Es ist ein sonniger und warmer Frühlingstag Mitte April und ich schlendere mit meiner Mutter durch die Einkaufsstraßen unserer kleinen Stadt. Wir sind auf dem Weg um neue Sommersachen für mich zu kaufen. Es heißt von einem ins andere Geschäft zu gehen und die Ständer mit den vielen Kleidungsstücken durchzuwühlen, in der Hoffnung irgendetwas zu finden. Wir vergessen alles um
uns herum und haben einfach nur mal wieder richtig Spaß. In letzter Zeit ist das sehr selten geworden, da meine Mutter an Krebs leidet und dadurch regelmäßig ins Krankenhaus muss. Meinen Vater kenne ich nicht und nach ganzen 16 Jahren will ich ihn auch gar nicht mehr kennen lernen. Er wollte nie etwas von mir wissen und jetzt will ich nichts mehr von ihm wissen. Es ist mir mittlerweile egal was er macht, wie er wohnt, ob er eine neue Frau hat oder was weiß ich. Doch lange Zeit hab ich mich nach ihm gesehnt vor allem dann, wenn Mama wieder im Krankenhaus lag. Doch je älter ich wurde desto geringer wurde meine Hoffnung ihn jemals kennen zu lernen und nun ist er mir völlig egal. Meine Mutter und ich wir brauchen niemand anderen. Wir haben uns und das reicht uns. Es genügt um Spaß zu haben, zu erzählen und um glücklich zu sein. Natürlich muss ich viele Pflichten übernehmen, da Mama sich nicht überanstrengen darf, aber das macht mir nichts
aus. Es gehört zu meinen Leben dazu und ich möchte es nicht missen.
Doch aus irgendeinem Grund sollte der Tag nicht so schön bleiben wie er angefangen hatte. Ich fand noch ein paar schöne Kleidungsstücke und kaufte mir ein paar Schuhe. Alles zusammen sollte ich dann zu Ostern geschenkt bekommen. Darüber ärgerte ich mich ziemlich, weil ich mir zu groß für solche kindlichen Spiele vorkam, doch meine Mutter duldete keine Widerrede. Völlig in Gedanken versunken betrat ich die Straße, meine Mutter schrie: „ Maria, pass auf!“. Wie angewurzelt blieb ich auf der Straße stehen und sah dem sich schnell nähernden Auto entgegen. Ich schloss schon die Augen und wartete auf den Aufprall, doch da schubste mich etwas von der Straße. Das nächste was ich hörte, waren quietschende Reifen, ein lautes Poltern und einen Schrei. Ich traute mich nicht meine Augen zu öffnen, weil ich Angst vor dem Bild hatte, welches sich mir bieten würde. Mein Körper tat es aber von alleine. Im nach hinein wünschte ich, ich hätte es nicht getan. Mich erwartete ein Bild des Schreckens. Ich lag halb auf dem Fußweg und nur zwei Metervon mir entfernt stand ein Auto mit einer kaputten Frontscheibe. Aber wo war meine Mutter? Eine plötzliche Lähmung erfasste mich. Hatte sie mich von der Straße geschubst? Mein Kopf sagte: Steh auf und schau nach, aber mein Körper verweigerte sich. Ich brauchte einige Anläufe bis ich schließlich auf unsicheren Beinen stand. Jetzt erst bemerkte ich die Menschentraube die sich hinter dem Auto befand. Langsam und mit zitternden Beinen nur konnte ich mich auf sie zu bewegen. Was wäre, wenn dort meine Mutter lag? Ich hatte doch niemanden außer ihr? Ich hatte die Menschen erreicht und zwängt mich durch sie durch bis ich etwas sah. Da lag eine Person mit langen braunen Haaren, sie trug Jeans und ein blaues T-Shirt. Es dauerte lange bis mein Gehirn endlich begriff, dass es sich bei dieser Person tatsächlich um meine Mutter handelte. Das konnte nicht sein! Ich schrie laut auf und brach über meiner Mutter zusammen. Mein Körper und mein Gehirn begannen ein eigen Leben zu führen, denn ich wehrte mich nicht einmal als man mich wegführte. Mit einem mal war mir alles egal geworden. Ich hatte meine eigene Mutter umgebracht, weil ich mal wieder in einen meiner Tagträume versunken war.
Irgendwann, ich weiß nicht wie viel Zeit vergangen war, kam jemand und fragte: „Ist alles in Ordnung mit dir? Wie heißt du?“ Meine Stimme versagte mir und so holte ich einfach meinen Ausweis raus. „Maria Stuart“, murmelte die Person. „Maria, kannst du mir sagen was passiert ist?“, probierte er mich zu fragen. Doch ich hörte seine Stimme nur wie durch Watte und starrte weiter vor mich hin. Ich war nicht in der Lage zu sprechen, geschweige denn zu denken. Mein Körper hatte sich in eine Starre begeben aus der ich nicht mehr heraus kam. Die Person sagte zu mir: „Maria, wir bringen dich jetzt ins Krankenhaus. Du musst in ärztliche Behandlung. Wir werden
versuchen jemanden aus deiner Familie zu informieren. Kannst du laufen?“ Ich verstand was der Mann von mir wollte, doch mein Körper reagierte nicht. In mir war eine Leere, die alles andere beeinflusste.
Auf dem Weg ins Krankenhaus musste ich eingeschlafen sein, denn als ich aufwachte, war ich von lauter Ärzten umgeben. Sie redeten mit einander, aber ich verstand nicht worum es ging. Immer noch herrschte diese Leere in mir und in meinem Kopf breitete sich ein stechender Schmerz aus, der sich bald auch auf mein Herz legte und es einschloss. Ich sah und hörte die Menschen um mich herum, konnte ihnen aber nicht antworten. Der Schmerz stach immer weiter und ich hatte das Gefühl keine Luft mehr zu bekommen. Endlich zeigte mein Körper Reaktionen, denn ich begann nach Luft zu schnappen. Sofort war ein Arzt da und versuchte mich zu beruhigen. Er sagte: „ Maria, ich bin Doktor Miller, du musst ganz ruhig bleiben. Atme ganz tief ein und aus. Alles wird wieder gut. Konzentriere dich nur darauf ein und aus zu atmen. Das ist ganz wichtig! So machst du das gut.
Siehst du jetzt ist alles vorbei.“ Tatsächlich hatte der Schmerz nach gelassen und mein Körper begann sich zu entspannen. Ich bemerkte, dass auch meine Starre sich so langsam löste. Meine Sinne gehorchten mir wieder. Heiser fragte ich: „ Doktor Miller? Was ist mit meiner Mutter?“
„Wie bitte, was sagtest du?“ Ich räusperte mich und versuchte meine Frage lauter zu wiederholen. Man merkte ihm an, dass er sich in seiner Haut nicht wohl fühlte und ich hatte das merkwürdige Gefühl, dass heute der letzte Tag meiner Mutter gewesen war. Mit Tränen in den Augen fand ich den Mut und stellte die entscheidende Frage: „Ist sie tot?“ Er nickte nur stumm und alle eben da gewesenen Tränen waren plötzlich verschwunden und meine Augen begannen zu brennen. Ich vergoss keine einzige Träne und bedankte mich bei ihm für seine Ehrlichkeit. Alles schien mich zu erdrücken. Der Raum, das Bett, mein Körper und wieder hatte ich diesen Druck auf dem Herzen, der mir das Atmen schwer machte. Doch diesmal war es nicht ganz so heftig wie beim ersten Mal.
Ich konnte mit Mühe das Luft schnappen unterdrücken und konzentrierte mich darauf die Menschen zu beobachten, die sich in der Parkanlage des Klinikum bewegten. Wie oft war ich über die Wege geschritten, zusammen mit meiner Mutter? Wie oft hatten wir auf einer Bank gesessen und einfach die Sonnenstrahlen genossen? Das alles sollte jetzt vorbei sein? Ich glaubte noch nicht daran und hoffte meine Mutter würde jeden Moment das Zimmer betreten. Sie hatte den Krebs fast überstanden und war jetzt wegen meinem Fehler gestorben. Das war doch nicht fair! Sie konnte mich doch nicht einfach hier unten allein lassen!
Die Tage vergingen. Leute kamen und gingen und ich saß in meinem Krankenhausbett und beobachtete. Meine Gedanken kreisten sich immer wieder um das selbe Thema: Um den
schrecklichen Tag, meine Unaufmerksamkeit, den Unfall, mein Gespräch mit Doktor Miller.
Ich habe keine Ahnung wie lange es dauerte, aber eines Tages betrat ein fremder Mann meinZimmer. Er sagte: „Hallo Maria, ich bin Herr Stuart, ähm also wenn man es genau nimmt, dein ähm Vater.“ Ich hörte was er sagte, reagierte aber nicht. Die Worte hatten keine Bedeutung für mich. Sie waren aneinander gereihte Silben, die ich nicht verstand. Von dem Nachmittag an kam er jeden Tag.Er versuchte mit mir zu reden, aber ich antwortete ihm nie. Seine Verzweiflung trieb ihn so weit,
dass er den behandelnden Arzt fragte, ob ich nicht mehr sprechen könne. Dieser antwortete ihm: „ Machen Sie sich keine Sorgen Herr Stuart. Lassen sie ihr einfach Zeit, sich daran zu gewöhnen, dass sie jetzt einen Vater hat und dass ihre Mutter und einzige Bezugsperson verstorben ist.“
Mein „Vater“ bedankte sich mit einem Lächeln. So kam er jeden Tag wieder und er erzählte mir, dass ich jetzt bei ihm wohnen würde und er für mich schon ein Zimmer eingerichtet hätte. Er hoffe es würde mir gefallen. Der Tag meine Entlassung rückte immer näher und ich wusste nicht wie ich damit umgehen sollte. Ich konnte mich nicht freuen, weil ich nie wieder nach Hause zurück kehren würde, aber ich wollte auch nicht hierbleiben. Außerdem war niemand da mit dem ich hätte reden
können. Mittlerweile hatte ich mich an den Druck auf meinem Herzen gewöhnt und konnte gutdamit leben (wenn man meinen Zustand als leben bezeichnen konnte).
An einem verregneten Tag kam mein „Vater“ freudestrahlend in mein Zimmer und verkündete mir: „Hallo Maria, wie geht es dir? Du wirst heute entlassen, wir können nach Hause fahren.“
Mit gepressten Zähnen bracht ich hervor: „ Ich habe kein zu Hause mehr!“. Das waren die ersten Wort ,die mein Vater aus meinem Mund hörte. Während er versuchte sein verrutschtes Lächeln wieder in der Griff zu bekommen, packte ich widerwillig meine Sachen. Zusammen verließen wir das Zimmer, doch für mich war es als wäre ich allein auf der Welt und als würde mich niemand verstehen.
Die Autofahrt vom Krankenhaus bis zu meinem neuen zu Hause dauerte sehr lange und mein „Vater“ schien sichtlich nervös. Aber warum?
Als wir gerade an einer roten Ampel standen überkam mich plötzlich das Gefühl raus zu müssen, nicht mehr atmen zu können. Ich öffnete die Tür und rannte einfach los, musste einfach weg von dem Mann, der jetzt mein Vater ist, weg von allem. Ich hörte noch wie er mir hinterher schrie, doch ich rannte einfach weiter. Ich wollte nicht mein beschissenes neues Zimmer sehen, nicht in einer neuen Familie leben. Verdammt noch mal ich wollte mein altes Leben wieder. Meine Mutter, meinZimmer, die gemeinsamen Kochabende und alles
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Tag der Veröffentlichung: 28.08.2011
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