich ungläubig von oben bis unten. Fängt wieder oben an, öffnet den Mund, um etwas zu sagen. Schließt ihn. Ist offensichtlich sprachlos. Ein Wunder.
„Tamara, wie siehst du denn aus?“
Leider hat ihre Sprachlosigkeit nicht lange angehalten. Mit einer Hand wische ich mir den Schweiß von der Stirn und versuche mit der anderen, meine Haare in Form zu bringen. Irgendwie habe ich den Eindruck, dass das ein aussichtloses Unterfangen ist. Als ich den Gartenhandschuh anschaue, entdecke ich schwarze Striemen. Bei meinem Glück zieht sich jetzt eine schwarze Spur durch mein Gesicht. Ich bin mir fast sicher, dass die Entdeckung einer Leiche meine Mutter weniger geschockt hätte als mein derzeitiges Aussehen.
„Ich hatte noch im Garten zu tun.“
„Aber das macht doch sonst immer Ron!“
„Der kommt erst am Mittwoch und ich wollte schon einmal den Sperrmüll herrichten ...“
„Muss das sein? Du siehst aus …, ich weiß gar nicht, wie ich es ausdrücken soll. Du siehst unmöglich aus. So aufgelöst habe ich dich noch nie erlebt.“
„Es ist heiß und schwül. Was glaubst du denn, welchen Eindruck jemand hinterlässt, der bei diesem Wetter Lei … Sachen durch die Gegend zerrt?“
„Kein Grund, pampig zu werden. Am besten duschst du erst einmal, dann zeige ich dir die Muster.“
„Du wolltest doch erst morgen kommen?“
„Ich musste direkt an deinem Haus vorbei. Da macht es ja keinen Sinn, morgen noch einmal die Umwelt zu verschmutzen.“
Ja, klar. Natürlich! Unser Haus liegt mitten in einem Wohngebiet. Meine Mutter hat keinen anderen Grund als einen Besuch bei mir, um hier vorbeizufahren.
„Und jetzt dusche endlich.“ Sie rümpft die Nase. „Du riechst ganz verschwitzt.“
Super. Der Gedanke, meine Mutter mit einer Leiche allein zu lassen, die nur wenige Meter von ihr entfernt hinter der Garage liegt, erfüllt mich mit Schrecken. Sie hat einen siebten Sinn, einen eingebauten Radar, die sie alles entdecken lassen, was ich vor ihr verbergen will. Dann fällt mein Blick auf ihre Schuhe. Cremefarbene Stilettos. Vielleicht ist mir Gott heute doch noch gnädig.
„Und sollte nicht längst eure Putzfrau da sein? Hier sieht es aus, wie …“ Der Blick meiner Mutter fällt auf den Hocker, der im Rahmen meiner Aufräumaktion umgefallen ist, mitsamt der Leiche …
„Und was ist das?“ Sie zeigt auf den Blumenkübel. Verdammter Mist. Es entgeht ihr aber auch nichts. Sie hätte Polizistin werden sollen.
„Das war die Katze. Von unserem Nachbarn. Muss sich über Nacht hier hereingeschlichen haben. Ich bringe das verdammte Vieh um.“
„Tamara!“ Meine Mutter schaut mich erschrocken an. Nicht weil ich die Katze umbringen will, sondern weil ich geflucht habe. Das tue ich sonst nie … jedenfalls nicht in ihrer Gegenwart.
„Naja, es ist aber auch ein blödes Mistvieh.“ Upps.
„Ich glaube, du duschst jetzt besser. Du weißt ja gar nicht, was du redest.“
Ich kann es zwar nicht sehen, aber ich weiß genau, dass sie mir mit einem Kopfschütteln hinterherschaut. Egal. Meine Kräfte für eine weitere Konfrontation sind erschöpft. Eigentlich war der Tag noch ganz in Ordnung, als es nur um die Leiche und mich ging.
Als ich in den Spiegel schaue, kann ich das Entsetzen meiner Mutter verstehen. Ich sehe wie eine Irre aus. Vor Kurzem hatte ich noch so etwas wie eine Frisur, jetzt aber stehen mir die Haare in wilden Locken vom Kopf ab. Über meine Wange ziehen sich zwei schwarze Streifen, die von zwei ebenso schwarzen Augenringen ergänzt werden. Ich hatte wohl mit meiner Vermutung recht: Als ich den Beamten so hastig die Tür öffnete, war ich tatsächlich nur zur Hälfte geschminkt. Die gute Nachricht ist, dass das bei meinem derzeitigen Zustand kaum auffällt.
Mit einem Seufzen mache ich mich daran, den Schaden zu beheben. Dann höre ich die Türklingel. Nicht schon wieder. Trotzdem mache ich mit meiner Reinigungsaktion weiter. Wenn jemand mit ungebetenem Besuch fertig wird, dann meine Mutter.
„Tamara? Der Herr hier sagt, er soll neue Türschlösser anbringen“, sagt meine Mutter, nachdem ich wieder unten bin.
Neben meiner Mutter steht ein Mann in einem dunkelblauen Overall. Express Schlüsseldienst prangt in roten Buchstaben auf seiner Brust. Tatsächlich.
„Sollten Sie nicht erst in einer Stunde da sein?“
Mit einem Grinsen zeigt er auf den Firmennamen. „Wir sind die Schnellsten und Besten“, verkündet er.
Toll. Ausgerechnet heute kommt ein Handwerker zu früh. Ich kann den fragenden Blick meiner Mutter spüren. Ich weiß, wie es in ihrem Gehirn arbeitet. Dafür werde ich eine gute Erklärung brauchen.
„Sämtliche Schlösser an der Eingangstür müssen ausgewechselt werden. Wie lange wird das dauern?“
Nachdenklich mustert er das, was auch einen Banksafe hätte sichern können. Ich kann es ihm nicht verdenken, ich fand es auch etwas übertrieben von Ron, als er, zusätzlich zum vorhandenen Türschloss und unserer Alarmanlage, ein Sicherheitsschloss und einen Riegel installieren ließ.
„Zwei Stunden. Mindestens.“
Zwei Stunden? „Ich gebe Ihnen hundert Euro extra, wenn Sie es in einer Stunde schaffen.“
Er grinst. „Okay. Ist so gut wie erledigt.“
„Tamara, bist du noch zu retten? Willst du euer Geld mit allen Mitteln aus dem Fenster werfen?“ Uff. Sparsam bis in den Tod. Selbst wenn es nicht ihr eigenes Geld ist. Wenigstens hat sie das von dem eigentlichen Thema abgelenkt.
„Ich habe heute keine Zeit. Das habe ich dir doch schon gesagt. Wo sind die Muster?“
Mit zweifelndem Blick und einem Kopfschütteln packt sie die Stoffe aus. Ich atme innerlich auf. Geschafft. Die Leiche ist außer Sichtweite und meine Mutter mit den Gedanken bei ihrem Lieblingsthema, der Einrichtung und Neugestaltung unseres Hauses. Auch wenn ich nicht weiß, wie ich auf die dämliche Idee kam, noch vor unserer Hochzeit das Wohnzimmer neu dekorieren zu wollen.
„Findest du nicht, dass dieses zarte Lila ganz wundervoll zu eurer weißen Couch passen würde?“
„Äh. Ja ... Nein. Wir wollen eine schwarze Couch kaufen. Schwarz und viel Chrom.“ Da sieht man das Pulver für die Fingerabdrücke nicht drauf.
Meine Mutter sieht mich entgeistert an. „Schwarz und Chrom? Aber du hasst Schwarz und Chrom!“
„Ich finde, unsere Einrichtung ist viel zu konservativ. Schwarz und Chrom sind gerade enorm in, und dazu passen silberfarbene Vorhänge.“ Mit diesen Worten schiebe ich sie Richtung Tür. „Tut mir leid, ich hätte dir früher sagen sollen, dass ich meine Pläne geändert habe, aber der Gedanke ist mir erst heute Morgen gekommen.“ Nachdem ich eine Leiche gefunden habe und im Geiste schon die freundlichen Polizeibeamten sehe, die mich in Handschellen abführen. „Du musst jetzt wirklich gehen. Der Florist kann jeden Augenblick kommen, der Caterer ...“ Wer noch? Irgendwen hatte ich doch heute Morgen noch aufgezählt.
„Gut. Aber wir telefonieren heute Abend. Irgendetwas stimmt nicht mit dir, Tamara. Geht es dir wirklich gut?“
Mist. Niemand ist schlimmer als meine Mutter, wenn sie sich Sorgen um mich macht. „Ja, ja. Alles in Ordnung. Mir geht es blendend. Nur ein bisschen gestresst heute. Bin froh, wenn die Woche hinter mir liegt.“
Endlich. Sie ist weg.
Der Schlosser werkelt wie ein Wilder an unserer Tür herum. Der ist bestimmt auch bald fertig.
6
Nachdem der Handwerker ebenfalls gegangen ist, mache ich mich auf den Weg in ein Gartencenter. Dort kaufe ich ein paar Quadratmeter Rollrasen, den ich über dem Grab ausbreiten werde, das bald in unserem Garten entstehen wird. Innerlich bete ich wider besseren Wissens, dass es nicht soweit kommen wird. Hoffe auf ein gnädiges Schicksal und auf eine Leiche, die sich in Luft auflöst.
Als ich den Kauf erledigt habe, sitze ich fast eine Viertelstunde regungslos in meinem Auto. Ich müsste nach Hause fahren, aber das ist der letzte Ort, an dem ich jetzt sein will. Normalerweise besuche ich Nana, meine Großmutter, in Krisensituationen, aber diese Krise ist zu groß, um damit zu ihr zu gehen. Und außerdem … ich bin noch nicht so weit, mit jemandem darüber zu reden oder belanglosen Smalltalk zu betreiben. Nein.
Nach einer Weile gebe ich mir einen Ruck. Ich werde nach Bockenheim fahren und dort in eines der Studentencafés gehen. Vielleicht schaffe ich es sogar, etwas zu essen.
„Ein Glas Sekt bitte und das Frühstück Nummer neun mit einem Milchkaffee“, bestelle ich bei der Bedienung, froh darüber, einen Sitzplatz im Albatros ergattert zu haben. Es dauert nicht lange und das Gewünschte steht vor mir. Meine Hände sind noch immer zittrig, sodass ich mein Glas mit beiden Händen fest umschließen muss und nur vorsichtig daran nippe. Vielleicht hilft mir der Sekt dabei, mich zu entspannen und ruhiger zu werden. Schließlich habe ich noch nichts Endgültiges getan.
Allmählich tut der Alkohol seine Wirkung! Ich fühle mich zum ersten Mal an diesem Tag etwas besser. So, als könnte ich tatsächlich etwas essen, ohne es sofort wieder von mir zu geben. Vorsichtig probiere ich das Brötchen. Nehme einen weiteren Bissen, als mir auffällt, wie hungrig ich bin.
Es scheint ewig her zu sein, dass ich etwas gegessen habe. Irgendwann gestern Abend war die letzte Mahlzeit. Heute hat mir der Tote … Okay, lieber an etwas anderes denken.
Um mich abzulenken, blättere ich in einer Zeitschrift. Aber es gelingt mir nicht, auch nur ein Wort von dem zu verstehen, was ich lese. Die Buchstaben tanzen vor meinen Augen und ergeben keinen Sinn. Mit einem Seufzer gebe ich auf und schaue stattdessen aus dem großen Terrassenfenster hinaus auf den kleinen Park. Während meines Studiums habe ich etliche Stunden in diesem Cafégarten unter der Laube gesessen, Milchkaffee getrunken und erregte Diskussionen über die letzte Klausur oder einen unfairen Professor geführt. Hier habe ich Ron zum ersten Mal getroffen.
Als ich ihn sah, hätte ich nie gedacht, dass er sich für mich interessieren würde. Er sah so unglaublich gut aus, war so männlich und selbstbewusst. Ganz anders als die Männer, mit denen ich zuvor liiert war. Ron wusste immer genau, was er wollte und vor allem, wie er es bekam.
Mit einem verträumten Lächeln lasse ich meinen Blick durch den Garten wandern, und ich erinnere mich an eine heiße Sommernacht, kaum zwei Wochen, nachdem wir uns kennengelernt hatten. Ich war in Rons Penthouse, das eine atemberaubende Aussicht über das gesamte Rhein Main Gebiet gewährt. Aber das war es nicht, was meine Aufmerksamkeit fesselte. Es war Ron selbst. Er hielt mich mit seinem Blick fest. Im Hintergrund lief Musik, aber ich nahm sie gar nicht richtig wahr. Nichts schien zu existieren außer Ron und mir.
„Du bist so wunderschön“, flüsterte er schließlich. Ohne den Blick von mir zu lösen, zeichnete er mit dem Finger die Konturen meines Gesichts nach. Ich schloss für eine Sekunde die Augen, genoss die Berührung, die sämtliche Nervenenden zum Leben erweckte. Wie eine Spur aus Lava.
Und dann spürte ich ein sanftes Streicheln auf meinen Lippen, gefolgt von dem Geschmack nach Meer.
Salz.
Sein Finger wanderte weiter, strich über mein Kinn den Hals hinab, bis zu meinem Ausschnitt. Er fuhr an dem dünnen Stoff entlang, ohne meine Haut zu berühren.
Ein prickelnder Duft reizte meine Sinne. Ich öffnete die Augen, sah Ron, der eine Zitrone in seinen Händen hielt.
Ganz zart trennten seine Zähne ein Stück davon ab. Er lächelte, als er sich zu mir beugte und das Salz von meinen Lippen leckte. Und dann küsste er mich.
Sehnsucht breitet sich in mir aus. Ich wünschte, er wäre hier und könnte mir helfen, mit diesem Chaos, in das sich mein Leben verwandelt hat, fertig zu werden. Aber er ist noch bis Mittwoch weg. Und ich will ihm nicht am Telefon erzählen, was passiert ist. Man hört so oft davon, dass Handygespräche abgehört werden, und außerdem, was soll ich sagen? Mein Tag war ganz nett bis auf die Leiche, die ich gefunden habe?
Ein leiser Glockenton reißt mich aus diesen Überlegungen. Eine SMS. Ron. Als hätte er meine Gedanken gelesen und gewusst, dass ich ihn jetzt brauche.
Ein Meeting jagt das nächste. Wie geht es dir?
Wie es mir geht? Schlecht!
Aber das kann ich ihm natürlich nicht simsen, sonst will er wissen, was los ist. Und obwohl ich mir nichts sehnlicher wünsche, als mit ihm über alles zu sprechen, antworte ich mit einem Blendend. Bin im Albatros beim Frühstück, sende die SMS ab und starre vor mich hin, ohne etwas von dem Regen und den grauen Wolkenmassen draußen wahrzunehmen. Schon morgen kann mein Leben weitergehen wie bisher. Oder nicht?
Wer war der Tote? Warum war er in unserem Haus? Und vor allem, wie ist er hineingelangt?
Ich wünschte, ich könnte aufhören zu denken. Einfach mein Gehirn abschalten und für ein paar Stunden Ruhe haben. Aber das geht nicht. Die Fragen fahren Karussell in meinem Kopf, bringen mich fast um den Verstand. Bis eine Überlegung alles zu einem abrupten Stillstand kommen lässt: Mir geht mit einem Mal auf, wie ich zumindest eine der wichtigsten Antworten schon längst selbst hätte finden können. Ich Idiotin, ich hätte nur in den Taschen des Toten nachschauen müssen. Vielleicht hatte er eine Brieftasche dabei. Möglicherweise wüsste ich dann schon, wer er war. Bei dem Gedanken daran, in der Kleidung einer Leiche herumzuwühlen, breitet sich ein mulmiges Gefühl in meinem Magen aus. Hastig stehe ich auf und bezahle meine Rechnung an der Theke, anstatt auf die Bedienung zu warten. Hier drin wird es mir zu eng. Ich muss raus, weg von hier.
Es regnet, als ich aus dem Café komme und mich auf den Weg ins Parkhaus mache. Hier unten ist es düster und unheimlich. Zumindest, wenn man einen Tag wie ich hinter sich hat. Mit gesenktem Kopf schlängele ich mich zwischen den Autos durch, trete auf den schmalen Weg, der eine Parkreihe von der anderen trennt, als ein gellendes Quietschen ertönt. Irgendein Idiot denkt wohl, hier sei der richtige Platz für ein Autorennen.
Die Geräusche kommen näher. Schnell überquere ich die schmale Gasse, um zu meinem Wagen zu gelangen. Möglichst bevor der Möchtegern-Rennfahrer mich mit seinen Abgasen umbringt. Das Motorengeräusch wird lauter. Beunruhigt schaue ich mich um. Starre direkt in die Scheinwerfer eines schwarzen BMWs, der, ohne seine Geschwindigkeit zu verringern, auf mich zurast.
Jetzt weiß ich, warum sich Rehe nie bewegen, wenn sie im Scheinwerferlicht gefangen sind.
7
Mit einem heftigen Ruck werde ich zur Seite gerissen. Der BMW rast so dicht an mir vorbei, dass er mich fast gestreift hätte.
„Saukerl, dreckerter!“
Zitternd drehe ich mich um. Ein gut aussehender, älterer Herr lächelt mich an. „Da haben Sie noch einmal Glück gehabt, Fräulein. Diese jungen Leut heutzutage.“ Er schüttelt den Kopf. „Kaum haben sie den Führerschein, schon denken sie, sie wären Michael Schumacher.“
„Danke, vielen Dank“, stammele ich, noch immer unter Schock. Zum Glück redet er hochdeutsch mit mir. Sonst hätte ich wahrscheinlich kein Wort verstanden. Dieser ironische Gedanke lässt ein hysterisches Lachen in meiner Kehle aufsteigen. Hastig dränge ich es zurück. Wenn ich jetzt zu lachen anfange, werde ich nicht mehr aufhören. Wird mich die Hysterie ganz packen.
„Keine Ursache.“ Mit diesen Worten tippt er sich an den Hut, er trägt tatsächlich einen Gamsbart mitten in Frankfurt, und geht davon.
Ich stehe noch immer neben den Autos und versuche, tief durchzuatmen, obwohl mein Brustkasten wie eingeschnürt ist. Es ist ein Gefühl, als würde ich ein Stahlkorsett tragen. Wieder versuche ich, Luft zu holen. Besser. Langsam geht es besser. Mittlerweile habe ich ja auch Übung darin.
Der Mann hatte sicherlich recht. Bestimmt war es irgendein Halbstarker, der Formel-1-Pilot spielen wollte und mich nicht gesehen hat.
Wenn ich die Augen schließe, kann ich das Gesicht des Fahrers vor mir sehen. Dunkle Haare, Sonnenbrille, mindestens 35 Jahre alt. Nicht gerade jung. Trotzdem, niemand will mich umbringen. Ganz bestimmt nicht.
Ein leichter Sprühregen hat einen nebligen Schleier über den Garten gelegt. Von den Ästen der Trauerweide tropft es auf mich herab, als ich einige Stunden später den Boden mustere und wünschte, ich könnte stattdessen mit einem dicken Schmöker im Bett liegen. Aber daraus wird nichts. Schließlich muss ich einen Toten vergraben.
Ohne große Begeisterung fange ich mit der Arbeit an. Die Erde ist nass und schwer, Regenwürmer winden sich auf den Brocken, die ich mit der Schaufel aushebe. Es dauert keine zehn Minuten und ich bin erschöpft, mein Rücken ein Flammenmeer. Dabei habe ich gerade erst angefangen. Das markierte Rechteck ist nur um wenige Zentimeter tiefer geworden.
Am liebsten würde ich die Schaufel hinwerfen und mich heulend ins Bett verkriechen. Das ist der schlimmste Tag meines Lebens, und er ist noch lange nicht zu Ende. Ich muss mich zusammenreißen. Für Selbstmitleid bleibt später noch genug Zeit, ermahne ich mich. Ich werde solange weiterarbeiten, bis das Loch fertig ist. Ich werde an nichts denken, mich durch nichts ablenken lassen. Durch gar nichts! Ich werde so lange graben, wie es nur geht, und diese gruselige Arbeit hinter mich bringen.
Irgendwann kann ich nicht mehr, da hilft alles Zureden nichts. Ich bin vollkommen erschöpft. Jede Schaufel Erde, die ich aushebe, scheint Tonnen zu wiegen, und ich schaffe es kaum noch, die Erdbrocken auf die Seite zu kippen. Mit einem lauten Stöhnen werfe ich den Spaten hin, wanke zu dem dicken Stamm der Trauerweide und lasse mich daran zu Boden gleiten.
Ich brauche eine Pause. Nur ein paar Minuten, dann kann ich weitermachen …
Etwas Nasses tropft auf meinen Kopf. Immer wieder. Mühsam öffne ich die Augen, brauche einen Augenblick, um mich zurechtzufinden. Erstaunt registriere ich, dass ich es geschafft habe, einzuschlafen. Da nehme ich wochenlang Schlaftabletten, und dann fallen mir die Augen zu, obwohl es regnet, kalt ist und mein ganzer Körper ein einziger Schmerz zu sein scheint.
Mein Blick fällt auf die kümmerliche Grube, die ich ausgehoben habe. Wie soll ich nur den Rest schaffen, so wie ich mich fühle? Seufzend rappele ich mich hoch. Es hilft nichts. Wenn ich nicht im Gefängnis landen will, muss ich jetzt weitermachen.
Zum Glück hat der Regen nachgelassen, und der Vollmond wirft ein helles, milchiges Licht auf den Garten, das mir zu sehen erlaubt, was ich tue. Groß und schwer hängt der Mond am Himmel und leistet mir Gesellschaft. Doch dann wird es plötzlich dunkel, Wolkenfetzen verdecken die weiße Scheibe, die eben noch mein Freund war, und ein heftiger Wind kommt auf. Blätter rauschen. Ein Zweig knackt. Hinter mir wispert es.
Was war das? Der Schreck umklammert mein Herz wie eine eiserne Faust. Ich halte inne. Lausche. Ist da jemand? Angestrengt versuche ich, in der matten Dämmerung etwas zu erkennen.
Wieder knackt ein Ast. Es raschelt. Mit einem Mal geht mein Atem nur noch stoßweise, ein unwillkommener Gedanke rumort in meinem Kopf: Ich bin ganz allein mit einer Leiche.
Würde mich nicht wundern, wenn der Geist des Ermordeten umgeht und wütend ist, weil ich seinen Körper einfach verscharren will, anstatt für Gerechtigkeit zu sorgen. Ein kalter Schauer rieselt meinen Rücken hinab. Etwas Glitschiges streift meinen Arm, und ich mache einen Satz nach hinten, komme an den Rand der Grube und muss um meine Balance kämpfen. Und dann höre ich einen erstickten Schrei.
Sekunden später hocke ich neben dem Grab auf dem Boden und versuche, mich wieder zu beruhigen. Ich brauchte eine Weile, um zu merken, dass ich es war, die geschrien hat. Nichts ist passiert. Es ist nichts geschehen. Gar nichts. Wenn ich mir das lange genug einrede, glaube ich es vielleicht sogar.
Langsam, sehr langsam, fühle ich mich besser. Es war nur der Wind. Das ist alles. Ein Blatt des Strauches, neben dem ich eben noch gestanden habe, hat mich am Arm gestreift.
Mit einem tiefen Atemzug stehe ich auf, greife erneut die Schaufel. Es reicht! Ich werde jetzt diese verflixte Leiche verscharren und dann mit meinem Leben weitermachen.
Irgendwann ist das Loch tief genug. Mit einem erleichterten Seufzer lasse ich die Schaufel auf den Boden fallen und schleife den Toten die wenigen Meter von seinem Platz unter den Bäumen bis zur Grube herüber.
Und dann stehe ich unschlüssig da und starre auf die Plastikplane. Jetzt ist es soweit, ich muss das tun, wovor ich mich die ganze Zeit gedrückt habe. Ich muss ihn begraben, aber zuvor gibt es noch eine weitere Aufgabe zu bewältigen: Ich muss ihn durchsuchen. Vielleicht finde ich einen Hinweis auf seine Identität.
Zum hundertsten Mal an diesem Tag wünsche ich, weit weg zu sein.
Dann aber gehe ich daran, ihn von der Plane zu befreien, bis sein Körper vor mir liegt. Zaghaft klopfe ich seine Taschen ab. Nichts. Sie scheinen leer zu sein. Jetzt könnte ich ihn wieder einwickeln und …
Nein. Ich muss Gewissheit haben.
Mit zusammengebissenen Zähnen lange ich in eine Jackentasche hinein, dann in die andere. Auch die Hosentaschen durchsuche ich. Aber ich finde nichts. Also dann werde ich ihn jetzt beerdigen … Und damit endgültig etwas tun, was nicht richtig ist.
Dieser Gedanke lässt mich innehalten. Ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich meinen Plan in die Tat umsetzen soll. Ob es nicht eine andere Lösung gibt. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass selbst der beste Anwalt mich aus dieser verfahrenen Situation herauspauken könnte. Zu viele Beweise sprechen gegen mich.
Ein eisiger Luftstoß fegt durch den Garten und lässt mich erschauern. Mir ist kalt. Meine Klamotten sind durchweicht und kleben an meinem Körper. Es regnet noch immer. Fast scheint es, als ob das Wetter um den Verstorbenen trauere. Was vielleicht ganz gut ist, wenn man bedenkt, dass der Tote sonst niemanden hat, der diesem Begräbnis beiwohnt. Von mir natürlich abgesehen, allerdings bewegen mich eindeutig andere Gründe als einen trauernden Hinterbliebenen.
In Gedanken entschuldige ich mich bei dem Mann dafür, dass ich ihn gleich unzeremoniell in ein provisorisches Grab stoßen werde. Ich mache es wieder gut. Ganz bestimmt. Ich habe nur keine Ahnung, wann und wie ich das anstellen soll.
Mit einem dumpfen Aufprall landet die Plane mit dem schweren Körper in der Grube. Ich häufe die Erde darüber, rolle die Grasmatten aus und glätte die Erde drum herum. Und dann lasse ich alles stehen und liegen und gehe ins Haus zurück.
8
Als ich geweckt werde, kommt es mir vor, als hätte ich mich gerade erst hingelegt. Das Telefon. Verdammt! Ich hätte es abstellen sollen.
Müde reibe ich mir die Augen. Versuche, das Klingeln zu ignorieren. Dann ... endlich hört es auf. Gut. Weiterschlafen.
Sekunden später vibriert das Handy, das auf dem Nachttisch liegt. Mist!
Meine Mutter. Natürlich. Wer sonst würde es wagen, mich so früh anzurufen? Ein Blick auf den Wecker verrät mir, dass es halb acht ist.
„Es geht mir nicht gut. Ich rufe dich morgen an“, murmele ich in den Hörer und beende das Gespräch, bevor sie protestieren kann.
Als ich das nächste Mal aufwache, ist es drei Uhr nachmittags. Trotzdem fühle ich mich wie gerädert, jede Faser meines Körpers steht in Flammen. Außerdem fühle ich mich schmutzig. Letzte Nacht war ich zu müde, um zu duschen.
Mit leisem Stöhnen mache ich mich daran, wieder zu einem normalen Menschen zu werden. Wasche nicht nur den Schmutz ab, sondern auch das ungute Gefühl, das mich überkommt, wenn ich an den dumpfen Aufprall denke, mit dem die Leiche in der Grube landete.
Nein! Lieber an Vorhänge denken. Weiße Vorhänge oder blaue. Meinetwegen auch grüne. Dazu eine schwarze Couchgarnitur. Vielleicht kann ich heute auf die Suche gehen. Oder morgen. Nächste Woche reicht eigentlich auch noch.
Auf dem Weg vom Badezimmer zur Treppe beschleicht mich ein ungutes Gefühl. Die erste Treppenstufe erscheint mir wie das Tor zur Unterwelt. Was, wenn sich wieder ein Fremder ohne mein Wissen in unser Haus geschlichen hat? Unsinn! Natürlich wird alles so sein, wie sonst auch. Trotzdem wollen mir die Beine nicht gehorchen. Was vollkommen idiotisch ist, denn mein Leben kann wirklich nicht mehr schlimmer werden, als es jetzt ist.
Mit aller Willenskraft setze ich den rechten Fuß auf die Stufe, ziehe den linken Fuß nach und mache einen Schritt nach unten. Dann wieder den rechten Fuß … und immer so weiter, bis ich im Hausflur angekommen bin. Vor meinem inneren Auge sehe ich einen Toten, der mich frech angrinst. Das Bild ist hartnäckig, will sich nicht aus meinem Kopf vertreiben lassen. Ich möchte eigentlich in die Küche, aber mir ist, als würde mich eine unsichtbare Hand zurückdrängen. Vielleicht später ... Jetzt muss ich ohnehin die Terrasse aufräumen. Ich stopfe die nassen Kleidungsstücke in einen Müllsack und werfe alles in die Tonne. Morgen kommt die Müllabfuhr, dann sind die letzten Spuren meiner nächtlichen Aktion beseitigt.
Es ist kurz vor halb sechs, als ich auf den Hotelparkplatz einbiege. Pünktlich zum Kochkurs, der wöchentlich stattfindet. Ich bin froh darüber, dass ich hierher flüchten kann, obwohl ich todmüde bin. Vielleicht bringt mich das Kochen auf andere Gedanken. Wenn ich mich auf die Küchenarbeit konzentriere, kann ich nicht darüber nachdenken, wie ich die Leiche … Also, Hauptsache mein Kopf ist mit etwas anderem als meinen derzeitigen Problemen beschäftigt.
Der Kurs sollte eine Überraschung für Ron sein. Er ahnt nicht, dass ich fest entschlossen war, eine vollendete Gastgeberin für anspruchsvolle Geschäftsessen zu werden und eine ebenso gute Köchin. Allerdings habe ich mittlerweile festgestellt, dass das viel schwieriger ist, als ich mir jemals hätte vorstellen können. Weshalb auch der Gedanke, einen Cateringservice zu engagieren, anstatt von aufwendigen Menüs zu träumen, die ich ohne Probleme zubereite, in den letzten Wochen immer mehr an Reiz gewonnen hat. Es muss ja niemand davon erfahren. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sämtliche Bankergattinnen in Rons Bekanntenkreis in der Lage sind, spontan ein Dinner für fünfzehn Personen zu zaubern. Leider fehlt mir dieses Talent. Und, wenn ich ehrlich bin, fehlt mir auch die Begeisterung für ein solches Unterfangen.
Aber wenn heute etwas keine Rolle spielt, dann sicher das. Solange ich von anderen Menschen umgeben bin und mir nur den Kopf darüber zerbrechen muss, wie ich es schaffe, eine Crème Brulée hinzubekommen, ohne das Hotel in Brand zu setzen, wird es mir gut gehen.
Bevor ich aus dem Auto steige, überprüfe ich mein Make-up, ziehe mit gekonntem Schwung die Lippen nach. Lächle mich im Spiegel an und will noch einmal den Kajalstrich auffrischen, als ... Das kann nicht sein! Der Stift fällt mir aus der Hand und hinterlässt einen schwarzen Streifen auf meiner weißen Bluse. Das bemerke ich allerdings erst viel später, denn all meine Sinne sind in dieser Sekunde damit beschäftigt, einen Schock zu verarbeiten. Sehr erfolgreich sind sie damit nicht. Ich starre mit weit aufgerissenen Augen in den Rückspiegel, obwohl das Pärchen, das mich in diesen Zustand versetzt hat, längst verschwunden ist.
„Das kann nicht sein. Bitte, lieber Gott, mach, dass das nicht wahr ist“, flüstere ich. Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass Gott mich hört. In letzter Zeit scheint er mit wichtigeren Dingen beschäftigt zu sein, als auf meine Gebete zu achten.
9
Die Fahrt nach Hause lege ich wie ein Zombie zurück. Während mein Körper mechanisch die notwendigen Handgriffe erledigt, wiederholt sich vor meinem inneren Auge immer wieder die gleiche Szene: Ron und diese Frau gehen Arm in Arm über den Hotelparkplatz und dann bleiben sie stehen und küssen sich. Im Geiste schmücke ich das Ganze aus, stelle mir vor, wie sie ins Hotel hineingehen, zusammen im Bett liegen und diverse Zärtlichkeiten austauschen. Ron, der ihr ins Ohr flüstert, dass er noch nie so tollen Sex hatte … Bei dieser Vorstellung fahre ich fast gegen einen Baum, aber irgendetwas, vielleicht der grundlegende Überlebensreflex, zwingt mich dazu, das Steuer gerade noch rechtzeitig herumzureißen.
Und dann bin ich endlich in Kronberg. Ich betrete unser Heim, lasse die Haustür hinter mir ins Schloss fallen, schleppe mich die Treppe hinauf in unser Schlafzimmer und verkrieche mich ins Bett. So ähnlich müssen sich Schlafwandler fühlen. Nicht ganz da, aber auch nicht in vollkommenem Tiefschlaf. Schlaf! Das ist genau das, was ich jetzt brauche. Eintauchen in das Vergessen, einfach für eine Weile nicht Teil dieser Welt sein. Morgen, wenn es hell ist, ist alles wieder in Ordnung. Morgen werde ich feststellen, dass ich geträumt habe. Dass Ron auf Geschäftsreise ist. Genauso, wie er es mir erzählt hat.
Ron ist in Brüssel!
Der Gedanke setzt sich in meinem Kopf fest. Mit einem Mal überkommen mich Zweifel, gefolgt von schlechtem Gewissen. Ich habe nur kurz in den Rückspiegel geblickt. Warum also bin ich mir so sicher, tatsächlich Ron mit dieser Fremden gesehen zu haben?
Mit dem Handrücken wische ich die letzten Tränen ab. Natürlich war es nicht Ron! Ich bin überspannt. Der Stress der letzten zwei Tage, die fast schlaflose Nacht, die Sorgen und Ängste, mit denen ich mich herumschlagen musste, verursachen, dass ich überreagiere. Es ist nicht weiter erstaunlich, dass ich mit den Nerven am Ende bin. Und mir Dinge einbilde, die gar nicht passiert sind. Ron ist in Brüssel! Der Mann auf dem Hotelparkplatz hat ihm ähnlich gesehen, aber das ist auch schon alles.
Entschlossen rappele ich mich auf, schlage die Bettdecke zurück und wanke ins Badezimmer. Aus dem Spiegel sieht mir eine jämmerliche Figur entgegen. Meine Haare sind ein einziger wirrer Albtraum, während mein Gesicht mit roten, geschwollenen Augen glänzt. Super! Von meiner total zerknitterten schmutzigen Bluse gar nicht zu reden.
Mit kaltem Wasser versuche ich, die Spuren meines Zusammenbruchs zum Verschwinden zu bringen. Es hilft nicht viel, aber ich fühle mich ein wenig besser, als ich mich von meinem traurigen Spiegelbild abwende und nach unten gehe.
Im Keller angelangt, mustere ich die üppige Auswahl an teuren Flaschen, die sorgfältig aufgereiht vor mir liegen. Zum Glück hat Ron die Vorräte bestens organisiert, und so weiß ich genau, wo die guten Weine zu finden sind.
Mit einer Flasche in der Hand steuere ich das Wohnzimmer an, hole mir ein Glas und lasse mich mit einem tiefen Seufzer in einen Sessel fallen. Dann ziehe ich mit langsamen, methodischen Bewegungen den Korken, schenke mir großzügig ein und nehme einen tiefen Schluck. Der samtige Geschmack explodiert in meinem Mund. Noch besser aber ist das angenehm entspannte Gefühl, das sich nach einigen weiteren Schlucken wie eine kuschelige Decke über mich zu legen beginnt.
Leider hält die Entspannung nicht lange an. Das Bild von dem Pärchen, das sich innig umarmte, ist hartnäckig. Es schiebt sich immer wieder in meine Gedanken, und jedes Mal nehme ich einen weiteren Schluck von dem rubinroten Getränk. Das wirkt … für ein paar Sekunden jedenfalls, dann schleicht sich eine andere Erinnerung in meinen Kopf. Fast meine ich den Pistolenschuss zu hören, den ich, ohne es zu wollen, abgefeuert habe. Nur gut, dass ich das Einschussloch längst mit einem Bild verdeckt habe. Undenkbar, wenn Ron es entdecken würde. Und was seine Waffe anbelangt, die ruht auf dem Boden meiner Wäschekommode. Säuberlich abgewischt. Ich komme mir vor wie eine Verbrecherin.
Ich bin eine Verbrecherin!
Bin ich nicht, entgegne ich trotzig in Gedanken. Bist du doch! Bin ich nicht!
Seit wann ist es keine Straftat, einen Mord zu verschleiern? Diese Frage bringt meinen inneren Monolog für einen Augenblick zum Verstummen. Doch dann dreht sich alles, Visionen wirbeln durcheinander. Aufhören! Ich will, dass das aufhört!
Aber es wird schlimmer. Der Alkohol war wohl doch keine so gute Idee, denn jetzt verliere ich die Kontrolle. Ich hole tief Luft, versuche, wie so oft in den letzten beiden Tagen, mich mit tiefen Atemzügen zu beruhigen. Aber es funktioniert nicht. Stattdessen fühlt sich mein Kopf an, als sei er mit Helium gefüllt und würde gleich davon schweben. Zu spät fällt mir ein, dass ich heute noch nichts gegessen habe. Kein Wunder, dass der Wein eine so durchschlagende Wirkung hat.
Mühsam ringe ich um so etwas wie Ordnung in meinen Gedanken. Dieses Chaos, das in meinem Gehirn herrscht, macht mich verrückt. Ich sollte in meinem Inneren wie in einer Wohnung aufräumen, danach werde ich mich besser fühlen. Ganz bestimmt. Etwas taumelig stehe ich auf, hole mir ein Blatt Papier und einen herrenlosen Kuli aus Rons Arbeitszimmer. Ich werde eine Liste machen: Das wird mir helfen, die ungebetenen Bilder und Ängste zu vertreiben.
Nervös knabbere ich an dem Stift, während ich auf die weiße, unberührte Fläche vor mir starre. Statt geordneter Gedanken jagen sich Fragen in meinem Kopf: Habe ich mich wirklich geirrt, oder war es tatsächlich Ron, den ich vor dem Hotel gesehen habe? Zusammen mit einer anderen Frau? Zusammen mit einer anderen Frau … zusammen mit einer anderen Frau … zusammen mit …
Stirnrunzelnd betrachte ich das Blatt, habe Mühe, meinen Blick auf die Buchstaben zu fokussieren, die sich betrunken aneinander lehnen. Während die Worte einen Reigen durch meinen Kopf tanzen, hat sich meine Hand selbstständig gemacht. Seltsam, was sie scheinbar ganz von alleine geschrieben hat:
Ist Ron der Mörder?
Mit einer Grimasse betrachte ich die Kritzelei. Damit steht wohl fest, dass ich total betrunken bin. Ich habe keine Ahnung, woher diese Idee gekommen ist, aber eines ist sicher: Ron hat genauso wenig jemanden ermordet, wie er heute in einem Bad Sodener Hotel war. Soviel also zum Thema „Gedanken ordnen“. Vielleicht sollte ich lieber einen Kaffee trinken und etwas essen, damit ich wieder nüchtern werde. Aber dazu komme ich nicht mehr. Jemand macht sich plötzlich an der Tür zu schaffen, versucht, sie zu öffnen, was natürlich nicht gelingen kann, denn ich habe die Schlösser auswechseln lassen. Starr vor Angst verharre ich in der Bewegung, den Blick auf die Haustür gerichtet.
10
„Tamara, mach endlich auf!“
Oh, mein Gott. Ist das Ron? Aber …? Wieso …?
„Tamara, verdammt, mach endlich die Tür auf.“
Er ist es. Aber wieso ist er hier? Er sollte doch erst morgen Abend kommen? Das Bild von ihm und der Frau auf dem Parkplatz vor dem Hotel schießt durch meinen Kopf. Mein Mund ist plötzlich völlig ausgedörrt. Warum muss er ausgerechnet jetzt, nachdem ich mich dazu überredet habe, an seine Unschuld zu glauben, vor der Tür stehen?
Wieder zerreißt der ungeduldige Klingelton die Luft. Mir bleibt wohl nichts anderes übrig, als ihm zu öffnen. Mühsam rappele ich mich hoch. Das war eindeutig zu viel Rotwein, denke ich, als ich mit unsicheren Schritten den Flur entlang wanke. Ich komme mir vor, als wäre ich auf einem Boot, das sich durch starken Wellengang pflügt. Mit einem tiefen Atemzug versuche ich, nüchtern zu werden. Ich muss Ron mit meinem Verdacht konfrontieren. Muss Gewissheit bekommen, dass meine leise Hoffnung trotz allem berechtigt war. Mit einem Ruck straffe ich die Schultern und mache mich an den diversen Schlössern zu schaffen. Gerade als ich die Tür öffnen will, fällt mir ein, dass ich die Alarmanlage deaktivieren muss. Verflixt, das hätte ich fast vergessen.
Mit gerunzelter Stirn starre ich auf das Nummernpad. Wie war noch mal die Kombination? Ich habe den Code geändert, gleich, nachdem ich die neuen Schlösser montieren ließ. Wie durch einen dicken weißen Nebel, der sich über mein Gehirn gelegt hat, taste ich mich zu der Nummernkombination vor. Dabei weiß ich genau, dass Ron draußen vor der Tür vor Ungeduld fast platzt. Ruhiges Abwarten war noch nie seine Stärke.
Endlich! Wie durch Zauberhand blitzen die richtigen Nummern in meinem Kopf auf.
„Tamara, was soll das?” Ron drängt sich an mir vorbei. Wie vermutet, ist er schlecht gelaunt, nachdem das Öffnen der Haustür so lange gedauert hat. Selbst schuld, murmele ich in Gedanken. Er hätte unser Haus ja nicht in einen Hochsicherheitstrakt verwandeln müssen. Außerdem könnte er mich ruhig freundlicher begrüßen, schließlich heiraten wir in ein paar Wochen … oder auch nicht.
„Warum antwortest du mir nicht?“, bellt er, nachdem ich, noch immer in Überlegungen versunken, nicht auf seine Frage reagiert habe.
„Ich dachte, ich hätte … die Alarmanlage …“, stottere ich, aber Ron redet schon weiter.
„Warum komme ich mit MEINEM Schlüssel nicht in mein Haus?“
Sein Haus? Sein …
„Tamara! Ich rede mit dir!“
„Das ist unser Haus! Nicht dein Haus“, entgegne ich in unwiderlegbarer Logik.
„Du bist ja betrunken!“ Er wirft mir einen angewiderten Blick zu, der mich für einen Augenblick aus der Fassung bringt. Halt suchend stütze ich mich an der Wand ab. Was immerhin bewirkt, dass der Boden nicht mehr unter meinen Füßen schwankt.
Ron bekommt leider nicht mit, dass ich mich mittlerweile wieder aufrecht halten kann, denn er hat sich von mir weggedreht und geht den Flur entlang Richtung Wohnzimmer. Nachdenklich schaue ich ihm nach, versuche meinen Beinen den Befehl zu geben, ihm zu folgen, aber irgendwie scheinen sie ein Eigenleben zu führen, denn sie gehorchen mir nicht. Verwundert starre ich nach unten. Da sind sie! Meine Beine! Warum bewegen sie sich nicht?
„Tamara! Bist du von allen guten Geistern verlassen?“, tönt es aus dem Wohnzimmer.
Eigentlich nicht, denke ich. Es ist vielmehr so, dass es erst seit gestern überhaupt einen Geist gibt. Den Fremden nämlich, der in unserem Garten ruht.
„Tamara!“, reißt Ron mich aus meinen Überlegungen. Er klingt wie mein Mathelehrer aus der zehnten Klasse. Genauso fauchte der mich immer an, wenn ich mal wieder keine Ahnung von dem hatte, was er erzählte. Ich hasse es, wenn Ron so mit mir redet. Wenn er den Altersunterschied, der immerhin dreizehn Jahre beträgt, zwischen uns voll ausspielt, und mich so hinstellt, als sei ich ein kleines Mädchen. Während er natürlich der weltmännische, erfahrene Banker ist, der …
„Weißt du eigentlich, dass dieser Wein mehr als fünfhundert Euro gekostet hat?“, fährt Ron in seiner Tirade fort.
„So viel?“, rutscht es mir unüberlegt heraus. „So gut war er nun auch wieder nicht.“
„Was ist eigentlich mit dir los? Schlimm genug, dass du dich betrinkst. Aber wenn du das schon für notwendig hältst, hättest du nicht wie jeder normale Mensch billigen Fusel nehmen können, statt die teuerste Flasche aus unserem Keller zu holen? Wie kommst du …“
Wie ein Schülerlotse halte ich meine Hand hoch, um seinen Redefluss zu stoppen. „Ich habe dich im Kurhotel gesehen. Zusammen mit dieser Frau!“
„Kurhotel? Mit welcher Frau? Sag mal, was faselst du denn da?“
„Ich falel … ich fasle …“ Wütend stampfe ich mit dem Fuß auf. Es hat eindeutig Nachteile, bei einem Streitgespräch betrunken zu sein. „Ich rede davon, dass ich dich mit einer anderen Frau gesehen habe!“, schaffe ich es endlich, den wichtigen Teil des Satzes von mir zu geben.
„So ein Unsinn! Du weißt ja nicht, was du redest.“
„Ich weiß genau, wovon ich rede!“ Allmählich habe ich genug. Ron platzt hier rein, beschimpft mich wegen einer dämlichen Flasche Wein, und tut jetzt auch noch so, als wäre ich nicht ganz bei Verstand.
„Du bist betrunken! Erzähle mir nicht, dass du klar denken kannst. So nicht, Tamara. Da fahre ich stundenlang durch die Nacht, nur um früher bei dir zu sein, und du hast nichts Besseres zu tun, als mir mit absurden Anschuldigungen zu kommen. Noch dazu siehst du schlimmer aus als eine Pennerin am Hauptbahnhof und führst dich auch genauso auf.“
Sprachlos starre ich ihn an. Meine Beine fühlen sich mit einem Mal ganz wacklig an. Bevor sie unter mir wegklappen können, lasse ich mich auf das Sofa fallen. Ron bekommt das nicht mehr mit. Er stürmt die Treppe hinauf. Mit einem lauten Knall fällt die Schlafzimmertür hinter ihm zu.
11
Es ist schon spät, als ich aufwache und mit einem Stöhnen meine verkrampften Glieder strecke. Ich bin auf der Couch eingeschlafen, und das ist bei Weitem nicht die bequemste Art, eine Nacht zu verbringen. Außerdem habe ich ein flaues Gefühl im Magen, was wohl daran liegt, dass ich ganz allein eine Flasche Rotwein geleert habe.
Das Sonnenlicht, das gnadenlos durch die Terrassentür in den Raum strömt, ist ebenso wenig dazu geeignet, mir das Leben zu erleichtern. Wenn ich doch nur meine Sonnenbrille hätte. Mit ein bisschen Glück liegt sie ganz in der Nähe auf dem Telefontischchen. Mit halb geschlossenen Augen taste ich mich dorthin vor. Wühle in dem Ramsch, der wie üblich die gesamte Oberfläche bedeckt und Ron regelmäßig in Rage bringt.
Da! Ich habe sie! Mit dem zufriedenen Gefühl, einen kleinen Sieg errungen zu haben, setze ich sie auf. Jetzt noch eine Tasse Kaffee und ich kann diesen Tag beginnen. Vielleicht gehe ich mit meiner Mutter einkaufen oder treffe mich mit Ines, meiner Freundin. Ich könnte aber auch …
Plötzlich fällt mir alles wieder ein. Das Hotel in Bad Soden. Die Fremde, mit der ich Ron zu sehen glaubte. Und dann sein plötzliches Auftauchen, gefolgt von seinem Wutausbruch, als ich ihn damit konfrontierte.
Ein kleiner, gelber Zettel direkt neben der Kaffeemaschine verrät mir, was ich bereits ahnte. Ron ist im Büro. Angeblich wollte er mich nicht wecken. Ein ungutes Gefühl beschleicht mich. Eigentlich haben wir eine eiserne Regel. Und die lautet, dass wir niemals zu Bett gehen, ohne uns nach einem Streit wieder versöhnt zu haben. Okay, gestern Abend war ich betrunken. Aber dass Ron zur Arbeit geht, ohne vorher mit mir zu reden, verletzt mich. Er hätte mich wecken können.
Mit einem Schlag ist die Energie, die mich eben noch bei der Aussicht auf diesen Tag erfüllt hat, wie weggeflogen. Stattdessen erfüllt mich die niederschmetternde Erkenntnis, dass wir kurz vor unserer Hochzeit den schlimmsten Streit in unserer Beziehung haben. Und es ist ganz allein meine Schuld! Was ist nur los mit mir? Es sind nur noch vier Wochen bis zur Hochzeit, und ich habe allen Ernstes gedacht, dass er mich betrügt. Wie konnte ich nur? Warum habe ich das Ganze nicht auf sich beruhen lassen? Warum musste ich ihm diese Frage stellen? Kein Wunder, dass er wütend auf mich ist.
Entschlossen rappele ich mich hoch. Ich werde ihn anrufen. Ihm sagen, wie leid es mir tut. Am besten sofort!
Mit einem tiefen Seufzer lasse ich mich gegen Rons Schulter sinken, rutsche näher an ihn heran. Wir sind im Cariocca, einem kleinen italienischen Restaurant im Frankfurter Westend. Statt mit Ron zu telefonieren, habe ich ihn im Büro überrascht. Und jetzt sind wir hier und haben uns bei einem kleinen Imbiss versöhnt.
Unser Tisch steht in einer winzigen Nische, die durch ein Gitter, um das sich echte Weinreben ranken, von den Blicken der anderen Gäste abgeschirmt ist. Ich nutze diesen Sichtschutz und kuschele mich noch etwas enger an Ron. Genieße das Gefühl der Sicherheit, das ich in seiner Umarmung finde.
„Schatz, wie konntest du nur so etwas von mir denken?“ Die Frage bestätigt meinen Eindruck, dass wir unseren Streit zwar beendet haben, aber Ron noch immer verletzt ist. Verletzt, weil ich ihm so etwas zugetraut habe. Wie eine Woge wallt das schlechte Gewissen erneut in mir auf.
„Es … es tut mir leid. Die letzten zwei Tage waren die Hölle und …“
Ron lässt mich nicht ausreden. Statt meine Beichte abzuwarten, unterbricht er mich. Was vielleicht besser ist, denn ich habe keine Ahnung, wie ich ihm beibringen soll, dass in unserem Garten ein Fremder seine letzte Ruhestätte gefunden hat.
„Schatz, ich weiß, diese ganze Hochzeitsplanung ist ein einziger Albtraum für dich. Und es tut mir leid, dass ich und deine Mutter es dir so schwer gemacht haben. Ich verspreche dir, ich werde gleich morgen mit ihr reden. Wir werden einen Weg finden, um diese sinnlosen Streitereien zu beenden. Damit du dich endlich auf diesen wichtigen Tag freuen kannst!“
Mir steigen Tränen in die Augen. Ron ist so besorgt um mein Wohlergehen! Anstatt vor Glück darüber zu platzen, den wunderbarsten Mann der Welt zu heiraten, überhäufe ich ihn mit haltlosen Anschuldigungen. Dabei bin ich mir sicher, Ron liebt mich und wird immer für mich da sein.
Zu dem schlechten Gewissen gesellt sich Schuldbewusstsein. Eine riesige schwarze Wand schiebt sich zwischen ihn und mich. Ich kann nicht von Ron verlangen, den Rest des Lebens mit mir zu verbringen, ohne ihm vorher zu berichten, was während seiner Abwesenheit geschehen ist. Gleich heute Abend, wenn er von der Arbeit nach Hause kommt, werde ich ihm erzählen, was am Montag passiert ist. Dann werden wir auch dieses Problem aus der Welt schaffen.
„Wie wäre es, wenn ich mir den Nachmittag freinehme und wir gemeinsam zu Hause noch einmal unsere Versöhnung feiern“, flüstert Ron in mein Ohr. Dabei wandert seine Hand, die mich zuvor noch an sich gezogen hat, weiter nach unten. Unterstreicht, was er wirklich mit Feiern meint.
„Gute Idee“, erwidere ich, während ein angenehmer Schauer nach dem anderen durch meinen Körper rieselt. Mit einem Mal habe ich es ziemlich eilig, das Restaurant zu verlassen.
„Warum hast du die Schlösser auswechseln lassen?“, murmelt Ron an meinem Ohr. Wie versprochen haben wir unsere Versöhnung gefeiert. Mit einem zufriedenen Seufzen kuschele ich mich an ihn. Ron hat mich verwöhnt wie schon lange nicht mehr. Es tut so gut, in seinem Arm zu liegen. Am liebsten würde ich das Bett nie wieder verlassen. Dann bräuchte ich mich nicht der Realität zu stellen, müsste ihm nicht beichten, was ich getan habe …
„Schatz? Ich habe dich etwas gefragt!“ Leise Ungeduld schwingt in Rons Stimme mit. Er küsst mich. Hmmmm … Seine Ungeduld musste einen anderen Grund haben, als ich zuerst annahm. Doch dann bricht Ron den Kuss ab. Rückt ein wenig von mir weg, so als wolle er Abstand schaffen. Dann sieht er meinen Blick.
„Ich würde ja gerne, aber ich muss zurück zur Arbeit.“ Mit einem Lächeln drückt er mir einen Kuss auf die Wange. „Heute Abend setzen wir das fort.“
„Versprochen?“ Ich schlinge meine Arme um seinen Hals und ziehe ihn zu mir.
„Ja, versprochen. Aber jetzt erzähle mir noch, was es mit den Schlössern auf sich hat. Dann muss ich gehen.“
Mit einem Seufzen versuche ich, meine Gedanken zu ordnen und in ein logisches System zu zwingen.
„Am Montagmorgen stand die Polizei vor unserem Haus. Ein anonymer Anrufer hatte sie mit dem Hinweis alarmiert, es sei ein Einbrecher hineingelangt.“
„Ein Einbrecher?“ Ron fährt auf und sieht mich an. „Aber warum hast du mich nicht sofort informiert?“
„Es war ein Fehlalarm“, versuche ich, ihn zu beruhigen. „Aber ich war beunruhigt und …, da dachte ich, es sei besser, die Schlösser auswechseln zu lassen.“
Ich schließe die Augen. Scham überflutet mich wie eine riesige Woge. Ich wollte Ron die Wahrheit erzählen. Wirklich! Aber ich bringe es nicht über mich. Zu groß ist die Angst, seine Liebe zu verlieren. Zu groß die Befürchtung, er könne sich wie mein Vater von mir abwenden, sobald ich in Schwierigkeiten bin.
„Trotzdem, du hättest mir das sagen sollen.“ Ron zieht mich an sich, umarmt mich, als wolle er mich nie wieder loslassen. „Liebling, ich wäre doch sofort zurückgekommen. Selbst wenn es ein falscher Alarm war. Du musst doch fürchterliche Angst gehabt haben.“
Ron ist so besorgt und mitfühlend. Ich muss ihm erzählen, was geschehen ist. Ich kann diese Lüge nicht länger aufrechterhalten.
„Es gibt da etwas, was ich dir …“ Das Klingeln des Telefons unterbricht mich. Fast bin ich erleichtert, als ich das Gespräch entgegennehme.
„Tamara, du musst mit deiner Großmutter reden“, schallt es mir statt einer Begrüßung aus dem Hörer entgegen. Meine Mutter. Wenn sie „deine Großmutter“ sagt, braut sich Übles zusammen.
„Was ist denn los?“, frage ich, obwohl ich mir ziemlich sicher bin, dass ich lieber nicht wissen möchte, was den Streit zwischen den beiden Frauen dieses Mal ausgelöst hat. Das Verhältnis zwischen ihr und Nana ist in etwa genauso entspannt wie unser Verhältnis zueinander. Kein Wunder also, dass sich die beiden regelmäßig in den Haaren liegen. Dieses Mal scheint es einen ernsten Hintergrund zu geben, denn meine Mutter reagiert gar nicht auf meine Frage, sondern ergeht sich sofort in einer Tirade:
„Ich weiß nicht, was diese Frau sich denkt. Es ist unfassbar. Sie führt sich auf wie eine Verrückte! Wahrscheinlich sieht sie sich zu viele dieser Klatschsendungen im Fernsehen an, und jetzt denkt sie, sie sei die zweite Demi Moore. Sich so aufzuführen …“
„Mutter“, unterbreche ich den Redefluss. „Wovon redest du?“
„Wovon ich rede? Das fragst du noch? Deine Großmutter hat einen Liebhaber. Einen jugendlichen Liebhaber! Der Mann ist nicht einmal halb so alt wie sie! Ach, was rede ich. Er ist jünger als du!“
Das verschlägt mir für einen Moment die Sprache. Nana war schon immer exzentrisch, und eigentlich dachte ich, dass sie mich durch nichts mehr in Erstaunen versetzen könnte. Mit ihren fast fünfundsiebzig Jahren trägt sie Highheels, Overknee-Stiefel, Miniröcke und tiefe Ausschnitte. Und sie kann es sich leisten. Sie spielt jeden Samstag noch immer 18 Löcher auf dem Golfplatz und sieht mindestens zehn Jahre jünger aus, als sie ist.
„Tamara. Hat es dir die Sprache verschlagen?“
„Ja. Eigentlich schon“, gebe ich zu.
„Du musst mit ihr reden und ihr diese schwachsinnige Idee austreiben.“
„Ich? Oh nein. Nana ist alt genug. Ich werde mich nicht in ihr Liebesleben einmischen.“
„Liebesleben? Pah. Der Mann ist nur an ihrem Geld interessiert.“
„Ja, aber …“
„Tamara, keine Ausflüchte! Du bist der einzige Mensch, auf den deine Großmutter hört. Wenn du ihr sagst, dass du es nicht richtig findest, dass …“ Mit einem Seufzer blende ich ihre Stimme aus und wartete auf eine Pause in ihrem Redefluss. Wenn sie in dieser Stimmung ist, hat es keinen Sinn, mit ihr zu diskutieren. Also tue ich das, was jeder halbwegs intelligente Mensch in meiner Situation tun würde: sie beruhigen, alles versprechen, was sie verlangt und darauf warten, dass sich das Problem von selbst löst.
Etwa eine halbe Stunde später kann ich das Gespräch endlich beenden. Natürlich nicht, ohne eine Vielzahl von Versprechungen gemacht zu haben, die ich nicht einhalten werde. Ron ist in der Zwischenzeit gegangen.
Ich seufze und nehme die Tasse Kaffee mit auf die Terrasse hinaus.
Eine sanfte Brise streichelt die Pflanzen und sorgt dafür, dass es nicht zu heiß ist. Nachdenklich nippe ich an dem Getränk. Mein Entschluss steht fest: Heute Abend wird Ron die Wahrheit erfahren. Bis dahin aber werde ich jeden Gedanken an dieses Gespräch verbannen und stattdessen überlegen, was zu tun ist. Es gibt noch so vieles für unsere Hochzeit zu organisieren. Schließlich soll es ein ganz besonderer Tag werden. Der Tag, an dem mein Traum endlich Wirklichkeit wird ...
Falls ich nicht in Untersuchungshaft sitze.
Der Gedanke holt mich mit einem Schlag in die Realität zurück. Angst überflutet mich. Nur zu gut kann ich mich an das Gefühl der Verzweiflung und Hilflosigkeit erinnern, das ich damals bei meiner ersten Verhaftung hatte. Aber dieses Mal ist es anders. Ron wird mir helfen, versuche ich mich zu beruhigen. Gemeinsam werden wir eine Lösung finden. Rons Fähigkeit, selbst die kompliziertesten Sachverhalte zu erfassen, ist mit ein Grund dafür, weshalb er es in seinem Beruf so weit gebracht hat und einer der jüngsten Vorstandsmitglieder einer kleinen Frankfurter Privatbank ist.
Wie um mir zu beweisen, dass ich nichts zu befürchten habe, dass ich es zusammen mit Ron schaffen werde, aus diesem Schlamassel herauszukommen, richte ich meinen Blick ganz bewusst auf den Teil des Gartens, den ich kürzlich in einen Friedhof verwandelt habe.
Keine gute Idee. Ein kalter Schauer kriecht meinen Rücken hoch. Was habe ich mir nur dabei gedacht? Ich kann doch nicht einfach eine Leiche verscharren! Wenn man einen Toten findet, ruft man die Polizei! So wie es in jedem guten Krimi gezeigt wird … Wer eine Leiche im Kofferraum durch die Gegend karrt oder sie hinten im Garten verscharrt, ist in aller Regel derjenige, der auch für das Ableben verantwortlich ist ... In dem Fall also: Ich, meldet sich eine weitere ungebetene Stimme.
Ich muss einen Anwalt einschalten. Was auch immer geschehen ist, eines ist gewiss: In unserem Haus hielt sich ein Fremder auf, der jetzt tot ist und auf unserem Grundstück begraben liegt.
Wie so oft in den letzten Stunden sehe ich plötzlich ein Bild vor meinem geistigen Auge. Ron, wie er gestern Abend nach Hause kommt und wütend darüber ist, dass ich betrunken bin und ihm ungerechtfertigte Vorwürfe mache. Ron, der das blau gestreifte Hemd trägt … das ich ihm gar nicht eingepackt hatte.
Ron trug das falsche Hemd! Ich weiß genau, dass er es nicht dabei hatte, weil ich ihm seine beiden weißen Shirts aus ägyptischer Baumwolle eingepackt habe. Ich erinnere mich besonders gut daran, weil ich die vorher noch bügeln musste. Und ich hasse Bügeln!
Mit ist, als hätte eine riesige Hand die Welt zum Stehen gebracht. Mit einem Schlag scheinen alle Geräusche um mich herum verstummt zu sein. Wie ein Automat stehe ich auf und gehe Richtung Terrassentür, um kurz darauf in unserem Schlafzimmer die Kleidungsstücke zu mustern, die Ron gestern anhatte. Normalerweise hätte ich sie schon in die Schmutzwäsche sortiert, aber heute Morgen war ich zu verwirrt, um daran zu denken.
Mit zitternden Fingern greife ich nach dem Hemd. Es ist das blau gestreifte! So betrunken war ich also doch nicht!
Mag ja sein, dass Ron wirklich nicht mit einer anderen Frau im Kurhotel war. Aber es ist unmöglich, dass er direkt von Brüssel nach Hause gekommen ist. Er muss schon vorher hier gewesen sein, um dieses Hemd abzuholen. Warum hat er das getan?? Und vor allem, wann?
Mein Herz beginnt, wie wild in meiner Brust zu hämmern, während die Fragen in einem rasenden Tanz durch meinen Kopf schwirren. Immer schneller und schneller drehen sie sich in meinem Gehirn. Solange, bis nur noch eine übrig bleibt:
Hat Ron mich also doch angelogen?
Nein! Energisch rufe ich mich selbst zur Ordnung. Ich werde nicht wieder damit beginnen, mich irgendwelchen Hirngespinsten hinzugeben. Man sieht ja, wohin das führt. Dieser Streit war der schlimmste, den wir je hatten, und ich werde dafür sorgen, dass es nie wieder so weit kommt. Ich habe mich getäuscht. Kann ich wirklich mit hundertprozentiger Sicherheit wissen, welche Hemden ich vor fast einer Woche für Ron zusammengepackt habe? Ich habe ja schon Probleme, mich an die Geburtstage meiner engsten Angehörigen zu erinnern!
Außerdem kann es durchaus sein, dass Ron das Hemd in den Koffer gepackt hat, bevor er überhaupt losfuhr.
Mit einem erleichterten Seufzer lasse ich mich auf das Bett fallen. Ich muss mit diesen Verdächtigungen aufhören. Auch wenn es verständlich ist, dass meine Nerven nicht die besten sind, kann ich von Ron nicht erwarten, so etwas zu tolerieren. Vor allem, solange er nicht weiß, warum ich kurz vor einem Nervenzusammenbruch stehe.
Trotz dieser Überlegungen haben meine Hände wie von selbst begonnen, seine Jackentaschen zu durchsuchen. Natürlich tue ich das nur, um sicherzugehen, keine wichtigen Dokumente durch den Waschgang zu jagen, rechtfertige ich mich vor mir selbst. Ich vertraue Ron. Ich weiß, er würde mich niemals anlügen. Der Gedanke, er könne mit einer anderen Frau in einem Hotel übernachten, ist total abwegig. Undenkbar. Lächerlich.
Meine tastenden Hände sind fündig geworden. Die Hotelrechnung!
Minutenlang wage ich es nicht, die Rechnung anzusehen.
Nein, Ron würde so etwas niemals tun.
Er liebt mich.
Er will mich heiraten.
Meine Finger zittern, als ich das Papier endlich doch auseinanderfalte und glätte.
Alles ist in Ordnung.
Ron ist mir treu.
Genauso, wie er es gesagt hat.
Seltsam nur, dass die Hotelrechnung vom Kurhotel Bad Soden ausgestellt wurde. Für ein Doppelzimmer. Herr und Frau Krämer.
12
Ron hat mich angelogen! Und ich Idiotin habe ihm geglaubt. Obwohl ich mich am liebsten unter der Bettdecke verkriechen würde, um die nächsten drei Jahre mit Weinen und Selbstmitleid zu verbringen, zwinge ich mich dazu, etwas zu tun. Ich sollte auf keinen Fall trauern. Ich sollte wütend sein. Aber wie verwandelt sich ein heulendes Elend in eine giftsprühende Furie?
Am besten wohl, indem ich etwas tue. Ich brabbele unaufhörlich Verwünschungen vor mich hin, während ich wahllos irgendwelche Kleidungsstücke aus dem Schrank zerre und in meinen Koffer stopfe. Nach kurzem Überlegen lege ich Rons Pistole mit hinein. Die Waffe ist mittlerweile gesichert, denn ich habe mein Wissen dank Internet erweitert. Ich will mich sicher fühlen, verteidige ich diese Entscheidung vor mir selbst. Trotzdem fühle ich mich wie eine Verbrecherin.
Ich muss weg. Sofort. Raus aus diesem Haus, aus Rons Leben. Mit einem lauten Klicken schnappen die Schlösser meines Samsonite zu. Kurz darauf wuchte ich das schwere Gepäckstück die Treppe hinunter, werfe es in den Kofferraum und fahre los.
„Schatz, das tut mir so leid für dich!“ Nana mustert mich mit sorgenvollem Blick und klopft mir unbeholfen auf den Rücken. Ich bin zu ihr geflüchtet, so, wie ich es schon als Kind getan habe, wenn ich mit meiner Mutter Streit hatte. Aber auch ohne Zuflucht finden zu müssen, habe ich sie oft besucht. Ich liebe sie heiß und innig und ohne Vorbehalte.
„Ja. Mir auch“, murmele ich und versuche erfolglos, die Tränen zu unterdrücken, die seit der Entdeckung von Rons Hotelrechnung wie Sturzbäche geflossen sind. Man sollte meinen, dass ich irgendwann einmal damit aufhören kann. Vor allem, wenn man bedenkt, dass dieser Mistkerl meine Trauer nicht verdient. Es ist schon wieder passiert: Er hat mich nie geliebt. Er war nur an mir interessiert, weil ich aus einer reichen Familie stamme. Einer Familie, die Beziehungen hat.
„Glaub mir Schatz, ich weiß, wie hart es ist, wenn man niemandem trauen kann, weil man aus einer wohlhabenden Familie kommt. Was du jetzt brauchst, ist ein Glas Champagner!“, bemerkt Nana und springt auf, ohne eine Antwort abzuwarten. Früher hatte Nana einen Butler, aber seit er sich vor einigen Jahren zur Ruhe setzte, hat sie keinen neuen mehr eingestellt. „Es ist eine veraltete Tradition“, begründete sie ihre Entscheidung damals. Ich muss ihr zwar Recht geben, aber trotzdem vermisse ich Eduard. Er gehörte zur Familie. Seit er nicht mehr da ist, habe ich das Gefühl, einen Onkel verloren zu haben. Als ob diese Gedanken jetzt auch nur einen Pfifferling wert wären. Sie sind genauso sinnlos wie der gesamte romantische Unsinn, den ich mir selbst in den letzten Jahren vorgegaukelt habe! Eduard hat es auch nur für Geld getan. So wie sie alle. Vielleicht mochte er mich nicht einmal.
„Hier. Nimm einen ordentlichen Schluck, und du wirst dich gleich viel besser fühlen“, fordert Nana mich auf.
„Eigentlich gibt es ja nichts zu feiern“, murmele ich und fühle mich mit einem Schlag unendlich müde. Müde und leer.
„Nichts zu feiern? Dass ich nicht lache. Natürlich gibt es was zu feiern! Du bist ihn los. Diesen hinterhältigen, verlogenen, fiesen …“
Ein widerwilliges Lächeln schleicht sich auf meine Lippen. „Du hast recht“, gebe ich mich geschlagen. „Ich bin froh, dass es vorbei ist.“ Die Lüge kommt nur zögerlich über meine Lippen, und ich frage mich, ob ich jemals tatsächlich froh darüber sein werde.
„Wie konnte er dir das antun? Vier Wochen vor der Hochzeit! Wenn ich ihn das nächste Mal sehe, werde ich ihm zeigen, dass selbst eine Siebzigjährige ganz genau weiß, wo Männer am verletzlichsten sind“, redet sich Nana in Rage. Ihre Wut über Rons Verhalten tut mir gut. Wenigstens gibt es einen Menschen auf dieser Welt, der mich so liebt, wie ich bin.
„Glaube mir, du hast mehr verdienst als das“, unterbricht Nana ihre Tirade.
Ich nicke und nehme noch einen Schluck von dem Champagner. Während sich ein wohlig-warmes Gefühl in meinem Bauch ausbreitet, regt sich Nana weiter für mich auf. Mit einem Seufzer lasse ich mich in eines der dicken Kissen zurücksinken, die auf der grasgrünen Couch verstreut herumliegen wie kleine moosgrüne Inseln. Es ist so gemütlich hier, so … dekadent.
Meine Großmutter liebt den Luxus und alles, was damit zusammenhängt. In ihrem Haus in Königstein hat sie sich in dem zweihundertvierzig Quadratmeter großen und ungefähr sieben Meter hohen Eingangsbereich ihren eigenen Dschungel geschaffen. Okay, Löwen gibt es keine, aber eine Unmenge seltener Vögel und bunt schillernder Schmetterlinge, für die Nana eine besondere Zuneigung hegt, einen kleinen Teich in der Mitte mit farbenprächtigen Fischen darin, und natürlich einen Wasserfall, der allein schon dafür sorgt, dass der Puls langsamer wird, sobald man sich in diesem Paradies niedergelassen hat. Diese Oase wirkt wie Balsam auf meine Seele. Ich war schon immer gerne hier, aber heute ist es mir, als würden all die Pflanzen und Tiere, die Nanas künstlichen Tropenwald bevölkern, dafür sorgen, dass meine eigene Welt wie eine schillernde Seifenblase bis ins hohe Blätterdach hinauffliegt und sich dort im flirrenden Sonnenlicht auflöst.
Mein Blick gleitet zu meiner Großmutter hinüber, die sich weiterhin für mich ins Zeug legt und kein gutes Haar an Ron lässt. Der Alkohol hat mich friedlich gestimmt, Nanas Worte klingen zusammen mit dem Plätschern des Wasserfalls wie ein längst vergessenes Märchen. Zum Glück ist meine strahlende Nana die gute Fee in diesem bezaubernden Dschungel. Ein zufriedenes Glühen geht von ihr aus, fast so, als wäre sie verliebt.
Nana ist glücklich.
Die Erkenntnis trifft mich unvorbereitet. Bisher bin ich immer davon ausgegangen, dass sie mit ihrem Leben zufrieden ist, und ja, schon auch glücklich ist, aber so, wie heute habe ich sie noch nie erlebt. Ich setze mich aufrecht hin und sehe mir meine Großmutter genau an. Flüchtige Bilder schießen mir durch den Kopf: Nana, deren Rennpferd beim Großen Preis von Baden-Baden gewinnt, meine Großmutter als Grand Dame, die zu Lebzeiten meines Großvaters alljährlich ein Sommerfest veranstaltete, auf dem die Crème de la Crème der Frankfurter Gesellschaft erschien. Neben unzähligen Prominenten, die mir damals als Kind fürchterlich langweilig und eingebildet vorkamen.
Trotz ihrer Erfolge in all den Jahren sah sie nie so glücklich aus, wie jetzt!
Obwohl sie sich gerade über Rons Verhalten aufregt, kann sie es nicht verbergen.
Sie ist verliebt.
Meine Großmutter hat eine Liebesaffäre. Ich sollte sie danach fragen, fällt mir ein, die vorwurfsvolle Stimme meiner Mutter wieder im Ohr, aber ich kann nicht.
Nicht jetzt. Ich schließe die Augen und lausche dem Klang von Nanas Stimme und dem Plätschern des Wasserfalls. Die betörende Wirkung, die von ihm ausging, ist plötzlich verflogen.
Und ich? Was habe ich? Nichts, außer einem verlogenen Ex-Freund, der fremdgeht. Anscheinend hat meine Oma mehr Sexappeal als ich!
13
„Schwesterherz, ich habe schlechte Nachrichten für dich“, beginnt mein Bruder Reinhard das Gespräch. Ohne etwas zu sagen, warte ich darauf, dass er weiterspricht. Nach allem, was ich in den letzten Tagen erlebt habe, müsste Reinhard mir schon erzählen, der dritte Weltkrieg sei ausgebrochen, um mich zu schockieren.
„Es scheint, als sei Ron … Ich glaube, du solltest dir noch einmal überlegen, ob du ihn wirklich heiraten möchtest.“
„Wie bitte?“ Obwohl ich genau weiß, worauf Reinhard anspielt, kann ich nicht glauben, was ich höre. Wie hat mein Stiefbruder von Rons Untreue erfahren?
„Es ist nur … Vater und ich, wir haben uns überlegt, Ron in den Vorstand der Bank reinzunehmen. Aber es scheint …, ich glaube, er ist in illegale Aktivitäten verwickelt. Es sieht zumindest so aus, aber wir haben noch keine Beweise.“
Es dauert einen Augenblick, bis ich den Sinn der Worte verstehe. Reinhard spielt also doch nicht auf Rons Freundin an, aber wie hat er …?
„Wie hast du davon erfahren?“, stelle ich die Frage, die mich am meisten beschäftigt.
„Wir lassen routinemäßig jeden überprüfen, der für eine solche Position infrage kommt. Ron musste dieser Überprüfung natürlich zustimmen. Anscheinend dachte er, es könne ihm niemand etwas nachweisen … Aber die Nachforschungen deuten darauf hin, dass er möglicherweise nicht ganz astrein ist. Ich weiß noch nichts Konkretes, aber ich mache mir Sorgen um dich. Ich möchte nicht, dass du ihn heiratest, nur um dann festzustellen, was für ein Mensch er ist. Ich weiß, es ist kein guter Zeitpunkt so kurz vor der Hochzeit, aber trotzdem …“ Reinhard legt eine Pause ein. Selbst über die Telefonleitung höre ich sein Bedauern, mir eine solche Mitteilung zu machen.
„Mach dir keine Sorgen, Reinhard, ich heirate Ron nicht.“
„Du? Was? … Warum?“
„Er hat mich betrogen“, beantworte ich die Frage, die Reinhard in seiner Überraschung nicht formulieren konnte.
„Oh. Also … Das tut mir leid. Ehrlich.“
„Ja, mir auch.“
„Aber warum hast du mir nichts davon erzählt? Ich wusste ja gar nicht …“
„Ich habe es selbst erst heute rausgekriegt.“
„Schwesterchen, das tut mir wirklich, wirklich leid. Nicht, dass du ihn nicht heiraten wirst, denn das ist die erste gute Nachricht heute. Aber dass er dir so etwas antun konnte! Wenn ich ihn das nächste Mal sehe, breche ich ihm jeden Knochen im Leib, das verspreche ich dir.“
„Das ist nicht nötig, außerdem ist Ron diesen Ärger überhaupt nicht wert. Ich werde es überstehen.“
„Möchtest du vorbeikommen? Tina hat bestimmt nichts dagegen. Komm zum Essen. Morgen fliegen wir auf die Seychellen, und ich würde gerne vorher noch einmal über alles mit dir reden.“
„Reinhard, das ist lieb von dir, aber ich brauche ein wenig Ruhe. Und euer trautes Eheglück ist im Moment ein bisschen zu viel für mich. Lass mir ein etwas Zeit, okay?“
„In Ordnung. Aber, Tamara, ich meine es ernst. Wenn du eine Schulter zum Ausweinen brauchst, dann komm vorbei. Auch wenn ich keine Ahnung habe, was ich mit einer weinenden Frau anfangen soll.“
„Okay, ich nehme dich beim Wort“, antworte ich und lächle. Allein die Vorstellung, wie mein Bruder mit einer weinenden Frau an seiner Schulter hilflos dasitzt, ist Gold wert. Ich kenne Reinhard gut genug, um zu wissen, dass so etwas zu seinen schlimmsten Albträumen gehört. Lieber stellt er sich einem ganzen Rudel aufgebrachter Vorstandsmitglieder.
Nach dem Gespräch bin ich ein wenig besser gelaunt. Vielleicht hatte ich noch nie einen Freund, der mich wirklich geliebt hat, aber wenigstens gibt es zwei Menschen auf dieser Welt, die mich so akzeptieren, wie ich bin: Nana und Reinhard.
Es ist spät, als ich endlich im Mainhatten ankomme. Das hell erleuchtete Hotel wirkt wie eine Oase auf mich, so froh bin ich darüber, dass ich hier Zuflucht nehmen kann. Von jetzt an werde ich mich nur noch auf die positiven Aspekte meines Geldes und meiner Herkunft konzentrieren, beschließe ich, als ich durch die Schiebetüren trete und über den schwarzen Marmor schreite, der den Eingangsbereich dominiert. Kurz darauf gleitet der Lift nach oben und entlässt mich im sechsundzwanzigsten Stock. In der Suite angekommen, streife ich mir als Erstes die Schuhe ab. Meine Füße versinken in dem teuren Teppich, der sich so sanft und weich wie Moos anfühlt.
Trotz meiner gedrückten Stimmung zieht mich die vor meinen Augen ausgebreitete Skyline in ihren Bann. Die Stadt ist in der Dunkelheit wunderschön. Wie glitzernde Bänder winden sich die Straßen durch die Häuserschluchten, überall funkeln die Lichter der Wohnhäuser und Straßenlaternen wie Juwelen. Lange Zeit stehe ich versunken in diesen Anblick da. Merke, wie allmählich die Anspannung der letzten Tage verebbt.
Wenn es nur immer so wäre! Warum kann ich die Uhr nicht um eine Woche zurückdrehen? Damals war mein Leben noch in Ordnung. Ich war glücklich in Ron verliebt und hatte keine anderen Sorgen, als die Planung unserer Hochzeit.
Soll er in der Hölle schmoren! Der unschöne Gedanke macht alles wieder zunichte. Eigentlich wollte ich diesen Abend genießen und alle Gedanken an Ron und seine Untreue abschütteln. Den Toten ebenso vergessen wie die Angst, die mich in den letzten Tagen begleitet hat. Aber das ist nicht so einfach, wie ich dachte. Das Gespräch mit Reinhard hat mich erneut in einen Abgrund aus Zweifel und Angst gestoßen und mich mit der traurigen Erkenntnis konfrontiert, dass ich keine Ahnung habe, was Ron für ein Mensch ist. Für einen Augenblick denke ich darüber nach, ob ich meine treuen, kleinen Helferchen aus der Handtasche holen soll, um mich in den bewusstlosen Nebel der Schlaftabletten zu flüchten. Dann aber verwerfe ich die Idee. Nie wieder! In Zukunft muss ein Kräutertee reichen, wenn ich keinen Schlaf finden kann.
Und warum bin ich jemals so dämlich gewesen und wollte eine Ehe schließen, deren Vorbereitung bereits den Griff zu solchen Medikamenten notwendig machte? Wenn überhaupt hätte ich vor Freude schlaflos im Bett liegen sollen!
„Ron, du verdammter Mistkerl!“ Ich wende mich vom Fenster ab. Er hat mein Leben in eine Achterbahnfahrt verwandelt. Und dann der Tote! Ich bin mir mittlerweile sicher, dass Ron etwas mit diesem Drama zu tun hat. Es gibt zu viele Ungereimtheiten, zu viele seltsame Ereignisse. Wenn ich auch kaum etwas von dem verstehe, was in den letzten Tagen in meinem Leben geschehen ist - eines ist diesem ganzen Chaos auf jeden Fall zu entnehmen: Mein Ex ist nicht der Mensch, für den ich ihn gehalten habe.
Mit einem leisen Rauschen fließt Wasser in die Badewanne. Dampf steigt auf, hüllt mich ein und verschleiert das Spiegelbild, das mir eben noch eine missmutig dreinblickende Frau gezeigt hat. Ich bin froh über den zarten Nebel, der alles unwirklich macht und der außerdem dazu beiträgt, dass das Gefühl, am Meer zu sein, immer stärker wird.
Für das Badezimmer hat sich das Mainhatten etwas wirklich Extravagantes einfallen lassen. Der gesamte Raum ist so gestaltet, dass man glaubt, in der Karibik am Strand zu liegen. Echte Palmen beugen sich über die riesige Wanne, die in den Boden eingelassen ist. Der Fußboden sieht auf den ersten Blick wie ein Sandstrand aus. Sämtliche Körperpflegeprodukte werden entweder auf Kokosnussschalen oder Bananenblättern dargeboten.
Und dann die Aussicht! Es ist zwar nicht der Ozean, der sich vor mir erstreckt, dafür aber eine Großstadt, die sich in ihren funkelnden Mantel aus Lichtern gehüllt hat. Ganz Frankfurt liegt mir zu Füßen. Und trotzdem fühle ich mich noch immer wie eine zu straff gespannte Bogensehne. In dem bemühten Versuch, so etwas wie Ruhe in meine Gedanken einkehren zu lassen, schließe ich die Augen und lehne den Kopf zurück.
Aber auch das hilft nichts. Je länger ich über die Vorkommnisse der letzten Tage nachdenke, desto wütender werde ich. Ron mit seinem scheinheiligen Getue. Seine verlogene Frage, wie ich nur so etwas von ihm denken könne!
Ha! Ich kann noch sehr viel mehr von ihm denken und nichts davon ist positiv.
Ich will Rache! Warum soll er ungeschoren davonkommen, während ich nicht nur mit seiner Untreue, sondern auch einem Fremden zu tun habe, der sich ohne mein Wissen in unserem Haus aufgehalten hat. Und der jetzt tot ist!
Vielleicht hat Ron den Mann umgebracht. Wie schon in der Nacht zuvor, lässt mich dieser Gedanke innehalten. Gestern noch hatte ich ihn auf ein Blatt Papier gekritzelt, ohne bewusst darüber nachzudenken. Vielleicht will mir mein Unterbewusstsein etwas mitteilen. Möglicherweise habe ich mehr mitbekommen, als ich wusste? Oder ich werde verrückt.
Aber das ist jetzt egal. Wichtig ist, dass ich es Ron heimzahlen will. Ich werde ihn ebenfalls betrügen, auch wenn es dafür im Grunde zu spät ist, denn, was mich betrifft, sind wir kein Paar mehr. Und wenn er bereits die Rechnung gefunden hat, die ich ihm an die Haustür geklebt habe, dann hat er zumindest eine Ahnung davon, dass unsere Beziehung vor dem Aus steht.
Frustriert streiche ich mit der Hand durch die Seifenblasen. Ich habe versagt. Auf der ganzen Linie. Warum nur wollte ich mir nie eingestehen, wie wichtig Erfolg und Reichtum für Ron sind? Ich wusste, dass er enorm ehrgeizig ist. Dass er immer höher hinaus wollte. Was konnte ihm also Besseres passieren, als mich zu heiraten? Tochter eines der einflussreichsten Banker in Deutschland. Und nicht nur das. Meinem Vater gehört die De Beer Bank, die jetzt mein Bruder leitet. Reinhard ist zwar nur mein Stiefbruder, aber trotzdem tritt er in die Fußstapfen meines Vaters. Nicht ich.
Für einen Augenblick verliere ich mich in der Vergangenheit. Sehe das enttäuschte Gesicht meines Vaters vor mir, als ich ihm erkläre, ich würde Kunst statt Betriebswirtschaftslehre studieren. Nur eine Woche später zog er die Konsequenzen und verkündete, Reinhard, der Sohn seiner zweiten Frau, werde sein Nachfolger. Obwohl ich gerne die Familientradition fortgeführt hätte, musste ich mich von meinem Vater befreien, seine Dominanz über mich abschütteln. Seitdem trage ich den Mädchennamen meiner Mutter als Nachname, denn ich wollte ein sichtbares Zeichen setzen. Nach unserer – jetzt geplatzten - Hochzeit wollte ich außerdem als Assistentin der Geschäftsführung in einer renommierten Frankfurter Galerie anfangen. Eine Tatsache, die meinen Vater schon des Öfteren zu sarkastischen Bemerkungen gereizt hat.
Trotz dieser Differenzen mit meinem Vater hat Ron wohl gehofft, er könne eines Tages an der Seite von Reinhard die Bank führen. Wie es aussieht, hätte er dieses Ziel fast erreicht. Dieser Mistkerl!
Selbst Nana hat mehr Erfolg bei den Männern als ich, setze ich den düsteren Gedankengang fort. Nana! Ich dachte, meine Mutter hätte wie immer übertrieben, aber nach dem Treffen heute Nachmittag bin ich davon überzeugt, dass sie recht hat. Nana ist verliebt. Und wenn sie nicht verliebt ist, dann hat sie auf jeden Fall mehr Spaß im Bett als ich!
„Wenn du auch nur einen Funken Verstand hast, tust du es ihr nach und amüsierst dich, anstatt in Schwermut zu versinken“, ermahne ich mich laut.
Eine Idee nistet sich in meinem Kopf ein. Eine unmögliche, unvorstellbare … Bevor ich es mir anders überlegen kann, greife ich zum Telefon und wähle die Rezeption an. Ein junger Mann meldet sich.
„Besorgen Sie mir einen Callboy. In einer Stunde in meiner Suite.”
„Bitte was?”
„Stellen Sie sich nicht so dämlich an. Das tun Sie doch alle naselang für die Männer, die hier übernachten. Verdienen Sie sich Ihre Provision und schicken Sie mir jemanden, der gut ist. Den Besten.” Mit diesen Worten lege ich auf und lasse mich mit einem tiefen Seufzer in den Schaum sinken. Zu dem Seufzer gesellt sich ein Stöhnen, als ich realisiere, was ich eben getan habe. Was habe ich mir nur dabei gedacht? Ein Callboy! Ich muss vollkommen den Verstand verloren haben.
Die nächsten Minuten verbringe ich damit, planlos in der Suite herumzuirren. Ich versuche, gleichzeitig meine Haare zu bändigen, so etwas wie Ordnung zu schaffen, und mich zu entscheiden, ob, und wenn ja, was ich anziehen soll. Leider bin ich im Multitasking nicht besonders gut, und so beende ich die hilflose Aktion, indem ich mich auf die wichtigste Frage konzentriere: Was trägt man, wenn man einen professionellen Liebhaber empfängt?
Ich stehe noch immer ratlos vor dem Kleiderschrank und starre entsetzt das wilde Sammelsurium an, als jemand an die Tür klopft. Verflixt. Das ging schnell. Jetzt hat sich zumindest die Kleiderfrage erledigt. Ich werde im Bademantel die Tür öffnen.
Das Herz schlägt mir bis zum Hals, als ich das Zimmer durchquere, um den Unbekannten hereinzulassen. Es ist kein unangenehmes Herzrasen, aber ich wäre lieber entspannt und gefasst. So, als würde ich jeden Tag einen Mann dafür bezahlen, dass er mich im Bett verwöhnt.
Mit einem tiefen Atemzug öffne ich die Tür …
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Texte: © Birgit Kluger
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Lektorat: Lode/Schwaben-Beicht
Tag der Veröffentlichung: 12.06.2012
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