Kurzes Glück
Ja jetzt sitze ich hier, angeschlossen an irgendwelchen Geräten, vor irgendwelchen Monitoren und soll versuchen, mich zu entspannen. Entspannen in einer Zeitmaschine!!! HAHAHA wie makaber das schon klingt…so etwas aufregendes…Ein Blick in die Zukunft, eine Zeitreise – wer wünscht sich das nicht?
Ich persönlich war von so etwas schon immer fasziniert, egal ob es um einen Blick in die Glaskugel oder um´ s Lesen aus der Hand ging! Ich bin mit meinen 32 Jahre immer noch viel zu neugierig um an solchen Attraktionen einfach vorbeizulaufen. So war es auch, als ich letzte Woche zufällig auf die Annonce von der Uniklinik stieß und von ihrem neuesten Projekt las, auf welches ich mich sofort beworben habe. Die ganzen letzten Tage hatte ich mich so drauf gefreut.
Heute allerdings bin ich mit meinen Gedanken ganz woanders, mein Kopf ist voll mit anderen Dingen und ich würde das Ganze am liebsten abblasen,um meine Freude voll auszukosten.
Die Schmetterlinge in meinem Bauch und das Grinsen auf meinen Lippen machen sich schon wieder breit, wenn ich nur an den heutigen Abend denke und wie ich meinem Mann die frohe Botschaft überbringe …
„Elisa, sind Sie bereit?“ Die Stimme der jungen Schwester, die mich hier verkabelt und seit knapp 40 Minuten auf meine persönliche Reise vorbereitet, reißt mich aus meinen Gedanken. „ Ja, lassen Sie uns starten!“
Ich bin so aufgeregt auf das, was mich erwartet. Schade, dass ich mich später gar nicht oder wenn, dann nur bruchstückhaft daran erinnern kann. Mittlerweile sind 3 weitere Personen in den Raum gekommen…Wissenschaftler oder Ärzte, ich weiß es nicht. Das ganze hier dient Forschungszwecken und ich habe mich freiwillig gemeldet.
Meine Beweggründe dazu sind eigentlich nur der Neugierde zuzuschreiben…wie sehe ich in 25 Jahren aus? Bin ich noch mit meinem Mann zusammen…wie leben wir? Eigentlich nur oberflächliches Zeug. Ich habe niemanden von diesem Projekt erzählt, um Diskussionen, Warnungen und moralischen Gegenargumenten aus dem Weg zu gehen.
“ …das einzige was Ihnen davon bleiben wird, werden eventuell Kopfschmerzen und ein leichtes Fiepen in den Ohren sein. “ Ihre leise, angenehme Stimme dringt wieder in mein mittlerweile müdes Bewusstsein und ich merke, wie mir einer der Männer den Blutdruck misst und die Elektroden an meinem Kopf erneut kontrolliert, bevor es langsam schwarz um mich herum wird!
Diese Schwärze umgibt mich jetzt vollkommen. Es ist warm und angenehm. In weiter Ferne ist ein Licht…nur ganz schwach und sanft, aber ich spüre das ich genau dorthin muss und versuche mich auf diesen Punkt zu konzentrieren. Ich bin neugierig was ich in dem Licht finde und mein Herz klopft wie verrückt. Ich bin mir in jeder Sekunde hier bewusst was mich gleich erwartet: Meine Zukunft! Ich werde mich selber erwarten, nur das ich dann 25 Jahre älter sein werde, wenn ich mir gegenübertrete.
Ich versuche schneller voranzukommen, aber es gelingt mir nicht! Ich muss mich dem Tempo, das mir hier vorgegeben wird, anpassen. Nur ganz langsam komme ich dem sanften Licht näher. Es fühlt sich an, als ob ich schwebe. Leise Musik dringt an mein Ohr, ohne Gesang, nur eine Melodie die mir sehr vertraut vorkommt und mich wie magisch anzieht! In diese Melodie mischen sich Stimmen, Lachen und das klingen von Gläsern wie, wenn man sich zuprostet.
Die Musik wird immer lauter und das Licht heller, ich spüre jetzt ein Kribbeln im Körper und weiß, dass ich es jetzt gleich geschafft habe… Die Melodie geht mir direkt ins Blut über und ich weiß jetzt das es *A river flows in you* von Yiruma ist. Eine wunderschöne Melodie, bei der ich gerne die Augen schließen und mich ihr ganz hingeben möchte. Doch ich bleibe stark und treibe weiter voran. Jetzt erkenne ich Umrisse… Umrisse von vielen Menschen… tanzenden Menschen! Meine Sicht ist getrübt und ich schaue wie durch einen Nebel. Ich versuche vergeblich den Nebel wegzublinzeln um mehr zu erkennen, aber es gelingt mir nicht. Ich muss noch näher ran - ein kleines Stückchen noch, dann habe ich es geschafft.
Meinen Augen fixieren einen Punkt und ich spüre, dass ich dort hin muss um an mein Ziel zu kommen. Ich bin so gespannt - eine Gänsehaut überzieht meinen Körper und meine Knie sind ganz weich. Die Nackenhaare stellen sich auf und ich zittere. Der Nebel lichtet sich und auf einmal sehe ich alles ganz klar vor mir. Ich bin in einem Saal. Die Tische sind mit wunderschönen roten Rosen und weißen Kerzen verziert. Einige Leute sitzen an den Tischen. Andere sind in der Mitte des Raumes und tanzen zur Musik. Viele dieser Menschen kommen mir bekannt vor – andere wieder rum gar nicht. Es ist ein gemischtes Publikum, alt wie jung.
Da!! Die Frau an dem ersten Tisch ganz rechts… meine Mutter! Sie sieht alt aus, alt und müde! Wie sagt man so schön?! Vom Leben gezeichnet. Wie alt ist sie jetzt? 83? Ja, sie müsste 83 Jahre alt sein. Wo ist mein Vater? Mein Blick wandert suchend umher, schweift durch die Gesichter der Menschen, aber meinen Vater kann ich nirgendwo finden. Eine Welle der Traurigkeit umfasst mich und ich weiß, dass ich nicht weiter suchen muss… mein Vater ist nicht mehr da! Er hat seine Krankheit wohl nicht besiegt. Ich merke, wie mir die Tränen in die Augen schießen, während ich mich mit dem Gedanken anfreunden muss, meinen Vater irgendwann in den nächsten 25 Jahren beerdigen zu müssen.
Schnell versuche ich mich wieder zu fangen und die Menge weiter zu erkunden. Ich erblicke meinen Mann und mein Herz macht einen kleinen Hüpfer. Er sieht klasse aus. Sein Haar ist immer noch dicht und dunkel und wird von keinem grauen Haar durchzogen. Sebastian trägt heute einen feinen Nadelstreifenanzug mit weißem Hemd und hat irgendwie einen verklärten Blick. Er sieht so unheimlich stolz aus, dass ich mich frage, was er gerade denkt. Ich versuche, in dieselbe Richtung zu blicken, wie er und dann stockt mir plötzlich der Atem bei dem, was ich da erblicke: Mich! In meinem Brautkleid. Fast genauso, wie vor 25 Jahren. Doch irgendetwas stimmt da doch nicht… wieso bin ich in meinem Brautkleid? Und wer ist der junge Mann in meinem Arm, der mich so glücklich und verliebt ansieht? Und warum bin ich noch so jung? Ich müsste doch 57 Jahre alt sein und auch dementsprechend aussehen! Aber diese junge Dame dort sieht gerade mal aus wie Mitte 20…und …dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Das bin gar nicht ich, das muss meine Tochter sein! Wir haben eine Tochter bekommen – wieder laufen mir die Tränen übers Gesicht aber diesmal vor Freude. Mein Herzschlag hat einige Aussetzer, während in meinem Kopf die Stimme meiner Frauenärztin hallt: „ Sie werden wahrscheinlich keine Kinder bekommen, Frau Meertens!“
Sie hat sich scheinbar doch geirrt, denn vor mir steht dieses wunderschönes Mädchen – nein diese wunderbare junge Frau, die mir wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Selbst das kleine Muttermal über der linken Augenbraue hat sie von mir mitbekommen. Sie hat schöne lange braune Haare, eine tolle Figur und die hellblauen spitzbübischen Augen ihres Vaters geerbt. Wenn sie lächelt, kommen sehr gepflegte gerade Zähne zum Vorschein und auf dem rechten Eckzahn trägt sie einen kleinen glitzernden Stein. Sie ist so klein, so zart und zerbrechlich – mein kleines Mädchen und doch schon erwachsen. Wenn mich nicht alles täuscht, sehe ich sogar ein kleines Bäuchlein, welches sich unter dem Brautkleid wölbt. Ich werde also nicht nur Mama, sondern auch noch Oma. Ein komisches Gefühl, um ehrlich zu sein.
Über eine der Türen hängt ein kleiner Bogen mit einem Bild des Brautpaares, welches mit den Namen „Emma-Jolie und Frederik“ versehen ist. Emma-Jolie… so werden wir also unsere Tochter nennen. Ein wunderschöner Name, wie ich finde und merke, wie sich ein lächeln auf meine Lippen legt. Emma-Jolie… ich kann meinen Blick gar nicht von ihr abwenden, so fasziniert bin ich von ihrem Anblick, und am liebsten würde ich sie in den Arm nehmen und sie fest an mich drücken. Mein Herz platzt fast vor Stolz und vor allem vor Erleichterung, dass ich doch Kinder bekommen kann und werde! Nach zwei Fehlgeburten und der Diagnose meiner Ärztin hatten wir die Hoffnung schon bald aufgegeben, je ein eigenes Kind in den Armen halten zu dürfen…
Die Stimmung im Saal ist ausgelassen, alle feiern und freuen sich sichtlich mit dem Brautpaar, welches sich jetzt für ihren gemeinsamen Ehrentanz bereit macht. Doch irgendwas läuft in diesem Moment schief, denn ich sehe wie erst Frederik und dann alle anderen in eine Richtung blicken. Ich kann nicht mehr richtig hören und muss mich anstrengen, um mitzubekommen, was jetzt passiert ist. Frederiks Miene wird wütend und er fängt an, wild zu gestikulieren… Auch Emma-Jolie guckt erst entsetzt und dann wütend zur Tür, die sich geöffnet hat.
Ein junger, sichtlich angetrunkener Mann steht jetzt im Raum. Er trägt auch einen Anzug, aber sein Hemd hängt aus der Hose. Seine Krawatte hängt gelockert und völlig schief an seinem Hals herunter und er macht einen verwirrten Eindruck auf mich. Mir wird ganz kalt und ich habe kein gutes Gefühl.
Am liebsten würde ich in diese Szene rein springen und Emma, die schnurstracks auf diesen Mann zugeht, aufhalten. Die Stimmen der Leute im Saal werden laut, aber ich verstehe nicht genau was sie sprechen. Nur Wortfetzen dringen zu mir rüber. „Ex-Freund“…“Der gönnt ihnen das Glück nicht“…“Oh Nein!“… „Was macht er da???“ Mein Kopf schmerzt und meine Ohren piepen, ich spüre wie der Nebel sich wieder vor meine Augen legt und ich mich zu entfernen beginne! Ich möchte mich festhalten, möchte schreien, möchte meiner Tochter beistehen und sie aus dieser schrecklichen Situation befreien, aber es geht nicht. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie meine Mutter hochspringt und sich entsetzt eine Hand vor den Mund und die andere ans Herz presst. Ihr Gesicht ist schmerzlich verzerrt. Viele Hände wollen nach Emma-Jolie greifen und sie festhalten… Sebastian kommt mit großen Schritten angelaufen - der Stolz der eben noch in seinen Augen funkelte ist einem panischen Ausdruck gewichen … auch Frederik ist schon fast bei Emma…und dann sehe ich noch ganz kurz und ganz klar wie der junge Mann eine Pistole auf meine Tochter richtet.
Ich möchte schreien und mich ihm in den Weg werfen, aber ich entferne mich immer weiter, während der Schmerz in meinem Kopf zu einem lauten Pochen wird. Meine Hände versuchen sich irgendwo festzukrallen und mich wieder nach vorne an den Ort des Geschehens zu bringen, doch sie finden nirgendwo Halt. Erbarmungslos zieht es mich immer weiter zurück in die Gegenwart! Dann gibt es einen lauten Knall… ein Schuss hat sich gelöst und ich muss hilflos mit ansehen wie das Brautkleid meiner Tochter im Brustbereich eine rötliche Färbung annimmt und sie dann lautlos in den Armen ihres Vaters zusammenbricht. Für einen ganz kurzen Augenblick ist es ruhig, doch Sekunden nach der entsetzlichen Stille im Saal fangen auf einmal alle an zu schreien und das letzte Bild was ich durch den Nebel noch wahrnehme ist, wie Sebastian und Frederik weinend mit Emma-Jolie auf den Boden sinken…ich schließe traurig und erschöpft meine Augen.
Ich wehre mich nicht mehr gegen den Sog der Schwärze, denn es ist zu spät. Ich brauche nicht noch einmal hinzusehen, um zu wissen, dass meine Tochter tot ist…Gestorben in den Armen ihres Vaters, mit einem Baby im Bauch, welches nie die Chance erhalten wird, das Licht der Welt zu erblicken…
Der Nebel vor meinen Augen wird ganz dicht, und die Schwärze, die mich mehr und mehr zurückzieht und mich bald vergessen lässt, was ich gerade gesehen habe, legt sich kalt um meinen ganzen Körper und befreit mich dann endlich aus der schrecklichen Situation.
Als ich aufwache ist mir unwahrscheinlich kalt, meine Augen brennen und sind schwer wie nach einem Weinkrampf. Mein Kopf schmerzt und meine Ohren fiepen. Ich brauche einige Augenblicke um zu realisieren wo ich bin und was ich hier mache. Ich wollte doch in die Zukunft reisen. Hat es geklappt? Ich versuche in mich hineinzuhorchen und meine Gedanken zu sortieren, aber irgendwie will mir das nicht gelingen. Das muss an diesen Kopfschmerzen liegen…
„Wie geht es Ihnen, Elisa?“ Verwirrt schaue ich die Schwester an die mich kritisch mustert. „Ja, nur mein Kopf…“ stammele ich und hoffe, dass die Schmerzen bald vorübergehen. „ Das sind die Folgen der vielen Eindrücke und Emotionen, die sie während Ihrer Reise verarbeiten mussten, wir haben ja heute Morgen schon ausführlich darüber gesprochen – die gehen aber schnell vorbei!“
„Heute Morgen?? Wie spät ist es denn?“
„Fast 16 Uhr“ sagt sie und lächelt mich dabei an. „Sie müssen sich jetzt noch ein paar Minuten ausruhen, etwas trinken und dann dürfen Sie nach Hause gehen. Soll ich Ihnen ein Taxi rufen?“
„Nein ich brauche dringend frische Luft“ Schon so spät ich muss unbedingt nach Hause, Sebastian ist bald da und ich habe doch noch eine Überraschung für ihn, fällt mir wieder ein. Der Gedanke an meinen Mann lässt mich sofort wieder lächeln, und ich versuche meine Kopfschmerzen so gut es geht zu ignorieren. Kurz darauf mache ich mich voller Vorfreude auf den Heimweg… Sebastian wird bestimmt Augen machen…
Als Sebastian um halb sechs nach Hause kommt, erwarte ich ihn schon, mit einer Flasche Sekt und dem Mutterpass den meine Frauenärztin mir heute Morgen endlich ausgehändigt hat. „Jaaaa ich bin schwanger…und auch schon in der 12. Wochen“ jubele ich seinem fragenden und leicht ängstlichen Blick entgegen!
„Ist das wahr Elisa??? Du machst mich gerade zum glücklichsten Menschen der Welt“ freut er sich und küsst mich stürmisch! Mir wird ganz schwindelig vor Glück während mein Mann schon direkt Namensvorschläge macht…“Wenn es ein Junge wird wollen wir ihn dann Samuel nennen?? Oder Benjamin??“ Lachend nicke ich und erfreue mich an seinem Vaterglück. „ …und wenn es ein Mädchen wird, nennen wir sie Emma, ja??“ Erwartungsvoll blickt er mich an, während ich erschrocken innehalte weil mein Kopf wieder dröhnt.
Dieses verdammte Piepen in den Ohren ist schon wieder da – warum nur??? In meinem Kopf ist alles schwarz – es ist als ob ich die letzten Stunden komplett aus meinem Gedächtnis gestrichen habe… Ich kann mich an nichts erinnern, außer an diese penetranten Kopfschmerzen, die mich schon den ganzen Tag zusammen mit der Melodie von Yirumas *A River flowes in you* begleiten! Dann reiße ich mich zusammen, streichle liebevoll über meinen Bauch und antworte ihm mit Tränen der Freude in den Augen „Ja…wenn es ein Mädchen wird nennen wir Sie Emma….Emma-Jolie ….“
Bildmaterialien: Cover ist von mir selbst fotografiert und bearbeitet von Janina F. einer Freundin. Alle Rechte liegen deshalb bei mir!
Tag der Veröffentlichung: 13.01.2012
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